19

Bei Tagesanbruch kam die Gruppe aus ihrem Versteck. Wolken bedeckten den Himmel über Eldwist von einem Horizont zum anderen, der Morgen war grau und trüb. Ein fahles Aufhellen der feuchten, diesigen Luft war alles, was die Morgendämmerung zustande brachte, und die Schatten der Nacht zogen sich nur in die Nischen und Winkel der Stadt zurück und warteten dort auf die Rückkehr ihrer Meisterin.

Es gab keine Anzeichen des Kratzers. Die sechs aus Rampling Steep durchforschten aufmerksam die Düsternis. Um sie herum ragten die Häuser massiv und still in die Höhe. Die Straßen erstreckten sich als steinerne Schluchten in alle Richtungen. Die einzigen Geräusche waren das Heulen des Windes, das Donnern der Ozeanbrecher und die Schreie der hoch fliegenden Seevögel. Sie waren die einzige Bewegung in dieser Stille.

»Als wäre er nie hiergewesen«, murmelte Horner Dees, als er sich an Morgan Leah vorbeidrängte. »Als wäre das alles nur ein Traum gewesen.«

Sie machten sich wieder auf die Suche nach Uhl Belk. Regen, der nach Meer schmeckte und roch, begann durch den dichten Nebelvorhang zu rieseln, und sie waren in wenigen Minuten durchnäßt. Nasser Glanz legte sich über die steinernen Gehsteige und Straßen, die Hauswände, den Schutt und das Geröll, ein Belag, der die Düsternis und die Schatten widerspiegelte und mit dem Licht spielte. Der Wind blies in scharfen Stößen, fegte aus versteckten Ecken und Seitenstraßen, jagte mit lustvollem Pfeifen durch die Straßenschluchten endlos hinter sich selber her. Der Morgen rückte vor, ein langsames Knirschen der Zahnräder einer riesigen Maschine, das man nur im Geist hören und im Erlahmen des Elans fühlen konnte.

Sie fanden nicht die geringste Spur des Steinkönigs. Die Stadt war weitläufig und voller Verstecke. Selbst wenn sie sechzig statt nur sechs gewesen wären, konnte eine gründliche Suche Wochen in Anspruch nehmen. Keiner von ihnen wußte, wo sie nach Uhl Belk Ausschau halten sollten, schlimmer noch, niemand wußte, wie er überhaupt aussah. Nicht einmal Quickening konnte weiterhelfen. Ihr Vater hatte ihr nicht gesagt, wie des Steinkönigs Erscheinung sein mochte. Sah er aus wie sie? Hatte er menschliche Gestalt? War er groß oder klein? Morgan stellte diese Fragen, während sie nah an den Hausmauern entlang durch die Düsternis trotteten. Keiner wußte es. Sie suchten ein Gespenst.

Mittag verstrich. Häuser und Straßen kamen und gingen in endloser Prozession von Obelisken und glänzend schwarzen Bändern. Der Regen ließ erst etwas nach und wurde dann stärker. Donner grollte über ihren Köpfen, träge und drohend. Die sechs nahmen in dem dämmrigen Eingang eines der Gebäude ein kaltes Mahl ein und tranken etwas Wasser, während der Regen zum Wolkenbruch wurde, der die Straßen mehrere Zentimeter hoch überflutete. Sie lugten hinaus und schauten zu, wie sich das Wasser in Bächen sammelte und in steinernen Abflußgittern verschwand.

Als der Regen schließlich nachließ, machten sie sich wieder auf den Weg und gelangten nach kurzer Zeit zu dem merkwürdigen Kuppelbau, den sie am Vortag von dem obersten Stockwerk eines Hauses entdeckt hatten. Er stand zwischen den steinernen Türmen wie eine riesige Muschel. Die Oberfläche war abgenutzt, voller Kerben und Risse. Sie gingen darum herum, suchten nach einem Eingang und fanden keinen. Es gab keine Türen, keine Treppen, keine Fenster, es gab überhaupt keine Öffnungen.

Es gab Nischen und Alkoven und Einbuchtungen verschiedener Größen und Formen, die das Ganze wie eine Skulptur wirken ließen, aber keinen Ein- oder Ausgang. Es gab auch keine Leitern oder Fußstützen, die ihnen erlaubt hätten, hinaufzuklettern. Es war ihnen unmöglich festzustellen, wozu es gedient hatte. Es stand da in der Düsternis und trotzte ihnen.

