SALZ

FAST ZUR GLEICHEN STUNDE, DA DER DOGE Reniero Zeno nach fast sechzehnjähriger Regierungszeit eines natürlichen Todes starb, war die Amtsperiode Pietro Boccos als Patrone dell'Arsenale abgelaufen. Er war zweiunddreißig Monate, wie das Gesetz es vorschrieb, im Amt gewesen und am 17. Juli 1268 abgelöst worden.

Messer Pietro Bocco wohnte nun nicht mehr in der «Hölle», dem düsteren Palast innerhalb der dicken Mauern des Arsenals, sondern hatte sein Haus an einem Nebenarm des Canal Grande bezogen. Er fühlte sich wieder freier und begann seine Kräfte zu regen. Der Tod der Signora Polo und seine Einsetzung als Vormund und Vermögensverwalter waren ihm sehr gelegen gekommen.

Er hatte den Schreiber Luigi Farino, der ihm mit unbequemen Worten auf den Leib gerückt war, beseitigen lassen und war auch fernerhin bereit, alle Hindernisse mit List und Gewalt aus dem Wege zu räumen. Seinen Neffen Marco Polo glaubte er beim Bruder Lorenzo in den richtigen Händen.

Er hatte die Absicht, sich demnächst Paolo näher anzusehen, der nach seiner Ansicht zu vertrauten Umgang mit dem Knaben hatte. Der Diener gefiel ihm nicht. Zwar besaß Pietro Bocco keinen Beweis, der seinen unbestimmten Verdacht, den er gegen Paolo hegte, bestätigte, aber rein aus dem Gefühl heraus spürte er, daß der Diener mehr wußte, als ihm zuträglich war. Im Augenblick jedoch beschäftigte ihn eine andere Sache so stark, daß alles, was nicht unmittelbar damit verbunden war, dahinter zurücktrat.

Pietro Bocco hatte eben seinen Secretario, der eine Liste eingekaufter Waren vorgelegt hatte, weggeschickt und ging nun im Zimmer auf und ab. In seinem langschädeligen Kopf arbeiteten die Gedanken. Unmerklich bewegten sich die Falten auf seiner hohen Stirn, und die zusammengezogenen Augenbrauen wölbten sich wie ein gewitterdrohendes Wolkendach über der senkrechten Nasenkerbe. Er dachte an die fünfzehn prall gefüllten Salzsäcke, die in seinem Lager ruhten, und an eine mit verwegenen Männern besetzte Barke, die nachts ungesehen den Ring der Schergenboote passierte.

Ein gefährliches Unternehmen, das Gefängnis und Verbannung, aber auch tausend Dukaten Gewinn einbringen konnte.

Der weiche Teppich mit dem orientalischen Muster schluckte den Laut der Schritte des rastlos auf und ab gehenden Mannes.

Furcht, Pietro Bocco? fragte er sich. Sein Mund verzog sich zu einem verächtlich-spöttischen Lachen. Die Furcht wäre ein schlechter Berater für seine hochfliegenden Pläne. Aber sie war doch vorhanden, auch wenn er sie vor sich selbst verbarg. Wie ein kleines Raubtier hockte sie in einer Gedankenhöhle und versuchte seine Kräfte zu lähmen. Oder war es sein Gewissen, das an verschlossene Türen klopfte?

Wieder erschien auf dem Gesicht des Mannes das lautlose Lachen und entstellte seine regelmäßigen Züge.

Gewissen? Was taugte in dieser Zeit, wo der Dukatenstrom die Herzen verschloß, das Gewissen?

Verbannung und Gefängnis drohten, wenn das Unternehmen mißglückte.

Tausend Dukaten lockten!

Pietro Bocco war sich längst darüber klar, daß er sich dieses Geschäft nicht entgehen lassen würde. Ein Narr wäre er!

Gewaltsam befreite er sich von den unbequemen Gedanken. Er besaß neben seinem ungebärdigen Ehrgeiz eine reiche Vorstellungskraft, die ihm schon oft über kleinmütige Augenblicke hinweggeholfen hatte.

Die Sonne warf den Schatten des Fensterkreuzes auf Tisch und Teppich.

Pietro Bocco bemerkte es nicht.

Der Wind strich heulend an den Mauern vorbei, das gewohnte Geräusch kleiner Wellen und menschlicher Rufe tönte in den Ohren. Pietro Bocco hörte es nicht.

Messer Pietro Bocco träumte davon, zum höchsten Amt, das die Republik an einen Mann von bürgerlicher Herkunft zu vergeben hatte, aufzusteigen.

Er geht in Purpur gekleidet, wie der Doge und seine Räte, und genießt alle Vorrechte des Adels. Die goldene Stola hebt sich prächtig von seinem Gewand ab, Himmel und Wasser vereinen sich zu einer Symphonie von Farbe und Licht, blumengeschmückte Boote schwimmen auf den Kanälen, die Piazza ist von festlich gekleideten Menschen belebt — ein buntes, lärmendes Gewimmel, übertönt vom Klang der Glocken auf dem Campanile!

Rufe kommen aus der vieltausendköpfigen Menge: «Es lebe Pietro Bocco!»

«Es lebe der Großkanzler Pietro Bocco!»

Er ist auf Lebenszeit gewählt und Kavalier von San Marco geworden. Er bekommt den Titel Exzellenz und hat den Vortritt vor allen Senatoren und Gerichtsbeamten der Stadt, ausgenommen die Räte des Dogen und die Prokuratoren von San Marco. Er ist im Besitz des großen Siegels der Republik und hat teil an allen Staatsgeheimnissen. Er — er — er! Der Großkanzler Pietro Bocco! «Seht, wie stolz er schreitet!» «Wirkt er nicht vornehmer als selbst der Doge?» Die Flagge der Republik mit dem goldenen Löwen weht am Dogenpalast und an den anderen öffentlichen Gebäuden.

Dieses ist die höchste Stufe, die ein Sterblicher vom Stande Pietro Boccos erklimmen kann. Sein Amt ist das einträglichste in der ganzen Republik von San Marco. Der Senat setzt ihm neben laufenden Einkünften von 9000 bis 10 000 Dukaten noch eine Besoldung von 3000 Dukaten aus.

Pietro Bocco fuhr sich mit einer abwesenden Handbewegung über die Stirn und hielt in seiner Wanderung inne. Ein Klopfen hatte ihn aus seinen Träumen gerissen. In seine Augen trat ein kalter Glanz, als die Tür geöffnet wurde und ein Diener den Besuch des Barkenführers Matteo, der sich stolz Kapitän nannte, meldete.

«Sag, er solle warten!» befahl Pietro Bocco und setzte seine Wanderung fort.

Mit wachen Sinnen überlegte er weiter. Der Zukunftstraum schien ihn verjüngt zu haben. Überhaupt fühlte er sich frischer und unternehmungslustiger, seitdem er nicht mehr im Arsenal vergraben, den strengen, eintönigen Dienst zu leisten brauchte. Wenn er zurückdachte, wie grau und ermüdend die zweiunddreißig Monate gewesen waren, befiel ihn noch heute ein kalter Schauer.

