EIN BETTLER BRINGT EINEN BRIEF

HELL KLANG DAS LÄUTEN DER GLOCKE AUF DEM San-Marco-Turm durch den Morgen. La Trotteria rief die Ratsherren und Senatoren zur Sitzung des Großen Rats zusammen. Sie läutete eine halbe Stunde lang, und wenn ihr letzter Ton verhallte, wurden die Türen zum Sitzungssaal im Palast des Dogen geschlossen. Wer zu spät kam, fand keinen Einlaß mehr. Der Große Rat bestand in diesem Jahre nur aus 318 Mitgliedern; eigentlich waren nach der Verfassung 480 vorgesehen, die von zwölf Wahlherren aus den vornehmsten und mächtigsten Familien der sechs Sestieri der Stadt zu wählen waren. Diesmal hatten sie nur 318 gewählt, weil sie geringere Familien fernhalten wollten.

Das Volk hatte bei der Wahl der Regierung nicht mehr mitzureden. Der Doge, das Oberhaupt der Stadt, und der Senat, der die eigentliche Gewalt ausübte, wurden von den Mitgliedern des Großen Rats gewählt. Siebenundzwanzig Familien hatten 242 Vertreter im Großen Rat, siebenundzwanzig Familien, an ihrer Spitze die Contarini, die Quirini und Dandolo, die Morosini, die Michieli und Falieri bestimmten über die Geschicke der Stadt, siebenundzwanzig Familien bekämpften sich gegenseitig, zettelten Verschwörungen an, ließen unbequeme Bewerber um einflußreiche Staatsämter aus dem Wege räumen, siebenundzwanzig Familien strebten danach, ihre Vertreter in die Signoria zu entsenden, die aus dem Dogen, seinen sechs oberen Räten und den drei Vorsitzenden der Quarantia, der peinlichen Gerichtsbarkeit, bestand.

Hell klang das Läuten der Glocke auf dem San-Marco-Turm durch den Morgen. Die Edelleute setzten sich auf ihre Maultiere und Pferde oder stiegen in die bereitstehenden, mehr oder minder prächtig geschmückten Barken.

Die Tore des Dogenpalastes waren weit geöffnet. Eine Schar von Bettlern hatte sich versammelt. Sie waren in Lumpen gekleidet und trugen ekelhafte Geschwüre zur Schau. Kam ein Ratsherr über die Piazzetta geschritten, umschwärmten sie ihn wie ein Rudel hungriger Tiere und wichen nicht eher, als bis er einige Geldstücke auf das Pflaster geworfen hatte. Dann entspann sich ein wilder Kampf, der manchmal dazu führte, daß die Schwächsten jammernd liegenblieben. Keiner kümmerte sich um sie. Hatten sie sich etwas erholt, krochen sie zum Kai und bettelten die Lastträger und Schiffer um eine milde Gabe an. Tausende Bettler lebten in der mächtigen, blühenden Stadt Venedig, der Königin der oberitalienischen Städte.

An der Ponte della paglia, neben dem Dogenpalast, standen die Reittiere der Edelleute und wurden von den Bediensteten betreut.

Marco Polo verließ sein Haus, grüßte einen Senator, der gerade vorüberritt, warf einen flüchtigen Blick auf den Balkon und ging schnell davon. Er hatte gestern abend, als er in Begleitung des getreuen Paolo vom Bruder Lorenzo kam, auf merkwürdige Weise einen Brief erhalten. Ein Bettler, in bunte Lumpen aus Samt, Leinen und mit Goldfäden besticktem Tuch gekleidet, hatte sich geschickt an Marco herangeschlichen und ihm, unbemerkt von Paolo, den Brief in die Hände gespielt. In diesem Brief wurde Marco aufgefordert, am nächsten Tage in der Morgenstunde in eine kleine Taverne hinter der Piazza zu kommen. Er würde dort eine wichtige Nachricht erhalten. Den Brief soll er keinem zeigen und auch niemanden als Begleitung mitbringen.

