Alles, was Morgan tun konnte, war, sich und Quickening in dem reißenden Fluß über Wasser zu halten, und während er versucht haben könnte, ans Ufer zu schwimmen, wenn er allein gewesen wäre, so dachte er jetzt gar nicht daran. Quickening war wach und in der Lage, seine Bemühungen ein wenig zu unterstützen, doch es war vor allem Morgans Kraft, die sie von Felsen und tiefen Strudeln fernhielt, von denen sie in die Tiefe gerissen worden wären. Doch der Fluß trug sie ziemlich dorthin, wo er wollte. Er war vom Regen angeschwollen und über die Ufer getreten, und weißer Schaum spritzte auf. Das Gewitter wütete noch immer, Donner rollte durch die Bergschlucht, Blitze zuckten über den schwarzen Himmel, und der Regen prasselte hernieder. Der Steilhang, von dem sie gestürzt waren, schwand fast sofort außer Sicht, und mit ihm ihre Gefährten. Der Rabb wand und schlängelte sich zwischen den Felsen entlang, und sie hatten sehr bald die Orientierung verloren.
Nach einer Weile schwamm ein Baum, der in den Fluß gestürzt war, vorbei, und sie bekamen ihn zu fassen und konnten sich von ihm tragen lassen. Es erlaubte ihnen, sich ein bißchen zu verschnaufen, während sie sich nebeneinander an den glitschigen Stamm klammerten und taten, was sie konnten, um sich vor den Felsblöcken zu schützen. Dabei suchten sie den Fluß und die Ufer nach Möglichkeiten ab, sich an Land zu retten. Sie versuchten gar nicht erst zu sprechen, sie waren zu erschöpft, und das Getöse hätte vermutlich ihre Worte ohnehin übertönt. Sie tauschten nur Blicke und konzentrierten sich darauf, zusammenzubleiben.
Irgendwann wurde der Fluß breiter, wo er aus dem Felsengebirge in das nördlich liegende Hügelland floß und sich in ein waldumgrenztes Becken leerte, von dem aus sein Flußbett ihn nach Süden führte. In der Mitte befand sich eine Insel, und der Stamm, auf dem sie ritten, blieb hüpfend und sich drehend an ihrem Ufer hängen. Morgan und Quickening rissen sich von ihrem Behelfsfloß los und stolperten erschöpft an Land. Außer Atem, die Kleider zerfetzt, krochen sie durch das Gras in den Schutz der Bäume, eine Gruppe von Hartholzkiefern, überragt von zwei riesigen, alten Ulmen. Wasser strudelte in Bächen um sie herum, während sie sich mühselig über das regengepeitschte Inselufer kämpften, und der Wind pfiff ihnen in den Ohren. Ein Blitz traf das Festlandufer mit ohrenbetäubendem Krach nicht weit entfernt, und sie drückten sich platt auf den Boden, während der Donner vorbeirollte.
Schließlich erreichten sie die Bäume und stellten dankbar fest, daß es unter dem Blätterdach relativ trocken und windgeschützt war. Sie taumelten zum Fuß der größten Ulme und brachen zusammen, streckten sich nebeneinander auf dem Boden aus und rangen nach Luft. Ohne sich zu rühren, blieben sie eine Weile so liegen, um wieder zu Kräften zu kommen. Dann schauten sie einander lange an und einigten sich wortlos, sich aufzusetzen und an die rauhe Rinde der Ulme zu lehnen, wo sie Schulter an Schulter sitzen blieben und in den Regen hinausstarrten.
»Bist du in Ordnung?« fragte Morgan sie. »Quickening?«
Es war das erste, was überhaupt gesprochen wurde. Sie nickte schweigend. Morgan untersuchte sich selbst auf Wunden, fand keine, seufzte und lehnte sich zurück – erleichtert, müde, kalt und unbeschreiblich hungrig und durstig, obwohl er völlig durchweicht war. Aber es gab nichts zu essen oder trinken, und es hatte keinen Sinn, darüber nachzudenken.
Er schaute wieder zu ihr hinüber. »Ich nehme an, du kannst kein Feuer machen, oder?« Sie schüttelte den Kopf. »Darfst keinerlei Magie benutzen, hm? Nun ja. Wo steckt denn Walker Boh, wenn man ihn braucht?« Er versuchte, unbeschwert zu klingen, doch es mißlang. Er seufzte.
