EINSAMKEIT

TAGE UND NÄCHTE VERGINGEN. EIN NOVEMBER-morgen brach an. Die Nebel lagen über Land und Wasser und krochen an Uferböschungen, Bäumen und Häusermauern empor. Immer weiter und durchsichtiger spannten sich ihre Schleier, die die Menschenwelt auf den Inseln der Lagune einhüllten, bis sie, von Sonnenstrahlen zerrissen, wie ein Spuk verschwanden.

Die Händler fuhren mit ihren Kähnen zu den Märkten. Dienstmägde und Kammermädchen bemühten sich um das Wohlergehen ihrer Herrschaften, die sich, ermüdet von den Unterhaltungen des Karnevals, schlecht gelaunt in ihren Betten rekelten. Ein neuer Tag!

Kein Zweig bewegte sich an dem Kastanienbaum im Hof, kein Blatt fiel zur Erde. Von Sonne überflutet, stand er bewegungslos, rings von dem Stein und Holz der Häuser umgeben, diese wieder durch Kanäle von anderen Häusern, Bäumen, Gärten abgetrennt. Eine kleine Insel zwischen den Inseln.

Der Herbst des Jahres 1268 hatte bisher nur wenig Stürme gebracht.

Marco befand sich allein in seinem Zimmer. Er war seit dem Besuch bei Kapitän Matteo oft allein. Giannina ging ihm aus dem Wege. Traf er sie einmal zufällig und wollte sich mit ihr unterhalten — er verspürte oft das Verlangen danach — hatte sie schnell eine Ausrede bereit. «Ich muß ja das Zimmer noch aufräumen» oder: «Entschuldige, die Wäsche!» und: «Ach, der Tisch muß gescheuert werden!» Er kannte jeden Zug ihres Gesichts, jede Bewegung ihres Körpers und wußte genau, was echt und unecht war in ihrem Mienenspiel. Sie lief dann in gespielter Geschäftigkeit davon, huschte zur Tür hinaus und — atmete auf, wenn sie endlich draußen war, wenn sie ihn nicht mehr anzusehen brauchte.

So war es!

Sollte sie ihm doch ehrlich sagen, wie ihr um das Herz war. «Laß mich in Ruhe, Marco. Ich will nichts mehr von dir wissen.» Das genügte ihm schon. Er würde es ihr nicht einmal übelnehmen. Eine Antwort hatte er sich schon viele Male zurechtgelegt: «Schön, daß du mir das sagst, Giannina. Vielen Dank auch dafür. Ich wunderte mich schon, daß du so geziert daherläufst, wenn ich in deine Nähe komme.» — An dieser Stelle würde er spöttisch lachen. — «Aber ich will dir einen Rat geben, einen freundschaftlichen Rat: Kümmere dich nicht mehr um mich. Ich habe jetzt sowieso an viele Dinge zu denken, die du nicht verstehst. Also mach nur deine Arbeit, Giannina; ich, für meine Person, werde dich nicht mehr belästigen. A rivederci!»

Diese Worte würde er in überlegenem Ton sagen und dann, schon an der Tür, noch großmütig hinzufügen: «Nach Murano kannst du jederzeit fahren, brauchst mich nicht zu fragen. Grüße auch Giovanni schön von mir.

Ein neuer Tag, der ebenso alltäglich und leer begann wie die anderen Tage nach Paolos Verschwinden.

Marco war ohne Gianninas Wissen noch zweimal bei Kapitän Matteo gewesen und hatte gefragt, ob er etwas Neues erfahren hätte. Nichts! Die schwarze Barke hatte inzwischen einen anderen, freundlichen Anstrich bekommen. Es sei eine Riesenarbeit gewesen, die schwarze Farbe abzukratzen, hatte Kapitän Matteo gemeint. Und Marco solle trotz allem nicht den Mut verlieren; denn nach den Erkundigungen, die Kapitän Matteos Schmugglerschar angestellt habe, sei nirgends eine Leiche an den Strand des Lido geschwemmt worden.

Marco hatte die Verlegenheit in des Kapitäns Worten gespürt. Er war, ohne Trost gefunden zu haben, weggegangen. Giannina hatte er nichts von diesem Besuch erzählt, weil er sie nicht traurig stimmen wollte.

Marco setzte sich an den Frühstückstisch und aß ohne Appetit. Schweigend ließ er es geschehen, daß Maria abräumte. Auch Maria hielt sich, wie es schien, von ihm fern. Früher hatte sie gern mit ihm geplaudert. Jetzt kam es selten über ein «Ja, junger Herr!», «Nein, junger Herr!» hinaus.

Er breitete seine Schreibutensilien aus, nahm den Federkiel zur Hand und begann sich darin zu üben, seine Gedanken und Beobachtungen niederzuschreiben. Die Unterrichtsstunden bei Bruder Lorenzo besuchte er nur noch unregelmäßig, und der Alte war ärgerlich darüber. Auch Tiberius, der Pudel, hatte darunter zu leiden; es kam vor, daß Marco sogar vergaß, die begehrten Knochen mitzubringen. Er hatte seine Besuche bei Bruder Lorenzo nicht deshalb eingeschränkt, weil sein Interesse an den Wissenschaften erloschen war, sondern weil Pietro Bocco ihm mit heftigen Worten befohlen hatte, die Unterrichtsstunden pünktlich einzuhalten. Er spürte instinktiv, daß sich hinter Pietro Boccos Interesse an seinen Studien eine besondere Absicht verbarg, die bestimmt nicht der Fürsorge um das Fortkommen des Neffen entsprang.

Hinzu kam, daß Bruder Lorenzo mehr und mehr Gewicht auf das Auswendiglernen von Klosterregeln und Psaltern legte, stundenlang von dem Leben der Kirchenväter und Heiligen erzählte und in beredten Worten das gottesfürchtige Leben in den Klöstern pries. Einmal war Marco während des Unterrichts eingeschlafen und erst durch die zornige Stimme des Alten und Tiberius' Bellen aufgeweckt worden.