Marco empfand ein unangenehmes Gefühl, als er sich an das Gesicht des Bettlers erinnerte. Fast war er versucht umzukehren, um Paolo zu bitten, ihm in einigem Abstand zu folgen. Aber dann reizte ihn das Abenteuer, so daß er allein weiterging und sich vornahm, auf der Hut zu sein. Im stillen hoffte er, eine Nachricht über seinen Vater und seinen Onkel zu erhalten.

Die Taverne lag in einer der verwinkelten Gassen hinter der Piazza. Sie stand in keinem guten Ruf. Hier übernachteten Gaukler und Wahrsager, Hausierer und heruntergekommene Komödianten, Bettler und Scholaren — Leute, die von Stadt zu Stadt wanderten, um ihre Künste zu zeigen oder auf irgendeine andere Art einige Soldi für ihr jämmerliches Leben zu verdienen. Auch Seeleute, die von fremden Schiffen desertiert waren, hielten sich hier manchmal für einige Nächte verborgen. Aber das waren noch die harmlosesten Gäste, die sich meist rechtschaffen durchs Leben schlugen; natürlich gab es auch unter ihnen welche, die einen Griff in eine gefüllte Börse nicht scheuten und bereit waren, für einige Silberlinge die übelsten Aufträge auszuführen.

Es gab nun eine besondere Art von Müßiggängern, Bulis genannt, die sich die Taverne als bevorzugten Treffpunkt ausgesucht hatten. Sie standen im Dienst hochstehender Personen, die für ihren Unterhalt sorgten und dafür auf ihre Dienste zählten. Die geheimen Machtkämpfe der vornehmen Familien wurden mit allen Mitteln geführt. Ein Wink ihrer Herren genügte, um die Bulis in Bewegung zu setzen.

Die Schergen sahen dem Treiben in der Taverne meist tatenlos zu, wußten sie doch, daß ihre Vorgesetzten es nicht gern sahen, wenn allzu hart durchgegriffen wurde.

Aber die Herberge kannte auch ehrbare Gäste, auf die der stämmige Wirt sehr stolz war. So erschien von Zeit zu Zeit der ehrenwerte Schreiber vom Arsenal, Luigi Farino, um ein Gläschen Wein zu trinken oder mit dem Wirt im Hinterstübchen ein Gespräch zu führen. Erst vorgestern war er in der Taverne gewesen. Allerdings hatte er sich nicht lange aufgehalten, noch nicht einmal ein Gläschen Wein hatte er getrunken, nur einige Worte mit dem Wirt gewechselt, dann war er gleich wieder gegangen, sichtlich bemüht, nicht von allzu vielen gesehen zu werden.

Der Klang der Trotteria verstummte, ohne daß Marco es im Lärm der vielfältigen Geräusche wahrnahm. Er wand sich geschickt durch den Trubel des Fischmarktes. Die Händler boten mit großem Stimmaufwand die «frutti di mare», die Meeresfrüchte, feil: Tintenfische, Achtfüßler, Langusten, Calamaretti, riesige Mengen Krebse, große und kleine Fische von seltsamster Gestalt. Es roch nach Meer und Sumpf und Wasserpflanzen; Hunde wühlten in dem Unrat hinter den Verkaufsständen; die Mägde, die für ihre Dienstherren einkauften, stritten sich mit den Händlern um die Preise; ohne nach rechts oder links zu sehen, schritten zwei Franziskanermönche in groben braunen Kutten durdi das Gewühl, ihre nackten Füße in den Sandalen waren grau vom Staub der Gassen und Straßen.

Marco war froh, als er über die Ponte della paglia, vorbei an den Maultieren und Pferden der Ratsmitglieder, zur Piazzetta gelangte. Er verspürte plötzlich Hunger und kaufte sich von einem Kastanienbrater die braungerösteten, wohlschmeckenden Früchte.

Nicht weit entfernt lagen im Canal von San Marco einige Schiffe, sie warteten die Hut ab, um dann durch den Canal ins Meer hinauszufahren. An ihren Masten flatterten die stolzen Flaggen mit dem goldenen Löwen, der das sanfte Gesicht des heiligen Marcus trug. Wie ein roter Sarg lag zwischen ihnen die Verbrechergaleere, das Gefängnis der in Seediensten der venezianischen Republik stehenden Personen.

