23

Nachdem Walker Boh, Quickening und Carisman sich von Morgan und Horner Dees getrennt hatten, legten sie nur ein kurzes Stück ostwärts durch die dunklen Straßen von Eldwist zurück und machten Halt. Walker und das Mädchen schauten einander an. Keiner hatte etwas über anhalten gesagt; es war, als hätten sie gegenseitig ihre Gedanken gelesen. Carisman schaute verwirrt von einem zum anderen.

»Du weißt, wo sich der Steinkönig verbirgt«, sagte Quickening. Sie ließ es wie eine Feststellung von Tatsachen klingen.

»Ich glaube ja«, erwiderte Walker. Er starrte in die unergründlichen schwarzen Augen und wunderte sich über die Zuversicht, die er darin fand. »Hast du das geahnt, als du beschlossen hast, mit mir zu kommen?«

Sie nickte. »Wenn er gefunden wird, muß ich dabeisein.«

Sie gab keine Erklärungen ihrer Gründe, und Walker fragte nicht danach. Er schaute in die Ferne, versuchte vergeblich, die Dunkelheit zu durchdringen, jenseits von Nebel und Finsternis etwas von dem zu finden, was von ihm erwartet wurde. Aber dort war natürlich nichts zu finden. Die Antworten auf seine Fragen lagen irgendwo in seinem Inneren.

»Ich glaube, der Steinkönig versteckt sich unter der Kuppel«, sagte er leise. »Ich hatte den Verdacht schon, als wir vor ein paar Tagen dort waren. Es scheint keinen Zugang zu geben, doch als ich den Stein berührte und an den Mauern entlangging, fühlte ich Leben. Da war etwas, das ich nicht erklären konnte. Und dann gestern, als wir in jener unterirdischen Höhle festsaßen, fühlte ich es wieder – nur daß es diesmal über uns war. Als wir aus den Tunneln auftauchten, habe ich kurz ein paar Berechnungen angestellt. Die Kuppel steht direkt über jenen Höhlen.«

Er verstummte für einen Augenblick und sah sich um. »Die Stadt Eldwist ist das Werk ihres Schöpfers. Uhl Belk hat diese Stadt der Alten Welt zu seiner eigenen gemacht, alles, was nicht schon aus Stein war, zu Stein verwandelt und seine Domäne symmetrisch ausgebreitet, soweit das Land es erlaubt. Die Kuppel steht genau in der Mitte, die Nabe eines Rades aus Straßen und Häusern, Mauern und Ruinen.«

Sein bleiches Gesicht wandte sich ihr zu. »Uhl Belk ist dort.«

Er konnte förmlich sehen, wie ihre Augen lebhaft aufleuchteten. »Dann müssen wir ihn besuchen gehen«, sagte sie.

Sie machten sich wieder auf, folgten dem Gehsteig bis zum Ende des Häuserblocks und bogen dann scharf nach Norden. Walker ging voran, hielt sich sorgfältig von den Straßen fern und blieb nahe der Hausmauern, außerhalb der freien Flächen und fern der Falltüren. Weder er noch Quickening sagten etwas; Carisman summte leise vor sich hin. Sie prüften die Düsternis wie Habichte, lauschten auf unbekannte Geräusche und witterten wachsam in die feuchte, abgestandene Luft. Ein kurzer Regenguß überraschte sie und hinterließ sie mit triefenden Umhängen und Kapuzen und eiskalten Füßen in ihren nassen Stiefeln.

Walker Boh dachte an zu Hause. Er hatte das in letzter Zeit immer häufiger getan, getrieben von dem ständigen, unnachgiebigen Druck, eingeengt zu sein von dem Stein und der Düsterkeit der Stadt, auf der Suche nach etwas, das einst erfreulich und heilsam gewesen war. Eine Zeitlang hatte er alle Gedanken an Hearthstone zu verbannen versucht; die Erinnerungen daran verletzten ihn wie zerbrochenes Glas. Die Hütte, die er zu seinem Heim erkoren hatte, war im Kampf mit den Schattenwesen niedergebrannt. Cogline und Ondit hatten dort ihr Leben gelassen. Er war selbst haarscharf am Tod vorbeigekommen, und es hatte ihn seinen Arm gekostet. Er hatte sich einst für unverwundbar durch Übergriffe von der Außenwelt gehalten. Er war eitel und dumm genug gewesen, zu prahlen, daß das, was außerhalb von Hearthstone lag, keine Gefahr für ihn darstellte. Er hatte die Träume, die Allanon ihm aus der Geisterwelt gesandt hatte, abgewehrt, die drängenden Bitten um seine Hilfe, die Par Ohmsford an ihn gerichtet hatte, und schließlich auch den Auftrag, auf die Suche nach Paranor und den Druiden zu gehen. Er hatte sich hinter eingebildeten Mauern verschanzt und sich in Sicherheit geglaubt. Als jene Mauern einzustürzen begannen, hatte er herausgefunden, daß sie nicht ersetzt werden konnten, daß die Dinge, die er für gesichert gehalten hatte, verloren waren.