Marco liebte es, allein an seinem Tisch zu sitzen und das gelbe Papier mit den krausen Buchstaben zu bedecken. Es war schwierig, das auszudrücken, was in ihm und um ihn geschah. Aber er ließ in seinen Übungen nicht nach und merkte, wie es von Tag zu Tag besser ging. Da hatte er zum Beispiel seine Fahrt mit dem Barcarole zum Lido geschildert. Als er es jetzt noch einmal durchlas, empfand er mit Stolz, wie gut es ihm gelungen war.

Das Großartige beim Schreiben bestand darin, daß man auf dem Papier für alle Zeiten aufbewahren konnte, was einst nur ein flüchtiger Gedanke im Kopf eines Menschen gewesen war.

Es gab übrigens in den Blättern, die er jedesmal sorgsam verschloß, auch Beschreibungen einzelner Erlebnisse in Murano. Hier und da konnte man die Namen «Giannina» und «Giovanni» finden. Er hätte es den Freunden gern einmal vorgelesen, aber wie sie jetzt miteinander standen, war das wohl nicht möglich.

Das Alleinsein hatte gute und schlechte Seiten.

Der Herbst war bald vorüber, und auch die kurzen Wintermonate würden vergehen. In dieser Zeit war noch viel zu tun, damit bis zum Frühjahr alles vorbereitet war für die große Fahrt.

Paolo, mit dem er sich hätte beraten können, war nicht mehr bei ihm. Vielleicht wäre er sogar mitgekommen. Auf jeden Fall wäre er der einzige gewesen, dem er sich hätte anvertrauen können.

Er hatte nun keinen Menschen mehr. Nur Pietro Bocco kümmerte sich in aufdringlicher Weise um ihn. Der, den er haßte, kümmerte sich um ihn.

Marco legte die Ellenbogen auf den Tisch und stützte den Kopf in die Hände. Gestern war er auf dem Friedhof von San Michele gewesen. Eine dunkle Zypresse stand neben dem Grab der Mutter; rote, gelbe und violette Blumen welkten über silbergrauem Moos. Er hatte sich an den Stamm der Zypresse gelehnt und mit blicklosen Augen über die verwitterten Steine hinweggesehen. Eine alte Frau war vorbeigegangen und hatte sich über den einsamen Jungen gewundert. Ein Friedhof ist nichts für junge Leute, dachte sie wohl.

Marco besuchte die Mutter jede Woche. Die Reue war in ihm erwacht; er verstand jetzt, daß er ihr früher ungewollt viel Schmerz bereitet hatte. Das, was er als Fessel empfunden hatte, war Liebe und Angst um sein Schicksal gewesen, geboren in den Stunden, da sie müde und krank von der Sehnsucht nach dem Gatten im Lehnstuhl am Fenster gesessen hatte. Er sprach mit ihr und glaubte manchmal, daß sie seine Worte höre.

Dort, wo die Sonne über dem Wasser stand, lag Murano. Warum kam Giovanni nicht mehr zu ihm, jetzt, wo er den Freund brauchte? Seit dem Besuch Kapitän Matteos hatten sie nichts mehr voneinander gehört. Wie im Traum war er damals von ihm gegangen, ohne Gruß, ohne ein gutes Wort. Er war doch schuldlos am Verschwinden Paolos, ihn traf es noch härter als Giannina und Giovanni. Wenn der Freund das nicht einsah, würde es nie mehr Freundschaft zwischen ihnen geben können.

Die schönen Stunden des vergangenen Sommers aber konnten nicht einfach ausgelöscht werden. Die schönen und schweren Stunden! Beides zusammen war das Leben. Eines für sich gab es nicht. Und gerade in den schweren Stunden, wenn einer ganz allein auf sich angewiesen war, mußte man einander helfen.

So grübelte Marco und versank in seinen Erinnerungen, sah, wie sie über die staubige Landstraße nach Aquileja schritten, Paolo, Giovanni und er. Der spitze gelbe Hut des alten Zigeuners tauchte auf, Herkules tanzte nach dem Takt des Tamburins, Pippino, mit seinen roten Hosen, rüttelte an den Stäben des Käfigs. Giannina war wieder bei ihnen. Sie saßen auf ihrem Lieblingsplatz, den Steinstufen der alten römischen Villa, Giovannis strahlende Stimme klang über die Lagune, und Giannina erzählte die Geschichte von Zsusinka, dem kleinen Zigeunermädchen.

Glückliche, sorgenfreie Stunden.

Paolo saß neben ihnen, und sie fühlten sich bei ihm in guter Hut.

Er solle den Mut nicht verlieren, hatte Kapitän Matteo zu Marco gesagt, nirgendwo sei eine Leiche an den Strand geschwemmt worden.

Vieles war geschehen in diesem Jahr, was seinen Schatten auf das Kommende werfen sollte. Aber Marco wuchs daran, und sein Wille, von Träumen und von der Sehnsucht nach der Ferne gespeist, zerbrach nicht. Auch das Alleinsein, das manchmal schwer und schmerzhaft war, konnte ihn von seinen Plänen nicht abbringen.

Marco tauchte den Federkiel ein und malte Buchstaben neben Buchstaben auf das Papier. Im Hause war es etwas lebhafter geworden. Maria räumte die Stuben auf. Heute nachmittag wollte er zum Rialtoplatz gehen, dorthin, wo die großen Lagerspeicher waren und die Handelsschiffe vor Anker lagen, wo Kaufleute und Lastträger Glas, Gold, Tuch, Lebensmittel und andere Waren aus aller Welt verstauten, wo sich Wechselbanken und Hafentavernen befanden.

Marco hörte nicht die leisen Schritte, die sich seiner Tür näherten und zagend verhielten. Als es klopfte, hob er überrascht den Kopf. Wer besuchte ihn? Der Oheim etwa? Der klopfte nicht so zaghaft.

Auf seinen Ruf trat Giannina in das Zimmer.

Marco dachte keinen Augenblick an seine Rede, die er sich für diesen Zweck zurechtgelegt hatte.