Das gestrige Debakel saß ihnen noch in den Knochen, und sie kehrten rechtzeitig in ihren Unterschlupf zurück. Sie hatten sich nicht viel zu sagen, saßen in der zunehmenden Dunkelheit jeder für sich, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt.

Im Laufe jenes Tages war keinerlei Zeichen vom Malmschlund oder dem Kratzer zu sehen gewesen. Der Einbruch der Nacht brachte beide wieder hervor. Zuerst hörten sie den Kratzer, das Knirschen seiner Metallbeine auf dem Straßenpflaster unter ihnen, das ohne anzuhalten vorbeiging, während sie alle den Atem anhielten. Der Malmschlund kam später, das Geräusch seines Näherkommens zunächst ein dumpfes Rumpeln, das schnell zum Getöse anwuchs. Das Monster brach hervor und heulte auf, während es in die Nacht stieg. Es war unbehaglich nahe; das Gebäude, in dem sie sich befanden, erbebte unter seinem Schrei. Und dann verschwand es so schnell, wie es gekommen war. Niemand unternahm den Versuch, einen Blick darauf zu erhaschen. Jeder verhielt sich mucksmäuschenstill.

Sie schliefen besser in dieser Nacht, vielleicht, weil sie sich an die nächtlichen Geräusche der Stadt gewöhnt hatten, vielleicht auch nur, weil sie so erschöpft waren. Sie stellten eine Wache auf und lösten sich dabei ab. Nichts geschah.

Während der drei folgenden Tage setzten sie ihre Suche fort. Nebel, Dunst und Regen verfolgten sie, hartnäckig und unwillkommen, und die Stadt suchte ihre Träume heim. Eldwist war ein Steinwald voller Schatten und Geheimnisse, ihre hochaufragenden Gebäude die Bäume, die sie umzingelten und einsperrten. Doch im Gegensatz zu den grünen, lebendigen Wäldern in den südlich gelegenen Ländern war die Stadt leer und tot. Das Mädchen und die Männer empfanden keinerlei Verbindung zu Eldwist; sie waren Störenfriede, unerwünscht und allein. Alles in dieser Welt, in der sie jagten, war hart und unnachgiebig. Es gab keine erkennbaren Zeichen, keine vertrauten Markierungen und keine Veränderungen in Farbe, Form oder Geruch, die ihnen auch nur einen winzigen Fingerzeig geben konnten. Es gab nur das Rätsel des Steins.

Es begann, eine Wirkung auf die kleine Gruppe zu haben, trotz ihrer Entschlossenheit. Die Gespräche wurden knapper, die Stimmung gereizter, und die Ungewißheit, was sie tun sollten, wuchs. Horner Dees wurde noch schweigsamer und mürrischer, seine Fähigkeiten als Fährtensucher waren nutzlos, und seine Erfahrungen von vor zehn Jahren reichten hier nicht weiter. Pe Ell hielt sich weiterhin auf Distanz, seine Augen mißtrauisch, seine Bewegungen verstohlen und angespannt wie die einer Katze am Rande des Dschungels, entschlossen, sich nicht unterkriegen zu lassen. Carisman gab das Singen fast vollständig auf. Morgan Leah schrak beim leisesten Geräusch zusammen und war in Gedanken mit der Magie beschäftigt, die er verlor, als das Schwert von Leah zersplitterte. Walker Boh war ein stimmloses Gespenst; bleich und zurückhaltend glitt er durch die Düsternis, als könnte er jeden Moment einfach vergehen.

Sogar Quickening hatte sich verändert. Es war kaum wahrnehmbar, eine leichte Trübung ihrer exquisiten Schönheit, eine merkwürdige Schattierung in ihrer Stimme und ihren Bewegungen und eine gewisse Müdigkeit in ihren Augen. Morgan, der das Mädchen ständig beobachtete, glaubte, er allein könne es wahrnehmen.