Doch es gab auch ältere Erinnerungen an Hearthstone, die die jüngeren Tragödien überdauerten. Da waren alle jene Jahre, als er in Frieden in dem Tal gelebt hatte, die Zeiten, als die Außenwelt nicht eingriff und er Zeit für alles hatte. Da waren der Duft der Blumen, der Bäume, der frischen Quellen, das Zwitschern der Vögel im Frühling, das Summen der Insekten im Sommer, das Aroma der Dämmerung an einem klaren Herbsttag; das Gefühl von friedvoller Heiterkeit bei jedem Sonnenuntergang und dem Hereinbrechen der Nacht. Er konnte jenseits der Ereignisse der letzten Wochen Frieden in diesen Erinnerungen finden. Er tat es jetzt, denn sie waren alles, was ihm blieb.

Doch auch seine stärksten Erinnerungen boten ihm nur zeitweilige Zuflucht. Die herben Unvermeidlichkeiten der Gegenwart drängten sich ihm auf und ließen sich nicht verbannen. Für kurze Momente konnte er in die Vergangenheit fliehen, in die Welt, die ihn eine Weile geborgen hatte, ehe die Flut der Ereignisse, die er in törichter Weise zu ignorieren versucht hatte, ihn fortspülte. Flucht mochte das Gemüt stärken und besänftigen, doch nur vorübergehend. Seine Gedanken schlüpften fort aus den Erinnerungen, und er mußte erkennen, daß die Vergangenheit für immer unwiederbringlich verloren und die Gegenwart für immer greifbar war. Er rang mit seinem Leben, erkannte er. Er war hilflos preisgegeben, ein Schiffbrüchiger, der inmitten der Trümmer seiner Verwirrung und Zweifel darum kämpfte, über Wasser zu bleiben. Er fühlte fast schon, wie er zu sinken begann.

Sie erreichten die Kuppel im Laufe des Vormittags und begannen ihre Erkundungen. Sie blieben zusammen, sie wollten sich nicht trennen, für den Fall, daß der Steinkönig tatsächlich im Inneren wartete. Sie fingen an, die Oberfläche der Kuppel zu untersuchen, gingen um das ganze Gebäude herum, tasteten die Wände ab und erforschten sogar den Boden, auf dem sie stand. Das Bauwerk war perfekt gestaltet, auch wenn die gealterte Schale gesprungen und gesplittert war. Der Scheitelpunkt ragte fast hundert Meter in die Höhe, und der Durchmesser betrug mehr als hundert Meter. Einbuchtungen wie Daumenabdrücke einer Riesenhand zierten den Gipfel wie Blütenblätter, unterteilt von steinernen Bändern, die bis ans Fundament verliefen. Nischen und Alkoven zerklüfteten das Erdgeschoß, doch sie boten keinen Eingang, führten nirgendwohin. Gehauene Muster schmückten den Stein, doch die meisten waren im Laufe der Zeit vollständig abgenutzt und nicht mehr deutbar, Runen einer Welt, die längst vergangen war.

»Ich kann noch immer etwas fühlen«, sagte Walker Boh, blieb stehen und zog seinen Umhang fester um seine Schultern. Er schaute in den Himmel hinauf. Es regnete wieder, ein langsames, aber stetiges Nieseln. »Dort drinnen ist etwas. Irgend etwas.«

Quickening stand neben ihm. »Magie«, flüsterte sie.

Er starrte sie an, überrascht, wie schnell sie eine Wahrheit erkannt hatte, die ihm entgangen war. »Das ist es«, murmelte er. Er streckte die Hand aus und suchte. »Überall, im Stein selbst.«

»Er ist hier«, flüsterte Quickening.