«Du bist es, Giannina», sagte er, freudig bewegt. Er legte in Windeseile die Blätter zusammen. «Ich bin gerade fertig mit meiner Arbeit; siehst du, ich packe schon ein. Ich habe da so einiges geschrieben.» Giannina, die seine Freude bemerkte, versuchte zu lächeln. «Setz dich nur, Giannina. Schön, daß du kommst. Ich habe eben über einige Dinge nachgedacht. Wir wohnen nun in einem Hause und sehen uns so selten. In Murano sind wir auch schon lange nicht gewesen…»

Giannina setzte sich auf die Bank. Sie hatte ihm etwas Unangenehmes mitzuteilen. Immer wieder hatte sie es aufgeschoben, aber einmal mußte es doch gesagt werden. Es konnte ja möglich sein, daß Marco es leichter aufnahm, als sie dachte.

Hatte nicht auch Ernesto gemeint, Marco könne es vielleicht verstehen? Sie redete sich ein, daß es im Grunde genommen eine unbedeutende Sache sei.

«Wenn man den ganzen Tag in seiner Stube sitzt», sagte Marco, «kommt einem manches in den Sinn. Eben habe ich an den alten Zigeuner und seine Enkelin Zsusinka gedacht…» Warum er das nur erzählte? Er redete und redete und dachte gar nicht daran, daß er sie damit auch an Paolo erinnerte.

Wie fange ich es nur an, überlegte Giannina. Er ist so froh, daß ich zu ihm gekommen bin. Aber bevor ich es nicht gesagt habe, kann ich ihm nicht gerade in die Augen schauen.

«Ich wollte dir schon längst etwas sagen, Marco. Ich hatte nur immer Angst, daß du böse würdest.» Giannina stützte sich mit beiden Händen auf die Bank und ließ die Beine baumeln.

«Warum soll ich denn böse werden?» fragte Marco. «Sag es mir nur.» Ich bin es ja gewöhnt, schlechte Nachrichten entgegenzunehmen, dachte er bitter.

Eine beklemmende Pause entstand, bis Giannina wieder zu sprechen begann: «Giovanni weiß gar nichts davon, wenn sein Vater ihm nichts erzählt hat. - Und es ist auch wirklich nichts Schlimmes», sagte sie, plötzlich lebhaft werdend. «Ich verstehe nicht, warum ich es dir nicht schon längst gesagt habe. Ernesto hat die Kleider zurückgeschickt, die du mir für Giovanni mitgegeben hattest. Das ist es, was ich dir sagen wollte. Er meinte, Giovanni würde sie doch nicht annehmen, und er selbst würde ihm neue kaufen. Du weißt doch, wie die beiden sind; nicht wahr, Marco, du verstehst das… Ich habe sie wieder in die Truhe getan, ganz unten liegen sie.»

Sie lachte verlegen.

Marco hörte das nicht mehr. Es sauste in seinen Ohren, und sein Gesicht verfärbte sich.

«Was hast du denn? Marco!» fragte sie angsterfüllt. Sage es ihm so, daß er sich nicht verletzt fühlt, hörte sie Ernestos Worte. Und nun hatte sie es heruntergeplappert wie eine alltägliche Sache.

Sie sah, wie er um Worte rang. Seine Finger schlossen sich zu Fäusten.

«Du! Giannina!» keuchte er. Er sah die Gegenstände des Zimmers nicht mehr, zitterte am ganzen Körper. Alles, was er in stillem Groll in sich hineingefressen hatte, drängte zum Ausbruch. Die Beleidigungen des Oheims, das Schweigen Giovannis, die Zurückhaltung Gianninas, das war eine Kette von Geschehnissen, die miteinander zusammenhingen, so glaubte er, und steigerte sich in einen besinnungslosen Zorn hinein.

«Geh hinaus!» schrie er das Mädchen an. «Ihr steckt ja alle unter einer Decke. Der Oheim, Giovanni und du! Ihr lügt alle! Ich will keinen mehr sehen. Geh weg von mir!»

Sie sah erschreckt und empört in sein Gesicht; es erschien ihr so fremd, daß sie unwillkürlich einen Schritt zurückwich. Seine verletzenden, ungerechten Worte kamen ihr erst jetzt zum Bewußtsein. So durfte er nicht mit ihr reden. Sie unterdrückte eine Regung, die um Verständnis für sein Verhalten bat.

«Ja, ich gehe schon. Wenn du das von uns denkst!» sagte sie mit unsicherer Stimme. Sie wartete einen Augenblick, hoffte, daß er widerrufen werde, was er gesagt hatte. Aber er hatte ihre Worte überhaupt nicht gehört.

Da ging sie hinaus.

Die Tür fiel ins Schloß. Marco klammerte sich mit beiden Händen an die Tischplatte, es summte in seinem Kopf von vielen Gedanken. Nun wußte er, warum Giannina ihm aus dem Wege gegangen war. Kein Wort bereute er von dem, was er ihr gesagt hatte. Sie hatten sich alle gegen ihn verschworen, und Giovanni war der Urheber — mit seinem Engelsgesicht. Er haßte ihn. Wenn er jetzt hier wäre, er wüßte nicht, was geschehen würde. Sie konnte ihm hundertmal erzählen, Giovanni hätte nichts gewußt. Er glaubte ihr nicht mehr.

Marco erinnerte sich an seinen letzten Aufenthalt in Murano, damals, als Paolo noch bei ihnen gewesen war: die dunkle Nacht, der breite Lichtstreifen, der aus dem geöffneten Tor der Glashütte auf den Weg fiel, die große Gestalt Paolos, dann Giannina und Giovanni, die Unzertrennlichen, und zum Schluß er, der dumme Marco. Giovanni fror irr dieser windbewegten, kühlen Nacht, weil er noch nicht einmal Strümpfe anhatte. Und er hatte Mitleid mit ihm, empfand gute freundschaftliche Gefühle. Damals nahm er sich vor, dem Freund zu helfen… Freund?

Er wollte dieses Wort im Zusammenhang mit Giovanni nie mehr gebrauchen. Er suchte nach einem Ausdruck für seine Empfindungen, fand aber keinen.

