AUF DER SUCHE

DIE HOFFNUNG, DASS PAOLO LEBTE UND SICH aus irgendeinem Grunde verbarg oder sogar gefangengehalten wurde, war in Marcos Herzen noch nicht gestorben. Nach seiner Unterredung mit Giannina irrte er den ganzen Nachmittag und die halbe Nacht durch die Gassen, schaute in Hafentavernen und Weinhäuser hinein, stand auf der Ponte della moneta und der Ponte della paglia, streifte über größere und kleinere Plätze, befragte Bettler und Matrosen, Brezelhändler und Soldaten und mußte sich am Ende sagen, daß es sinnlos sei, in einer Stadt mit mehr als hundertfünfzigtausend Seelen einen einzelnen Menschen finden zu wollen, von dem man nichts weiter wußte, als daß er auf unbegreifliche Weise während einer nächtlichen Bootsfahrt verschwunden war.

Die Piazza lag im Schein der Fackeln, die wie Perlenschnüre über dem vieltausendköpfigen Menschengewoge lagen. Marco ging teilnahmslos durch das bunte, geräuschvolle Treiben. Er war hungrig und müde. Der Anblick der vielen Menschen, die sich unter dem Schutz der Masken frei und ungezwungen bewegten, stimmte ihn traurig. Unschlüssig stand er vor dem Hauptportal der San-Marco-Kirche und sah zu den vergoldeten antiken Bronzerossen hinauf, die vor Jahrzehnten den Hippodrom von Byzanz geziert hatten, bis sie von dem Sieger Enrico Dandolo mit vielen anderen kostbaren Trophäen nach Venedig geschickt worden waren. Sie schienen jeden Augenblick von ihren steinernen Säulenpodesten in die Menge springen zu wollen.

Da läutete in der Mitte der Nacht die große Glocke auf dem San-Marco-Turm, mächtig das Summen der Menschenstimmen übertönend und wie ein klingender Hammer in die schmalen Steinschluchten fallend. Sie rief zum mitternächtlichen Gottesdienst. Der Torhüter öffnete das Portal, in leisem Gespräch schritten die Menschen in den Schatten der Kirche. Marco stand abseits und hegte die törichte Hoffnung, daß einer der Kirchgänger Paolo sein könne. Bettler umschwärmten die vornehm gekleideten Damen und Herren, die zur Messe gingen wie zu einem Fest.

Es hatte keinen Zweck, hier länger zu warten. Giannina saß zu Hause und ängstigte sich. Er hatte versprochen, ihr sofort Nachricht zu geben; aber was sollte er ihr sagen? Ganz anders wäre es, wenn er eine Spur, und sei sie noch so winzig, entdeckt hätte. Er fürchtete den fragenden Blick ihrer Augen, glaubte einen versteckten Vorwurf darin finden zu können.

Vielleicht bildete er sich das alles nur ein?

In einem Winkel seiner Gedanken saß ein quälendes Schuldbewußtsein, das er nicht zu bannen vermochte. Warum habe ich Paolo zu Pietro Bocco geschickt? Warum? Paolo, der ihn wie ein Vater beschützt hatte, treu und unaufdringlich, der Freund und Spielgefährte. Er wollte schreien: Paolo, wo bist du? Komm doch zurück!

Die tönende Glocke rief die Menschen in die Kirche. Marco ging hinein, um sich von den dunklen Gedanken zu befreien. In dem warmen Dämmerlicht schwiegen die unruhigen Stimmen. Der breite, von Säulen, Nischen und Bögen gesäumte Gang führte zu einem von vielen Kerzen erleuchteten Altar. Weihrauch- und Myrrhe-Geruch erfüllten den Raum, der so riesenhaft wirkte, als könnte er ganz Venedig in sich aufnehmen. Die Kuppeln, Bögen und Obermauern waren mit Mosaiken bedeckt, die sich farbenprächtig von dem goldenen Grund abhoben.

Schwer legte sich die verschwenderische Pracht auf die Sinne der Kirchgänger, Stolz und Furcht vor der Größe und Macht Venedigs weckend. Tempel und Kirchen fremder Länder waren geplündert worden, um das Innere und Äußere der San-Marco-Kirche zu schmücken; und noch immer waren Scharen von Künstlern und Handwerkern damit beschäftigt, die Ausstattung zu bereichern. Der Orient hatte den schönsten Marmor geliefert; fünfhundert Säulen aus Granit, rotem Marmor, Verde antico, Porphyr, Cipolino und Basalt, mit altrömischen, jonischen, korinthischen, arabischen und byzantinischen Kapitälen und Ornamenten fügten sich trotz aller Verschiedenheit zu einem harmonischen Ganzen zusammen. Nach Tyrus und Byzanz, Dalmatien und Griechenland, Aquileja und den benachbarten Inseln hatte die Handelsrepublik ihre Saugarme ausgestreckt und sich mit List und Gewalt angeeignet, was ihr nützlich schien: Säulen, vergoldete Bronzerosse, die einst den Triumphbogen des römischen Imperators Trajanus schmückten, und das Recht, Handelsniederlassungen an allen wichtigen Punkten der Küsten des Mittelmeeres zu gründen.