Carisman kam herbei und strich prüfend über die Mauer. Er runzelte die Stirn. »Warum reagiert er nicht? Sollte er nicht längst herausgekommen sein, um zu sehen, was wir wollen?«

»Vielleicht weiß er gar nicht, daß wir hier sind. Vielleicht ist es ihm auch egal.« Quickening sah fragend zu ihm auf. »Vielleicht schläft er auch.«

Carisman legte nachdenklich die Stirn in Falten. »Dann braucht es vielleicht ein Lied, um ihn aufzuwecken!«

Er begann zu singen:

»Erwache, wach auf, alter König aus Stein.

Komm doch heraus, ach, komm doch hervor,

Wir warten auf dich, sind müde und klein,

sind bar aller Hoffnung, ach, öffne das Tor.

Erwache, wach auf, alter König aus Stein,

Du brauchst nichts zu fürchten, wir bringen dir nichts.

Nicht mehr und nicht minder

als endlichen Geist, das Maß meines Lieds.

Erwache, wach auf, alter König aus Stein.

Gesehen hast du den Ablauf der Zeit,

uns sterbliche Wesen laß nehmen Anteil an Wahr-

heit und Rätseln der ganzen Menschheit.«

Als er geendet hatte, schaute er erwartungsvoll auf die große steinerne Kuppel. Es kam keine Antwort. Er schaute Quickening und Walker an und zuckte mit den Schultern. »Ist vielleicht nicht die Art von Musik, die ihm behagt. Ich werde mir etwas anderes ausdenken.«

Sie verließen die Kuppel und begaben sich in den Schutz eines nahe gelegenen Hauseingangs. Sie ließen sich mit dem Rücken zur Wand nieder, so daß sie auf die Kuppel schauen konnten, und holten aus ihren Rucksäcken etwas altes Brot und ein paar getrocknete Früchte zum Mittagessen. Sie aßen schweigend und schauten aus dem Schatten in den grauen Regen hinaus.

»Wir haben fast nichts mehr zu essen«, sagte Walker nach einer Weile. »Und das Wasser wird auch knapp. Wir werden bald etwas unternehmen müssen.«

Carisman strahlte. »Ich werde uns Fische fangen. Ich war mal ein ausgezeichneter Fischer – auch wenn ich es nur aus Vergnügen gemacht habe. Es war ein angenehmer Zeitvertreib, bei dem ich komponieren konnte. Sag mal, Walker Boh, was hast du eigentlich gemacht, ehe du nach Norden gekommen bist?«

Walker zögerte, überrascht von der Frage und unvorbereitet für die Antwort. Was hatte er eigentlich gemacht, fragte er sich. »Ich war Verwalter«, entschied er schließlich.

»Von was?« drängte Carisman neugierig.

»Von einer Hütte und dem umliegenden Land«, sagte er leise und voller Erinnerungen.

»Von einem ganzen Tal und allem, was darauf lebte«, ergänzte Quickening und lenkte Carismans Aufmerksamkeit auf sich. »Walker Boh beschützte das Leben in der Weise der Elfen alter Zeiten. Er gab von sich selbst, um das Land zu befruchten.«

Walker starrte sie an, wieder völlig überrascht. »Es war ein kläglicher Versuch«, schränkte er verlegen ein.

»Ich erlaube dir nicht, darüber zu urteilen«, erwiderte das Mädchen. »Es ist die Aufgabe anderer, festzustellen, wie erfolgreich du in deiner Arbeit warst. Du bist zu hart in deiner Kritik, und dir fehlt die nötige Distanz, um fair und unparteiisch zu sein.« Sie hielt inne und musterte ihn. »Ich bin überzeugt, daß man urteilen wird, daß du alles getan hast, was du konntest.«

Beide wußten sie, was sie damit meinte, und ihre Worte erwärmten ihn in seltsamer Weise. Wieder empfand er dieses Gefühl der Verwandtschaft zwischen ihnen beiden. Er nickte, ohne etwas zu entgegnen, und aß weiter.

Nachdem sie ihre Mahlzeit beendet hatten, erhoben sie sich und standen erneut vor der Kuppel und überlegten, was sie als nächstes versuchen würden.

