TOD UND WÜRFELSPIEL

DIE NACHT WEHTE ZUM FENSTER HEREIN. Signora Polo lag ruhelos in ihrem Bett und starrte auf die Kerzen. Seit dem frühen Morgen regnete es. Der Herbst kündigte sich an. Venedig glich zu dieser Zeit einem großen, verlassenen Schiff, auf dem hier und da trübe Lichter schwanken.

Die Luft war feucht und ungesund, aber die Kranke verlangte, daß die Fenster und Läden geöffnet blieben. Neben ihrem Bett hing eine seidene Schnur, mit der eine Glocke in Schwingungen gebracht werden konnte. Signora Polo benutzte sie selten. Sie liebte die Einsamkeit, und sie fürchtete sie. Die stille Hoffnung, daß ihr Gatte mit seinem Bruder wiederkehren würde, war in den einsamen Nachtstunden am stärksten. Am stärksten waren aber auch die Zweifel. Tausend und aber tausendmal hatte sie die Gedanken zurückgewiesen, die ihr einflüstern wollten, daß er nicht mehr am Leben sei. Diese teuflischen, quälenden Gedanken kleideten sich in den Mantel der Vernunft; wie kann er noch am Leben sein, flüsterten sie, vor vierzehn Jahren ist er weggereist, und nie hat er ein Lebenszeichen gegeben. Er war doch ein kühner Mann und hat die Gefahren nicht gescheut. Viele Schiffe ruhen auf dem Grund des Meeres…

Die Nacht brachte aber auch die Erinnerung an die glücklichen Stunden mit Nicolo. So sehnte sie die Dunkelheit herbei und hatte Furcht vor ihr. Bleich und durchsichtig waren ihre Wangen geworden. Die Röte der Gesundheit hatte sie vor Jahren schon verlassen. Nur wenn Marco bei ihr war, belebte sich ihr Gesicht. Wenn er neben ihrem Bett saß, wenn sie ihm von Andrea Polo da San Felice, dem Großvater, und von Nicolo Polo, dem Vater, erzählen konnte, erlebte sie noch einmal die Vergangenheit und bildete sich für Minuten ein, daß alles frohe Gegenwart sei. «Euer Körper ist nicht krank, Signora», hatte der Arzt gesagt. «Eure Seele ist krank und raubt Euch den Willen zum Leben.»

Der flackernde Kerzenschein erleuchtete die roten Teppiche an den Wänden. Plötzlich befiel sie wieder die Angst; sie bäumte sich auf, als habe ein körperlicher Schmerz sie getroffen, die Hand griff nach der Schnur. Laut tönte die Glocke durch die Stille. Eilige Schritte nahten, Giannina trat ein.

«Was ist geschehen, Signora?» fragte sie. «Eure Augen glänzen. Habt Ihr Fieber? Ich werde den Arzt holen.»

«Nein, nein!» rief die Kranke. «Keinen Arzt. Wo ist Marco? Sag mir, wo Marco ist.» Sie griff nach Gianninas Hand. «Sag mir schnell, ist Marco im Hause?»

Der feine Regen und das sternenlose Dunkel wallten wie Trauerschleier vor den Fenstern.

Die Signora war so schwach nach dieser Anstrengung, daß sie nur mit Mühe die Hände auf der Bettdecke bewegen konnte. Giannina, mit braunem, gesundem Gesicht, beugte sich nieder und sagte, gütig wieeine kleine Mutter: «Marco ist doch im Hause, Signora. Er schläft so fest, daß er nicht einmal die Glocke gehört hat.» «Ist Paolo bei ihm?»

«Ja, Signora, Paolo schläft in seinem Zimmer, wie Sie es angeordnet haben.»

«Gib acht auf ihn, Giannina», flüsterte die Kranke, «Marco darf nie wieder weggehen! Hörst du! Er ist wie sein Väter, ich habe Angst, daß er eines Tages aufs Meer hinausfährt. Ich hasse das Meer!»