Und er hatte sogar daran gedacht, weitere zweiunddreißig Monate im Amt zu bleiben.

Aber die Zeit war doch nicht verloren gewesen, sondern hatte mancherlei nützliche Bekanntschaften und Verbindungen gebracht. Er hatte auf diese Weise auch den Barkenbesitzer Matteo kennengelernt und von ihm schon einige nützliche Dienste erfahren. Matteo, der auf die Anrede Kapitän großen Wert legte, war ein verwegener Bursche, der die Lagune und die Castellos wie seine Handteller kannte und auf den Segelregatten, die jedes Jahr durchgeführt wurden, die ersten Preise holte. Man sagte scherzhaft von ihm, daß er mit den Windgeistern einen Kontrakt geschlossen hätte. Irgendwie erwischte er selbst bei Flaute noch ein Zipfelchen Wind, das gerade genügte, um ihn zu seinem Bestimmungsort zu bringen. Man flüsterte sich aber auch andere Bemerkungen über Kapitän Matteo zu.

Pietro Bocco öffnete die Tür und rief den Diener. «Kapitän Matteo soll kommen!»

Mit den breiten, wiegenden Schritten des Seemannes trat der untersetzte, etwa fünfzigjährige Matteo ein. Er hielt die Mütze in der Hand und blinzelte gegen die Sonne, die voll auf sein Gesicht schien. «Ihr wünscht mich zu sprechen, Messer Bocco?»

Pietro Bocco begrüßte ihn herzlich. «Willkommen in meinem Hause, Kapitän Matteo.» Er klatschte in die Hände. Der Diener erschien in der Tür.

«Bring Wein, aber beeil dich.»

Er wandte sich an Matteo, der ihn gerade mit einem scharfen Blick gemustert hatte und jetzt ohne sonderliche Eile die Lider niederschlug. «Setz dich, Kapitän.»

Er ist stark wie ein Stier, dachte Pietro Bocco, als er die breiten Schultern mit dem muskulösen Oberarmansatz sah.

Matteo legte im Sitzen die Hände auf die Knie. Es waren ungewöhnlich breite Hände. Pietro Bocco bemerkte mit Staunen, daß ihn ein unangenehmes Gefühl beschlich, als er die stämmige Gestalt vor sich sitzen sah.

Er war froh, als der Diener den Wein brachte.

«Laß uns trinken, Kapitän!» Pietro Bocco hob das Glas und hielt es gegen das Licht. Feine, durchsichtige Perlen stiegen auf. Sie tranken.

Matteo setzte das Glas vorsichtig auf die mit Goldfäden durchwirkte Tischdecke und strich sich mit dem Handrücken über den Mund. Erwartungsvoll sah er Messer Pietro Bocco an.

«Wie steht es, Kapitän, ist dein Schiff bereit?» Pietro Bocco schob sein Kinn mit dem Spitzbart vor und sah seinem Gegenüber mit festem, zwingendem Blick in die Augen.

«Ich habe mein Schiff schwarz anstreichen lassen.» Bedächtig wählte Matteo die Worte. «Das Schiff ist schwarz, und die Segel sind rot — dunkelrot.»

«Gut.»

Pietro Bocco senkte den Kopf und hob ihn plötzlich wieder, als wolle er durch die jähe Bewegung seinen Gesprächspartner in die Enge treiben. «Es handelt sich um Salz, Matteo», sagte er unvermittelt. Prüfend beobachtete er die Hand des Seemanns, die breit auf der Tischdecke lag und sich jetzt zur Faust ballte. Er empfand Genugtuung über die Wirkung seiner Worte.

«Hundert Dukaten für dich, Kapitän! Oder — hast du Angst?» Die letzten Worte schoß er wie einen vergifteten Pfeil ab. Matteos mächtige Schultern bewegten sich. Seine Knollennase schimmerte, wie immer, wenn er aufgeregt war, in allen Regenbogenfarben.

Pietro Bocco achtete auf jede Regung in dem Gesicht seines Gegenübers.

«Hundert Dukaten in einer Nacht! Überleg es dir, Matteo!»

«Wieviel Säcke sind es, Messer Bocco?»

«Fünfzehn!»

Unwillig zog Matteo seine Augenbrauen zusammen. Er hatte das Manöver Pietro Boccos durchschaut, der ihn mit seiner Frage zu einer unbedachten Zusage hinreißen wollte. — «Oder hast du Angst?» — Er schürzte in unmerklichem Spott die Lippen. Es paßte ihm nicht, wie der edle Herr mit ihm umsprang: einmal Kapitän, dann wieder Matteo! Wer war schon Pietro Bocco? Noch nicht einmal Senator…

Kapitän Matteo stand auf und sagte gleichmütig: «Salz ist teuer in Bologna oder Padua, Messer Bocco. Hundert Dukaten in einer Nacht, sagt Ihr. - Verzeiht, es kann auch lebenslängliche Galeerenarbeit einbringen oder sogar den Kopf kosten. Ihr wißt, wie streng das Gesetz den Salzschmuggel bestraft.»

Der Ärger rötete Pietro Boccos Stirn. Er unterdrückte ihn sofort und sagte mit angestrengter Freundlichkeit:

«Setzt Euch doch wieder, Kapitän. Uber den Lohn für Eure Dienste werden wir uns schon einig.»

Mit scheinbarem Widerstreben setzte Matteo sich. «Ein Mann meiner Besatzung ist krank», sagte er knurrend, «solange ich keinen Ersatz habe, kann ich nichts unternehmen.»

Sollte er wirklich Angst haben? fragte sich Pietro Bocco, oder sagt er das nur, um den Preis in die Höhe zu treiben. Er wurde aus dem Burschen nicht schlau und ärgerte sich, daß er ihn unterschätzt hatte.

Matteo saß schweigend auf dem Stuhl.

So kann man mit mir nicht umspringen, wiederholte er in Gedanken und sah mit verschlossenem Gesidit vor sich hin.

Pietro Bocco änderte seine Taktik. Er war sich darüber klargeworden, daß Matteo nicht wie der Schreiber Luigi Farino — Gott hab ihn selig — behandelt werden konnte.

Matteo war der König der Schmuggler, verwegene Gesellen waren bereit, jede seiner Anordnungen zu befolgen. Er wußte manches über die Geschäfte einiger Herren, die in den höchsten Ämtern der Republik saßen. Und er war nicht der grobe Klotz, als der er dem oberflächlichen Betrachter erscheinen mochte. Die tiefliegenden, großen Augen zeigten Mut, Verschlagenheit und eine tüchtige Portion Bauernschlauheit, die er wohl von seinen Vorfahren geerbt hatte.

«Eine gute Idee, Euer Schiff schwarz anstreichen zu lassen», lobte Pietro Bocco. «A la vostre salute, Kapitän!»