»Vielleicht läßt sich von oben etwas sehen«, schlug Quickening vor. »Eine Öffnung in der Spitze der Kuppel oder vielleicht eine Abweichung im Stein, die auf einen Eingang hindeutet.«

Walker schaute sich um. Weniger als einen Block entfernt stand ein verziertes Gebäude mit einem Glockenturm, von dem aus man gut auf die Kuppel hinunterschauen konnte. Vorsichtig gingen sie hinüber, ständig auf der Hut vor den Falltüren, und erreichten den Eingang. Skulpturen geflügelter Engel und gewandeter Figuren schmückten Wände und Decken. Wachsam schlichen sie ins Innere. Der Mittelsaal war weitläufig, die Fensterscheiben längst zerfallen, die Ausstattung zu Staub zerbröckelt. Sie fanden die Treppe, die auf den Glockenturm führte, und begannen hinaufzusteigen. An manchen Stellen waren die Stufen abgestürzt, und nur die Verankerung war übriggeblieben. Sie balancierten über die Löcher und stiegen unermüdlich weiter. Sie ließen eine Etage nach der anderen unter sich, jede mit Löchern im Boden und übersät mit Schutt, und alles war versteinert und im Zustand des Verfalls perfekt erhalten.

Ohne weitere Schwierigkeiten gelangten sie auf die oberste Etage des Glockenturms und traten an die Fenster. Die Stadt Eldwist erstreckte sich nach allen Seiten, dunstig und grau, und schon füllte sie sich mit den Schatten des zur Neige gehenden Tages und dem Herannahen der Nacht. Der Regen hatte etwas nachgelassen, und die Häuser erhoben sich wie steinerne Wächter über die Halbinsel. Die Wolken hatten sich ein wenig gelichtet, und die geschieferte Wasseroberfläche des Gezeitenstroms und die zerklüfteten Klippen des Festlandes jenseits der Landenge waren durch Lücken in den langen Ketten steinerner Mauern zu sehen.

Die Kuppel stand direkt unter ihnen, von oben ebenso verschlossen und undurchschaubar, wie sie es von unten gewesen war. Es war nichts zu erkennen, kein Zeichen einer Öffnung, kein Hinweis auf einen Eingang. Dennoch betrachteten sie sie eine Weile in der Hoffnung, irgend etwas zu entdecken, das ihnen entgangen war.

Während sie mitten in ihrer Betrachtung waren, erschreckte sie plötzlich ein Hornsignal.

»Urdas!« schrie Carisman.

Walker und Quickening schauten einander erstaunt an, doch Carisman war schon an das Südfenster des Turms gesprungen und spähte in Richtung der Landenge und der Klippen, die hinunterführten.

»Das müssen sie sein, es ist ihr Signal!« rief er aufgeregt und beunruhigt. Er überschattete seine Augen gegen das blendende Licht, das sich auf dem nassen Stein spiegelte. »Dort! Seht ihr sie?«

Walker und Quickening rannten zu ihm. Der Sänger zeigte auf die Stelle, wo die Stufen von der Aussichtsplattform die Klippen hinunterführten und im Nebel kaum zu erkennen waren. Man konnte auf der Treppe eine Bewegung ausmachen, kleine, gebeugte Gestalten, tief gebückt, als wollten sie sich selbst vor den Schatten verstecken. »Urdas«, erkannte Walker, und sie kamen herunter.

»Was denken sie sich eigentlich!« rief Carisman sichtlich bestürzt. »Sie können doch nicht herkommen!«

Die Urdas wurden von einer Nebelwolke verschluckt. Carisman wirbelte zu seinen Gefährten herum. »Wenn sie nicht aufgehalten werden, werden sie alle getötet!« rief er verzweifelt aus.

»Du bist nicht mehr für sie verantwortlich, Carisman«, beschwichtigte ihn Walker Boh sanft. »Du bist nicht mehr ihr König.«

Carisman war nicht überzeugt. »Es sind Kinder, Walker! Sie haben keine Ahnung, was hier unten lebt. Der Kratzer oder der Malmschlund werden sie vernichten. Ich kann mir nicht vorstellen, wie sie überhaupt am Koden vorbeigekommen sind …«

»Genauso wie Horner Dees vor zehn Jahren«, unterbrach ihn Walker. »Indem sie Leben geopfert haben. Und trotzdem streben sie weiter. Offenbar machen sie sich nicht so viel Sorgen um sich selbst wie du um sie.«

Carisman wandte sich aufgeregt an Quickening. »Lady, du hast gesehen, wie sie reagieren. Was wissen sie schon vom Steinkönig und seiner Magie? Wenn sie nicht aufgehalten werden …«