Sie dachte die gesprochenen Worte weiter: Wenn Nicolo zurückkommt, werde ich ihn bitten, von Venedig weg aufs feste Land zu ziehen. Ich kann kein Wasser mehr sehen, es lockt die Menschen hinaus und gibt sie nie mehr zurück, Überall an den Küsten des Meeres, angezogen durch seine geheime Kraft, sind Siedlungen und Städte entstanden. Venedig aber liegt inmitten des tückischen Wassers. Die Familien gehören nicht mehr sich selbst; das Meer teilt sie. Auf der einen Seite stehen Frau und Kinder, auf der anderen, unsichtbaren, handelt der Mann mit Gold, Diamanten, Fellen, Ziegenhäuten, Getreide und Teppichen, Ambra und Moschus, Jagdfalken und Gewürzen. Jedes Jahr opfert der Doge dem Meer einen goldenen Ring, vermählt Venedig mit dem Meer. Ein heidnischer, teuflischer Brauch!

«Ich habe Angst, Giannina!» sagte sie. «Schneuze die Kerzen, daß sie nicht verlöschen… Was ist das?» Sie richtete sich mühsam auf. «Die Türklinke bewegt sich, Giannina!» Marco trat leise ein. «Ich bin es doch, Mama. Fühlt Ihr Euch nicht wohl?»

Giannina ging aus dem Zimmer.

Setz dich, mein Sohn. Es ist gut, daß du gekommen bist. Schließe die Fenster. Ich will allein mit dir sein.»

Marco sah seine Mutter verwundert an. Er schloß die Fenster und setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett. Das Gesicht der Mutter war weiß wie die Kirschblüten im bläulichen Mondenschein.

Gelbes Licht fiel auf rote Teppiche und bunte Fensterscheiben. Auf dem Tisch, der auf geschnitzten Löwentatzen ruhte, stand ein kleiner, aus Elfenbein geschnitzter Elefant. Die Möbel waren dunkel. «Schläft Paolo bei dir?» fragte die Mutter.

Marco hatte diese Frage gefürchtet. Seitdem er auf der Suche nach Giannina drei Tage aus dem Hause gewesen war, hatte der getreue Paolo in seinem Zimmer geschlafen. Zwar wußte die Mutter nichts von dem Mordanschlag, der auf ihn verübt worden war, aber die dumpfe Furcht, die überall Gefahr für den Sohn sah, war durch die Ereignisse der vergangenen Wochen noch stärker geworden.

Heute nun hatte Paolo ihn um Urlaub gebeten, weil er glaubte, eine Spur gefunden zu haben. Was sollte er der Mutter antworten? Jede Aufregung war gefährlich für sie. Der Arzt hatte ihn gebeten, alles Böse und alles Freudige vor ihr fernzuhalten. Aber er konnte doch nicht lügen, wenn die Mutter ihn fragte. Er konnte doch nicht in diese angstvoll auf ihn gerichteten Augen hineinlügen.

«Ihr müßt Eure Medizin einnehmen, Mama. Eure Hand ist so heiß.»

«Schläft Paolo bei dir?»

«Nein, Mama», sagte er leise, «ich habe ihn heute fortgeschickt.»

«Ich kann den linken Arm nicht mehr bewegen. Es ist gerade so, als ob eine Nadel in mein Herz steche… Du verbirgst mir etwas, Marco… Sag, freust du dich, daß Giannina hier ist?»

«Ja, Mama. Aber sie gehört zu Giovanni. Sein Vater ist verunglückt, nun hat Giovanni keine Zeit zum Singen mehr…»

«Bring ihn zu mir, Marco. Ich möchte ihn noch einmal singen hören…» Alles ist so traurig, Mama, dachte Marco. Giannina hatte ihm vom Schicksal Zsusinkas, der Enkelin des alten Zigeuners, erzählt. Gab es denn nur Trauriges in der Welt? Die Welt war doch weit und schön; die Erde, das Wasser und der Himmel gehörten zu ihr. Irgendwo lebte Zsusinka. Wer sagt denn, daß sie unglücklich ist? Schade, daß er mit der Mutter nicht darüber reden konnte.

«Ich gehe ein wenig auf und ab, Mama. Paolo wird bald zurückkommen. Ich bleibe solange bei Euch. Wenn Ihr wollt, kann ich bei Euch schlafen, hier auf dem Teppich, das macht mir nichts aus. Ich will nur bei Euch sein, wenn Ihr mich braucht.»

«Setz dich, mein Sohn, dein Wesen ist voller Unruhe wie bei deinem Vater… Aber du brauchst um mich keine Sorge zu haben, das geht schon vorbei… Es ist doch hell im Zimmer. Die Kerzen sind wie Sterne. Sie leuchten überall. Setz dich, mein Sohn, ich kann dich nicht mehr sehen…»

«Was habt Ihr denn, Mama?» Marco beugte sich über das Gesicht der Mutter. Es war wachsbleich, ihre linke Hand lag steif ausgestreckt auf der blauseidenen Decke. Die Augen waren unnatürlich groß und gaben das Licht wie ein toter Spiegel wieder.