Marco kniete auf den Arabesken des kühlen Steinbodens nieder und senkte den Kopf. Wie fernes Flügelrauschen schwebte der Gesang reiner Knabenstimmen durch den Raum.

Dann wurde es still. Marco schloß die Augen und hörte das Murmeln des Priesters, der die Messe zelebrierte. Immer ferner klang es, bis er nichts mehr vernahm. Erst das Geräusch der Menschen, die leise aufstanden und flüsternde Bemerkungen tauschten, weckte ihn aus seinem halben Schlaf.

Er verließ die Kirche, ohne Trost und Hoffnung gefunden zu haben.

Als er nach Hause kam, empfing ihn Giannina schon am Haustor. Sie sah ihn an und wußte, daß sein Suchen vergebens gewesen war. Sein Gesicht war so schmal und müde, daß sich Mitleid in ihr regte. Lange war er weg gewesen; sie war froh, daß er nun endlich gekommen war.

«Nichts», sagte Marco und vermied es, das Mädchen anzusehen. «Wo sollte ich auch suchen? Wir wissen ja nichts, Giannina.»

Er warf die Müdigkeit von sich. «Morgen gehe ich noch einmal zu meinem Oheim», sagte er. «Er muß mir Auskunft geben.» «Geh nur schlafen jetzt, Marco.»

Sie gingen die Treppe hinauf.

Giannina hatte Angst vor dem morgigen Tag. Seitdem sie in Venedig war, fürchtete sie sich vor vielen Dingen, über die sie früher mit leichtem Sinn hinweggegangen war, vor der Dunkelheit, dem zuckenden Blitz und dem Grollen des Donners, vor dunklem Wasser unter einer Brücke, vor Schritten auf der Treppe, wenn sie in ihrer kleinen Schlafkammer lag. Das Verschwinden Paolos hatte die Angst noch verstärkt.

Wie von hundert Teufeln gejagt, sprang sie die schmale Stiege hinauf, riß die Tür auf, warf sich angezogen auf ihr Bett und zog die Decke über sich. Ihre Zähne klapperten, und ihr ganzer Körper schüttelte sich in kaltem Fieber.

«Giovanni! Morgen komme ich zu dir, Giovanni!» flüsterte sie unhörbar.

Langsam beruhigte sie sich.

Marco schlief nur wenige Stunden in dieser Nacht. Kaum drang das erste Licht in seine Stube, stand er auf und zog sich an. Maria brachte ihm mit verweinten Augen das Frühstück, stellte es wortlos auf den Tisch und ging hinaus.

Marco hatte sich in der Nacht einen Plan zurechtgelegt. Er sagte sich, daß es wenig Sinn hätte, noch einmal mit seinem Oheim zu sprechen, und wollte zuerst versuchen, von dem Diener Pietro Boccos etwas zu erfahren. Das Licht des neuen Tages färbte die Gedanken heller und weckte die erloschene Hoffnung. Mit neuem Mut schritt er zum Hause seines Oheims, lauschte wie ein Dieb an der Tür und drückte die Klinke nieder. Das Glück begünstigte ihn. Kaum war er eingetreten, kam der Diener die Treppen herab. Marco trat ihm in den Weg.

«Ich muß mit dir sprechen. Verhalte dich still, damit mein Oheim nichts merkt», flüsterte er.

Der Diener schien ihn nicht gleich zu erkennen. Seine Augen öffneten sich, als sei ihm ein böser Geist begegnet, die Lippen klappten schlaff auseinander. Er hatte kaum die Kraft, warnend den Zeigefinger an den Mund zu legen.

Marco, der ihm in dem engen, dämmerigen Hurgang gegenüberstand, empfand so deutlich wie nie zuvor, daß in diesem Hause die Furcht regierte, die Furcht vor den rücksichtslosen Entscheidungen des Herrn, die vor nichts zurückschreckten, die nur das eine Ziel kannten — gelbes, seelenloses Metall anzuhäufen: Geld!

In diesem Hause rann das Gold durch die Hände des Herrn und lähmte alle guten Empfindungen. Es mordete die Menschenliebe und weckte die Menschenfurcht.

«I muri parlanto», flüsterte der Diener und versuchte das Entsetzen abzuschütteln, «die Mauern reden, junger Herr, geht weg von hier! Ich bitte Euch!»

Marco folgte ihm in eine dunkle Ecke, peinlich berührt von der niederdrückenden Atmosphäre dieses Hauses. Am liebsten hätte er den kleinen, schmächtigen Diener an den Schultern gepackt und wachgerüttelt. Aber er kannte ja Pietro Bocco und verstand die Angst seiner Untergebenen. «Weißt du etwas über Paolo», fragte er hastig, «hast du ihn gesehen?» Eine Tür knarrte in den Angeln. Schritte im oberen Stock des Hauses!

Der Diener hob die Hände, als wolle er sich vor Schlägen schützen.