Sie tranken.

Wieder floß der goldene Wein in die reichverzierten Gläser. Matteo wartete geduldig. Sein Unmut hatte sich schnell gelegt. Geschäfte machte man mit dem Verstand; Gefühle spielten nur eine nebensächliche Rolle.

Der Wein schmeckte gut.

Während Pietro Bocco über das zweite Angebot nachdachte, das er Matteo sogleich vorschlagen würde, kam ihm unvermutet die breitschultrige, kräftige Gestalt des Dieners Paolo in den Sinn und brachte ihn auf einen Gedanken, der ihn mit einemmal in eine heitere, fast übermütige Laune versetzte.

«Ich hätte einen zuverlässigen Burschen für die nächtliche Fahrt, Kapitän», sagteer.

«Zweihundert Dukaten, Messer Bocco. Keinen Soldo weniger», erwiderte Matteo, ohne auf die Worte einzugehen.

Pietro Bocco drehte das Glas in seinen Händen und versuchte einen Sonnenstrahl einzufangen.

«Gut, Kapitän! Zweihundert Dukaten!»

«Und einen zuverlässigen, kräftigen Helfer!» sagte Matteo.

«Und einen zuverlässigen Helfer! Trinkt, Kapitän!» Der Teufel soll dich holen, sprach er für sich. Und es war nicht klar, ob er Matteo oder Paolo meinte.

Der Kapitän ließ über das Angebot ein zufriedenes Brummen hören. Die beiden äußerlich so ungleichen Männer — Pietro Bocco mit dem länglichen Kopf und Matteo mit dem fleischigen Bauernschädel — rückten zusammen, um die Einzelheiten des Unternehmens zu besprechen.

Es war ein Abend, der sternenlos in die Nacht hineinwuchs. Die Luft war mäßig bewegt. Um diese Stunde gab es kaum noch Fußgänger in den engen Gassen, die alle irgendwo zu einem Kanal führten oder an der Steinmauer eines Hauses endeten.

Paolo verließ das Haus und ging eine Strecke Weges auf der Fondamente neben dem Kanal entlang. Gespensterhaft huschten Kähne und Barken vorbei, leise Gespräche klangen an sein Ohr. Spärliche Lichter spiegelten sich verzerrt in dem gekräuselten Wasser. Eine Frauenstimme rief etwas zum gegenüberliegenden Haus hinüber. An einem Gartenzaun, hart am Wasser, wucherte kugelförmiges Gestrüpp und streifte sein Haar.

Paolo verspürte ein leises Unbehagen. Heute nachmittag war ein Bote Messer Pietro Boccos bei Marco gewesen und hatte um Paolos Dienste für diese Nacht gebeten. Ein Diener sei erkrankt in ihrem Hause, hatte er bestellt. Eigentlich war alles einleuchtend gewesen. Marco hatte keinen Verdacht geschöpft, zumal sein Oheim sich in den letzten Wochen recht wenig um ihn gekümmert hatte. Er fand keinen Grund, ihm seine Bitte abzuschlagen.

Aber warum gerade nachts? Paolos Gedanken kamen nicht zur Ruhe. Am liebsten wäre er zurückgegangen. Er befürchtete einen Anschlag auf seinen Herrn.

Die Wellen plätscherten monoton gegen die Steinstufen, die links und rechts den Kanal säumten und zu den Eingängen der Häuser führten. Eichene Pfosten zum Befestigen der Boote standen in greifbarer Nähe. Paolo ging vorsichtig über einen Laufsteg und kam nach wenigen Schritten an einen breiteren Kanal. Das erste Haus gehörte Pietro Bocco. Die Wasserstraße führte geradewegs zum Canal Grande.

Paolo klopfte an die Tür. Ein Diener öffnete, als hätte er dahinter gestanden und auf den Besucher gewartet. Er hob den zweikerzigen Leuchter in Gesichtshöhe. «Du bis's, Paolo», sagte er mit leiser Enttäuschung. «Und ich dachte…»

Er konnte seinen Satz nicht vollenden. Pietro Boccos Stimme schnitt ihm die Worte ab. «Wer ist da?» «Paolo ist gekommen, Messer Bocco.»

Sie hörten einen unterdrückten Ruch.

Paolo benutzte die Gelegenheit zu einer flüsternden Frage: «Ist ein Diener krank bei euch?»

«Was flüstert ihr da?» rief Pietro Bocco ungehalten. «Bring ihn zu mir!»

Der Diener ging voraus und beleuchtete den Pfad zwischen den links und rechts des Flurganges stehenden Säcken. Es roch nach Lederwaren, Gewürzen, Lebensmitteln, Tuchen und Pelzwerk — eine seltsame Mischung, die dem Händler lieblich in die Nase steigt, wenn er einsam in seinem Lager wühlt, hier ein Stück Tuch von einem Stoffballen zurückschlägt, da über einen Stapel Felle streicht und dort mit dem Fuß spielerisch gegen einen Sack Mehl stößt; die in ihm das Gefühl wachruft, Herr über die Erzeuger all dieser Produkte von fern und nah zu sein.

Paolo tat, als stolpere er und umarmte im Fallen einen Sack. Seine Hände krallten sich hinein. War das nicht Salz?

Schweißtropfen traten auf seine Stirn.

«Nimm dich doch in acht!» hörte er, jetzt schon ganz nah, die harte Stimme.

Bevor er einen Gedanken fassen konnte, stand er vor Pietro Bocco. Der Lichtschein der Kerzen fiel auf das schmale Gesicht mit den leicht aus den Höhlen tretenden, fiebrig glänzenden Augen. Messer Bocco stand im Eingang des Lagers, das sich hinter seinem Rücken wie ein schwarzer Schlund öffnete.

«Mein Herr schickt mich zu Euch», sagte Paolo.

«Gern bist du wohl nicht gekommen?» fragte Pietro Bocco. Und zum anderen Diener gewandt: «Stell den Leuchter nieder und geh!»

Er sah auf das Stundenglas und fuhr sich mit einer fahrigen Bewegung über das Haar. Da hörte er draußen das vertraute, schnarrende Geräusch einer anlegenden Barke.

«Endlich», murmelte er und sagte dann, freundlicher als zuvor: «Du wirst mit Kapitän Matteo nach San Nicolo fahren. Morgen früh bist du wieder zurück.»

Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er zum Haustor und öffnete es. Ein Windzug wehte feuchte Luft herein und brachte den eigentümlichen Geruch nach Schlamm, Wasser und Abfällen verschiedenster Art mit sich. Vor dem Haus lag eine hochbordige Barke, deren Umrisse sich nur undeutlich im abendlichen Dunkel abhoben. Man hörte leise Kommandorufe.

Aus dem Laderaum wurde ein Brett geschoben, das die Verbindung zu der Fondamente herstellte.

Kapitän Matteo erschien in der Tür und füllte sie mit seiner breiten, klobigen Gestalt fast aus.