Doch als sie einmal eine Pause im Schatten einer Wagenruine machten, ließ sich Walker Boh neben dem Hochländer nieder und flüsterte:

»Diese Stadt frißt uns auf, Morgan Leah. Kannst du es fühlen? Sie besitzt ein Leben über unser Verstehen hinaus, eine Ausdehnung des Willens des Steinkönigs, die an uns zehrt. Die Magie ist allenthalben. Wenn wir Uhl Belk nicht bald finden, laufen wir Gefahr, ganz und gar verschlungen zu werden. Siehst du das? Selbst Quickening ist davon angegriffen.«

Und das war sie allerdings. Walker zog sich wieder zurück, und Morgan war seinen eigenen düsteren Gedanken darüber überlassen, in was für eine Lage sie geraten waren. Diese ganze Anstrengung, um bis an diesen Ort zu gelangen, und alles schien umsonst gewesen zu sein. Es zehrte an ihrem Leben, ihrer Energie, ihrer Entschlossenheit und ihrem Willen. Er dachte daran, mit Quickening darüber zu sprechen, doch dann entschloß er sich, es bleiben zu lassen. Sie wußte, was im Gange war. Sie wußte es immer. Wenn es an der Zeit war, etwas zu unternehmen, dann würde sie das tun.

Doch es war Walker Boh, der als erster handelte. Der vierte Tag ihrer Suche nach dem Steinkönig war in der gleichen Weise vorübergegangen wie die drei davor, ohne daß einer von ihnen auch nur die winzigste Spur ihrer Jagdbeute gefunden hätte. Sie kauerten im Schatten ihres neuesten Unterschlupfs; Pe Ell hatte darauf bestanden, daß sie das Gebäude wechselten, um zu verhindern, daß der Kratzer sie entdeckte, der noch immer jede Nacht Jagd auf sie machte. Seit sie in Eldwist angekommen waren, hatten sie keine warme Mahlzeit mehr zu sich genommen oder die Wärme eines Feuers genossen, und ihre Trinkwasservorräte gingen zur Neige. Entmutigt und mit wunden Füßen saßen sie schweigend in der Patsche.

»Wir müssen die Tunnel unter der Stadt durchsuchen«, sagte plötzlich der Dunkle Onkel mit leiser, kalter Stimme.

Die anderen schauten auf. »Was für Tunnel?« fragte Carisman müde. Der Sänger, der weniger fit war als die anderen, verlor deutlich an Kraft.

»Diejenigen, die die Felsen unter den Häusern durchlöchern«, erwiderte Walker. »Es gibt viele davon. Ich habe die Treppen gesehen, die von den Straßen aus nach unten führen.«

Der bärbeißige Horner Dees schüttelte den Kopf. »Vergiß nicht, der Malmschlund ist da unten.«

»Ja. Irgendwo. Aber er ist ein riesiger, blinder Wurm. Wenn wir vorsichtig sind, wird er nicht einmal merken, daß wir da sind. Und wenn der Malmschlund sich unter der Erde versteckt, dann versteckt sich der Steinkönig vielleicht ebenfalls fort.«

Morgan nickte. »Warum nicht? Vielleicht sind beides Würmer. Vielleicht sind sie beide blind. Vielleicht mag keiner von ihnen das Licht. Der Himmel weiß, daß es davon wenig genug da unten gibt. Ich meine, das ist eine gute Idee.«

»Ja«, stimmte Quickening zu, ohne einen von ihnen anzuschauen.

Pe Ell regte sich im Schatten und sagte nichts. Die anderen murmelten ihre Zustimmung. In der Finsternis ihres Unterschlupfs wurde es schnell wieder still.

In jener Nacht schlief Quickening neben Morgan, was sie seit ihrer Ankunft in Eldwist nicht mehr getan hatte. Unerwartet kam sie und kuschelte sich an ihn, als fürchte sie, etwas könne sie fortstehlen kommen. Morgan legte seinen Arm um sie und hielt sie fest und lauschte auf ihren Atem, fühlte das Pulsieren ihres Körpers nah an seinem. Sie sprach nicht. Nach einer Weile schlief er mit ihr im Arm ein. Als er erwachte, war sie wieder fort.