Die heiße Zornesaufwallung begann sich abzukühlen; Traurigkeit und Selbstmitleid breiteten sich aus. Sie hatte die Kleider zurückgebracht und wieder in die Truhe getan, weiter war nichts geschehen. Ganz unten lagen sie. Er konnte sich gut vorstellen, wie die beiden miteinander gesprochen hatten. «Nimm die Kleider zurück, Giannina. Von ihm nehme ich keine Geschenke an. Wie kannst du das von mir denken.» — «Recht hast du, Giovanni. Ich lege sie einfach in die Truhe zurück, vielleicht merkt er es gar nicht.» — «Sage es ihm nur. Ich wünsche, daß er es merkt…»

Marco wanderte im Zimmer auf und ab; er wunderte sich, daß die Sonne schien, ging zum Fenster, öffnete es und steckte den Kopf hinaus. Welch ein schöner, klarer Tag! Die Luft kühlte sein Gesicht, ein Mann schritt auf das geöffnete Tor des gegenüberliegenden Hauses zu, zögerte ein wenig und ging hinein. Das Herz pochte ruhig. Er setzte sich an den Tisch und spielte zerstreut mit dem Federkiel.

Müdigkeit und Stille und Glockenklang! Jetzt wäre es gut, ein wenig zu schlafen. Dann wachst du auf und bist froh, daß alles nur ein Traum gewesen ist, gehst zu Giannina und sagst: Was ich da für ein Zeug zusammengeträumt habe? Ich kann es dir nicht einmal erzählen, sonst lachst du midi aus.

Das Herz klopfte wie in einem weiten, stillen Raum, ohne Aufregung. Es hallt wie Hammerschläge gegen eine dünne Bootswandung. Der Teppich ist dunkelrot, du hörst kein Geräusch, nur deine Atemzüge.

Auf dem Tisch steht der kleine Elefant, aus Elfenbein geschnitzt, ein Geschenk des Vaters. Die Mutter ist gestorben, es ist noch nicht so lange her, aber es scheint doch eine Ewigkeit zurückzuliegen.

Es wird nun Zeit, Vater, daß du kommst. Die Mutter siehst du nicht mehr, sie schläft auf San Michele. Aber ich bin noch da!

Ein Tor wird geöffnet, Schritte klappern über das Pflaster, hastige Mädchenschritte. Geh nur! Ich lasse ihn schön grüßen. Vergiß es nicht!

Als Giannina mit ihren wenigen Habseligkeiten das Haus verlassen hatte und um die Ecke biegen wollte, stieß sie mit einem hochgewachsenen Herrn zusammen. Verstört sah sie auf.

«Verzeiht, Messer Bocco!» rief sie und wollte an ihm vorbeieilen.

«Wohin willst du?» fragte er, mißtrauisch ihr Bündel betrachend.

«Eine Besorgung, Herr. Ich bin gleich wieder zurück», erwiderte sie schnell.

«Ist Marco im Hause?» «Ja, Herr, er ist in seinem Zimmer.»

Messer Bocco musterte sie mit finsterem Gesicht, ging dann weiter.

Giannina lief auf den Steg zu, der über den Kanal führte. Plötzlich blieb sie stehen, als hielte sie einer an der Schulter zurück. Wenn er jetzt zu Marco ging, mit diesem unheilverkündenden Gesicht. Was wollte er von Marco? Immer wenn er kam, gab es Zank und Aufregung. Sie setzte den Fuß auf den Holzsteg, ging bis zur Mitte und blieb abermals stehen. Unter ihr floß das Wasser. Kein Boot, kein Mensch war in der Nähe. Unschlüssig schwenkte sie ihr kleines Bündel, drehte sich in schnellem Entschluß um und lief in das Haus zurück. Sie konnte ihn jetzt nicht allein lassen. Er hatte ihr böse Worte gesagt im ersten Zorn, doch sie war im Innersten schon bereit, sie zu vergeben.

Messer Pietro Bocco, von Maria ängstlich begrüßt, ging ohne ein Wort an ihr vorbei auf Marcos Zimmer zu. Er riß die Tür auf und sagte, kaum hatte er sie geschlossen: «Da sitzt er, der junge Herr.» Kalt und schneidend klang seine Stimme. Er kam von Bruder Lorenzo und hatte erfahren, daß sein Neffe trotz ausdrücklicher Ermahnung wiederum nicht zum Unterricht erschienen war. Mit nervöser Bewegung faßte er in seinen Bart. «Steh auf, wenn dein Vormund kommt. Höflichkeit kennst du nicht, ich weiß. Aber ich werde dafür sorgen, daß man sie dir beibringt.»

Marco nahm ein Blatt in die Hand und rollte es zusammen. «Steh auf, sage ich!» wiederholte sein Oheim, etwas leiser, drohender. Marco stand auf. «Buon giorno, Oheim!»

Pietro Bocco glaubte, der Junge wolle ihn verspotten. Wütend eilte er auf ihn zu, packte ihn am Arm und zog ihn halb über den Tisch. «In eine Klosterschule stecke ich dich!» schrie er und hob die Hand zum Schlage.

«Laßt mich los», zischte Marco und wand sich unter dem festen Griff. Er sah die erhobene Hand und das verzerrte Gesicht, schnellte seinen Körper über den Tisch und befreite sich. Der Schlag, der seinen Kopf treffen sollte, fiel auf die Schulter nieder, begleitet von wütenden Schimpfworten.


Marco zog den Dolch; er wich in die äußerste Ecke zurück, bereit zu stechen, wenn der Oheim sich näherte.

Dieser bemühte sich, seine kalte Ruhe wiederzufinden. «Du bedrohst deinen Oheim mit der Waffe», sagte er. «Anderes habe ich von dir nicht — erwartet. Das wird dir teuer zu stehen kommen.»

«Wenn Ihr mich noch einmal schlagt, steche ich!» erwiderte Marco.

Pietro Bocco spürte, daß das keine leeren Worte waren. «Stecke deinen Dolch ein!» befahl er. «Du verläßt das Haus nur noch mit meiner Erlaubnis. Ich schicke einen Diener, der auf dich achtgibt. Im Frühjahr kommst du in ein Kloster. Hast es dir selbst zuzuschreiben.»