Marco lief zur Tür. «Giannina», rief er. «Giannina! Was ist denn nur mit Mama… Wir müssen ihr helfen.»

Giannina kam mit einer Waschschüssel und einem Tuch. «Müssen wir den Priester holen, Giannina?» fragte Marco angsterfüllt.

«Es wird schon vorübergehen… Mach die Fenster auf!» Sie legte der Kranken das feuchte, kalte Tuch auf die Stirn. Der Atem ging regelmäßiger, und die Augen schlossen sich. Es schien fast, als erschiene ein Lächeln auf ihrem Gesicht.

Die Luft strömte in das Zimmer. Es war die Luft von Venedig, die heimatliche Luft mit ihrem Geruch nach Schlamm, Fischen, Meer, Holz, Hanf, Himmel und Sonne, nach Weihrauch, Myrrhe und heiligem Kerzenschimmer.

Dunkel floß der schmale Kanal vorüber, zwei Barken glitten dicht aneinander vorbei.

Die Nacht war von leiser, dunkler Musik erfüllt.

Signora Polo schlug die Augen auf. «Da seid ihr ja», sagte sie. «Wo bin ich nur gewesen? Und die Fenster sind weit offen. Ich atme, mein Herz ist ganz ruhig. Danke, Giannina.»

«Jetzt kann ich gehen», sagte das Mädchen zu Marco. «Wenn du mich brauchst, rufe nur leise. Ich komme dann schon.»

Marco setzte sich wieder neben das Bett. «Ihr dürft jetzt kein Wort mehr sagen, Mama», sagte er. «Ich bleibe bei Euch, bis alles wieder gut ist.»

«Das Sprechen macht mir keine Beschwerden, Marco. Es ist so hell in mir… Sie sagen, Venedig sei die Königin des Meeres. Glaube ihnen nicht, die Sklavin des Meeres ist sie… Gestern war dein Onkel Pietro Bocco bei mir. Er ist ein guter Mann. Ween irgend etwas geschieht, kannst du dich ihm anvertrauen…»

«Aber was soll denn geschehen? Pietro Bocco gefällt mir nicht, Mama, er ist freundlich, aber seine Augen blicken so kalt. Wir brauchen ihn doch nicht. Ich bleibe bei Euch, solange Ihr wollt. Nie gehe ich von Euch fort. Und dann sind meine Freunde noch da: Giannina, Giovanni — und Paolo. Paolo sorgt sich um mich wie ein Bruder. Ich habe ihn gern… Mama, glaubt Ihr denn nicht, daß mein Vater wiederkehrt?»

«Ich weiß nicht…» Sie sprach so leise, daß Marco sein Ohr an ihre Lippen neigen mußte. «Scheint die Sonne draußen? — Ich möchte — jetzt — viele — Menschen — sehen. Nicht mehr einsam sein! Nicolo!»

Lagune und Himmel waren von gleicher Färbung. Der Regen verwischte die Begrenzungen. Die Kuppeln der Kirche San Marco mit den durch goldene Kugeln verzierten Kreuzen schwebten wie fünf heidnische Tempel über den Häusern. Die Straßen und Plätze waren fast menschenleer. Bettler und Obdachlose suchten Schutz in den Säulengängen der Piazza, wurden aber von den Sbirren immer wieder mit Schlägen vertrieben und verkrochen sich irgendwo unter alten Holzschuppen, Brückenbögen, Hauseingängen oder umgestülpten Fischerkähnen.

Nur spärliche Lichter erhellten die Nacht.

Auf den Kanälen war der Verkehr lebhafter. Barken glitten über das schweigende Wasser. Damen und Herren ließen sich in Klubs und Kasinos fahren, wo sie die Nächte beim Glücksspiel und in angenehmer Unterhaltung verbrachten.

Paolo saß zu dieser Stunde in der Taverne hinter dem Gemüsemarkt. Er war seit Wochen hier ständiger Gast und hatte sich mit dem Wirt bereits angefreundet.