Bei Tagesanbruch verließen sie ihren Unterschlupf und stiegen in die Katakomben unter der Stadt. Ein Treppenschacht unter einem Haus neben dem, wo sie sich eingenistet hatten, führte sie auf die erste Ebene. Weitere Treppen führten tiefer in den Fels, wanden sich in schwarzen Löchern im Stein ins Leere. Die Tunnel der ersten Ebene waren aus Steinquadern errichtet, und Schienen auf versteinerten Bohlen verliefen in dunkle Ferne. Alles war zu Stein verwandelt. Es gab kein Licht unter der Stadt. Walker Boh benutzte eines von Coglines Pulvern, mit dem er einen Steinkeil bestrich, der feuerähnlich leuchtete. Sie folgten den Schienen, die sich ins Finstere wanden. Die Schienen führten an Bahnsteigen entlang, wo es weitere Treppen nach oben und unten gab, und die Tunnel verzweigten sich in verschiedene Richtungen. Die Luft roch modrig, und loses Gestein knirschte unter ihren Schritten. Nach einer Weile stießen sie auf einen riesigen, umgekippten Wagen mit Rädern, die in die Schienen paßten, doch zerbrochen und zersplittert und durch die magische Transformation mit der Achse und dem Fahrgestell verschmolzen waren. Einst war dieser Wagen auf den Schienen gerollt, angetrieben durch rätselhafte Energie, und hatte die Menschen der Alten Welt von einem Gebäude zum anderen, von einer Straße zur anderen transportiert. Die Gruppe blieb einen Moment stehen und betrachtete das Wrack, um dann weiterzueilen.

Unterwegs fanden sie weitere Wagen, einmal einen ganzen Saal voll davon, manche noch immer auf den Schienen, manche umgestürzt und zersplittert. Unidentifizierbare Schutthaufen säumten die Schienen sowie Brocken und Teile von ehemaligen Eisenbänken auf den Bahnsteigen, an denen sie vorbeikamen. Hin und wieder stiegen sie zu den Straßen der Stadt hinauf, um sich zu orientieren und dann unterirdisch weiterzugehen. Tief unten, weit entfernt von ihnen, konnten sie das Rumpeln des Malmschlunds hören. Und noch weiter unten das Rauschen des Ozeans.

Nachdem sie viele Stunden lang das Tunnelnetzwerk erforscht hatten, ohne irgendeinen Hinweis auf den Steinkönig zu finden, ließ Pe Ell sie anhalten. »Wir verschwenden unsere Zeit«, sagte er. »Auf dieser Ebene werden wir nichts finden. Wir müssen tiefer hinunter.«

Walker Boh schaute zu Quickening hinüber und nickte dann. Morgan erhaschte einen Blick auf die Gesichter von Carisman und Horner Dees und sagte sich, daß er wohl den gleichen Ausdruck zeigte.

Sie stiegen durch einen gewundenen Treppenschacht zum nächsten Niveau hinunter in ein Labyrinth aus Abflußkanälen. Die Kanäle waren leer und trocken, doch es bestand kein Zweifel an ihrer ursprünglichen Funktion. Die Röhren, aus denen sie bestanden, waren mehr als sechs Meter hoch. Wie alles andere, waren auch sie versteinert. Sie folgten ihnen, und Walkers Behelfsfackel warf einen silbrigen Schimmer in die Schwärze, und ihre Schritte hallten dröhnend durch die Stille. Nicht mehr als hundert Meter von der Stelle entfernt, wo sie die Kanalisation betreten hatten, war ein riesiges Loch in die Seitenwände der Röhre gerissen worden. Sie waren zerfetzt, als bestünden sie aus Papier. Etwas von gewaltiger Größe hatte sich durch den Fels gegraben, so riesig, daß die Kanalröhre nicht mehr als ein Strohhalm in seinem Weg gewesen war.

Aus der schwarzen Leere des gegrabenen Tunnels schallte das Rumpeln des Malmschlunds. Hastig überquerten sie die geröllübersäte Öffnung und gingen weiter.