Sie legte ihre Hand auf die seine, und es wärmte ihn trotz seines Unbehagens. Er hob den Arm, legte ihn um ihre Schultern und zog sie näher. Es gab ihnen beiden ein kleines bißchen Geborgenheit. Ihr Silberhaar war an seiner Wange und ihr Duft in seiner Nase, eine Mischung aus Erde und Wald und noch etwas, das süß und unwiderstehlich roch.
»Sie werden uns nicht finden, bevor das Gewitter vorüber ist«, sagte sie.
Morgan nickte. »Wenn überhaupt. Es gibt keinen Weg, dem sie folgen können. Nur den Fluß.« Er runzelte die Stirn. »Wo sind wir überhaupt? Nördlich oder südlich von der Stelle, wo wir in den Fluß gestürzt sind?«
»Nordöstlich«, erklärte sie.
»Das weißt du?«
Sie nickte. Er konnte fühlen, wie sie atmete, die leise Bewegung dicht an seinem Körper. Er fror, doch sie so nah zu haben, machte das beinahe wieder wett. Er schloß die Augen.
»Du hättest nicht hinter mir herspringen sollen«, sagte sie plötzlich. Sie klang unbehaglich. »Ich wäre zurechtgekommen.«
Er versuchte vergebens, ein Gähnen zu unterdrücken. »Ich war fällig für ein Bad.«
»Du hättest dich verletzen können, Morgan.«
»Nicht ich. Ich habe schon Angriffe von Schattenwesen, Föderationssoldaten, Schleichern und anderem solchem Geschmeiß überlebt und sogleich wieder vergessen. Ein Sturz in einen Fluß kann mir nichts anhaben.«
Der Wind pfiff scharf, heulte durch die Bäume, und sie schauten himmelwärts und lauschten. Als das Geheul verklang, konnten sie wieder das Rauschen des Flusses hören, der gegen das Ufer donnerte.
Morgan kauerte sich in seinen nassen Kleidern zusammen. »Wenn das Gewitter endlich vorüber ist, können wir ans Festland schwimmen, diese Insel verlassen. Im Augenblick ist der Fluß zu aufgewühlt, um es jetzt zu versuchen. Und wir sind viel zu erschöpft. Aber wir sind hier in Sicherheit. Nur ein bißchen naß.«
Morgan stellte fest, daß er nur redete, um irgend etwas zu tun, und schwieg wieder. Quickening reagierte nicht. Er konnte beinahe fühlen, wie sie nachdachte, aber er hatte keinerlei Anhaltspunkte, worüber. Er schloß die Augen wieder. Er fragte sich, was aus den anderen geworden sein mochte. War es ihnen gelungen, den Steig heil bis nach unten zu gehen, oder hatte das Abrutschen des Simses dazu geführt, daß Walker und Pe Ell oben auf dem Steilhang festsaßen? Er versuchte, sich den Dunklen Onkel und den Mörder zusammen in derselben Falle vorzustellen, aber es gelang ihm nicht.
Es begann jetzt zu dunkeln, die Dämmerung vertrieb das bißchen Licht, das noch da war, und Schatten breiteten sich in wachsenden schwarzen Flecken über die Insel. Der Regen ließ ein wenig nach, der Donner und das Heulen des Windes verschwanden in der Ferne, und das Gewitter zog vorüber. Die Luft hatte sich nicht so abgekühlt, wie Morgan erwartet hatte, sondern sie wurde wieder wärmer, angereichert mit dem Geruch von Erde und Feuchtigkeit. Um so besser, dachte er. Es war ihnen ohnehin ziemlich kalt. Er stellte sich vor, wie es sich anfühlen würde, wieder warm und trocken zu sein, in seiner Jagdhütte im Hochland zu sein, mit einer heißen Suppe vor dem Feuer auf dem Boden zu sitzen und sich mit den Ohmsfords Lügengeschichten zu erzählen.
Oder vielleicht lieber mit Quickening, ohne etwas zu sagen, denn es wäre überflüssig zu reden. Es reichte, zusammenzusein, sich zu berühren …
Der Schmerz, den er empfand, füllte ihn gleichzeitig mit Sehnsucht und Furcht. Morgan wünschte, daß er ihm erhalten bliebe, daß er immer da sei, und gleichzeitig verstand er ihn nicht, und er war sicher, daß er von ihm verraten werden würde.
»Bist du wach?« fragte er, plötzlich begierig, den Klang ihrer Stimme zu hören.
»Ja«, erwiderte sie.