Vor einigen Tagen war ein Mann erschienen, dessen linkes Auge durch eine schwarze Binde verdeckt war. Der Wirt nannte ihn vertraulich beim Vornamen. Giorgio hieß er. Meistens saß er allein in einer Ecke und trank ein Glas Wein nach dem anderen, ohne jedoch betrunken zu werden. Paolo glaubte in ihm den Mann zu erkennen, der Marco überfallen hatte. Er hatte mehrmals versucht, mit ihm in ein Gespräch zu kommen, hatte aber auf seine harmlosen Fragen nur mürrische, nichtssagende Antworten erhalten, die einer Unterhaltung keine Nahrung boten.

Der Wirt hielt sehr viel von ihm. «Der schwarze Giorgio ist ein schweigsamer Geselle», erklärte er Paolo, «den kannst du totschlagen, ehe er ein Wort verrät.»

Die Gleichgültigkeit, mit der Giorgio ihn betrachtete, zeigte Paolo, daß dieser ihn nicht erkannt hatte.

Der Wirt hatte heute alle Hände voll zu tun. Das Regenwetter zog auch Handwerker und Händler in die Taverne, die sonst ihre Waren auf den öffentlichen Plätzen feilboten. So befand sich eine gemischte Gesellschaft in dem Kellergewölbe, das von Weindunst, derben Scherzen und wütenden oder freudigen Ausrufen der Spieler erfüllt war.

An Paolos Tisch saßen ein Rudermacher, ein Terrazzoschläger, ein Hühnerverkäufer und ein Küchleinbäcker. Die Händler schimpften auf den Regen, weil er ihnen das Geschäft verdarb; die beiden Handwerker sahen ihre Zechbrüder spöttisch an und meinten, daß sie gern mit ihnen tauschen würden. Der Handel bringe doch so viel ein, daß ihnen das bißchen Regen gar nichts ausmachen dürfe. Der Hühnerverkäufer erging sich in langes und breites Lamentieren über die hohen Abgaben, die die Regierung verlange, und erklärte, daß viele Händler kaum das Salz für ihre Speisen verdienten.

«Eine schlechte Zeit, eine schlechte Zeit. Stimmt's, Bruder», wandte er sich an den Küchleinbäcker. Dieser nickte mit sorgenvollem Gesicht. Dem äußeren Anschein nach aber konnte es den beiden nicht allzu schlecht gehen. Besonders der faßdicke Hühnerverkäufer strahlte unverkennbar Wohlhabenheit und Zufriedenheit aus, so gern er es auch verborgen hätte.

Der Terrazzoschläger hatte Mitleid mit den beiden Händlern. «Wirt, bringt zwei Wein ohne Wasser für unsere armen Freunde hier, sonst verdursten sie noch!»

Die beiden wehrten zuerst entrüstet ab, als aber der rote funkelnde Wein vor ihnen stand, ließen sie sich nicht lange nötigen. Bald packte der wohlgenährte Hühnerverkäufer ein großes Paket aus und gab jedem ein Hühnchen. «Gern teile ich mein Abendbrot mit euch, Brüder», sagte er mit weinseliger Stimme.

Paolo, der sich wenig an der Unterhaltung beteiligt hatte, erhielt ebenfalls ein knuspriges Hühnchen.

Die Tische waren dicht besetzt. Der Wirt und eine Magd liefen geschäftig zwischen Fässern, Bänken und Tischen hin und her; roter, gelber und weißer Wein floß aus den hölzernen Zapfen in die Karaffen. Die Öllampe spendete mattes Licht und milderte das lebhafte Mienenspiel in den Gesichtern.

Paolo wurde plötzlich aufmerksam. Knarrend bewegte sich die schwere Tür in den Angeln. Der schwarze Giorgio, das Gesicht immer noch durch die Binde entstellt, trat ein, überflog mit einem schnellen Blick die Taverne und stieg die Steinstufen hinunter. Er begrüßte flüchtig den Wirt und setzte sich auf einen einzelnen Stuhl neben dem großen Faß.

Paolo war jetzt ganz sicher, daß Giorgio es gewesen war, der den jungen Herrn überfallen hatte. Er erinnerte sich an die geschmeidigen, katzenartigen Bewegungen, an die buschigen braunen Augenbrauen und den Haaransatz, der nur wenige Zentimeter Stirn freigab.