Zwei Stunden lang wanderten sie durch das Kanalsystem unter der Stadt und fahndeten vergeblich nach dem Versteck des Steinkönigs. Sie folgten den Windungen und Kurven und hatten bald jegliche Orientierung verloren. Von diesem Niveau führten weniger Treppen nach oben, und viele von ihnen waren nichts als Leitern an den Wänden der Abflüsse. Sie stießen einige Male auf die Grabtunnel des Malmschlunds, gähnende Öffnungen, die nach oben in die Stadt führten und dann wieder nach unten verschwanden, schwarze Löcher, die groß genug waren, ganze Gebäude zu verschlucken. Morgan starrte in jene Kluften, machte sich bewußt, daß der Fels der ganzen Halbinsel davon durchzogen sein mußte, und wunderte sich, daß die Stadt nicht einfach , einstürzte.

Kurz nach Mittag machten sie halt, um zu rasten und etwas zu essen. Sie fanden eine Treppe, die zum ersten Niveau hinaufführte, und kletterten auf einen der verlassenen Bahnsteige, wo ein paar versteinerte Bänke standen. Dort ließen sie sich nieder. Walkers Fackel steckte in einem Geröllhaufen und warf ihr Licht wie einen Heiligenschein auf sie. Wortlos starrten sie in die Schatten.

Morgan war vor den anderen fertig und ging zu einer Stelle, wo ein schmaler Lichtstrahl durch einen Treppenschacht, der zu den Straßen der Stadt führte, hereinfiel. Er setzte sich hin und starrte nach oben, dachte an bessere Zeiten und Plätze und fragte sich verzagt, ob er sie wohl je wieder erleben würde.

Carisman kam herüber und setzte sich neben ihn. »Es wäre schön, mal wieder die Sonne zu sehen«, sagte der Sänger nachdenklich und lächelte schwach, als Morgan ihn anschaute. »Wenigstens für einen kleinen Augenblick.« Er fing zu singen an:

»Finsternis für Katzen ist, für Fleder- und and’re Mäuse,

für uns nicht, die den Sonnenschein so über alles lieben.

In Eldwist ist es kalt und trüb, nur steinernes Gehäuse.

Ach, fort von hier ins Sonnenlicht. Wo ist es nur geblieben?«

Er grinste reichlich traurig. »Ist das nicht ein gräßlicher Knittelvers? Wahrscheinlich das schlechteste Lied, das ich je komponiert habe.«

»Woher kommst du, Carisman?« fragte Morgan. »Ich meine, vor den Urdas und Rampling Steep. Wo bist zu Hause?«

Carisman schüttelte den Kopf. »Irgendwo, überall. Ich bin zu Hause, wo ich gerade bin, und ich bin fast überall gewesen. Seit ich laufen kann, bin ich herumgereist.«

»Hast du eine Familie?«

»Nein. Nicht daß ich wüßte.« Carisman zog die Knie vor die Brust und umfaßte sie mit den Armen. »Wenn ich hier ums Leben komme, gibt es niemanden, der sich fragt, was aus mir geworden ist.«

»Du wirst nicht sterben«, fauchte Morgan ihn an. »Keiner von uns, wenn wir aufpassen.« Die Eindringlichkeit von Carismans Blick war ihm unbehaglich. »Ich habe eine Familie. Vater und Mutter drüben im Hochland. Und zwei jüngere Brüder. Ich habe sie seit Wochen nicht gesehen.«

Carismans hübsches Gesicht hellte sich auf. »Ich habe vor ein paar Jahren das Hochland bereist. Es ist ein wunderschönes Land, die Hügel ganz purpurn und silbrig im Morgenlicht, fast rot, wenn die Sonne untergeht. Es war ruhig dort oben, so still, daß man die Vögel aus weiter Ferne singen hören konnte.« Er wiegte sich hin und her. »Ich hätte glücklich sein können, wenn ich dort geblieben wäre.«

Morgan musterte ihn eine Weile, beobachtete, wie er ins Leere starrte, gefangen in einer inneren Vision. »Ich habe vor, zurückzugehen, wenn wir diese Angelegenheit hier hinter uns haben«, sagte er. »Warum kommst du nicht mit zu mir nach Hause?«

Carisman sah ihn aufmerksam an. »Ginge das? Ich käme gerne mit.«

Morgan nickte. »Abgemacht. Aber kein Wort mehr über das Sterben.«

Sie schwiegen eine Weile, bis Carisman weitersprach. »Weißt du, daß das, was für mich einer Familie am nächsten kam, die Urdas waren? Trotz der Tatsache, daß ich ihr Gefangener war, kümmerten sie sich um mich. Ich bedeutete ihnen etwas. Und sie mir. Wie eine Familie. Seltsam.«