Einen Herzschlag lang fühlte sich Marco versucht, ihm das Wort «Schmuggler» ins Gesicht zu schreien, aber er erinnerte sich rechtzeitig an Kapitän Matteos Mahnung, mit keinem über diese Angelegenheit zu sprechen. Außerdem war es nur eine Vermutung von ihm. Bevor er eine Erwiderung gefunden hatte, war Pietro Bocco aus dem Zimmer verschwunden.

Marco sprang auf den Tisch zu, hob die Hand und stieß den Dolch in das Holz, riß ihn heraus und stieß ihn wieder hinein, immer wieder!

Als Giannina sicher war, daß Messer Pietro Bocco das Haus verlassen hatte, eilte sie mit Angst im Herzen zu Marco. Alles was vorher geschehen war, erschien ihr jetzt bedeutungslos. Sie verstand nicht mehr, warum sie hatte weglaufen wollen, den Freund im Stich lassen…

Der Dolch stak im Tisch, und Marco sah finster auf ihn nieder. Er tat so, als bemerke er Gianninas Kommen nicht. Seine Wut kühlte sich ab und machte nüchterner Überlegung Platz. Der Oheim wollte ihn im Frühjahr in eine Klosterschule stecken. Gut, daß er es wußte! Bis dahin war er über alle Berge. Er lachte kurz auf.

Die Anwesenheit des Mädchens übte eine beruhigende Wirkung auf ihn aus. Er hatte geglaubt, sie wäre weggerannt.

«Er hat mich geschlagen», sagte er. «Es war das letzte Mal, schwöre ich dir.»

«Hast du ihm etwas getan?» fragte Giannina mit einem Seitenblick auf die Waffe.

Marco nahm den Dolch aus der Tischplatte.

«Wenn er es noch mal wagt, ermorde ich ihn», sagte er. Ein wenig Stolz schwang im Ton seiner Worte. «Aber er wagt es nicht wieder. Hast du gesehen, wie er aus dem Zimmer gestürzt ist?» Giannina nickte.

«Vorhin dachte ich, du wärest weggelaufen», fuhr er nach einer kleinen Pause fort. «Bleib nur hier! Was sollst du auch dort? Wir sprechen noch einmal darüber, aber Giovanni will ich für das erste nicht sehen… Du siehst ja, daß ich es hier nicht leicht habe; mir genügt es, wenn mein Oheim mich beleidigt!»

Giannina, noch unter dem Eindruck der Geschehnisse, wagte nichts zu erwidern. Und als Marco bat, sie möge ihn allein lassen, ging sie an ihre Arbeit zurück. Sie nahm sich vor, bei der nächsten Gelegenheit wieder mit jhm zu reden; wenn er dann nicht vernünftig mit ihr sprach, würde sie nach Murano zurückgehen.

Der Oheim hatte vor, ihm einen Aufpasser zu schicken. Marcos Widerstandswille erwachte. Sollte er nur kommen. Er würde keine große Freude erleben in diesem Hause. Vielleicht schickte er ihm den angstschlotternden Diener, mit dem Marco im Hausgang gesprochen hatte.

Der Oheim hatte ihm verboten, das Haus zu verlassen. Er dachte nicht daran, sich dem Verbot zu fügen. Nach der Auseinandersetzung war die geheime Furcht, die er bis jetzt vor Pietro Boccos kalten Augen empfunden hatte, beträchtlich geringer geworden. Er redete sich ein, daß er ihn mit seinem Auftreten in Furcht und Schrecken versetzt hätte. Dieses Hochgefühl trug mehr als alles andere dazu bei, ihn wieder unternehmungslustig zu machen und die schwachen, einsamen Minuten zu vergessen. Jetzt, da er wußte, was Pietro Bocco im Schilde führte, war jeder Augenblick kostbar. Marco holte seinen Mantel hervor und verließ das Haus, ohne Nachricht zu hinterlassen, wohin er gehe und wann er zurückkomme.

Er ging dorthin, wo das Herz Venedigs schlug: zum Campo di Rialto, wo mit Gold, Perlen, Schiffen, Besitzungen, Schuldscheinen und Waren aus den entferntesten Erdteilen gehandelt wurde, wo in den Bogengängen und Gassen Hunderte von Goldschmieden das edle Metall formten und mit feinen Sticheln bearbeiteten, wo die von der Republik zugelassenen Wechselbanken bayrische Schillinge gegen venezianische Lire di grossi oder alexandrinische Münzen tauschten, wo sich Läden und Magazine befanden.

Er wollte hinaus aus der Enge der dumpfen Stube, Wasser, Schiffe, Menschen sehen, die Gerüche von Mehl, Fisch, Ambra, Moschus und Gewürzen einatmen.

An der Ponte della moneta mußte er warten, weil die beiden mittleren Teile, die an Ketten hingen, gerade hochgezogen wurden, damit ein Schiff hindurchfahren konnte. Der Canal Grande war an dieser Stelle von Hunderten Booten und Barken belebt, die so dicht aneinander vorbeifuhren, daß man gerade noch die Handflächen dazwischenhalten konnte. Es summte von tausend Stimmen, schrie aus Barken und Verkaufsständen, sprach italienisch, deutsch, spanisch, arabisch, französisch und russisch.

Stolz schritten die Beamten der Ufficiale sopra Rialto durch das Gewühl der buntgekleideten Menschen. Sie trugen als Vertreter der obersten Behörde des Rialto das Schwert an der Seite wie die Caposestieri und die Räte des Dogen; sie hatten für die öffentliche Sicherheit auf dem Rialto zu sorgen, überwachten die Versteigerungen der Schiffe und Waren und achteten darauf, daß die Statuten und Vorschriften für die Schiffahrt und den Handel eingehalten wurden.

Marco stand eingezwängt zwischen den vielen Menschen auf der Brücke und wartete, bis das Schiff vorbeigefahren war und die Brückenteile wieder heruntergelassen wurden. Immer von neuem packte ihn die Erregung, wenn er die Nähe des Campo di Rialto spürte, dieses engen, von Bogengängen umgebenen Platzes vor der alten Kirche San Giacometta, auf dem tagsüber Geschäfte riesigen Ausmaßes getätigt wurden.