«A la vostre salute!» schrie der Hühnerverkäufer, der immer mehr in Stimmung kam, und hob das Glas. «Wenn ich den Hühnchen den Hals umdrehe, tut's mir ja in der Seele weh», erzählte er. «Aber was soll ich machen, Brüder? Ich muß doch leben. Einmal brachte mir der Diener einer vornehmen Familie zweihundert Nachtigallen. Ein gutes Geschäft war das. Flink bin ich wie eine Eidechse. Man sieht's mir nicht an. Eins — zwei — drei habe ich ihnen die Köpfe abgerissen und wie ein gelehrter Doktor die Zungen herausgetrennt. Zur Hochzeit der schönen Isabella gab es Nachtigallenzungen. Ein Leckerbissen, eines Kaisers würdig… A la vostre salute, Brüder!»

Paolo spürte, wie der Wein in sein Blut floß und die Gedanken schneller arbeiten ließ. Wie flüchtig vorbeihuschende Schatten tauchten Erinnerungen und Träume auf. Er hörte nicht mehr auf das Gespräch am Tisch, murmelte eine Entschuldigung und stand auf, um zum schwarzen Giorgio zu gehen. Er wußte selbst noch nicht, was er eigentlich sagen wollte. Vielleicht würde er ihn einfach an dem Kragen packen und das höhnische Gesicht hin- und herschütteln; bis sich der verschlossene Mund öffnete.

Es war ein Glück für Paolo, daß in diesem Moment ein schwarz gekleideter Mann mit unbewegtem, weißem Gesicht und glatt zurückgekämmten Haaren durch die Taverne schritt; er steuerte auf den Wirt zu, begrüßte ihn herablassend und nahm neben dem schwarzen Giorgio Platz. Der ehrenwerte Schreiber vom Arsenal, Luigi Farino, war gekommen.

Nichts in seinen Mienen verriet die Aufregung und die Wut, die ihm seit dem mißglückten Anschlag auf Marco keine Ruhe mehr ließen. Sein Herr, Messer Pietro Bocco, hatte kein Wort mehr mit ihm gesprochen, sondern ihn nur unheildrohend angesehen. Luigi wußte, daß die edlen Herren gefährliche Mitwisser ihrer Pläne durch eine Handbewegung beseitigen ließen. Obwohl er von Natur nicht ängstlich war, wurde er ein unangenehmes Gefühl nicht los.

Stärker als diese dunkle Furcht aber war seine Geldgier. Er war heute gekommen, um dem schwarzen Giorgio mindestens drei Dukaten von den fünf, die dieser erhalten hatte, abzujagen oder zu verlangen, daß er endlich seinen Auftrag ausführe. Der schwarze Giorgio aber hatte eine abergläubische Scheu davor, eine Sache, die einmal mißglückt war, zum zweiten Mal anzufassen. Im übrigen hatte er seinen Lohn schon eingesteckt und zum größten Teil in der Taverne gelassen, so daß er beim besten Willen nichts wieder herausgeben konnte. Der Schreiber fiel ihm auf die Nerven.

Ein Weinchen gefällig, Herr?» fragte der Wirt. Luigi nickte. «Wie steht es, Giorgio?» fragte der Schreiber und gab seiner Stimme einen drohenden Klang.

Ihr sollt mich in Frieden lassen», antwortete der schwarze Giorgio gereizt.

Dann gib mir das Geld zurück, fünf Dukaten hast du erhalten, du Tölpel!»

«Halt's Maul, Fischgesicht», knurrte Giorgio wütend. «Komm mit mir, draußen kriegst du Dukaten, soviel du brauchst.» Er warf dem Wirt, der eilig gekommen war, einige Soldi zu und stand auf. Dann beugte er sich zum Schreiber und sagte: «Wenn du mich noch mal belästigst, Schreiber, wird man dich bald aus dem Kanal fischen können.»

Der schwarze Giorgio ging hinaus, ohne sich umzusehen.

«Noch ein Weinchen gefällig, Herr?» fragte der Wirt.

«Der Teufel soll ihn holen», sagte Luigi. «Bringt mir Wein, Wirt.»

«Er ist ein ungehobelter Klotz», flüsterte der Wirt. «Am besten ist's, Ihr laßt die Finger von ihm.»

Paolo hatte die Szene voller Spannung beobachtet. Er sah den Schreiber vom Arsenal zum erstenmal in der Taverne und ahnte, daß dieser mit dem Mordanschlag etwas zu tun hatte. Auf jeden Fall würde es gut sein, sich mit ihm bekannt zu machen. So ging er, etwas schwankend, auf ihn zu und ließ sich neben ihm auf den Stuhl fallen.