Morgan dachte an seine Familie, seine Eltern, seine Brüder. Er erinnerte sich an ihre Gesichter, den Klang ihrer Stimmen, die Art, wie sie sich bewegten. Das brachte ihn dazu, an die Talbewohner zu denken, an Par und Coll. Wo waren sie? Dann dachte er an Steff, der nun schon seit einigen Wochen tot war, der schon zu einer Erinnerung wurde, mit der Geschichte seiner Vergangenheit verschmolz. Er dachte an das Versprechen, das er seinem Freund gegeben hatte – daß er, wenn er die Magie finden würde, die den Zwergen in ihrem Kampf um Freiheit helfen konnte, sie gegen die Föderation und gegen die Schattenwesen einsetzen würde. Wilde Entschlossenheit durchströmte ihn und löste sich wieder. Vielleicht erwies sich der schwarze Elfenstein als die Waffe, die er brauchte. Wenn der Stein andere Magien zunichte machen konnte, wenn er tatsächlich stark genug war, das untergegangene Paranor zurückzubringen, indem er dem Zauberbann entgegenwirkte …


»Sie mochten die Musik, verstehst du, aber es war mehr als nur das«, fuhr Carisman fort. »Ich glaube, sie mochten mich selbst auch. Sie waren ein bißchen wie Kinder, die einen Vater brauchen. Sie wollten alles über die Welt außerhalb ihres Tales erfahren, über die Vier Länder und die Völker, die dort leben. Die meisten waren nie über die Grenze der Stachelberge hinausgekommen. Ich war schon überall gewesen.«

»Nur hier noch nicht«, sagte Morgan lächelnd.

Aber Carisman schaute woandershin. »Ich wünschte, ich wäre nie hierhergekommen«, sagte er.

Die Gruppe setzte ihre Erkundungen des Abwassersystems von Eldwist fort und fanden es nach wie vor bar jeglichen Lebens. Sie fanden nichts – nicht die kleinste Wühlmaus, keine Fledermaus, nicht einmal die Insekten, die sonst unter der Erde gedeihen. Und keinerlei Anzeichen von Uhl Belk. Da war nur das Gestein, das bewies, daß er hiergewesen war. Sie wanderten während mehrerer Stunden und begannen dann den Rückweg. Das Tageslicht würde in kurzer Zeit verlöschen, und sie hatten nicht die Absicht, draußen zu sein, wenn der Kratzer seine nächtlichen Säuberungsaktionen begann.

»Es ist möglich, daß er nicht in die unterirdischen Tunnel kommt«, überlegte Walker Boh.

Aber keiner hatte Lust, das herauszufinden. Sie folgten den gewundenen Katakomben, überquerten wieder die Grablöcher des Malmschlunds und drängten unverdrossen weiter durch die Finsternis. Grunzen und Schnaufen waren die einzigen Geräusche. Ihre Gesichter waren von der Anspannung gezeichnet, in ihren Augen spiegelten sich ihre Entmutigung und ihre Unzufriedenheit. Niemand sagte etwas. Was sie dachten, brauchte keine Worte.

Plötzlich ließ Walker sie anhalten und zeigte ins Finstere. Da war eine Öffnung in dem Tunnel, die ihnen zuvor entgangen war, kleiner als die Kanalröhren und fast unsichtbar in der Dunkelheit. Walker kauerte sich nieder, um hineinzuschauen, dann verschwand er.

Kurz darauf kam er wieder. »Dort gibt es eine Höhle und einen Treppenschacht nach unten«, berichtete er. »Es sieht so aus, als ob es weiter unten noch ein Tunnelnetz gibt.« Sie folgten ihm in die darunter liegende Höhle, eine Kammer, deren Wände und Boden mit Splittern übersät und von tiefen Rissen durchzogen waren. Sie fanden den Treppenschacht und schauten in die Finsternis hinunter. Es war unmöglich, irgend etwas zu erkennen. Sie tauschten unbehagliche Blicke miteinander. Wortlos ging Walker zu der Treppe, und, die Behelfsfackel in der Hand, begann er, die Stufen hinunterzusteigen. Nach einem kurzen Zögern folgten ihm die anderen schließlich.