War es Messer Pietro Bocco, der seinen morgendlichen Rundgang durch das Haus begann? War es die Magd, die mit dem schweren Wäschekorb zur hölzernen Altane auf dem Dach des Hauses gehen wollte?


Der Diener drückte sich gegen die kühle Wand. Marco stellte sich neben ihn und überlegte die Worte, die er dem Oheim sagen würde.

Die Schritte bewegten sich auf die Treppe zu. «Lauft, junger Herr!» flüsterte der Diener mit bebenden Lippen.

Marco blieb unbeweglich stehen. Der Zorn wollte ihn übermannen über die unwürdige Rolle, die er zu spielen gezwungen war. Er drängte ihn zurück.

In diesen Augenblicken der fast unerträglichen Spannung bewegte ihn ein Gedanke: Paolo ist verschwunden. Am Abend geht er weg, und dann kehrt er nicht mehr wieder.

Die Schritte kamen über die ersten Treppenstufen.

Am Abend geht er weg, und dann kehrt er nicht mehr wieder. Dieser immer wiederkehrende Gedanke war stärker als seine Empfindungen für Giannina, als seine Sehnsucht nach fernen Ländern, berührte ihn schmerzlicher als vor Monden der Tod der Mutter.

Der Oheim sagte gestern: «Eben habe ich eine traurige Nachricht erhalten, die mich sehr nachdenklich stimmt. Dein treuer Paolo ist ertrunken!»

Und Marco durfte nicht aus der dunklen Ecke heraustreten und ihm ins Gesicht schreien: Ich will wissen, wo Paolo ist! Sagt es mir! Sagt es mir!

I muri parlanto! Die Mauern reden!

Messer Pietro Bocco ging die Treppen hinab und blieb im Hur stehen, als ahne er die Nähe von Menschen. Hörte er die hastigen Atemzüge des Dieners?

Er drehte sinnend den Kopf nach dem spärlichen Licht, das durch den Türspalt drang.

Seltsame Gedanken, die ein stolzes Gefühl der Überlegenheit erzeugten, entstanden in seinem Gehirn. Er verglich seinen Gewinn in der einen Nacht mit dem Gehalt eines Arztes. Die Republik von San Marco zahlte einem gelehrten Arzt 47 Lire di grossi und verlangte dafür von ihm, daß er zwei Schüler halte, monatlich einmal mit anderen Ärzten unter dem Vorsitz des Priors zusammenkomme, um über die Medizin, namentlich über zweifelhafte Fälle, zu disputieren, kostenlos Geringe und diese oder jene Adlige behandele und dafür sorge, daß in den Gärten der Guidecca bestimmte Heilkräuter angepflanzt wurden.

Und er, Pietro Bocco, hatte tausend Dukaten in einer Nacht verdient. Messer Pietro Bocco lächelte über den kühnen Vergleich, der ihm eingefallen war und nach seiner Ansicht die Überlegenheit des Kaufmannsgeistes über alle anderen Berufe, selbst die gelehrtesten, ausdrückte. Und was verlangte die Republik? spann er selbstgefällig seinen Gedanken weiter. Die Republik verlangte von ihm, daß er sich beim Salzschmuggel nicht erwischen ließ.

Endlich ging Pietro Bocco weiter, öffnete die schwere Tür am Ende des Hurganges und verschwand im geräumigen Gewölbe seines Warenlagers.

Der Diener zitterte an allen Gliedern. «Ich sage Euch, was ich weiß, junger Herr. Aber dann geht! Ich bitte Euch, geht!» «Du weißt also etwas?» fragte Marco schnell.

«Abends hielt eine große schwarze Barke vor unserem Haus. Das ist alles, was ich weiß. Doch geht nun, ich bitte Euch, ehe Messer Bocco zurückkommt! Paolo ist mit der schwarzen Barke weggefahren. Weiter weiß ich nichts, junger Herr. Geht! Der Herr kommt! Ich höre seine Schritte!»

Marco lief zum Haustor, öffnete es und huschte hinaus.

Mit einer schwarzen Barke ist er weggefahren. Endlich hatte er einen Anhaltspunkt. Das Hoffnungspflänzchen faßte wieder feste Wurzeln. Und die Uberzeugung, daß sein Oheim ihn belogen hatte, war stärker denn je. Er war plötzlich so froher Stimmung, daß er augenblicklich vergaß, was er eben im Dunkel des Treppenhauses erlebt hatte.

«Ich werde dich finden, Paolo», sagte er zu sich selbst, «du bist nicht ertrunken. Nein! Ihr lügt, Oheim, ich sage es Euch noch einmal: Ihr lügt!»

Erst wollte er sofort und ohne weitere Überlegungen mit der Suche beginnen, aber dann besann er sich, daß es richtiger wäre, Giannina von dem Erfolg seiner Bemühungen zu benachrichtigen. Mit Freude im Herzen lief er nach Hause.

Giannina, bereit für die Fahrt nach Murano, erwartete ihn schon sehnsüchtig. «Hast du etwas erfahren?» fragte sie, als sie sein erhitztes Gesicht sah.