«Ihr seid so einsam, Herr», sagte er und sah ihn mit lustigen Augen an. «Gestattet, daß ich mich ein wenig zu Euch setze.»

«Wer seid Ihr?» fragte Luigi kalt.

«Ein Lastträger, Herr. Hab diese Woche gut verdient. Kann das Geschwätz von dem Hühnerverkäufer nicht mehr vertragen. Schlagt's mir nicht ab, ein Weinchen zusammen zu trinken. Bringt uns zwei Wein, Wirt!»

Der Schreiber war nicht abgeneigt, das treuherzig-harmlose Wesen des muskulösen Lastträgers flößte ihm Vertrauen ein.

Paolo, der von seinem Herrn für die Nachforschungen gut versorgt worden war, ließ das Geld in seiner Tasche klimpern und bestellte, kaum waren die Gläser geleert, schon die nächsten. Dabei horchte er auf jedes Wort des Schreibers. Er erfuhr zunächst nicht allzuviel; Luigi verstand es, seine Gedanken zusammenzunehmen. Paolo erfuhr nur, daß der Zechbruder Schreiber im Arsenal war und in den Diensten des Pietro Bocco stand. Das machte ihn allerdings sehr hellhörig und verstärkte seine Ahnung, daß der Schreiber seine Hand im Spiel hatte.

«Trinkt, Schreiber», rief er mit dröhnender Stimme. «Das Blut ist zu dick. Gießt einen Schluck Wein hinein, und es wird lebendig wie die kleinen Fischlein im Wasser. Heute kommt's mir nicht drauf an, bringt Wein, Wirt!»

Luigi lächelte nur mit dem Mund. Wangen, Nase und Augen blieben unbewegt wie starrer Stein. Der Wein vermochte nicht, die Maske, die zu Luigis zweiter Natur geworden war, zu beleben. Aber er tropfte in seine Gedanken und löste die Zunge zu spärlichen Bemerkungen.

Der gute Piccolit aus den Weingärten Friauls wirkte auch auf Paolo. Er dankte im stillen dem Hühnerverkäufer für das gespendete Abendbrot. Mit einem Hühnchen im Magen konnte man den Lockungen und Verwirrungen des Weins besser widerstehen.

«Ihr seid ein kräftiger Geselle, Lastträger, könntet Euch leicht Geld nebenbei verdienen», sagte Luigi mit schwerer Zunge.

«Warum nicht, Schreiber? Für Geld hole ich Euch den Mond herunter!»

«Den Mond, den Mond!» äffte er Paolo nach. «Dafür kriegst du keinen roten Heller.»

«Grinse nicht, Bruder», sagte Paolo und legte Daumen und Zeigefinger wie eine geöffnete Zange um den weißen Hals. «Wenn ich zudrücke, sagst du keinen Pieps mehr, wie ein Vögelchen zerquetsche ich dich.»

«Mag sein!» erwiderte Luigi unberührt. «So gefällst mir schon besser, Lastträger. Aber deine Augen sind mir zu ehrlich für solche Geschäfte… Könntest dir leicht ein paar Dukaten verdienen… Meinen Hals laß in Ruhe, dafür gibt dir keiner was. Wanderst höchstens ins Gefängnis oder kommst auf die Galeere. Kannst dann rudern dein Leben lang. Ich muß jetzt gehen. Aus mir kriegst du nichts heraus, Lastträger… Deine Augen gefallen mir nicht…»

«Bringt Wein, Wirt!» schrie Paolo.

Die Magd beschnitt den Lampendocht. Es wurde dunkel und wieder hell. Der Geruch des verbrannten, ölgetränkten Dochtes mischte sich mit Weindunst und, Menschenschweiß. Gelbes Licht fiel auf Bänke und Tische, auf weißen und roten Wein, auf blonde und schwarze Haare, über verwegene Gesichter. Schmierige Karten flogen auf den Tisch, über Würfel mit schwarzen Punkten klangen in Lederbechern gegeneinander und rollten, von gierigen Augen verfolgt, auf den Tisch. Zwei Schiffer sangen ein trauriges Lied vom Meer. Keiner hörte zu. Es wurde gesprochen, gestikuliert, gelacht und mit den Fäusten auf die Tische geschlagen.