Er vergaß seine persönlichen Sorgen, ließ sich an der Stagiera publica vorbeitreiben, wo die Waren gewogen und die Abgaben in Rechnung gestellt wurden, und ging auf der Fondamente entlang dem Fischmarkt zu.

Er sah schon von weitem den Dunst, der aus den Bratküchen aufstieg, und roch das brutzelnde Öl. Auf dem anderen Ufer lag Schiff neben Schiff vor dem Fondaco der Deutschen, die hier wohnten und ihre Waren lagerten. Schon mancher Kaufmann, der in jungen Jahren von Augsburg oder Nürnberg nach Venedig gereist war, hatte hier sein Glück gemacht und war als reicher Mann zurückgekehrt. Auch einige deutsche Handwerker gab es in den engen Gassen, vor allem Schuster, die schon ein Menschenalter hier wohnten und die venezianische Mundart so gut beherrschten, daß man sie von den Einheimischen kaum unterscheiden konnte.

Vom Fondaco der Deutschen aufwärts lagen die Weinschiffe und Ölschiffe, zogen sich zu beiden Seiten des Kanals die Gewölbe der Kaufleute hin, wuchsen die Bauten der Magazine empor, überragt vom Getreidemagazin, in dem nach einem Beschluß des Senats jährlich 80 000 Scheffel Getreide vorrätig sein mußten. Verantwortlich für die Herbeischaffung, die Festsetzung der Preise und den Verkauf des Getreides war die Camera del frumento, gleichzeitig das wichtigste Geldinstitut der Republik. Benötigte die Regierung Geld für große Unternehmungen, so lieh sie es von reichen Privatleuten und verpflichtete die Camera del frumento, es zurückzuzahlen. Die Frist betrug meist sechs Monate.

Marco kaufte sich einen knusprig gebratenen Fisch. In der freien Atmosphäre des Rialto war sein Appetit zurückgekehrt. Die bösen Erlebnisse der vergangenen Stunden sollten ihn nicht wieder unterkriegen. Alles in allem genommen hatte er doch richtig gehandelt. Der Oheim war sich nun hoffentlich darüber klar, daß man ihn nicht wie einen kleinen Jungen behandeln konnte.

Er lehnte sich an die grauen Steine eines Brunnens am Rande des Marktes, führte mit spitzen Fingern, über die das duftende Öl floß, den Fisch zum Mund und ließ ihn sich schmecken. Der Rauch der Holzfeuer stieg zum Himmel, auf Bänken und auf der Erde standen große und kleine Fässer mit eingesalzenem Fisch, gedörrte und geräucherte Fische hingen an Holzspeilern. In einem Wasserbehälter schwamm der Fang der vergangenen Nacht; die Hand des Verkäufers griff hinein, holte einen armlangen, zappelnden Fisch heraus und hielt den weißen Leib mit den silberglänzenden Schuppen gegen die Sonne.

«Frische Fischlein gibt es heute, kauft ihr Leute, frische Fischlein gibt es heute!» sang er in den höchsten Tönen. Die Adern an seinem Halse schwollen an vor lauter Anstrengung; aber es nützte ihm nichts, sein Gesang ging unter in dem vielstimmigen Anpreisen, Verhandeln, Schimpfen und Lachen.

Der Fischmarkt am Rialto: Sonne, Stimmen, ein buntes Menschengewoge und der Geruch nach Wasser, Fisch, Qualm und appetitanregendem Bratendunst.

Marcos Blicke blieben wie gebannt an einem breitschultrigen Matrosen haften, der sich gemütlich seinen Weg durch das Gewühl bahnte. Er überragte die Menschen um Haupteslänge. Marco wurde an Paolo erinnert. An dem kurzen Häuserschatten erkannte er, daß die Mittagszeit nahe war. Jetzt würden sie zu Hause ungeduldig werden. Ob der Oheim schon den Aufpasser geschickt hatte?

Es war wohl nicht alles richtig gewesen, was er Giannina in der Erregung gesagt hatte; wenn er nach Hause kam, würde er sich mit ihr noch einmal in aller Ruhe darüber unterhalten. Vielleicht hatte er auch Giovanni unrecht getan? Es konnte ja möglich sein, daß dieser wirklich nichts von den Kleidern gewußt hatte.

Der Matrose blieb neben einem Bratstand stehen und scherzte mit zwei Dienstmägden. Er bot sich wohl an, wie Marco an den Gebärden zu erkennen glaubte, die Körbe zu tragen, und erfuhr eine lachende Abweisung. Er breitete die Arme aus — wenn ihr nicht wollt, kann ich nichts machen — und ging wohlgemut weiter.

Marco folgte ihm mit abwesenden Blicken. Seine Gedanken weilten bei dem Freund. Giovanni baute Boote. Sein Vater hatte ein Bein verloren. Marco wußte, wie sehr Giovanni seinen Vater liebte. Er hatte nicht geklagt, sondern war zu Meister Benedetto in die Lehre gegangen. Nun träumte er davon, ein berühmter Schiffsbauer zu werden. Eigentlich war es richtig, wenn man das Leben so anpackte, nicht lamentierte, sondern mit zusammengebissenen Zähnen Zugriff.

Man durfte aber das Träumen nicht vergessen, dann kam die Freude von selbst zurück und besiegte die Traurigkeit. Menschen, die so wie Giovanni waren, ließen sich nicht gern etwas schenken, auch wenn es aus der Hand des Freundes kam.

Und er hatte gesagt: Ihr steckt alle unter einer Decke, der Oheim, Giovanni und du. In der Erregung sagt man manchmal Dinge, die oft nicht wiedergutzumachen sind.

Giannina sollte nun nicht etwa denken, daß er mit einer Verbeugung zu ihr käme: Bitte vielmals um Verzeihung. Nein! Es würde nicht schaden, wenn auch sie sich bemühte, ihn zu verstehen und weniger an Murano zu denken. Wir wollen nicht mehr über die vergangenen Dinge reden, würde er sagen. Das könnte ihr wohl genügen.