«Paolo ist mit einer großen schwarzen Barke weggefahren, sage es Giovanni! Ich gehe gleich wieder fort, Bruder Lorenzo muß heute warten. Wir müssen die schwarze Barke finden!» Aufgeregt stieß er die Worte hervor.

Giannina nahm sie begierig auf. Die bedrückenden nächtlichen Gedanken und Träume verblaßten im Angesicht des von der Sonne durchfluteten Morgens.

Am liebsten hätte sie den Freund umarmt. «Wir werden sie schon finden, Marco», sagte sie zuversichtlich.

Alles ist ruhig ringsumher, das Wasser schimmert wie ein Spiegel und wirft das Licht gegen die Mauern; ein Barcarole, der einen Bogenschuß entfernt auf dem Boden seines Bootes liegt und in den wolkenlosen Himmel starrt, singt mit kräftiger Stimme eine Melodie, zu der er den Text selbst erfindet; eine Barke gleitet vorbei, kaum ist das Plätschern des Ruders zu hören.

Die Häuser stehen stumm, keine Menschenschritte, kein Wagengerassel stören die andächtige Stille inmitten der volkreichen Stadt.

In der Ferne nimmt ein zweiter Barcarole die Melodie auf und trägt sie weiter zu einem dritten. Frauen öffnen die Fenster, treten auf die Balkone hinaus und lauschen dem Gesang, der bald laut und in hellen Tönen jubelnd, bald leise und getragen über das Wasser schwingt. Die Sänger werfen sich die Worte wie farbig schillernde Bälle zu.

Giannina und Marco hatten keine Zeit zum Lauschen, aber ohne ihren Willen prägte sich das friedliche Bild in ihre Seelen ein.

Marco dachte daran, daß er für Giovanni das Kleiderbündel bereitgelegt hatte.

Er holte es aus seiner Stube und bat Giannina, es dem Freund zu überreichen.

Sie stand einen Augenblick, als verstünde sie nicht, was um sie vorging.

«Für Giovanni?» fragte sie und strich sich mit einer ungeschickten Bewegung das Haar aus der Stirn. «Da muß ich ja gleich gehen…»

«Denke an die schwarze Barke!» mahnte Marco. «Ich habe nun keine Zeit mehr. Arivederci, Giannina, bis heute abend!»

Er rief den Sänger, der augenblicklich stille ward, zu sich. Das Boot legte an, und Marco stieg ein. Schnell glitten sie über das sonnenbeschienene Wasser, verließen die Enge des kleinen Kanals und bogen nach mancherlei verschlungenen Wegen in den Canal Grande ein.

«Viele Barken gibt es, junger Herr», sagte der Barcarole, sein Boot geschickt durch den lebhaften Verkehr steuernd. «Man kann sie nicht zählen. Eine schwarze Barke sucht Ihr?» Er zog zum Zeichen des angestrengten Nachdenkens die Stirn in Falten. «Ich kann mich nicht erinnern, eine schwarze Barke gesehen zu haben.»

In dem Bestreben, seinem Fahrgast gefällig zu sein, schrie er jedem Bekannten zu:

«Kennst du eine schwarze Barke, Alfredo? Hast du eine schwarze Barke gesehen, Filippo?»

Aber bevor eine Antwort kommen konnte, waren sie schon aneinander vorbeigefahren. Das wettergebräunte Gesicht des Barcarole sah bekümmert aus über den Mißerfolg seiner Bemühungen.

Marco bat ihn zu schweigen. Nach den Angaben seines Oheims mußte die Barke ja in den Hafen von San Nicolo eingelaufen sein. «Fahrt zum Lido!» rief er dem Barcarole zu.

«Zum Lido», wiederholte der Barcarole begeistert. «Wir werden fliegen, junger Herr, noch nie seid Ihr so schnell zum Lido gekommen.» Er tauchte das Ruder ein und bewegte es mit kräftiger Hand. Wie ein Pfeil durchschnitt das schlanke Boot die Fluten.

Marco kannte die langgestreckte Insel des Lido mit den Häfen von San Nicolo, Tre Porti, Malamocco und Chioggia. Ihre hohen Sanddünen, künstliche Dämme und andere Befestigungsanlagen schützten die Lagunen vor den Wogen des Adriatischen Meeres. Wie ein gewaltiger Riegel, Naturelementen und Feinden Trotz bietend, lag der Lido vor Venedig. Mehr als einmal war die Sturmflut in die Buchten und Kanäle eingedrungen, hatte Teile des Ufers weggerissen und sich mit ihrer ungestümen Kraft gegen die Laguneninseln geworfen. Aber immer wieder verhinderten zupackende Menschenhände, daß die schäumenden Wogen Venedigs marmorne Pracht verschlangen.

Jeden Morgen fuhren Gruppen von Arsenalarbeitern zum Lido, um die Befestigungsbauten zu verstärken.