Quickening faßte seine Arme und hielt sie fest. »Nein, Carisman. Walker Boh hat recht. Die Urdas sind jetzt eine Gefahr für dich.«

Aber Carisman schüttelte energisch den Kopf. »Nein Lady, für mich niemals. Sie waren meine Familie, ehe ich sie im Stich gelassen habe.«

»Du warst ihr Gefangener!«

»Sie haben sich um mich gekümmert und mich in der einzigen Weise beschützt, die sie kennen. Lady, was soll ich tun? Sie sind hergekommen, um mich zu suchen! Warum sollten sie sonst ein solches Risiko eingehen? Ich glaube, sie haben sich noch nie so weit von ihrer Heimat entfernt. Sie sind hier, weil sie glauben, ihr habt mich entführt. Darf ich sie ein zweites Mal im Stich lassen, und diesmal, damit sie für einen Fehler sterben, den zu begehen ich sie hindern kann?« Carisman befreite sich vorsichtig. »Ich muß zu ihnen gehen. Ich muß sie warnen.«

»Carisman …«

Der Sänger war schon bis an die Glockenturmtreppe zurückgewichen. »Ich bin mein ganzes Leben lang ein Waisenkind des Sturms gewesen, bin von einer Insel zur nächsten geweht worden, niemals hatte ich eine Familie oder ein Heim, war ständig auf der Suche nach einem Ort, wo ich zu Hause war, nach jemandem, zu dem ich gehörte. Die Urdas gaben mir von beidem, so wenig es euch auch erscheinen mag. Ich kann sie nicht einfach sterben lassen.«

Er drehte sich um und eilte die Treppen hinunter. Quickening und Walker wechselten wortlos einen Blick und hasteten hinter ihm her.

Unten auf der Straße holten sie ihn ein. »Dann begleiten wir dich also«, sagte Walker.

Carisman schnellte herum. »Nein, Walker, nein! Ihr dürft euch vor ihnen nicht sehen lassen! Wenn sie euch entdecken, glauben sie vielleicht, daß ihr mich bedroht – vielleicht sogar, daß ich euer Gefangener bin! Sie können angreifen, und ihr könntet verletzt werden! Nein! Laßt mich mit ihnen verhandeln. Ich kenne sie, ich weiß, wie ich mit ihnen reden muß. Ich kann ihnen erklären, was geschehen ist, und sie bewegen, umzukehren, ehe es zu spät ist.« Sein hübsches Gesicht war sorgenvoll verzerrt. »Bitte, Walker? Lady, bitte?«

Mehr gab es dazu nicht zu sagen. Carisman hatte sich entschlossen, und er ließ nicht zu, daß sie ihn umzustimmen versuchten. Als letztes Zugeständnis verlangen sie, daß er ihnen erlaube, ihn wenigstens so weit zu begleiten, wie die Vernunft es zuließ, um sicher zu sein, daß sie in der Nähe wären, falls es Schwierigkeiten gab. Carisman sträubte sich, wenigstens dem zuzustimmen, besorgt, daß er sie von ihrer Arbeit abhielt, die doch viel wichtiger war, und daß er ihre Suche nach dem Steinkönig verzögerte. Sowohl Quickening als auch Walker weigerten sich, darüber zu diskutieren. Schweigend gingen sie im Gänsemarsch die Gehsteige entlang, die Straßenschluchten hinunter nach Süden. Er wolle die Urdas am südlichen Stadtrand treffen, erklärte Carisman, strich seine blonde Mähne zurück und wappnete sich für die Begegnung. Walker fand ihn seltsam und heroisch zugleich, eine merkwürdige Parodie von einem Mann, der sich nach der Wirklichkeit sehnt und dennoch nicht fähig ist, sie zu erfassen. »Bedenke, was du tun willst«, bat er den Sänger inständig. Doch Carismans Antwortlächeln war fröhlich, betörend und voller Zuversicht. Er hatte alles Denken erledigt, zu dem er bereit war.

Als sie sich dem Stadtrand näherten und die felsigen Flächen der Landenge zwischen den Gebäuden sichtbar wurden, ließ Carisman sie anhalten.

»Wartet hier auf mich«, erklärte er ihnen mit Bestimmtheit. »Zeigt euch nicht, ihr würdet die Urdas nur erschrecken. Gebt mir ein bißchen Zeit. Ich bin sicher, daß ich es ihnen verständlich machen kann. Wie gesagt, meine Freunde – sie sind wie Kinder.«

Er drückte ihnen die Hände zum Abschied und ging davon. Einmal drehte er sich um, um sicher zu sein, daß sie taten, was er gesagt hatte, dann winkte er ihnen zu. Sein hübsches Gesicht lächelte und war voller Zuversicht. Sie sahen zu, wie der Nebel ihn umwehte, ihn einholte und schließlich verschluckte.