Luigi saß mit gläsernen Augen fremd auf dem Stuhl.

Paolo hatte die Gewalt über seine Gedanken verloren. «Kennt Ihr Marco, den Sohn des Nicolo Polo?» fragte er und konnte die Wut in seinen Augen nicht mehr verbergen.

Die Worte weckten die eingeschläferten Sinne des Schreibers. «Seid wohl ein Spitzel des Messer Bocco, Lastträger», lallte er. «Geht weg!» schrie er dann plötzlich. Irre Angst saß in seinen Augen. «Weg von mir!» Er stützte den Arm auf die Stuhllehne, stand schwer auf und ging mit unsicheren Schritten zur Tür. Der Wirt sprang eilig herbei und öffnete sie. Feuchte Luft drang ein.

Paolo zahlte die Zeche und lief dem Schreiber nach. «Wo seid Ihr?» rief er in die Nacht hinein. «He, schwarzer Totengräber, wartet doch. Ich bin's, Euer Freund, der Lastträger!»

Er taumelte in der frischen Luft und wußte kaum, wohin er lief. Die Gasse mündete in einen kleinen Kanal. An der Hauswand lehnte bewegungslos der Schreiber. Paolo sah das weiße Gesicht. «Hab ich dich endlich!»

«Von mir erfahrt Ihr nichts!» sagte der Schreiber mit trunkener Stimme.

Paolo packte ihn an den Armen und preßte sie zusammen. «Was habt Ihr mit Marco Polo vor? Wer hat Euch den Auftrag gegeben, ihn zu ermorden?»

Der Regen hüllte sie ein. Die Straße war schlüpfrig wie Sumpfboden. Verloren floß der Kanal vorbei, irgendwo brannte ein Licht. Der Schreiber winselte vor Schmerz. «Von mir erfahrt Ihr nichts!» beharrte er.

Da umfaßte Paolo die sehnige, sich vergeblich wehrende Gestalt, hob sie vom Boden hoch, trug sie zum Ufer und warf sie mit einem Schwung ins Wasser.

Es klatschte, als sei ein großer Stein hineingefallen. Der Hut trieb auf den Wellen, kaum zu erkennen in der Dunkelheit.

«Hilfe!» schrie der Schreiber. Das Haar hing in Strähnen in seinem Gesicht. «Laßt mich in Ruh, Lastträger… Zu Hilfe!»

Regen und dumpfe Enge verschluckten die Schreie.

Der Schreiber arbeitete sich an das Ufer heran. Er hatte schon Grund und konnte die Pfähle fassen. Wie eine große Ratte kroch er die Böschung hoch.

Paolo stand breitbeinig am Ufer. «Wagt es nicht mehr, etwas gegen den Jungen zu unternehmen», sagte er mit kalter Wut. «Das nächste Mal schlage ich Euch tot.»

Er drehte sich um und ging davon. Die Luft und das Erlebnis hatten ihn wieder nüchtern gemacht. «Nehmt Euch vor Messer Pietro Bocco in acht, junger Herr», sagte er leise vor sich hin. «Keine Sorge, Signora Polo, ich werde schon aufpassen.»


In dieser dunklen, regnerischen Nacht aber, als die Herbstblumen in den Gärten Venedigs zaghaft ihre Blüten öffneten, als sich die Blätter an den Bäumen zu färben begannen, als die ewigen Wellen des Meeres gegen den schützenden Damm schlugen, in dieser Nacht ohne Sterne und Mondenschein, hatte Signora Polo Abschied von der Welt genommen.

Der getreue Paolo konnte ihr nichts mehr sagen. Sie ruhte still unter der seidenen Decke, die Augen waren geschlossen. Neben ihrer leblosen Hand lag der kleine, aus Elfenbein geschnitzte Elefant, das letzte Geschenk von Nicolo, ihrem Gatten. Ihr Gesicht ruhte aus vom Schmerz des einsamen Lebens.

Die Kerzen brannten, der Priester kniete vor dem Bett und murmelte das letzte Gebet für die stille Frau.

Das Warten mit all seiner Hoffnung und all seinem Leid war nun vorbei für sie, vorbei war auch die kranke Furcht um den Sohn, das Zittern um jeden Schritt, um jeden Gedanken in ihm, der der Sehnsucht nach dem Meer und der Ferne gehörte.

Der Priester entfernte sich lautlos.