Der Wind wehte frisch und blähte die grauen, braunen und gelben Segel der Fischer-, Zoll- und Schergenboote.

Marco war ganz in den Anblick des Lebens auf dem Wasser versunken. Die Segel taumelten wie Vogelschwingen über die gekräuselte, in matten Farben schillernde Wasserfläche. Eine zitternde Stimme drang an sein Ohr: «Ich bin ein armer alter Mann, o Herr, gebt mir eine milde Gabe. Habe noch nichts gegessen, o edler Herr. Gebt, gebt, damit ich nicht Hungers sterbe!» Der zerlumpte Bettler streckte flehend und begehrlich seine Hände aus. Marco gab ihm die übriggebliebenen Kastanien und erntete tausend Dank und Segenswünsche, die ihm ein langes Leben und den sicheren Eintritt in das himmlische Paradies versprachen.

Es gab keine Stadt, die so wie Venedig war. Marco war noch nie weiter als bis Fusino, Mestre und Padua gekommen, aber tief in seinem Innersten fühlte er, daß Venedig etwas Einmaliges, Wunderbares war, ein Diamant unter den Städten, mit grellem, goldenem Licht und düsterem, drohendem Schatten, geliebt und gefürchtet, eine mächtige, tüchtige, unendlich reiche und unendlich arme Stadt, an der das Meer nagte, wie ein Biber an einem Baumstamm, der das Meer diente, wie der Teufel, der Gold und Marmor und Kupfer und Glanz über sie schüttet und dabei grinsend die Hände reibt, weil er weiß, daß aller Reichtum, der auf vielen hunderttausend Eichenpfählen gebaut ist, in mächtigen Gewölben und geheimen Fächern aus kostbarem Holz und Elfenbein ruht, eines Tages ein Opfer des stetig nagenden Wassers werden wird. Aber jetzt lebte Venedig, blühte wie ein Jüngling, der ins Mannesalter tritt und, mit den reichsten Gaben der Natur ausgestattet, Wunder an Schönheit und kraftvollem Leben vollbringt.

Drei Mohren, Diener des jungen Messer Morosino, gingen an Marco vorbei. Ihre Livree war so reich und bunt wie die Mosaiken in der Kirche des San Marcus und im Palast des Dogen.

Der Bettler, von dem Marco gestern den Brief erhalten hatte, war in bunte Lumpen gekleidet gewesen, mit Gold- und Silberfäden durchwirkt, arm und bunt wie das Leben auf den Gassen, Kanälen und Plätzen.

Paolo, Marcos getreuer Diener, war seinem Herrn unbemerkt gefolgt. Er verbarg sich unter den Arkaden des Dogenpalastes und beobächtete, wie der junge Herr aufs Wasser sah und sich nur schwer vom Anblick der Schiffe trennen konnte. Gerade als Marco weiterging, wurde Paolos Aufmerksamkeit durch einen Jungen abgelenkt, der hastig an ihm vorbeieilen wollte. War das nicht Giovanni, Marcos Freund aus Murano?

«Giovanni!» rief Paolo verwundert. «Giovanni, wohin so schnell?» Der Junge blieb stehen. Als er Paolo gewahrte, lief er zu ihm und sagte aufgeregt: «Gut, Paolo, daß ich dich treffe!» Er war außer Atem und mußte sich erst beruhigen, bevor er weiterreden konnte.

«Paolo, mein guter Paolo, ich muß sofort Marco sprechen. Sag mir, wo ist Marco? Ich war schon in seinem Haus und habe von Maria gehört, daß er weggegangen sei. Hör doch, Paolo, ich muß sofort Marco sprechen. Weißt du denn nicht, was geschehen ist?»

Paolo legte seinen Arm um Giovanni: «Aber was ist denn? Warum bist du so aufgeregt? Sieh, da ist er doch, dein Freund Marco. Er darf nicht merken, daß ich ihm folge…»

Als Paolo jedoch auf den Platz wies, wo Marco eben noch gestanden hatte, bemerkte er, daß dieser leer war.

«Wo ist er nur, Giovanni?» fragte er ratlos.

«Dort, er biegt zum Kräutermarkt ein. Komm, Paolo!»