Paolo stand noch immer auf dem gleichen Platz. Nach San Nicolo sollten sie fahren? Der Hafen lag innerhalb des venezianischen Zollgebietes, keiner konnte Pietro Bocco verwehren, die bereitstehenden Säcke, die nach Paolos Schätzung Salz enthielten, nach San Nicolo befördern zu lassen.

Aber warum nur nachts, und warum so geheimnisvoll? fragte sich Paolo zum hundertstenmal. Er wußte wohl, wie gefährlich es war, sich an solchen Unternehmen zu beteiligen. Da fragte nachher keiner: Bist du freiwillig mitgefahren, oder hat man dich gezwungen dazu?

Die erste Amtshandlung der Signoria unter dem Vorsitz des neuen Dogen Lorenzo Tiepolo war gewesen, die Salzausfuhr nach den oberitalienischen Nachbarstädten zu verbieten. Es war eine Vergeltungsmaßnahme gegen die Weigerung der Städte, den venezianischen Einkäufern Getreide für die Republik zu verkaufen. Sizilien und Süditalien, die Lieferanten von Getreide, waren in diesem Jahr von Mißernten heimgesucht worden, während die oberitalienischen Städte gute, die Lombardei sogar glänzende Ernten eingebracht hatten. Um einer Hungersnot vorzubeugen, mußte Venedig Getreide von dalmatinischen Händlern kaufen, die natürlich die Notlage der Republik ausnutzten und hohe Preise verlangten.

Das Verbot der Salzausfuhr traf die oberitalienischen Städte so empfindlich, daß sie sich unter der Führung Bolognas vereinigten, um mit Gewalt die Aufhebung des Verbotes zu erzwingen. Der Salzmangel trieb indes die Preise in phantastische Höhen und verlockte gewissenlose Kaufleute zum Schmuggel mit der kostbaren Ware.

Paolo versuchte vergeblich, die lästigen Gedanken abzuschütteln. Die offensichtliche Erregung Pietro Boccos, das unruhige Spiel der Wellen und die flüsternd geführte Unterhaltung der beiden Männer waren nicht geeignet, seinen Argwohn und eine ihm sonst unbekannte Furcht zu beseitigen. Er wußte genau, daß er der Willkür Pietro Boccos ausgeliefert sein würde, wenn er an einer Schmuggelfahrt teilnahm.

Pietro Boccos Risiko dagegen bestand nur darin, die Säcke ungesehen aus dem Hause zu schaffen. Deshalb war er jetzt so unruhig. Selbstverständlich lag ihm viel daran, daß Kapitän Matteos Barke nicht in die Hände der Schergen fiel, aber weniger aus Furcht vor Strafe als des Gewinnes wegen. Er würde sich schon reinwaschen, wenn die Barke erwischt und einer der Schmuggler wider Erwarten nicht dichthalten würde.

«Auf der Lagune weht ein guter Wind», sagte Kapitän Matteo, jetzt auch für Paolo vernehmbar.

«Der wird Euch schnell nach San Nicolo bringen», fügte Pietro Bocco mit ironischem Lachen hinzu.

Nach San Nicolo? fragte sich Paolo und bewegte zweifelnd den Kopf. Was sollte er tun? Konnte er sich weigern, an der Fahrt teilzunehmen?

Drohend ragte die hohe Bordwand der schattenhaften Barke vor dem Hause auf; Holz rieb sich an Holz, und die Planken wiegten sich sanft auf dem dunklen Wasser.

Von der Besatzung war noch keiner zu sehen. Kapitän Matteo trat aus dem Hause und spähte nach rechts und links. Nirgendwo eine Menschenseele! Steil wuchsen die Häusermauern aus dem Wasser, die Fenster waren meist durch Läden verschlossen, nur hier und da blinkte ein einsames Licht. «Avanti! Von Bord! Avanti!» rief Kapitän Matteo.

Lautlos wie Katzen schlichen vier Männer über den Steg und traten ins Haus. Sie füllten den Gang aus, so daß es für Paolo unmöglich wurde, vorbeizusdilüpfen. Im Schein der Kerzen sah er ihre stumpfen Gesichter, die mit leeren Mienen auf weitere Befehle warteten. Ohne sonderliches Interesse musterten ihre Augen die Umgebung.

«Bringt die Säcke an Bord», befahl Kapitän Matteo, «langsam, Ernesto, warte doch, bis der erste hinaus ist!»

Mit geübten Bewegungen luden sie die Säcke auf ihre gebeugten Rücken und trugen sie hinaus. Als der vierte gegangen war, schien sich Pietro Bocco erst wieder Paolos, der am Ende des Ganges stand, zu erinnern.

«Nun los, Paolo!» rief er aufgeregt, «bewege dich! — Oder ist es zu schwer für dich?» fragte er mit merkbarem Spott.

Paolo griff, ohne zu überlegen, nach einem Sack und warf ihn über die Schulter. Kapitän Matteo beobachtete ihn schweigend und ließ ein beifälliges Knurren hören, als Paolo an ihm vorbeiging.

«Ein kräftiger Bursche», sagte er zu Pietro Bocco.

«Ihr müßt auf ihn achtgeben, Kapitän. Wenn er Schwierigkeiten madit- -» Er schwieg eine Weile, als erwarte er, daß Matteo seinen Gedanken fortsetze.

«Nun, Ihr wißt ja selbst!» sagte Pietro Bocco mit bösem Auflachen.

«Ein kräftiger Bursche!» murmelte Matteo. In wenigen Augenblicken waren die Säcke verladen. Pietro Bocco winkte Paolo, der noch einmal zurückgekommen war, zu sich.

«Hier ist Kapitän Matteo. Ihm hast du zu gehorchen!»

«Jawohl, Herr!» Paolo sah dem bärenstarken Matteo, der nur zwei Finger breit kleiner war als er, fest in die Augen. «Geh an Bord!» befahl Matteo. Sein breites, fleischiges Gesicht hatte sich in wohlwollende Falten gelegt. Er verbarg nicht, daß Paolo ihm gefiel.

Kapitän Matteo fürchtete weder Tod noch Teufel, erst recht nicht den aufgeblasenen Pietro Bocco.

Die kraftvolle Bewegung, mit der Paolo den schweren Salzsack über die Schulter geschleudert hatte, hatte Achtung und fast freundschaftliche Gefühle in ihm geweckt.

Gebt mir das Geld, Messer Bocco. Ihr seht, alles ist bereit. Das Gelingen steht in Gottes Hand!» «In Gottes Hand?» fragte Pietro Bocco mit einem Versuch zu scherzen.

Kapitän Matteo sah ihn verständnislos an.

«Hier ist das Geld. Zählt es nach!» Pietro Bocco ging zum Leuchter, der auf der Steinstufe stand.

Doch Kapitän Matteo folgte ihm nicht. Er nahm den Beutel und steckte ihn ein.