Die Stufen führten tief hinunter, ausgetreten und glitschig. Der Geruch des Ozeans war hier gegenwärtig, und sie konnten das Tröpfeln von Seewasser in der Dunkelheit hören. Als sie unten angekommen waren, fanden sie sich in der Mitte eines breiten, hohen Tunnels wieder, in dem sich der Felsen kristallisiert hatte und dicke steinerne Eiszapfen von der Decke ragten, von denen Wasser in schwarze Pfützen tropfte. Walker wandte sich nach rechts, und sie gingen weiter. Die Feuchtigkeit machte die Luft eisigkalt, und die sechs zogen ihre Umhänge fester um sich. Ihre Schritte hallten durch den steinernen Korridor und brachen die Stille.

Dann war da plötzlich noch etwas, eine Art Quietschen, das Morgan an das Geräusch eines rostigen Eisenriegels erinnerte, der nach langer Zeit aufgeschoben wurde. Sie blieben alle gleichzeitig stehen und standen im silbrigen Schein der Fackel und lauschten. Das Quietschen dauerte an; es kam von irgendwo hinter ihnen.

»Kommt«, befahl Walker barsch und eilte voraus. Die anderen hasteten hinter ihm her, angespornt von der ungewohnten Dringlichkeit in seiner Stimme. Walker hatte in dem Geräusch etwas erkannt, das ihnen entgangen war. Morgan schaute beim Laufen über seine Schulter zurück. Was war dort hinten?

Sie überquerten ein seichtes Wasserrinnsal, das aus einem Riß in der Wand quoll, und Walker drehte sich um und winkte die anderen vorbei. Das Quietschen war inzwischen ohrenbetäubend laut geworden und kam immer näher. Der Dunkle Onkel reichte Morgan die Fackel und schleuderte etwas ins Dunkel. Weißes Feuer leuchtete auf, und der Tunnel dahinter war plötzlich hell erleuchtet.

Morgan riß entsetzt die Augen auf. Überall waren Ratten, eine wuselnde, strampelnde Herde pelziger Leiber. Aber diese Ratten waren Riesen, drei- oder viermal so groß wie normale Ratten, ganz Krallen und Zähne. Ihre Augen waren weiß und blind wie alles, was die Gefährten in Eldwist gesehen hatten, und ihr Fell war naß vom Seewasser. Sie sahen gefräßig aus. Und wahnsinnig. Sie strömten zwischen den Felsen hervor und steuerten auf die Männer und das Mädchen los.

»Haut ab!« schrie Walker und riß Morgan die Fackel aus der Hand.

Und sie rannten durch die Dunkelheit, verfolgt von dem Quietschen, das in Wellen anschwoll, und mühten sich, im Lichtkreis der Fackel zu bleiben, während sie versuchten, dem Horror auf ihren Fersen zu entkommen. Der Tunnel stieg an und senkte sich wieder, und Splitter ragten aus den Wänden. Immer wieder stürzten sie, rappelten sich auf und rannten weiter.

Eine Leiter! war alles, woran Morgan denken konnte. Wir brauchen eine Leiter!

Aber es gab keine. Es gab nichts als Felswände, Wasserrinnen und Seewasserpfützen. Und sie selbst in der Falle.

Und dann dröhnte von irgendwo weiter vorn ein neues Geräusch, das Donnern der Brecher gegen die Küste, das Branden der Wogen gegen das Land.

Sie stürmten aus der Finsternis des Tunnels in ein fahles, silbriges Licht und blieben abrupt stehen. Vor ihnen fiel der Fels steil zum Gezeitenstrom ab. Unten brodelte der Ozean, brach sich an den Felsen, schäumte weiß auf und sprühte sie naß. Sie befanden sich in einer Höhe von solchen Ausmaßen, daß die äußersten Enden in Nebel und Schatten untergingen. Tageslicht drang durch Ritzen im Fels, wo der Ozean die Wand hatte bersten lassen. Weitere Tunnel endeten ebenfalls in der Höhe, schwarze Löcher sowohl zur Rechten als auch zur Linken. Alle waren unerreichbar. Die Steilwände an beiden Seiten waren unerklimmbar. Der Abgrund vor ihnen fiel steil in die brodelnde See. Der einzig mögliche Weg war der, den sie gekommen waren.