Walker sah sich die Häuser in ihrer Nähe an, wählte ein passendes aus und steuerte Quickening darauf zu. Sie traten ein, stiegen die Treppe zum obersten Stockwerk hinauf und fanden ein Zimmer mit einer Reihe von Fenstern nach Süden. Von dort aus konnten sie sehen, wie die Urdas sich näherten. Die knorrigen Gestalten waren über die Landenge verteilt und bewegten sich vorsichtig an den Spalten und Klüften entlang. Es waren ihrer vielleicht zwanzig, und mehrere von ihnen waren sichtlich verletzt.

Sie schauten zu, bis die Urdas den Stadtrand erreichten und dann im Schatten der Häuser verschwanden.

Walker schüttelte den Kopf. »Ich wünschte, wir hätten dem nicht zugestimmt. Carisman ist selbst fast ein Kind. Ich kann nicht umhin zu denken, daß er besser nicht mit uns gekommen wäre.«

»Es war sein Wunsch, mitzukommen«, erinnerte Quickening ihn. Ihr Gesicht war ins Licht gekehrt. »Er wollte frei sein, Walker Boh. Mit uns mitzukommen, selbst hierher, war besser, als zurückzubleiben.«

Walker warf einen letzten Blick aus dem Fenster. Die Steine der Landenge und die Straßen unten glänzten feucht. Es war leer und still. Er konnte das ferne Tosen des Ozeans hören, die Schreie der Seevögel und das Rauschen des Winds an den Klippen. Er fühlte sich einsam.

»Ich frage mich manchmal, wie viele von der Sorte von Carisman es gibt«, sagte er schließlich mit leiser Stimme. »Waisen, wie er sich selbst bezeichnete. Wie viele streunen durchs Land, vom Föderationsgesetz zu Ausgestoßenen gemacht, ihre Magie nicht die Gabe, als die sie gedacht war, sondern ein Fluch, den sie verheimlichen müssen, um ihr Leben zu bewahren.«

Quickening setzte sich mit dem Rücken gegen die Wand und musterte ihn. »Eine ganze Menge, Walker Boh. Wie Carisman. Und wie du selbst.«

Er ließ sich neben ihr nieder, zog sich seinen Umhang fest um die Schultern und hob sein Gesicht ins Licht. »Ich hatte dabei nicht an mich gedacht.«

»Dann mußt du das tun«, sagte sie einfach. »Du mußt es erkennen.«

Er starrte sie an. »Erkennen? Was denn?«

»Die Möglichkeiten deines Lebens. Die Gründe, warum du bist, was du bist. Wärest du ein Elementarwesen, würdest du es verstehen. Mir wurde das Leben mit einem bestimmten Ziel gegeben. Es ist undenkbar und wäre entsetzlich, ohne dieses Ziel zu existieren. Geht dir das nicht so?«

Walker fühlte, wie sein Gesicht sich anspannte. »Ich habe ein Ziel in meinem Leben.«

Ihr Lächeln war unerwartet und verblüffend. »Nein, Walker Boh, das hast du nicht. Du hast jeden Sinn für ein Ziel von dir gewiesen und dich selbst zweifach zu einem Außenseiter gemacht – zum ersten, weil du mit dem Erbe von Brin Ohmsfords Magie geboren wurdest, und zweitens, weil dir ihr Vermächtnis zugefallen ist. Du verleugnest, wer und was du bist. Als ich deinen Arm heilte, habe ich dein Leben gelesen. Sag mir, es ist nicht so.«

Er holte tief Luft. »Woher kommt es, daß ich das Gefühl habe, wir seien uns so ähnlich? Es ist weder Liebe noch Freundschaft. Es ist etwas dazwischen. Bin ich irgendwie mit dir verbunden?«

»Unsere Magie, Walker Boh.«

»Nein«, widersprach er eilig. »Es ist mehr als das.«

Ihr hübsches Gesicht zeigte keine Spur der Emotion, die in ihren Augen aufflackerte. »Es ist das, was wir zu tun hergekommen sind.«