Gleich darauf glitt die Barke, von vier Ruderern bewegt, durch die Nacht.

Sie bogen in den Canal Grande ein. Im Schein der Fackeln vorbeifahrender Boote bemerkte Paolo, der auf der Ruderbank saß, daß die Barke schwarz gestrichen war. Er fuhr auf einer schwarzen Barke mit dunkelroten Segeln. Diese Feststellung verstärkte seine innere Unruhe. Er zog das Ruder mit der linken Hand durch und fühlte mit der rechten nach dem Dolch, den er unter seinem Wams trug.

Es war der Dolch, den der schwarze Giorgio bei dem Überfall auf Marco verloren hatte.

Die Berührung mit dem Griff der scharf geschliffenen Waffe erinnerte ihn an Giovannis Worte, als sie nach langem Suchen endlich Giannina auf der Landstraße nach Aquileja getroffen hatten: «Ich habe jetzt einen Dolch, eine Vogelfeder kannst du im Fluge damit zerschneiden. Sieh ihn dir an, Giannina. Du brauchst nun wirklich keine Angst mehr zu haben…»

Der Wind wehte stärker und spielte mit dem Tauwerk und den gerefften Segeln. Links und rechts des Kanals standen ältere und neue Paläste der vornehmsten Familien neben schlichten Holzbauten. Vorsichtig manövrierte der krummbeinige Steuermann die Barke durch den Bogen der Ponte della moneta.

Kapitän Matteo stand auf der geschlossenen Ladeluke und sah über die gebeugten Körper der Ruderer hinweg. Hin und wieder glitten seine Blicke zu Paolo, der ohne große Mühe das Ruder durchzog.

Während eines Besuches auf der Insel Murano, als Paolo eine Botschaft Marco Polos überbrachte, hatte ihm Giovanni den Dolch geschenkt. Man merkte ihm an, daß er das Beutestück nur schweren Herzens hergab. Aber er sagte sich wohl, daß die Waffe bei Paolo in den besten Händen wäre. «Vielleicht brauchst du ihn einmal. Paß nur gut auf, damit Marco nichts geschieht. Und auch auf Giannina mußt du achten.» «Ruder einziehen!» kommandierte Kapitän Matteo.

Ein Schiff fuhr dicht an ihnen vorbei, die Bordwand war nur wenige Fuß entfernt.

Mit lautem Geschrei priesen Nudelmacher, Obst- und Kräuterhändler, Fischverkäufer und Kastanienbrater auf flachen Booten ihre Waren an.

Am Fenster eines zweistöckigen Hauses erschien der Kopf eines Mädchens und schrie mit schriller Stimme etwas hinunter. Drei Händler ruderten eilig zur Anlegestelle und sahen erwartungsvoll nach oben. Ein weißer Arm ließ an einem Strick den Einholekorb hinab und zog ihn, nachdem der Kampf zwischen den Händlern endlich nach vielen Schimpfworten beendet war, mit rotbäckigen Äpfeln gefüllt wieder herauf.

Auf dem Canal Grande ruhte das bunte Leben auch in den Abendstunden nicht. Erst um Mitternacht, wenn das fahle Mondlicht in den Canal fiel, schliefen die Häuser und Brücken, die Schiffe und Kanäle, träumten Reiche und Arme, die einen wohlig sich streckend unter seidenen Decken, die anderen frierend, die Knie anziehend, unter Lumpen und Säcken.

Matteo hatte den Abend mit klugem Vorbedacht für den Beginn ihrer Fahrt gewählt. Der lebhafte Verkehr erleichterte es, durch die Kontrolle zu schlüpfen.

Aber selbst wenn die Schergen ihn bei der Einfahrt in den Canal della Guidecca anhielten, konnte er Papiere vorweisen, die bestätigten, daß er seine Fracht zu einem Geschäftsfreund Pietro Boccos nach San Nicolo zu befördern hätte.

Messer Pietro Bocco hatte sich das Unternehmen gut ausgedacht. Sollte die Barke auf ihrer gefährlichen Fahrt von den Schergen aufgebracht werden, konnte er nachweisen, daß er den Auftrag gegeben hatte, die Fracht nach San Nicolo zu bringen. Er würde dann sagen, daß Kapitän Matteo, der ja nicht im besten Rufe stand, auf eigene Faust gehandelt hätte.

Paolo bemerkte nichts von dem vielfältigen Leben auf dem Canal Grande. Er suchte die Entscheidung, die sich ihm aufdrängte, so lange wie möglich hinauszuschieben. Während er ruderte, erwachten in ihm immer stärker die Bilder der Vergangenheit. Und das Merkwürdige war, daß er dabei wie gebannt Kapitän Matteos Gesicht beobachtete und sich jede Falte, jede Linie fest einprägte. So liefen zwei Empfindungen, die scheinbar keine Beziehungen zueinander hatten, nebeneinander her und erzeugten einen beklemmenden Wechsel in seinen Gedanken.

Die Barke glitt, von kräftigen Ruderschlägen bewegt, schnell vorwärts.

Paolo dachte an seine frühe Kindheit, die er nur aus gelegentlichen Äußerungen seines verschollenen Dienstherrn Nicolo Polo kannte, der den vierzehnjährigen kräftigen Knaben einst aus dem Waisenhaus zu sich genommen hatte. Er sah die ersten Monate seines Erdendaseins, als hätte er damals schon alles bewußt aufgenommen und in sein Gedächtnis geschrieben.

Ein Säugling, fest eingewickelt und wie ein Bündel verschnürt, liegt, halb erfroren und kläglich schreiend, auf den kalten Steinen. Boote gleiten schweigend vorbei, die Ruderer wenden mit schlechtem Gewissen den Kopf weg. Es ist nichts Ungewöhnliches in Venedig, ein ausgesetztes Kind zu sehen, aber immer wieder rührt es die Herzen und weckt ein unbehagliches Gefühl. Wenn die unwillkommenen kleinen Erdenbürger eine ganze Nacht gelegen haben, ist ihr Wimmern so kläglich geworden, daß man es nur noch wenige Schritte weit hört.

Eine junge Frau kommt aus einem Haus und nimmt den Säugling zu sich. Sie behält ihn einige Wochen, bis er wieder zu Kräften gekommen ist, und bringt ihn dann in das Hospital della Pieta. Das ist eine lobens-würdige Anstalt der Republik, die angewiesen ist, alle von ihren Eltern verlassenen Kinder aufzunehmen. Der Säugling, von dem man weder Vater noch Mutter kennt, wird auf den Namen Paolo getauft.

Das Wasser rauschte in monotonem Plätschern an der Bootswand vorbei. Kapitän Matteo stand wie festgewachsen auf den Planken. Die gedrungene Gestalt drückte wilde Kraft und Entschlossenheit aus, aber die großen grauen Augen, die Falten, die sich von den Backenknochen zum Kinn hinunterziehen, und die farbige Knollennase zeugten von Verständnis und herablassender Gutmütigkeit. Paolo spürte etwas mit seinem Schicksal Verwandtes und zugleidi Unheildrohendes in dem Gesicht.