Marco dachte einfache Worte: Die Mutter ist tot. Ich muß ein wenig die Fenster öffnen, damit frische Luft um ihr Gesicht wehen kann. Aber sie spürt das ja nicht mehr. Sie schweigt. Sie wird kein Wort mehr zu mir sagen.

Marco war allein in dem Zimmer. «Oder schläfst du nur, Mama?» Vielleicht schläft sie nur?

Er beugte sich über ihr Gesicht. Da sah er, daß der Tod es gezeichnet hatte.

Das Licht schien auf das Bett, auf dem bleichen Gesicht lag ein unsichtbarer Schatten.

Und da dachte Marco, daß er keinen Menschen mehr auf der Welt hatte, daß alles um ihn gestorben war.

Und da weinte er.

Der Tod eines geliebten Menschen bedeutet viel im Leben der Zurückbleibenden. In der Taverne aber, wo trübe die Lampe brannte und der Wein aus den Fässern floß, wo zwei Schiffer Lieder sangen, wo die Augen beim Würfelspiel glühten vor Leidenschaft, in der Taverne, wo große und kleine Gedanken in den Köpfen der Zecher lebten und starben und neugeboren wurden, spürte niemand die Schwingen des Todes, die das Haus in San Giovanni Chrisostomo gestreift hatten. Die Lederbecher wurden hart auf den Tisch gestülpt, die Würfel rollten über die weingetränkten Adern des rohen Holztisches. Und das Glück der Welt und das Unglück der Welt lag für manchen in der Anzahl der schwarzen Punkte auf den weißen Würfeln.

Das Meer rauschte mit unverminderter Kraft gegen den aus Balken, Gestrüpp und Sand gebauten Damm auf dem Lido, die Nachtwachen beobachteten die anstürmenden Wellen und hüllten sich fester in ihre Mäntel.

Der Senat war zu einer geheimen Nachtsitzung zusammengekommen. Zwei Knaben zogen goldene Bälle aus einem Behälter. In ihren Händen ruhten Entscheidungen über Dukaten, Schiffe, Staatsämter; Entscheidungen, ob dieser oder jener Herr in den Senat gewählt würde.

Der Tod eines geliebten Menschen bedeutet wenig im Treiben der Welt. Ein Stäubchen wird in die Unendlichkeit geweht.

Der Regen netzte Blumen, Häuser, Schiffsplanken, Kirchenkuppeln, Strohdächer, Marmorsäulen und Holzschuppen.

In dieser dunklen, regenschweren Nacht begann ein neuer Abschnitt im Leben Marco Polos.

Paolo war der erste, der ins Zimmer trat. Seine Kleider rochen nach Wein und Feuchtigkeit.

«Darf ich ein wenig bei Euch bleiben, Herr?» Er wagte nur einen flüchtigen Blick auf die Tote zu werfen.

Marco nickte schweigend.

«Euer Vater hat mich aus dem Waisenhaus geholt. Da wart Ihr noch nicht auf der Welt, Herr.» Schwer formten Paolos Lippen die Worte. «Ich habe Vater und Mutter nicht gekannt. So ist das, Herr. Wenn Ihr mich nicht fortschickt, bleibe ich immer bei Euch… Die Signora hat nun keine Schmerzen mehr.» Er kniete vor dem Bett nieder und senkte den Kopf.

«Danke, Paolo», sagte Marco.

Giannina überwand ihre Angst und kam in das Zimmer, weil sie glaubte, daß Marco jetzt nicht allein sein dürfe. Sie versuchte die Tränen zurückzuhalten, strich mit der Hand über den Tisch und streifte Marco, der neben dem Bett saß, mit einem scheuen Blick.

«Giannina!»

«Ja?»

«Sie wollte Giovanni noch einmal singen hören. Aber jetzt hört sie nichts mehr. Ob der Vater spürt, daß sie gestorben ist?»

Marcos Gedanken entfernten sich aus dem Sterbezimmer. Er dachte an den Vater, als wisse er bestimmt, daß er noch am Leben sei. Die Mutter hatte so viel von ihm erzählt, daß er glaubte, ihn genau zu kennen — die strengen Augen, die große, aufrechte Gestalt und — in seltenen Augenblicken — das frohe Auflachen und die schnelle Erwiderung auf eine unverhoffte Frage.

Morgen gehe ich zu Giovanni», sagte Giannina. «Es wird nun alles anders werden», erwiderte Marco gedankenvoll.

Загрузка...