»Den Steinkönig zu finden und ihm den gestohlenen schwarzen Elfenstein wieder wegzunehmen. Irgendwie.« Walker nickte feierlich. »Und für mich, meinen Arm zurückzugewinnen. Und für Morgan Leah, die Magie des Schwertes von Leah zurückzugewinnen. Alles irgendwie. Ich habe deine Erklärungen angehört. Stimmt es, daß dir nicht gesagt wurde, wie das alles erfüllt werden soll? Oder gibt es Geheimnisse, die du uns vorenthältst, wie Pe Ell dir vorwirft?«

»Walker Boh«, sagte sie leise. »Du drehst meine Frage zu deiner eigenen um und verlangst von mir, was ich von dir erbitten wollte. Beide halten wir einen Teil der Wahrheit zurück. Lange kann das nicht mehr so weiter gehen. Ich schlage dir einen Handel vor. Wenn du bereit bist, dich deiner Wahrheit zu stellen, werde ich mich der meinen stellen.«

Walker versuchte sie zu verstehen. »Ich fürchte die Magie nicht mehr, mit der ich zur Welt gekommen bin«, sagte er und betrachtete ihre Gesichtszüge, die Linien und Kurven und Winkel, als könne sie verschwinden, ehe er Zeit gehabt hätte, sie sich einzuprägen. »Mein Neffe Par Ohmsford ermahnte mich einmal, daß die Magie eine Gabe, nicht ein Fluch sei. Ich wies es von mir. Ich hatte Angst vor den Folgen, die der Besitz der Magie mit sich brachte. Ich fürchtete …«

Er fing sich mit eisernem Griff, der sich augenblicklich um seine Kehle und seine Gedanken legte. Der Schatten von etwas Entsetzlichem hatte sich ihm gezeigt, ein Schatten, der ihm im Laufe der Jahre vertraut geworden war. Er hatte kein Gesicht, doch er sprach mit den Stimmen von Allanon und Cogline und seinem Vater und sogar seiner eigenen. Er wisperte von Geschichte und Bedürfnissen und Gesetzen der Menschheit. Heftig stieß er ihn fort.

Quickening lehnte sich vor und berührte sein Gesicht mit zarten Fingern.

»Ich fürchte nur, daß du fortfährst, dich selbst zu verleugnen«, flüsterte sie, »bis es zu spät ist.«

»Quickening …«

Ihr Finger legten sich auf seine Lippen und hießen ihn schweigen. »Das Leben hat eine Ordnung für all die verschiedenen Ereignisse und Geschehnisse und alles, was wir in der uns gegebenen Zeit tun. Wir können diese Ordnung verstehen, wenn wir es uns erlauben, wenn uns das Wissen nicht erschreckt. Wissen allein reicht nicht, wenn wir nicht gleichzeitig dieses Wissen akzeptieren. Irgendwer kann dir das Wissen vermitteln, Walker Boh, doch du allein kannst lernen, es zu akzeptieren. Das muß von innen kommen. Deshalb hat mein Vater mich ausgesandt, dich und Pe Ell und Morgan Leah nach Eldwist zu bringen; deshalb wird die Kombination eurer Magie den schwarzen Elfenstein befreien und den Heilprozeß der Vier Länder einleiten. Ich weiß, daß dies geschehen wird. Wenn die Zeit gekommen ist, werde ich wissen, wie. Aber ich muß bereit sein, die Wahrheit zu akzeptieren, wenn das geschieht. Und das gleiche gilt für dich.«

»Ich werde …«

»Nein, du wirst nicht bereit sein, Walker«, kam sie ihm zuvor, »wenn du weiterhin Wahrheiten leugnest, die du längst kennst. Das ist, was du dir klarmachen mußt. Sprich jetzt nicht mehr davon. Denk nur über das nach, was ich dir gesagt habe.«