Zur Sommerszeit lag das Meer oft unbewegt und wehrte sich, unwillig seufzend, gegen den schwachen Wind. Die Wellen leckten mit gläsernen Zungen an dem weißen Sand und spielten mit «Muscheln, Holzstücken und Wasserpflanzen. Viele hundert Segel in allen Größen und Formen belebten die schillernde unendliche Wasserfläche; und die Mönche des Benediktinerklosters gingen mit Sehnsucht im Herzen am Strand spazieren, ahnten die nahen Küsten Istriens und Dalmatiens und begaben sich zur vorgeschriebenen Stunde wieder voll geheimer Traurigkeit in ihre engen, einsamen Zellen.

Wenn der Sturm das Meer peitschte, lag der Strand wie ausgestorben da. Schiffe und Barken bemühten sich, noch rechtzeitig die schützenden Buchten und Häfen zu erreichen.

Marco kannte die Geschichte der Insel aus den Erzählungen Bruder Lorenzos. Sie hat große und kleine Feste gesehen. Schon im Jahre 998, als eine starke venezianische Hotte die Dalmatiner besiegt hatte, ordnete der Doge Pietro Orseolo an, daß zur Erinnerung hier jährlich ein großes Fest gefeiert werde.

Im Benediktinerkloster ruhen seit vielen Jahrzehnten die im ersten Kreuzzug erworbenen Reliquien des heiligen Nikolaus, und jedes Jahr findet eine Wallfahrt Tausender aus Venedig, Malamocco, Pisa, Padua und entfernteren Städten zum Grabe des Heiligen statt. Die Barcarolen, Bootsbesitzer und Reliquienhändler freuen sich mehr als die Wallfahrer auf diese Zeit, in der ihre Geschäfte blühen wie noch nie.

Lange war auch die Erinnerung an die Begegnung zwischen Papst Alexander III. und Kaiser Barbarossa im Jahre 1177 lebendig. Die Festlichkeiten, die aus diesem Anlaß durchgeführt wurden, fanden Tag und Nacht kein Ende und waren nicht mit Worten zu beschreiben.

1202 aber hatte sich der Lido in ein gewaltiges Kriegslager verwandelt. Das Klirren der Rüstungen und Waffen war stärker als das Brausen des Meeres. Fast vierzigtausend Kreuzfahrer warteten ungeduldig in der sengenden Hitze auf der schmalen, öden Insel, die zu dieser Zeit von den Venezianern gemieden wurde. Nach jahrelangen Verhandlungen mit den Anführern des Kreuzfahrerheeres gab endlich der schlaue Doge Enrico Dandolo das Zeichen zum Aufbruch, nicht nach Palästina, wie der Papst es wollte, sondern nach Zara und Byzanz, wie Venedig, die mächtige Republik von San Marco, es wollte.

Große und kleine Feste hat die Insel gesehen. Lang hingestreckt liegt sie zwischen Meer und Lagune und träumt wohl zuweilen von den vergangenen glanzvollen Zeiten, träumt wie die Herzöge und Arsenalarbeiter, Bettler und Bischöfe, Glasmacher und Senatoren von einem großen, funkelnden Fest, das an Reichtum, Glanz und verführerischer Schönheit selbst den Anblick des Meeres zur Zeit des Sonnenuntergangs überstrahlt.

Marco war im vorigen Jahr mit der Mutter nach San Nicolo gefahren und hatte an der Balestra, dem Armbrustschießen der Knaben nach Scheiben und hölzernen Figuren, teilgenommen. Auch mit Paolo war er dort gewesen. Immer wieder hatte ihn das Meer verzaubert.

Die Erinnerungen und Gedanken, angeregt durch die Weite des Wassers und das Gleiten des Bootes, stiegen und sanken. Hinter ihnen lag die Piazzetta mit dem Dogenpalast und die Riva della Schiavoni, rechts San Giorgia, und vor ihnen hoben sich die Inseln um San Nicolo aus dem Wasser.

Marco spähte über die glitzernden kleinen Wellen, die Fahrzeuge aller Art umspülten: Kauf fahrerschiffe, Galeeren, Schergenboote, Barken, Fischerkähne und bedeckte Boote, die schwimmenden Häuschen glichen. Alle trafen sich auf der breiten Schiffahrtsstraße, die zu beiden Seiten von Pfählen eingefaßt war.

Ein buntes, bewegtes Bild im Sonnenschein.

Sosehr Marco auch seine Augen anstrengte, konnte er nirgends eine schwarze Barke sehen. Aber gerade das machte ihm Mut. Gab es wirklich diese seltsame Barke, so mußte sie doch zu finden sein. Er überlegte schon im voraus, was er in San Nicolo beginnen würde.

Der Barcarole schmetterte unbekümmert sein Lied über das Wasser; mühelos, wie es schien, handhabte er das lange Ruder. Er freute sich über das gute Geschäft. Selten nur gab es einen Fahrgast, der bis zum Lido wollte. Meistens mußte er sich begnügen, im Gewirr der Kanäle von Rialto umherzufahren. Nachher würde er sich wieder auf den Boden seines Bootes legen und den Himmel, das Wasser und die Mädchen besingen.

Schön war das Leben!