Er holte tief Luft und atmete langsam aus. »Ich habe darüber nachgedacht, warum ich hier bin«, sagte er. »Ich frage mich danach, seit ich Culhaven verlassen habe. Ich verfüge über keine Magie mehr – so gut wie keine. Und alles, was ich je hatte, steckte im Schwert von Leah, das nun zerbrochen ist. Was an Magie übrig ist, ist nicht der Rede wert und wird dir kaum von großem Nutzen sein. Also bin ich es nur, und ich …« Er hielt inne. »Ich weiß halt einfach nicht, was du von mir erwartest, nehme ich an.«
»Nichts«, entgegnete sie leise.
»Nichts?« Er konnte nicht verhehlen, wie ungläubig er war.
»Nur, was du zu geben bereit und fähig bist«, erklärte sie.
»Aber ich dachte, der König vom Silberfluß hätte gesagt …« Er hielt inne. »Ich dachte, dein Vater hätte gesagt, daß ich gebraucht würde. War das nicht, was du gesagt hast? Daß er dir mitgeteilt hat, daß wir gebraucht würden, wir alle?«
»Er hat mir nicht gesagt, was ihr tun sollt, Morgan. Er sagte mir, ich solle euch mit auf die Suche nach dem Talisman nehmen, und daß ihr dann wüßtet, was zu tun sei, du und wir alle.« Sie rückte ein Stück von ihm ab und drehte sich um, um ihn anzuschauen. »Wenn ich dir mehr sagen könnte, dann würde ich das tun.«
Er runzelte die Stirn, frustriert über ihre ausweichende Art zu antworten und über seine Ungewißheit. »Wirklich?«
Sie lächelte beinahe. Sogar vom Regen durchnäßt und vom Flußwasser verdreckt, war sie die allerschönste Frau, die er je gesehen hatte. Er versuchte etwas zu sagen, doch er brachte kein Wort über die Lippen. Er saß nur stumm da und starrte sie an.
»Morgan«, sagte sie leise. »Mein Vater sieht Dinge, die allen anderen verborgen sind. Er sagte mir, was ich wissen muß, und ich habe genug Vertrauen zu ihm, um zu glauben, daß das, was er mir gesagt hat, genug ist. Du bist hier, weil ich dich brauche. Es hat etwas mit der Magie deines Schwertes zu tun. Mein Vater sagte mir, was ich dir wiederholt habe, daß du die Gelegenheit haben wirst, dein Schwert wieder heilzumachen. Und dann wird es uns beiden vielleicht in einer Weise dienen, die wir nicht vorhersehen können.«
»Und Pe Ell?« drängte er, entschlossen, alles zu erfahren.
»Pe Ell?«
»Walker sagt, er sei ein Meuchelmörder – und daß auch er eine magische Waffe besitze – eine Waffe, die tötet.«
Sie musterte ihn lange, ehe sie antwortete. »Das ist richtig.«
»Und auch er wird gebraucht?«
»Morgan.« Sie sprach seinen Namen wie eine Ermahnung aus.
»Sag es mir. Bitte.«
Sie senkte ihr edles Gesicht in den Schatten und hob es dann wieder. Ihre perfekten Züge waren voller Traurigkeit. »Pe Ell wird gebraucht. Seine Aufgabe, genau wie die deine, muß sich erweisen.«
Morgan zögerte, weil er zu entscheiden versuchte, was er als nächstes fragen sollte. Er wollte dringend die Wahrheit erfahren und fürchtete gleichzeitig, ihre Gunst zu verlieren, wenn er sich auf ein Gebiet wagte, wo er nicht willkommen war.
Sein Gesicht war angespannt. »Mir gefällt der Gedanke nicht, daß ich aus den gleichen Gründen ausgewählt wurde wie Pe Ell«, murmelte er schließlich. »Ich bin nicht wie er.«
»Das weiß ich«, sagte sie. Sie zögerte, als kämpfe sie mit einem inneren Dämonen. »Ich glaube, daß jeder von euch – einschließlich Walker Boh – aus einem anderen Grund hier ist, daß jedem eine andere Aufgabe gestellt ist. Das fühle ich.«
Er nickte, nur zu gern bereit, ihr zu glauben, und außerstande, ihr nicht zu glauben. »Ich wünschte nur, ich wüßte mehr.«
Sie berührte seine Wange mit den Fingern, ließ sie hinunter bis an sein Kinn und über den Hals streichen und zog sie dann zurück. »Es wird alles gut werden«, sagte sie.