Matteo ist mit dem Leben anders fertig geworden als der Diener Paolo.

Was wäre geschehen, wenn Nicolo Polo ihn nicht aus der Finsternis des Waisenhauses herausgeholt hätte?

Träume nicht, Paolo! mahnte eine Stimme in ihm. Du fährst auf einer schwarzen Barke! Du beförderst Messer Pietro Boccos Salz!

Fragen und Erinnerungen flogen wie Fledermäuse über dem Wasser und streiften ihn mit taumelndem Flügelschlag.

Paolo erwachte aus seinen in die Vergangenheit gerichteten Träumen, als die Ufer zu beiden Seiten zurückwidien und der Wasserarm in den Canal della Guidecca einmündete.

Auch Kapitän Matteo schien eine leise Unruhe zu spüren. Er ging an den Ruderern vorbei zum Bug des Schiffes und beobachtete mit zufriedenem Gesicht das dichte Gewimmel der Boote und Barken, die sich links an einer Galeere vorbeischoben, die im gleichmäßigen Takt der sechsundfünfzig Ruderschläge in den Canal Grande einfuhr. Das Wasser schäumte am Bug des stolzen Schiffes. «Backbord, Ernesto!» rief Kapitän Matteo. Knarrend bewegte sich der hölzerne Steuerarm.

Paolo kannte ebenso wie Kapitän Matteo jede Einbuchtung und jede Verästelung der Lagune. Oft war er im Auftrage Nicolo Polos als junger Bursche in die entlegensten Winkel gefahren. Gespannt verfolgte er die Fahrt. Sie hielten auf den engen Durchgang zwischen den Inseln La Guidecca und San Giorgio zu.

Warum fuhr Kapitän Matteo nicht durch den Canal San Marco?

Heftig wehte der Wind! Von Morgen kommend, fegte er in Richtung des Sonnenunterganges durch den Canal della Guidecca.

Kapitän Matteo wählte diesen Weg mit Vorbedacht. Auf dem Canal San Marco, gegenüber der Piazzetta, patrouillierten zu viele Boote der Schergen. Auch fuhr er nicht gern an der roten Verbrechergaleere vorbei.

Paolo fand noch keinen Grund zur Beunruhigung, weil es möglich war, auch auf diesem Wege nach San Nicolo zu kommen. Flüchtig tauchte der Gedanke an Marco auf, der diese Nacht ohne Schutz sein würde. Im Hause selbst konnte ihm ja kaum etwas geschehen, aber er befürchtete, daß Marco ausgehe, zur Piazza oder zum Hafen an der Ponte della moneta. Er hielt sich ja gern in der Nähe der Schiffe auf.

Die schwarze Barke passierte die Durchfahrt zwischen den beiden Inseln. Links lagen die Häuser der Fischer von San Giorgio, um die Kirche geduckt wie kauernde Hunde, rechts, auf der Spitze La Guideccas beleuchtete ein flackerndes Feuer die Gestalten dreier winkender Männer.

«Schneller! Los, beeilt euch!» befahl Kapitän Matteo und lief behende zum Heck. «Gib das Steuer her, Ernesto! Macht die Segel klar!»

Die Barke schwamm im offenen Wasser der Lagune. «Ruder einziehen, Segel klarmachen!» gab der krummbeinige Ernesto den Befehl weiter.

Mit geübten Handgriffen lösten die drei Männer die Leinen und setzten die Segel. Paolo stand ihnen unbeholfen im Wege, bis der Krummbeinige ihm fluchend einen Platz anwies.

Der Wind packte mit starkem Griff die Segel, der Mastbaum stöhnte, und die Barke bewegte sich, dem Steuer gehorchend, gegen Sonnenuntergang. Der langgestreckte Schatten der Insel La Guidecca wurde eins mit dem windgepeitschten Wasser.

Die Haut spannte sich über Matteos Gesicht, seine Augen suchten das Dunkel zu durchdringen. Kein Stern leuchtete am Himmel, der den Weg weisen könnte. Breitbeinig stand der Kapitän auf seinem erhöhten Platz und steuerte an La Gracia und San demente vorbei, so daß man die dunklen Umrisse der Inseln gerade noch ahnen konnte. Der salzige Seegeruch stieg ihm erfrischend in die Nase, und der Wind, vermischt mit feinsten Wasserperlchen, stach prickelnd in sein Gesicht, das einen zufriedenen Ausdruck annahm.

Die Lagune war tückisch, ein Abweichen um ein oder zwei Fuß von der Fahrrinne brachte die Gefahr des Auflaufens mit sich. Es war dann schwer, die Barke wieder flottzukriegen.

Keine Eichen- oder Ulmenpfähle markierten den Weg, tausendfältige Erfahrungen nur waren imstande, den verschlungenen Wasserpfad mit dem sechsten Sinn des Seemannes immer von neuem zu entdecken. Und immer von neuem mußte man Überraschungen vorausahnen, mit spähendem Blick auf jede Veränderung der Wasseroberfläche achten, mit wachem Ohr auf das schürfende Geräusch hören, wenn das Holz den Grund streifte, und im letzten Augenblick mit einer winzigen Bewegung des Steuers den richtigen Kurs einschlagen. Auch wenn das Heulen des Windes und die gegen das Holz klatschenden Wellen alles zu übertönen versuchten.

Kapitän Matteos Herz war von triumphierendem Stolz erfüllt. Das Leben hatte nur Sinn für ihn, wenn er am Steuer stand, von Wind und Dunkel und Feuchtigkeit umweht, und die Schergen, die mit schnellen Booten die Lagune durchstreiften, überlisten konnte.

Die Barke flog wie ein flüchtiger Schatten über das Wasser. Kapitän Matteo hielt auf das Festland zu. Bald waren sie auf der Höhe von San Spirito. Auf San Spirito und der folgenden, in ein Fort verwandelten Insel Poveglia lauerten die Boote der Schergen und liefen in ständigem Wechsel aus. Fast wartete Matteo auf eine Begegnung, um ihnen mit kühnen Manövern wie ein Gespensterschiff entwischen zu können.

Der Wind stand günstig, so daß sie, ohne den Stand der Segel zu verändern, den richtigen Kurs halten konnten. Die vier Männer der Besatzung verrichteten, als seien sie ein Wesen, die notwendigen Handgriffe. Alles vollzog sich schweigend und schnell.

Paolo blieb kaum Zeit zum Nachdenken. Jetzt war es vollkommen klar, daß sie nicht nach San Nicolo segelten, sondern sich auf einer Schmuggelfahrt befanden. Pietro Bocco hatte ihn in eine Falle gelockt.