Eine Gruppe Lastträger und Seeleute kauerte auf dem Kai und beobachtete gespannt, wie drei Würfel über die schmutzigen Steine rollten. Nichts anderes interessierte sie. Zwei große Schiffe mit hohen Masten und ungezählte Boote und Barken lagen in der Hafenbucht. Hinter dem Mastenwald und den Tauen schimmerte das Wasser. Istrische Matrosen, die im Dienst der venezianischen Flotte standen, schlenderten durch die Gassen.

Marco sprang an Land und befahl seinem Barcarole zu warten. Er wollte einen Trödler aufsuchen, der mit Altertümern handelte und seinen festen Platz in der Nähe des Hafens hatte. Dieser kannte alle Ereignisse, die im Hafen passierten. Es machte ihm nichts aus, die ganze Nacht aufzubleiben, wenn er mit seiner feinen Nase eine Neuigkeit witterte. Da er mit den Matrosen, wenn sie von weiter Fahrt in den Hafen zurückkehrten, einen schwunghaften Handel trieb, erfuhr er manches, was gewöhnlichen Sterblichen verborgen blieb. Und seine flinke Eidechsenzunge sorgte dafür, daß jedes Ereignis schnell herumgetragen wurde. Wenn je eine schwarze Barke im Hafen von San Nicolo angelegt hätte, dann wüßte es Umberto, der Trödler.

In einer Gasse, neben dem riesigen Kessel eines Teigmachers, eingehüllt von den Rauchwolken des Holzfeuers, befand sich Umbertos Stand, ein einfaches Holzgestell, auf dem Merkwürdigkeiten aus aller Herren Länder ausgebreitet waren. Marco hörte die Worte des Trödlers, die wie aus der Armbrust geschossen hervorschnellten. Sieben, acht Männer verdeckten die kleine Gestalt mit dem braunen, faltigen Gesicht und den aufgeregten Armbewegungen. Marco sah auf den ersten Blick, daß er Geduld aufwenden mußte, bis es so weit sein würde, daß er Umberto allein sprechen könne.

Er trat näher an die Gruppe heran und wurde Zeuge eines wütenden Wortgefechtes zwischen Umberto und einem zungenfertigen Käufer. Es handelte sich um eine antike Büste, der Umberto den Namen des berühmten römischen Senators Gajus Gracchus, der vor etwa 1400 Jahren gelebt hatte, zulegte. Er schwor bei allen Heiligen, daß er den Kopf von einem Gelehrten erworben habe, der ihn verkaufen mußte, weil er Geld für seine Rückreise nach Neapel brauchte.

«Gajus Gracchus», höhnte der andere. «Wer glaubt Euch das? Ich kenne die römische Geschichte…» Er schlug sich vor die Brust. «Mich könnt Ihr nicht dumm machen, bin selber ein Gelehrter…»

«Ein Gelehrter, hört Ihr es, Brüder? Ein Gelehrter will er sein und erkennt nicht einmal das Gesicht des edlen Römers. Jedes Kind weiß es besser als er. Seht doch, diese feinen Züge, die Löckchen, die hohe Stirn…»

«Eine breite zerquetschte Nase hat Euer Kopf, seht Ihr das denn nicht? Die Kinder der Cornelia aber hatten gebogene Nasen», fiel der Zungenfertige ein.

Die Umstehenden, die nie etwas von Gajus Gracchus oder Cornelia gehört hatten, nickten zustimmend mit den Köpfen. «Wahr ist's, was er sagt», meinte einer und brachte den Trödler vollends in Wut.

Umbertos Stimme überschlug sich fast, als er antwortete: «Seht Euch nur Eure Nase an! Wo hat es so etwas schon gegeben, einen antiken Kopf nach der Nase beurteilen zu wollen? — Ein Hundefänger seid Ihr und kein Gelehrter!» Verächtlich lachend barg er die Büste an seiner Brust, als wolle er sie vor den entwürdigenden Reden des anderen schützen.

Die Umstehenden schlugen sich vor Vergnügen auf die Schenkel und spornten den Zungenfertigen zu gepfefferten Erwiderungen an. Das Wortgefecht, auf beiden Seiten mit heftigen Armbewegungen und komischen Entsetzensschreien begleitet, nahm erst ein Ende, als die Stimmen heiser waren und Umberto dem «Gelehrten» bestätigte, daß er kein Hundefänger sei, aber eine entfernte Ähnlichkeit mit einem Vogelhändler habe, der in Malamocco sein Geschäft betrieb und ihm, Umberto von Zeit zu Zeit einige Bündel Drosseln zum Verspeisen brachte.

Der Zungenfertige wiederum gab zu, daß der antike Kopf, betrachte man ihn von der Seite, denke man sich an Stelle der breiten eine gebogene Nase und stelle man sich die Stirn etwas höher vor, zwar nicht Gajus Gracchus, aber vielleicht sein Bruder Tiberius sein könne.

So endete der Streit zu allseitiger Zufriedenheit. Die beiden Kampfhähne schieden ohne Groll voneinander, und auch die Umstehenden verliefen sich bald danach.