Durch das Rattenheer.

Die Ratten hatten sie inzwischen beinahe erreicht, ihr Gequietsche übertönte sogar das Tosen der Meereswellen, ihre Leiber füllten die untere Tunnelhälfte, während sie sich mit Krallen und Zähnen aneinander vorbeidrängten. Morgan riß sein Breitschwert aus der Scheide und wußte schon, während er das tat, wie nutzlos die Waffe sein würde. Pe Ell hatte sich von den anderen abgesetzt und war auf die Seite gegangen. Er hielt sein seltsames Silbermesser in der Hand. Dees und Carisman kauerten am Rand des Abgrunds, als wollten sie springen.

Quickening trat neben Morgan, ihr schönes Gesicht seltsam ruhig, und legte ihm die Hand fest auf den Arm.

Dann warf Walker Boh seine Fackel beiseite und schleuderte eine Handvoll des schwarzen Pulvers auf das Rattenheer. Feuer explodierte überall, und die vorderste Reihe verbrannte. Doch dahinter waren Hunderte von ihnen, Tausende dieser dunklen Leiber. Krallen klammerten sich wild an die Felsen und suchten Halt. Zähne und blinde Augen glänzten. Die Ratten rückten immer näher.

»Walker!« rief Morgan verzweifelt und schob Quickening hinter seinen Rücken.

Doch es war weder der Dunkle Onkel, der auf Morgans Schrei reagierte, noch Pe Ell oder Horner Dees. Nicht einmal Quickening. Es war Carisman, der Sänger.

Er sprang vor, drängte sich an Morgan und Quickening vorbei und war neben Walker, als die Ratten gerade durch die Tunnelöffnung auf das schmale Sims stürmten. Er erhob seine sonderbare Stimme und begann zu singen. Es war ein Lied, das ganz anders war, als was sie bislang von ihm gehört hatten; es kratzte, wie wenn Metall über Stein streift, und knirschte wie berstendes Holz. Es übertönte das Tosen der Ozeanwellen und das Quietschen der Ratten und füllte die ganze Höhle mit ihrem Klang.

»Kommt hierher!« rief Quickening den anderen zu.

Die Gruppe kam sofort, einschließlich Pe Ell, und sie drückten sich aneinander, während der Reimeschmied sang. Die Ratten ergossen sich aus dem Tunnel und quollen wie eine Woge aus strampelnden Leibern auf sie zu. Doch dann spaltete sich die Woge und strömte zu beiden Seiten an dem Sänger vorbei, ohne einen von ihnen zu berühren. Irgend etwas an Carismans Gesang lenkte sie ab.

Sie zogen als wabernde Masse zu beiden Seiten an ihm vorbei. Sie strampelten sich vorwärts, ohne auf irgend etwas zu achten, und es war nicht zu erkennen, ob sie flohen oder gerufen wurden. Und sie stürzten ins Meer.

Wenige Augenblicke später war auch die letzte von ihnen verschwunden. Carisman verstummte und taumelte dann in Morgans Arme. Der Hochländer fing ihn auf, und Quickening betupfte sein Gesicht mit einem Zipfel ihres Ärmels, den sie in kaltes Seewasser getaucht hatte. Die anderen schauten atemlos zu, prüften mißtrauisch die dunkle Tunnelöffnung, den leeren Fels, die Brandung des Ozeans.

»Es hat gewirkt«, flüsterte Carisman überrascht, als er die Augen wieder aufschlug. »Habt ihr das gesehen? Es hat gewirkt!« Er rappelte sich hoch und nahm Quickening jubelnd in die Arme. »Ich habe darüber einmal was gelesen oder vielleicht auch davon gehört, aber ich hätte nie gedacht, daß ich … ich meine, ich habe so was noch nie versucht! Niemals! Das war ein Katzenlied, Lady! Ein Katzengesang! Ich wußte nicht, was ich sonst tun sollte, also habe ich diesen grauenvollen Biestern vorgegaukelt, wir wären Riesenkatzen!«

Alle starrten ihn ungläubig an. Erst jetzt wußte Morgan Leah zu schätzen, wie wahrhaft wunderbar ihre Rettung gewesen war.

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