Dann lehnte sie sich wieder gegen den Baumstamm und kuschelte sich an ihn, und er fühlte, wie seine Enttäuschungen und Zweifel zu schwinden begannen. Er ließ sie fahren, ohne dagegen anzukämpfen, zufrieden, das Mädchen im Arm zu halten. Es war inzwischen dunkel geworden, das Tageslicht war im Westen untergegangen, und die Nacht breitete sich über das Land. Das Gewitter war nach Osten abgezogen, und vom Regen war nur ein Nebel zurückgeblieben. Die Wolkendecke war noch immer ungebrochen, doch es donnerte nicht mehr, und Stille hatte sich wie eine Decke über das Land gebreitet wie über ein Kind, das schlafen gelegt wird. Unsichtbar sprudelte und gluckerte noch immer der Rabb, sein dumpfes Rauschen war jetzt langsamer und gemäßigter und lullte sie ein. Morgan spähte in die Nacht, ohne etwas zu sehen; die Dunkelheit hatte sich wie ein undurchsichtiger Vorhang über alles gelegt, ihn eingehüllt und sich wie eine Decke um ihn gewickelt. Er sog die klare Luft ein und ließ seinen Gedanken freien Lauf.
»Ich könnte etwas Eßbares vertragen«, überlegte er nach einiger Zeit. »Falls wir hier etwas finden.«
Ohne etwas zu sagen, erhob sich Quickening, nahm seine Hände in die ihren und zog ihn hinter sich her. Zusammen wanderten sie in der Finsternis durch das nasse Gras. Sie konnte weit mehr sehen als er und führte ihn mit einer Sicherheit, der er sich widerspruchslos fügte. Bald fand sie Wurzeln und Beeren, die sie verzehren konnten, und eine Pflanze, die, in der richtigen Weise aufgeschnitten, frisches Wasser lieferte. Sie aßen und tranken, was sie fanden, wortlos und still nebeneinandergekauert. Als sie geendet hatten, nahm sie ihn mit ans Ufer, wo sie schweigend auf die dunklen, vor dem finsteren Festland mysteriös schimmernden Wasser des Rabb schauten.
Eine sanfte Brise strich Morgan über das Gesicht und trug den Duft von Blüten und Gräsern mit. Seine Kleider waren noch immer naß, aber er fror nicht mehr. Die Luft war lau, und er fühlte sich seltsam leicht.
»So ist es manchmal im Hochland«, erzählte er ihr. »Warm und voll von dem Geruch von Erde nach einem Sommergewitter, die Nächte so lang, daß man meint und hofft, sie würden nie enden.« Er lachte. »In solchen Nächten saß ich oft mit Par und Coll Ohmsford zusammen. Ich erzählte ihnen, daß man, wenn man es sich nur innig genug wünschte … mit der Dunkelheit verschmelzen könnte wie eine Schneeflocke auf der Haut, einfach darin verschwinden und so lange bleiben, wie man will.«
Er lugte zu ihr hinüber, um ihre Reaktion zu sehen. Sie saß noch immer neben ihm, in Gedanken verloren. Er zog die Knie an die Brust und schlang seine Arme darum. Ein Teil von ihm wäre gern mit dieser Nacht verschmolzen, so daß sie für immer dauerte, hätte sie mitnehmen mögen, fort aus der Welt um sie herum. Es war ein dummer Wunsch.
»Morgan«, sagte sie schließlich. »Ich beneide dich um deine Vergangenheit. Ich habe keine.«
Er lächelte. »Natürlich hast …«
»Nein«, unterbrach sie ihn. »Ich bin ein Elementargeist. Weißt du, was das bedeutet? Ich bin kein Mensch. Ich wurde durch Zauber erschaffen. Ich wurde aus der Erde der Gärten gemacht. Die Hand meines Vaters formte mich. Ich wurde voll ausgewachsen geboren, als eine Frau, die niemals ein Kind war. Meine Aufgabe wurde von meinem Vater bestimmt, und ich habe keinen Einfluß darauf, worin diese Aufgabe besteht. Das betrübt mich nicht, denn ich weiß es nicht besser. Doch mein Instinkt, meine menschlichen Gefühle verraten mir, daß es mehr gibt, und ich wünschte, daß es mein wäre, so wie es dein ist. Ich fühle den Genuß, den deine Erinnerungen dir bereiten. Ich fühle die Freude.«
Morgan war sprachlos. Er hatte gewußt, daß sie magisch war, daß sie über magische Fähigkeiten verfügte, aber es war ihm nie in den Sinn gekommen, daß sie kein … Er fing sich. Daß sie was nicht wäre? So wirklich, wie sie war? So menschlich? Aber sie war es doch, oder? Ungeachtet dessen, für was sie sich hielt. Sie fühlte und schaute und sprach und handelte wie ein Mensch. Was gab es denn sonst? Ihr Vater hatte sie nach dem Bild des Menschen gestaltet. Reichte das nicht? Sein Blick strich über sie. Ihm war es genug, stellte er fest. Mehr als genug.