Marco trat an Umbertos Stand heran. Der Trödler stellte die Büste wieder an ihren Platz und wandte sich dem Knaben zu.

«Seid gegrüßt, junger Herr. Womit kann ich dienen? Seht, was ich alles habe! Ein Schiff aus indischem Elfenbein mit der Zauberschrift der Ungläubigen am Bug oder hier: eine kupferne Schale vom Hofe des Sultans…»

«Nein, Umberto», unterbrach Marco den Redestrom, «ich will nichts kaufen! Eine Auskunft wünsche ich von Euch!»

«Eine Auskunft?» Des Trödlers Gesicht, eben noch vor Eifer gerötet, nahm einen bedauernden Ausdruck an. Marco warf ihm einige Quattaroli zu.

«Habt Ihr in der Nacht, die dem gestrigen Tage vorausging, eine schwarze Barke im Hafen gesehen?» fragte Marco gespannt.

Umberto dachte nach. Sein braunes Gesicht und die feingliedrigen Hände, die in einsamen Augenblicken liebevoll über die Schnitzarbeiten der Matrosen strichen, sahen wie die Oberfläche eines Schinkens aus, der im Rauchfang hing. Der ständige Qualm des Holzfeuers trug wohl die Schuld daran. Marcos Blicke hingen voll Ungeduld und Erwartung, in die sich schon leise Enttäuschung mischte, an den nachdenklich gewordenen Augen des Trödlers.

«Das war in der stürmischen Nacht?» fragte Umberto. «Giulio hör mich, Giulio», schrie er, plötzlich wieder lebhaft werdend, dem Nudelmacher zu.

Giulio nahm die Holzkelle aus dem Kessel und wischte die Hände an der einst weißen Schürze ab.

«Hast du in San Nicolo schon eine schwarze Barke gesehen?» fragte der Trödler.

Marco ahnte, wie die Antwort ausfallen würde, und wunderte sich nicht, als der dickbäuchige, wortkarge Nudelmacher den Kopf schüttelte und gleich wieder in dem Teig herumrührte, den er für kleine Münze an Hafenarbeiter, Schiffer und Herumlungerer verkaufte.

Marcos Hoffnungen waren beträchtlich gesunken. Wenn Umberto nichts wußte, der Hinke, Allgegenwärtige, wer konnte ihm dann noch Auskunft geben? Marco sagte sich, daß die Fahrt nach San Nicolo vergeblich gewesen sei. Es war ein schwieriges Unterfangen, unter den ungezählten Barken, die Venedigs Gewässer belebten, ausgerechnet die herauszufinden, mit der Paolo gefahren war. Er begann in seiner ersten Mutlosigkeit sogar an den Worten des Dieners von Pietro Bocco zu zweifeln. Hatte der ihm die Wahrheit gesagt oder aus Furcht vor seinem Herrn gelogen, nur um den lästigen Frager loszuwerden? Gab es überhaupt diese geheimnisvolle schwarze Barke?

Fragen und quälende Zweifel! Aber Marco war nicht von der Art, daß er die Suche etwa einstellte. Je größer die Hindernisse, um so mehr stärkte sich sein Wille.

Die Hafengasse war vom Geschrei der Händler und Passanten erfüllt. Die Häuser, zum größten Teil aus Holz gebaut und mit Stroh gedeckt, standen so eng, daß zwei nebeneinanderstehende Männer mit ausgebreiteten Armen die Wände berühren konnten. Zwischen den Fenstern waren Stricke gespannt, an denen weiße und bunte Wäsche aufgehängt war. Das eine Ende der Gasse mündete in den Hafen, das andere führte in ein Labyrinth verschlungener Pfade. Dünste von gebratenem Fisch, Fleisch und gerösteten Kastanien stiegen auf. Menschen aus den verschiedenen Ländern, meistens Seeleute, bewegten sich in der Gasse: Griechen, Mohammedaner, Mohren, Deutsche, Spanier in ihren bunten Trachten. Maultiere, hochbeladen mit allen möglichen Lasten, schritten gemächlich durch den Staub; Gaukler und Sänger versuchten die Aufmerksamkeit Vorübergehender zu erregen; zwei ältere Mönche schauten wohlwollend lächelnd einer Schar spielender und schreiender Kinder zu — und über allem war ein schmales Stück Himmel zu sehen, von dem die Sonne ihre Strahlen in diese enge Gasse sandte, die eine Seite in grelles Licht tauchte und die andere Seite in kühlem Schatten ruhen ließ.

Dieses ganze bewegte, ärmliche Leben brandete an Marco vorbei. «Ich muß weiter suchen!» sagte er entschlossen. «Ich kann erst nach Hause gehen, wenn ich sie gefunden habe.» Was soll sonst Giannina denken, fügte er in Gedanken hinzu.

In Umberto regte sich die Neugierde. «Eine schwarze Barke, sagtet Ihr? Warum sucht Ihr sie?» Seine listigen Augen funkelten.