Der große Matrose ging eben in das Gasthaus. Zur Glocke. Dieses Haus, am Rande des Fischmarktes gelegen, brachte dem Eigentümer, einem reichen Tuchhändler, jährlich 900 Dukaten an Miete ein. Die Besitzer der Verkaufsläden im Erdgeschoß hatten 700 Dukaten und der Wirt des Gasthauses im ersten Stock 200 Dukaten zu zahlen. Bis die 200 Dukaten verdient waren, mußte viel Wein aus den Fässern fließen, manches Stück Fleisch am Spieß gebraten werden, um die Münzen aus den Börsen der Zecher in den eisenbeschlagenen Behälter des Wirtes wechseln zu lassen.

Der Matrose, der Marino hieß und Paolo ähnlich sah, setzte sich an den einzigen noch freien Tisch, der in der Mitte stand, umgeben von den anderen Tischen mit den trinkenden, essenden, schwatzenden Gästen.

Marco, der beobachtet hatte, wohin der Matrose gegangen war, befreite sich von seinen Gedanken, zumal er ja zu einem gewissen Abschluß in seinen Überlegungen gekommen war, und meinte, daß die Zeit zum Handeln gekommen sei. Er war nicht ohne Absicht zum Rialto gegangen. Als er die Stufen zum Gasthaus hinaufstieg, kostete es ihn einige Anstrengung, das innere Widerstreben zu überwinden. Er besuchte zum erstenmal allein ein Gasthaus, nahm sich vor, mit gelangweiltem Gesicht über die Gäste hinwegzusehen und geradewegs auf den Tisch zuzugehen, an dem der Matrose saß. Das übrige würde sich dann von selbst ergeben.

Die Gäste nahmen von seinem Eintritt keine Notiz; sie lachten, erzählten, schlugen mit den Fäusten auf den Tisch und hoben die Gläser; nur der Wirt warf einen kurzen Blick auf den Jungen mit dem ernsten Gesicht. Befriedigung erfüllte Marco, als er den Matrosen, eine Hühnerkeule in der Hand haltend, sitzen sah.

Ihr erlaubt?» fragte er und ließ sich, ohne die Antwort abzuwarten, nieder. Bis dahin war alles gut verlaufen. Er trommelte mit den Händen auf den Tisch. Der Matrose nagte an seinem Knochen und schob ein Stück Brot in den Mund. Er war von langsamer Art, ein Mensch, der eins nach dem anderen tat: Jetzt esse ich meine Hühnerkeule, dann spüle ich mit einem Schluck Wein nach, und dann werde ich mir das Knäblein genauer betrachten.

Die erste Schwierigkeit ergab sich, als der Wirt kam und fragte, was der junge Herr wünsche. «Zitronenlimonade?» Nein, die gäbe es in seinem Gasthaus nicht, da müsse der junge Herr zum Limonadiere auf der Gasse gehen. «Vielleicht ein leichtes Weinchen?»

Der Matrose lachte in sich hinein und leckte sich genießerisch die Finger ab.

«Bringt mir Wein, Wirt», sagte Marco prahlerisch, «guten Wein!» Er hoffte, daß der Matrose in dem dämmerigen Licht nicht bemerkt hatte, wie rot er geworden war.

Der Wirt brachte den Wein und eine große Karaffe Wasser. Marco runzelte ärgerlich die Stirn. Hatte er denn Wasser bestellt? Aber er sagte nichts. Er führte das Glas an die Lippen und nahm einen tüchtigen Schluck. Es war nicht der erste Wein, den er trank, allerdings hatte er ihn sonst nur zum Essen und stark mit Wasser verdünnt getrunken.

Der Matrose warf den Knochen auf die Tischplatte und wischte sich die Hände an der Hose ab. Zufrieden lehnte er sich zurück, musterte ungeniert sein Gegenüber, sagte aber nichts. Nach einer Weile trank er einen Schluck.

Marco fühlte sich verpflichtet, es ihm gleichzutun. Da er glaubte, auf dem Gesicht des Matrosen wohlwollende Zustimmung zu lesen, leerte er sein Glas bis zur Hälfte und wagte ein Lächeln. Der Wein schmeckte ihm übrigens nicht besonders gut.

Der Matrose lachte. Irgend etwas — Marco erriet nicht, was es sein könnte — schien ihn ungemein zu erheitern. Als er sich nach einer Weile beruhigt hatte, sagte er noch immer nichts.

Marco meinte, daß es am besten sei, einen dritten Schluck zu nehmen. Danach wollte er den Matrosen anreden.

Er leerte in kühnem Entschluß das Glas. Es schmeckte, wenn man es so schnell hintereinander trank, schon etwas besser. Die Gedanken wurden leicht, schwebten wie auf Flügeln dahin und gaben ihm die Worte ein, nach denen er vorher vergeblich gesucht hatte.

«Ein gutes Weinchen, Matrose, was meint Ihr dazu? Würde mich interessieren, wie Ihr heißt. Mein Name ist Marco Polo.»

Wieder wurde der Matrose von der Marco unverständlichen Heiterkeit ergriffen, bequemte sich aber endlich, den Mund zur Erwiderung zu öffnen.

«Marino nennt man mich!» Er setzte die Worte langsam. «Du heißt also Marco. Wie alt bist du denn?»

Marco war der Ansicht, daß es in diesem Falle angebracht sei, ein. paar Jährchen mehr zu sagen.

«Siebzehn!» schwindelte er.

Der Matrose wiegte den Kopf und hielt das leere Glas hoch. Marco tat das gleiche.

Der Wirt kam geschwind gelaufen und nahm sie ihnen ab. Bald standen sie gefüllt wieder vor ihnen.

Sehr gesprächig war Marino nicht. Da saß er schon wieder und schwieg. Als er mit den Mägden scherzte, war sein Mundwerk schneller gewesen. Aber Marco sagte sich, daß er aus ihm herausholen werde, was er wissen wollte. Er geriet in einen Zustand heiterer Beschwingtheit und konnte plötzlich verstehen, warum der Matrose so gelacht hatte. Der Wein war es gewesen!

Es war wirklich lustig, zu beobachten, wie die Köpfe der Gäste gleichsam zu tanzen begannen, sich zu verdoppeln schienen, zwei Münder, zwei Nasen bekamen und dann wieder zu einem Gesicht zusammenrückten. Freundliche Nebelgeister schienen in Marcos Gehirn am Werke zu sein.