Er streichelte ihre Hand. »Ich gebe zu, daß ich nichts darüber weiß, wie du gemacht wurdest, Quickening. Ich weiß auch nichts über Elementargeister. Aber du bist ein Mensch. Davon bin ich überzeugt. Ich wüßte es, wenn du das nicht wärest. Und was die Vergangenheit angeht, die Vergangenheit ist nichts als Erinnerungen, die du sammelst, und das ist etwas, das du im Augenblick gerade tust, du sammelst Erinnerungen – auch wenn es nicht die angenehmsten sind.«
»Leah«, sagte sie.
Er hielt ihrem Blick stand. Dann beugte er sich zu ihr und küßte sie. Nur eine leichte Berührung ihrer Lippen. Dann richtete er sich wieder auf. Sie schaute ihn aus ihren dunklen, durchdringenden Augen an. Angst spiegelte sich darin, und es entging ihm nicht.
»Was fürchtest du?« fragte er.
Sie schüttelte den Kopf. »Die Gefühle, die du in mir weckst.«
Er merkte, daß er sich auf gefährlichen Boden wagte, aber er ließ sich trotzdem nicht zurückhalten. »Du hast mich vorhin gefragt, warum ich hinter dir hergekommen bin, als du gestürzt bist. Die Wahrheit ist, daß ich nicht anders konnte. Ich liebe dich.«
Ihr Gesicht verlor jeglichen Ausdruck. »Du darfst mich nicht lieben«, flüsterte sie.
Er lächelte traurig. »Ich fürchte, ich bin da machtlos. Dagegen kann ich nichts tun.«
Sie schaute ihn lange an, dann erschauderte sie. »Und ich kann ebensowenig gegen das tun, was ich für dich empfinde. Aber du bist dir deiner Gefühle wenigstens gewiß, meine verwirren mich nur. Ich muß den Auftrag meines Vaters ausführen, und meine Gefühle für dich, und deine für mich, dürfen dem nicht in die Quere kommen.«
»Das brauchen sie auch nicht«, sagte er, nahm wieder ihre Hände in die seinen, diesmal mit mehr Bestimmtheit. »Sie können einfach dasein.«
Ihr Silberhaar glänzte, als sie den Kopf schüttelte. »Ich glaube nicht. Nicht Gefühle von dieser Art.«
Er küßte sie wieder, und diesmal erwiderte sie den Kuß. Er atmete sie ein, als wäre sie eine Blüte. Er war sich seiner Gefühle in seinem ganzen Leben noch nie so sicher gewesen wie mit ihr.
Sie unterbrach den Kuß und wandte sich ab. »Morgan«, sagte sie, und es klang wie ein Flehen.
Sie erhoben sich und gingen zurück in den Schutz der Bäume, zu der Ulme, unter der sie zuvor das Gewitter abgewartet hatten, und ließen sich wieder an ihrem Stamm nieder. Sie hielten sich aneinander fest wie Kinder, die verängstigt und allein sind und Schutz vor den namenlosen Schrecken suchen, die gleich außerhalb ihres Bewußtseins lauern, ihre Träume heimsuchen und ihren Schlaf bedrohen.
»Als ich die Gärten meiner Geburt verließ, sagte mir mein Vater, daß es Dinge gebe, vor denen er mich nicht bewahren kann«, flüsterte sie. Ihr Gesicht war nah an Morgans Wange, sanft und weich, und ihr Atem war warm. »Er meinte damit nicht die Gefahren, die mich erwarteten – Uhl Belk oder die Lebewesen, die in Eldwist hausen, nicht einmal die Schattenwesen. Er sprach hiervon.«
Morgan strich ihr zärtlich über das Haar. »Es gibt nicht viel, das dich gegen deine Gefühle beschützen kann.«
»Ich kann sie verdrängen«, erwiderte sie.