Sie eilten durch das Gewühl der Händler, Bettler und Tagediebe auf der Piazzetta und ließen sich durch kein Hindernis aufhalten. Giovanni schlüpfte geschwind voraus und beobachtete, daß der Freund in eine schmale, dunkle Gasse einbog. Wohin wollte er nur gehen? Giovanni und Paolo sahen sich fragend an. Sie hatten auf einmal das bange Gefühl, daß Marco eine Gefahr drohe; Giovanni vergaß, warum er wie gehetzt von Murano nach der Rialtoinsel geeilt war.

Als sie endlich den Eingang der schmalen Gasse erreichten, sahen sie zu ihrer großen Erleichterung Marco langsam auf- und abschlendern, als warte er auf jemand.

Die Luft zwischen den armseligen mit Stroh gedeckten Holzhäusern roch nach faulem Wasser und Müll, der in Haufen vor den Eingängen der linken Häuserreihe lag. Außer Marco war keine Menschenseele zu sehen.

Am Ende der Gasse stand ein mit Stroh gedecktes Steinhaus, das durch eine schmiedeeiserne Schlange als Taverne erkennbar war.

«Ich bleibe hier stehen», sagte Paolo leise. «Der Herr darf nicht wissen, daß ich ihm gefolgt bin.»

Die Glocken läuteten die neunte Morgenstunde ein.

Ein mittelgroßer, sehniger Mann trat aus der Taverne, sah sich ruhig nach allen Seiten um und ging mit katzenartigen Schritten auf Marco zu.

Der Wirt steckte den Kopf zur Tür hinaus, zog ihn aber gleich wieder zurück.

«Komm, Söhnchen», sagte er zu einem Betrunkenen, der sich neben ihm durch die Tür zwängen wollte, «da draußen ist jetzt nichts los.» Mit kräftigen Händen packte er ihn an beiden Armen und brachte ihn wie eine Puppe in den kellerartigen Schankraum zurück.

«Setz dich nur, Söhnchen, kriegst noch ein Weinchen.» Die vier Zecher am Tisch neben dem großen Faß stritten sich beim Würfelspiel so heftig, daß keiner den Zwischenfall bemerkte, zumal der Betrunkene zufrieden war, weil der geizige Wirt ihn zum Trinken eingeladen hatte. «Marco, Marco!» rief Giovanni. Mit schnellen Sprüngen lief er zu seinem Freund.

Der Mann verlangsamte seine Schritte. «Verdammt», knirschte er, «was will der Bucklige hier.» Seine Hand umspannte den Dolch in der Tasche.

«Giannina ist verschwunden, Marco!» sagte Giovanni. «Seit gestern ist sie fort. Kein Mensch weiß, was mit ihr geschehen ist.»

«Giannina verschwunden?» fragte Marco erstaunt.

«Geh aus dem Weg, bucklige Kröte!» rief der Mann, der jetzt neben den beiden Knaben war, und stieß Giovanni vor die Brust, daß er gegen die Häuserwand flog.

Marco stand wie gelähmt auf seinem Platz und starrte auf Giovanni, der mit schmerzverzerrtem Gesicht am Haus niedersank. Giannina verschwunden? Der Satz füllte sein ganzes Denken aus. In der Hand des Mannes blitzte ein Dolch.

«Marco!» schrie Giovanni und schnellte sich mit den Beinen von der Wand ab. Wie eine Katze sprang er dem Mann auf den Rücken und zog mit kräftigem Ruck dessen Kopf an den Haaren zurück. Dadurch konnte Marco dem Dolchstoß ausweichen. Der Mann fiel vornüber, schüttelte Giovanni gewandt ab und sprang wieder auf die Beine.

«Elender Hund», knirschte Paolo. Er war nur noch wenige Schritte entfernt. Giovannis Schrei hatte ihn herbeigerufen.

Der Mann ließ den Dolch fallen, lief wie gejagt durch die Gasse und verschwand um die Ecke. Paolo verfolgte ihn.

«Komm», sagte Giovanni. «Du mußt schnell weg von hier.» Er zog Marco, der noch unschlüssig stehenblieb, am Arm.