Ein dumpfer Zorn erwachte in ihm. Vier Männer befanden sich an Bord, dazu der bärenstarke Kapitän. Er versuchte, sich die Gesichter und Gestalten der vier vorzustellen, konnte sich aber nur an den krummbeinigen Ernesto, der ihm kein ernster Gegner zu sein schien, erinnern. Vorhin war Paolo so in seine Gedanken versponnen gewesen, daß er kaum auf die anderen geachtet hatte. Es gab nur eine Möglichkeit, eine Änderung des Kurses zu erzwingen: Er müßte Kapitän Matteo niederschlagen und die anderen mit dem Dolch in Schach halten. Paolo sagte sich selbst, daß dieser Versuch nicht die mindeste Aussicht auf Erfolg haben würde.

Der Wind brauste in seinen Ohren, die Barke ächzte und stöhnte, und die aufgewühlten Wellen quirlten über die Reling. Das Deck lag im spitzen Winkel zur Wasserfläche; mit kundiger Hand, alle Sinne angespannt, steuerte Kapitän Matteo durch die Nacht.

Im Laderaum standen gut verstaut die fünfzehn Salzsäcke des Pietro Bocco. Wenn man sie doch ins Wasser werfen könnte!

Uber Paolos Kopf wölbte sich, bis zum Bersten gespannt, das Hauptsegel. Der Zorn weckte blinde Wut, wie sie Paolo nur einmal im Leben empfunden hatte, als der Aufseher des Waisenhauses ihn fast zu Tode geprügelt hatte. Alle vernünftigen Überlegungen waren ausgelöscht.

Mit drei Sprüngen, Hände und Füße benutzend, erreichte er Kapitän Matteo, stieß den Überraschten vor die Brust und schlug ihm mit einem wuchtigen Faustschlag den Steuerknüppel aus der Hand. Die Barke richtete sich auf, beängstigend flatterten die Segel um die Rahen, sie verlor an Fahrt und tanzte ziellos auf den Wellen. Matteo stieß einen Schrei aus, der schaurig das Brausen des Wassers übertönte.

«Bist du wahnsinnig!» knirschte er und warf sich, die mächtigen Arme ausbreitend, auf den Gegner. Trotz der furchtbaren Anstrengung vergaß er nicht die Sorge um seine Barke.

«Nimm das Steuer!» brüllte er Ernesto an, der neben den Kämpfenden aufgetaucht war und auf eine Gelegenheit zum Eingreifen wartete.

«Bleibt auf euren Plätzen!» keuchte er.

Die beiden Männer hielten sich umschlungen, ihre Adern an Hals und Kopf traten fingerdick hervor. Der Krummbeinige legte die Barke vor Wind. Als sich das Deck wieder schräg über die Wasserfläche hob, standen die Kämpfer Augenblicke lang auf ihren linken Beinen und versuchten das Gleichgewicht zu halten. Matteo drückte seine Arme wie eine Zange zusammen, so daß sich der Griff des Dolches unter Paolos Wams gegen die unteren Rippen preßte.

Doch Paolo spürte keinen Schmerz. Es ging jetzt um Tod oder Leben. Kapitän Matteo war bisher noch von keinem Gegner besiegt worden. Ein Schwächerer als Paolo hätte nach dieser gefährlichen Umklammerung mit gebrochenen Rippen am Boden gelegen.

Der Wind steigerte sich zum Sturm. Er spielte eine grausige Melodie zu dem stummen, keuchenden Ringen. Das Schiff neigte sich stärker zur Seite, wurde aber sofort wieder aufgefangen.

Die Kämpfenden verloren das Gleichgewicht und schlugen mit dumpfem Aufprall gegen die Holzplanken. Im Fallen hatte Paolo den Griff seiner Arme gelockert, um mit stärkerem Druck am unteren Teil der Wirbelsäule ansetzen zu können. Matteo nützte die Gelegenheit, drehte sich innerhalb der Umklammerung, zog sich zusammen und schleuderte, mit einem gewaltigen Schwung seines gewölbten Rückens die Umklammerung sprengend, den großen Körper des Gegners durch die Luft.

Paolo flog mit ausgebreiteten Armen und gespreizten Beinen gegen die Reling und schlug mit dem Kopf hart gegen die Kante. Eine Welle spülte über seinen Körper und durchnäßte ihn bis auf die Haut. Instinktiv krallten sich seine Hände um das Holz. So entging er der Gefahr, von dem zurückflutenden Wasser über Bord gespült zu werden.

In diesem Augenblick ließ der krummbeinige Ernesto, der bisher dem Ringen mit starrem Entsetzen zugesehen hatte, den Steuerknüppel fahren. Er wollte sich auf den am Boden Liegenden stürzen, um ihn über Bord zu schleudern. Doch Kapitän Matteo riß ihn am Kragen zurück und stieß ihn mit einer Armbewegung gegen das Heck. «Teufelssohn!» brüllte er mit verzerrtem Gesicht und blutunterlaufenen Augen, «halt den Kurs!»

Paolo war inzwischen, etwas benommen noch, auf die Füße gekommen. Nimm den Dolch! flog es ihm durch den Kopf. Gleichzeitig lähmte eine unerklärliche Sympathie für den Gegner seine Hand. Er griff nicht nach dem Dolch, obwohl er genau wußte, daß der furchtbare Kampf bis zum Ende durchgefochten werden würde, bis einer von ihnen wehrlos am Boden lag.

Vielleicht war es nicht gut, daß sich kein Haß in seinem Herzen regte.

Kapitän Matteo senkte den Kopf und stürmte auf Paolo los, der sich mit beiden Händen auf die Reling stützte. Er wollte die Benommenheit des Gegners ausnützen und ihn kampfunfähig machen.

Paolo sah den Stiernacken und die geballte Faust, die wie ein Hammer gegen seine Magengrube schnellte. Im letzten Augenblick gelang es ihm, zur Seite zu springen. Kapitän Matteos Faust schlug gegen splitterndes Holz.

Ein heulender Laut kam aus seinem Munde. Das Blut troff über die Knöchel und rieselte in Bächen über den Handrücken, aber die Knochen waren stärker gewesen als das Holz. Jähzorn und Wut vernebelten seine Gedanken. Wie ein Tiger sprang er dem Gegner nach, der sich mit dem Rücken an den Mastbaum lehnte und mit klarer Überlegung den neuen Angriff erwartete.

Paolo wollte einer neuen Umklammerung ausweichen. Er schnellte sich vom Mastbaum ab und stürzte sich, beide Fäuste vorgeschoben, auf den Kapitän. Sie prallten mit der Wucht eines niedersausenden Beilrückens gegen Matteos Stirn. Dieser wich taumelnd zurück. Mit einem triumphierenden Schrei drang Paolo auf ihn ein und trieb ihn mit Faustschlägen vor sich her. Für einige Augenblicke war das Gesicht des Gegners ungedeckt.

Paolo sah wie durch einen roten Nebel die aufgeplatzten Lippen, aus denen ein Blutrinnsal zum Kinn und Hals hinunterfloß.

Ein Gedanke beherrschte ihn: Schlagen! Schlagen, um ein schnelles Ende herbeizuführen. Was dann sein würde, war unwesentlich.