Er nickte. »Wenn es sein muß. Aber ich muß dir sagen, daß ich nicht fähig bin, meine Gefühle zu verdrängen. Selbst wenn mein Leben davon abhinge, wäre ich dazu nicht imstande. Und es spielt dabei keine Rolle, wer oder was du bist. Elementargeist oder sonst irgend etwas. Mir ist unwichtig, wer dich gemacht hat und warum. Ich liebe dich, Quickening. Ich glaube, ich liebe dich, seit ich dich zum ersten Mal gesehen habe, seit den ersten Worten, die du gesprochen hast. Ich kann es nicht ändern, gleich, was du sonst von mir verlangst. Ich will es nicht einmal versuchen.«
Sie drehte sich in seinen Armen um und hob ihm ihr Gesicht entgegen. Dann küßte sie ihn und küßte ihn, bis alles um sie herum verschwand.
Als sie am nächsten Morgen erwachten, stieg die Sonne gerade über den Horizont eines wolkenlosen, blauen Himmels. Vögel zwitscherten, und die Luft war warm und süß. Sie erhoben sich, wanderten ans Flußufer und fanden den Rabb wieder träge und friedlich dahinfließen. Morgan Leah schaute Quickening an, die Linie ihres Körpers, die wilde Silbermähne, die Sanftheit ihrer Züge, und ein breites, unwillkürliches Lächeln erhellte sein Gesicht. »Ich liebe dich«, flüsterte er.
Sie lächelte zurück. »Und ich liebe dich, Morgan Leah. Ich werde in meinem ganzen Leben niemanden so lieben, wie ich dich liebe.«
Sie sprangen in den Fluß. Sie waren gut ausgeruht und schwammen mühelos zum Festland hinüber. Als sie das andere Ufer erreichten, blieben sie einen Moment stehen und schauten zu ihrer Insel zurück. Morgan kämpfte gegen eine Welle von Traurigkeit an, die in ihm aufstieg. Die Insel und ihre Einsamkeit und die vergangene Nacht waren für ihn verloren und blieben nur als Erinnerung zurück. Sie gingen wieder in die Welt des Uhl Belk und des schwarzen Elfensteins.
Sie folgten dem Ufer flußaufwärts nach Süden während mehrerer Stunden, ehe sie die anderen fanden. Es war Carisman, der sie als erster erspähte, als er am Rand eines steilen Uferfelsens entlangging, und beglückt benachrichtigte er die anderen. Dann stürmte er mit fliegendem Haar und gerötetem Gesicht den Hang hinunter. Die letzten Meter rutschte er auf der Kehrseite, sprang auf und hüpfte ihnen entgegen. Er warf sich Quickening zu Füßen und fing an zu singen:
»Die verlorenen Schäflein sind wiedergefunden,
gerettet die Lämmchen vor Wölfen und Wunden.
Sie irrten weitum, dock sie fanden zurück,
jetzt bleiben sie hier, sie sind unser Glück.
Tralala, tralala, tralala.«
Es war ein albernes Lied, doch Morgan mußte unwillkürlich lächeln. Wenig später kamen auch die anderen herbei, der hagere Pe Ell, dessen düstere Wut, Quickening verloren zu haben, der Erleichterung darüber, daß sie wieder da war, wich; der bärenhafte Horner Dees, der brummig die Sache als erledigt abtun wollte, und der rätselhafte Walker Boh, dessen Gesicht eine unergründliche Maske war, als er Morgan zu der Rettung gratulierte. Und währenddessen tanzte und sang ein überschwenglicher Carisman und füllte die Umgebung mit seiner Musik.
Nachdem die Begrüßungen schließlich erledigt waren, machten sie sich wieder auf den Weg. Sie verließen das Charnalgebirge und zogen in das Waldland im Norden. Irgendwo weit vor ihnen wartete Eldwist. Die Sonne stieg in den Himmel und hing dort, wärmte und beleuchtete das Land, als sei sie entschlossen, sämtliche Spuren des gestrigen Gewitters zu verwischen.
Morgan ging neben Quickening. Achtsam suchten sie den Weg zwischen verdampfenden Pfützen und Rinnsalen. Sie sagten nichts. Sie schauten einander nicht einmal an. Nach einer Weile fühlte er, wie sie seine Hand in die ihre nahm.
Bei ihrer Berührung durchflutete ihn die Erinnerung.