«Paolo braucht uns jetzt nicht», sagte er, «er wird allein fertig mit dem Verbrecher. Du mußt von hier verschwinden, Marco.»

Giovanni hob den Dolch auf und zog den Freund mit sich fort. In der Nähe des Kräutermarktes blieben sie stehen, um auf Paolo zu warten. Der Anblick der vielen Menschen beruhigte sie. Marco schien erst jetzt aus seiner Betäubung aufzuwachen.

«Ein Glück, daß du gekommen bist, Giovanni!» sagte er; und er erschauerte bei der Erinnerung an das wutverzerrte Gesicht des Mannes, der mit erhobenem Dolch auf ihn eingedrungen war. Beinahe wäre alles ausgelöscht gewesen, er hätte nie wieder nach Murano fahren, nie wieder das lockende, in allen Himmelsfarben schimmernde Wasser sehen können. Steif und blutig hätte sein Körper im Schmutz der Gasse gelegen. Sein Freund Giovanni hatte ihn gerettet. Wie durch ein Wunder war er zur rechten Zeit aufgetaucht.

«Giovanni», sagte Marco, «wie ein Pfeil bist du ihm an den Hals gefahren. Wirklich, wie ein Pfeil!»

Giovannis Augen verdunkelten sich. Er schien die Worte des Freundes nicht zu hören. Bucklige Kröte, hatte der Verbrecher gesagt. Plötzlich zog er den Dolch aus der Tasche.

«Aber was ist denn mit Giannina?» fragte Marco. Er legte seine Hand auf die Schulter des Freundes. «Sag, Giovanni, was hast du da von Giannina erzählt?»

Giovanni sah ihn abwesend an. Auf einmal spürte er, wie die Angst um Paolo in ihm aufstieg. «Wir müssen Paolo helfen!» sagte er. «Schnell, Marco!»

Sie liefen den Weg zurück. Als sie bei der Taverne um die Ecke biegen wollten, kam ihnen Paolo schon entgegen. Sein Atem ging schnell, das Gesicht glänzte von Schweiß.

«Er ist weg, der Schurke», stieß er hervor. «Ich habe ihn nicht mehr gesehen. Wie der Teufel ist er gerannt. Laßt uns aus dieser Gegend verschwinden. Kommt!»

«Gut, daß du wieder da bist, Paolo», sagte Marco und umarmte den breitschultrigen, kräftigen Diener.

«Einen tödlichen Schrecken hatte ich bekommen, als der Elende auf euch eindrang.» Paolo wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Giovanni betastete vorsichtig seinen rechten Arm, mit dem er gegen die Hauswand geschlagen war.

«Hast du dir weh getan?» fragte Marco besorgt. Giovanni schüttelte den Kopf. Sie setzten sich auf eine steinerne Bank. Am Kai beluden Lastträger die Schiffe. Sie schleppten in einer langen Reihe Holzkisten mit venezianischen Glaswaren und Säcke mit Salz über den schwankenden Laufsteg. Ein Schreiber notierte mit wichtiger Miene jedes Stück, bevor es im Laderaum verschwand. Hinter den Masten und den aufgerollten Segeln waren die Häuser, Kirchen und Gärten von San Giorgio zu sehen. Am Himmel stand ein weißes Wolkengebirge; auf den Eichenpfählen, die den Weg nach dem Canal von San Giorgio wiesen, saßen weiße Möwen.

«Das ist der Brief, der Euch in die verrufene Gegend rief?» fragte Paolo. «Merkwürdig!» Er hielt das Papier in seinen großen Händen und betrachtete nachdenklich die sorgfältig geschriebenen Buchstaben. Marco hatte den Text vorgelesen und erzählt, wie der Brief in seine Hände gelangt war.

Aber das alles war jetzt nicht mehr so wichtig. Die schreckliche Nachricht, daß Giannina verschwunden war, nahm ihre Gedanken gefangen. Das Erlebnis in der schmalen Gasse verblaßte, als läge es schon Wochen zurück.

«Wir müssen sie suchen», sagte Marco. «Sofort!»

«Wo kann sie nur sein?» fragte Paolo und sah die beiden ratlos an.

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