Es ging um Salz. Um Messer Pietro Boccos Salz.

Wer dachte jetzt daran?

Der Sturm heulte, und die weißen Schaumkronen grinsten höhnisch, und die Barke schoß mit straff gespannten Segeln durch das tosende Wasser.

Paolo vergaß, wo er sich befand, hatte nur Auge und Ohr für jede Bewegung, jeden Laut seines Gegners.

Sie kämpften wie vorweltliche Riesen. Was sich in den Weg stellte, wurde hinweggefegt: Holz, Tauwerk, Leinewand, Menschenleiber.

Auf Matteos zerschlagenem Gesicht zeigte sich die Andeutung eines ungläubigen Staunens. Er kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf, um seiner Benommenheit Herr zu werden. Seine Züge verzerrten sich in der ungeheuren Anspannung aller Kraftreserven. Er blieb plötzlich breitbeinig stehen, beugte den Oberkörper vor und warf in überraschendem Angriff seine Arme um Paolos Leib.

Sie stürzten.

«Tod und Teufel!» preßte Matteo keuchend hervor, zog mit einem Ruck seine Arme zurück und umspannte das Handgelenk des unter ihm liegenden Gegners. Mit äußerster Kraftanstrengung schob er Paolos Unterarm unter den Rücken. Paolo wehrte sich verzweifelt, wälzte sich mit einem gellenden Schmerzensschrei herum und fühlte, wie ihm die Sinne schwanden.

Ein Mann der Besatzung ergriff eine Axt, um Paolos Schädel zu zersdimettern.

Matteo richtete sich mühsam auf und wischte sich den Schweiß und das Blut vom Gesicht. Verwundert betrachtete er seine geschwollene, blutverkrustete Faust. «Heiliger Vater!» murmelte er.

Dann sah er den Mann mit der erhobenen Axt vor Paolo stehen. «Weg von ihm!» knurrte er. «Rühr ihn nicht an!»

Noch etwas taumelnd ging er zum Heck und nahm dem Krummbeinigen das Steuer aus der Hand. «Heiliger Vater!» sagte er noch einmal.

Der Kampf hatte die freundschaftlichen Gefühle, die er schon zu Beginn seiner Bekanntschaft mit Paolo empfunden hatte, nicht ausgelöscht, sondern sie eher verstärkt. Er wird bald wieder zur Besinnung kommen, dachte er.

«Hoffentlich machst du keine neuen Dummheiten, Freundchen», führte er ein Selbstgesprädi, «hast mich ganz schön zugerichtet…»

Dann lenkte er seine Aufmerksamkeit auf die Fahrt durch die stürmisch bewegte Nacht.

Wenn der Krummbeinige den richtigen Kurs gehalten hatte, mußten sie sich jetzt ih der Nähe des Castellos befinden, das dem Hafen von Malamocco vorgelagert war. Er hatte den Eindruck, als lichte sich das Dunkel ein wenig, auch der Sturm schien etwas nachzulassen. Das war ihm im Augenblick recht unangenehm, weil er dicht am Castello vorbeisteuern mußte. Sie befanden sich an der gefährlichsten Stelle. Ständig patrouillierten hier die Boote der Schergen und kontrollierten die Fahrrinne.

Der Krummbeinige stand am Bug und starrte angestrengt nach vorn. Da tauchte vor ihm plötzlich der Schatten eines Seglers auf. Ernesto drehte sich um und stieß einen durchdringenden Warnruf aus. Der Kapitän hatte das Boot ebenfalls bemerkt; viel Zeit zum Ausweichen blieb nicht mehr. Der Wind trieb die schwarze Barke mit geblähten Segelschwingen auf die Schergen zu. Kaltblütig bewegte Kapitän Matteo das Steuer, in einer Entfernung von höchstens fünfzehn Fuß glitten sie vorbei.

Die stille Hoffnung Kapitän Matteos, trotz alledem unbemerkt zu bleiben, erfüllte sich nicht. Unglücklicherweise schien jetzt der Mond.

Kapitän Matteo hörte die Rufe der Schergen, die ihn zum Beidrehen aufforderten. Er stieß ein höhnisches Lachen aus. «Kommt nur, wenn ihr Kapitän Matteo fangen wollt!» Das fremde Boot nahm die Verfolgung auf.

Paolo lag bewegungslos auf einer Taurolle. Der Schmerz, der ihm für kurze Zeit die Besinnung geraubt hatte, war schwächer geworden. Er hörte die Rufe des Kapitäns und beobachtete die Männer an den Segeln, die blitzschnell die Befehle ihres Kapitäns ausführten und für nichts anderes Auge und Ohr hatten.

Er drehte sich um und wälzte sich von den Tauen auf die Deckplanken. Die Schmerzen im linken Schultergelenk verstärkten sich; sein ganzer Körper bedeckte sich mit Schweiß. Das Blut hämmerte in seinen Adern und peinigte die verletzte Stelle mit glühenden Nadelstichen. Sobald er ruhiger lag, wurden die Schmerzen schwächer. Er hob den Kopf und legte ihn auf die Taue! Wind und Wasserperlchen erfrischten sein Gesicht.

Als er sich etwas aufrichtete, sah er die Barke der Schergen; sie ließ sich nicht abschütteln, kam zwar nicht näher, aber entfernte sich auch nicht.

Kapitän Matteo fluchte leise vor sich hin. Die Segelkünste der Verfolger, die ihm sonst imponiert hätten, erzeugten ein unangenehmes Prickeln auf der Haut.

Die Schaumkämme schimmerten wie tausend silbrige Fische, die in flüchtigem Sprung über das Wasser schweben.

Kapitän Matteo segelte an der Einfahrt zum Hafen Malamocco vorbei und hielt sich dicht an die schmale langgestreckte Insel. Die Verfolger blieben im schäumenden Kielwasser.

Dunkle Wolken verdeckten den Mond.

Es ging um tausend Dukaten für Messer Pietro Bocco, der um diese Zeit mit fieberndem Pulsschlag im Bett lag und auf den Sturm lauschte.

Für Paolo ging es um lebenslängliche Galeerenarbeit, wenn er in die Hände der Schergen fiele.

Sie waren ihm dicht auf den Fersen. Er rechnete nicht mehr damit, daß sie ihnen entkommen würden. Den Schmerz unterdrückend, kroch er mit zusammengebissenen Zähnen zur Reling, richtete sich mühsam auf und sprang in das dunkle, wellenbewegte Wasser. Kühl umschmeichelte es seine Glieder. Die Kleider sogen sich voll, und die Schuhe hingen wie Gewichte an den Füßen. Die feindliche Barke kam in seinen Gesichtskreis. Er holte tief Luft und tauchte unter die Oberfläche. Dunkel und Stille umfingen ihn.

Der Wind pfiff über die Lagune, und das Wasser brauste eine furchterregende zornige Melodie.

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