Sie wandte sich ab. Es war keine Abfuhr, sie meinte es nicht so. Es war nichts als ein Abbrechen, ein Beenden des Gesprächs, nicht um ihn zu strafen, sondern um ihm den Freiraum zu geben, sich selbst zu erforschen. Er saß da und starrte sie eine Weile an, dann wurde er nachdenklich. Er überließ sich den Bildern, die ihre Worte heraufbeschworen. Er dachte an andere Stimmen zu anderen Zeiten, an die Welt, aus der er kam, mit ihren falschen Wertvorstellungen, ihren Ängsten vor dem Unbekannten, ihrer Unterwerfung unter eine Regelung und Gesetze, die sie nicht verstehen wollte. Bring die Druiden und Paranor zurück, hatte Allanon ihm aufgetragen. Würde das eine Veränderung auslösen, die Welt, die Vier Länder in das zurückzuverwandeln, was sie einst waren? Und würde das die Dinge verbessern? Er zweifelte daran, doch er stellte fest, daß seine Zweifel eher in dem Mangel an Verstehen wurzelten als in seinen Ängsten. Was mußte er tun? Er mußte den schwarzen Elfenstein zurückerobern, ihn nach Paranor tragen und irgendwie, auf irgendeine Weise, die Feste wiederbringen. Doch was würde damit erreicht werden? Cogline war fort. Alle Druiden waren fort. Es blieb niemand …


Außer ihm selbst.

Nein! Er schrie das Wort beinahe heraus. Es trug das Gesicht von dem, was er fürchtete, das, wogegen er so hart ankämpfte, um es sich vom Leib zu halten. Es war die erschreckende Möglichkeit, die an den Rändern seines selbstauferlegten Schutzschilds kratzte und krallte, solange er denken konnte.

Er würde die Sache der Druiden nicht übernehmen! Doch er war Brin Ohmsfords letzter Nachkomme. Er war der Träger des Vermächtnisses, das ihr von Allanon überantwortet worden war. Nicht in deinem Leben. Bewahr es sicher für kommende Generationen. Eines Tages wird es wieder gebraucht werden. Worte aus der fernen Vergangenheit, gesprochen vom Schatten des Druiden nach seinem Tod, quälend, unerfüllt.

Ich habe die Magie nicht! jammerte er verzweifelt. Warum muß ich es sein? Warum? Aber er kannte die Antwort längst. Notwendigkeit. Weil die Notwendigkeit bestand. Es war die Antwort, die Allanon allen Ohmsfords gegeben hatte, jedem von ihnen, Jahr um Jahr, Generation um Generation. Immer.

Er rang mit dem Gespenst seines Schicksals in der Stille seiner Gedanken. Die Augenblicke zogen sich in die Länge. Schließlich hörte er Quickening sagen: »Es wird dunkel, Walker Boh.«

Er blickte auf und sah, daß das Tageslicht der Dämmerung zu weichen begann. Er stand auf und schaute nach Süden. Die Landenge war leer. Kein Zeichen von den Urdas.

»Es hat zu lange gedauert«, sagte er und ging zur Treppe.

Eilig stiegen sie hinunter, verließen das Haus und folgten dem Gehsteig zum südlichen Stadtrand. Schatten breiteten sich schon über alles, das Licht wich zum westlichen Horizont zurück. Die Seevögel waren in ihre Horste zurückgekehrt, und das Brausen des Ozeans war zu einem fernen Stöhnen abgeklungen. Der Stein unter ihren Stiefeln hallte leise mit jedem Schritt, als wispere er von Geheimnissen, um die Stille zu brechen.

Sie erreichten den Stadtrand und wurden langsamer, bewegten sich nur behutsam vorwärts und spähten in die Dämmerung auf der Suche nach Zeichen möglicher Gefahren. Sie fanden keinerlei Bewegung. Der Nebel ringelte seine feuchten Ranken durch gähnende Fenster und in Abflußgitter, und überall war das Gefühl einer verborgenen Gegenwart. Vor ihnen erstreckten sich die Felsen der Landenge ins Dunkel, zerklüftet und leblos.

Sie traten zwischen den Hausmauern hervor und blieben stehen.

Carismans Körper lag zusammengesunken an einer Felssäule, festgenagelt von einem Dutzend Speeren. Er war schon seit geraumer Zeit tot, sein Blut vom Regen fortgewaschen.

Es sah aus, als seien die Urdas den Weg, den sie gekommen waren, wieder zurückgegangen.

Sie hatten Carismans Kopf mitgenommen.

Selbst Kinder können gefährlich sein, dachte Walker Boh traurig. Er faßte nach Quickenings Hand und hielt sie fest. Er versuchte sich vorzustellen, was Carisman gedacht haben mochte, als er erkannte, daß seine Familie ihn verstoßen hatte. Er versuchte sich einzureden, daß er nichts hätte tun können, um es zu verhindern.

Quickening rückte nah an ihn heran. Sie standen wortlos da und starrten auf den toten Sänger. Dann wandten sie sich um und gingen in die Stadt zurück.

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