Aus Marinos Unterarm wuchsen zwei Hände heraus, die nach zwei Gläsern griffen. Marco fand diese Verdoppelungen außerordentlich belustigend und kicherte in sich hinein. Fast hatte er vergessen, warum er gekommen war.

Wie lange saß er eigentlich schon hier? Er schloß die Augen in der Hoffnung, daß die seltsamen Erscheinungen verschwunden wären, wenn er sie wieder öffnete. Die freundlichen Nebelgeister begannen jetzt kleine Windräder in Bewegung zu setzen; diese drehten sich, drehten sich immer schneller, wurden groß und größer und drohten, ihn vom Stuhl zu schleudern. Schnell öffnete er die Augen und atmete erleichtert auf, als er bemerkte, daß er noch auf seinem Stuhle saß. Instinktiv hatten sich seine Hände an der Tischplatte festgehalten.

In seinem Kopf sauste es, und vom Magen her schlich ein sonderbares Gefühl den Körper hoch. Marco mußte die Zähne zusammenbeißen.

«Trink ein Glas Wasser!» hörte er aus weiter Ferne die Stimme des Matrosen. Eine Hand schob ihm ein Glas zu; er ergriff es und trank es begierig aus. Köstliches, kühles Zisternenwasser!

«Noch ein Glas», bat er.

Marino schenkte ein. Marco trank. «Ich könnte jetzt immer Wasser trinken», meinte er zu dem Matrosen. Sein Gesicht, das weiß wie ein Schafskäse gewesen war, nahm wieder eine gesunde Farbe an. Er wagte einen Blick in die Runde zu werfen. Anscheinend hatte keiner seine Übelkeit bemerkt. Die Gäste hatten jeweils nur noch eine Nase im Gesicht, und aus Marinos Unterarm wuchsen nicht mehr zwei Hände. Alles hatte wieder seine Ordnung.

Marco hatte das Gefühl, eine große Gefahr bestanden zu haben. Der Tag war wirklich reich an Ereignissen. Nun wußte er auch, wie es war, wenn man Wein trank.

Marino winkte den Wirt heran. «Bring eine Hühnerkeule für ihn», bestellte er.

Nachdem Marco die Hühnerkeule verspeist hatte, war seine Schwäche endgültig überwunden. Er empfand für den Matrosen, der sich so fürsorglich um ihn bemüht hatte, eine ehrliche Zuneigung und nahm sich vor, ihm zu erzählen, warum er ihm nachgelaufen war.

«Ich möchte gern wissen, weshalb du so schnell getrunken hast?» fragte der Matrose.

«Ihr wart so stumm, Marino!» erwiderte Marco. Der Geruch des Weines stieg ihm in die Nase und erinnerte ihn an seine Übelkeit. Er schwor sich, nie wieder einen Tropfen von diesem Teufelszeug zu trinken.

«Bin eben kein Schwätzer», meinte Marino. «Aber nun verrate mir, was dich drückt.»

«Werdet Ihr es niemand weitererzählen?»

«Mit wem sollte ich darüber reden?» Der Matrose legte die Unterarme auf den Tisch und beugte sich vor.

«Hört also zu, Marino», begann Marco mit wichtiger Miene. «Ich will Euch nichts verschweigen, damit Ihr wißt, daß ich es mir reiflich überlegt habe. Als ich sagte, ich sei siebzehn, habe ich Euch beschwindelt.

Fünfzehn Jahre bin ich, aber Ihr seht ja selbst, daß ich nicht schwach bin, nicht wahr?»

Marino nickte ernst. «Ein Riese bist du, möchte nicht gern mit dir anbinden.»

Marco ließ sich nicht beirren. Er setzte die Worte wie ein Geschichtenerzähler auf der Piazzetta, berichtete, daß die Mutter gestorben sei, der Vater schon seit vierzehn Jahren kein Lebenszeichen gegeben habe und der Oheim ihn in eine Klosterschule stecken wolle.

«Was würdet Ihr nun an meiner Stelle tun, Marino?» fragte er.

Der Matrose wiegte in seiner bedächtigen Art den Kopf hin und her. «Da muß ich erst mal einen Wein trinken», sagte er.

Marco bestellte Wein. «Nichts anderes bleibt mir übrig, als wegzulaufen, weit weg», sagte er. «Ich habe mir das genau überlegt. Was meint Ihr dazu?»

Marino trank den Wein, den der Wirt gebracht hatte, mit einem Zug leer und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. «Du willst also von zu Hause durchbrennen?» meinte er. «Was soll ich aber dabei tun?»

«Ihr sollt mich auf ein Schiff schmuggeln. Ich will nach Damaskus, hab da so einiges zu erledigen.» Marco, froh, daß er sein Anliegen vorgebracht hatte, blickte den Matrosen erwartungsvoll an.

«Nach Damaskus willst du?»

«Es hat Zeit bis zum Frühjahr», warf Marco ein.

«Erwischt dich jemand, wirst du sagen: Marino hat mich auf das Schiff geschmuggelt — und mich legen sie in Ketten…»

«Kein Sterbenswörtchen werde ich sagen. Ich schwöre es Euch!»

«Kann sein, daß der Kapitän dich einfach über Bord werfen läßt. Was dann?»

Marco, der alle Zweifel zerstreuen wollte, unterdrückte ein Angstgefühl und erwiderte großsprecherisch: «Soll er mich nur über Bord werfen. Ich kann ja gut schwimmen…»

Marino lachte. «In Damaskus hast du also einiges zu tun», sagte er dann, «es kann sein, daß ich im Frühjahr mit dem Geschwader der Republik nach Beirut, Damaskus und Palästina fahre…»

Marco konnte seine Freude nicht mehr zurückhalten. «Gleich als ich Euch auf dem Fischmarkt sah, wußte ich, daß Ihr mir helfen würdet!» rief er begeistert.

Marino hob die Hand. «Nicht so stürmisch, mein Junge! Bis zum Frühjahr ist noch eine lange Zeit…»

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