Marco gab eine ausweichende Antwort und verabschiedete sich von dem Trödler.

Da breitete sich vor ihm das Meer in seiner Schönheit aus, ein riesiger schimmernder Edelstein, der die Augen blendete mit der märchenhaften Pracht seiner Farben. Am Strande, vor den Dünen, waren Netze gespannt, zwei alte Fischer knüpften die zerrissenen Fäden zusammen. Frauen kochten im Schutz eines Sandhügels in einem Kupferkessel Suppe und brieten Fische am Spieß. Sie sangen bei ihrer Arbeit, bis zum Abend würden sie singen, immer die gleiche eintönige sehnsüchtige Melodie, die die Fischer zu rufen schien. Erst wenn das Echo vom Meer zurückkam und die Boote zu sehen waren, erstarb der Gesang.

Die Frauen und Mädchen des Lido sangen.

Und Marco lief über den feuchten Sand, unmittelbar neben den Wellen, und hinterließ die Spur seiner Schritte. Der Wind und der Meeresatem wehten ihn an. Bis nach Malamocco kam er, überall seine seltsame Frage stellend in Fischerhäusern, Schenken, Kanzleien, Lagerhäusern; selbst die Arbeiter der Salzsiedereien, die wie jeden Abend müde nach Hause gingen und sich kaum um die Schiffe und Barken kümmerten, fragte er.

Spät erst kehrte er nach San Nicolo zurück. Schon ging die Sonne unter und tauchte Meer und Himmel in feurige Glut. Die Silhouette eines Baumes mit trauernden Zweigen hob sich von dem erglühenden Hintergrund ab. «Fahrt mich nach Venedig!» rief Marco dem Barcarole zu, der träumend im Boot lag.

Als Giannina die Erde Muranos betrat und den Geruch der Wiesen und Felder und des wie einen Teppich hingebreiteten Laubes einatmete, milderte sich der Schmerz um Paolo und machte einem zuversichtlichen Gefühl Platz. Es war, als riefe ihr jemand zu: Keine Angst, Giannina, nun wird alles gut werden.

Wenn ich nach Venedig zurückkomme, ist Paolo vielleicht schon wieder da und lächelt über die Sorge, die wir uns um ihn gemacht haben, dachte sie.

Murano war weiter und freier als das enge, verwinkelte, laute Venedig. Wohl wurde in letzter Zeit auch in Murano immer mehr gebaut, so daß die Häuserflecken auf der Insel gleichsam zusammenzurücken schienen, aber doch war es im Vergleich zur Rialtoinsel noch weiträumig und erweckte den Anschein kleiner verlorener Dörfer in einer stillen Landschaft.

Der Senat beriet ein Gesetz, das vorsah, alle Glashütten, die sich noch auf der Rialtoinsel und den umliegenden kleineren Inseln befanden, nach Murano zu verlegen. Murano, das die meisten Glashütten besaß, sollte der Hauptsitz der venezianischen Glasherstellung werden. Fremde Abgesandte und Spione interessierten sich für die Kunst der Glasbläser und bezahlten hohe Bestechungssummen, um hinter die Herstellungsmethoden zu kommen. Sie bemühten sich, in ihren Ländern die Glasbläserei zu entwickeln, um von den venezianischen Glashändlern unabhängig zu werden.

Es gab Glasmacher, die den Verlockungen nicht widerstanden und heimlich Venedig verließen. In fremden Diensten, besonders in Böhmen und Frankreich, wandten sie dann die erworbenen Kenntnisse an und bildeten Lehrlinge und Gesellen aus. Deshalb wollte der Senat die gesamte Glasindustrie nach Murano verlegen, um eine bessere Kontrolle durchführen zu können. Gleichzeitig sollten den Glasmachern größere Rechte eingeräumt und höhere Löhne gezahlt werden.

Murano war in den vergangenen Jahren zusehends gewachsen und würde auch weiterhin an Bevölkerungszahl zunehmen. Aber noch besaß es seinen ländlichen Charakter.

Leichtfüßig eilte Giannina an dem auf einem Hügel liegenden Anwesen Messer Celsis vorbei. Sie fürchtete sich nicht mehr vor dem hageren Teufel, wünschte aber auch nicht, ihm zu begegnen. Als sie vor ihrem Hause war, bemerkte sie Giovannis Vater im Nachbargarten. Er hatte das Bein weit von sich gestreckt und ließ sich von der Sonne bescheinen.

«Giannina, du bist es?» rief er, aufgeweckt durch ihre Schritte. «Da wird sich Giovanni freuen. Wie lange bleibst du?»

Das Mädchen wurde durch Ernestos Frage wieder an ihre traurige Mission erinnert. Sie setzte sich neben ihn auf die Bank und berichtete, was sich ereignet hatte. Ernesto überlegte lange, ehe er etwas erwiderte. Er konnte nur schwer begreifen, wie es möglich war, daß ein Mensch so spurlos verschwand. Und daß es ausgerechnet dem kräftigen Paolo geschehen war!

«Wie kann ich euch nur helfen?» fragte er. «Ich, mit meinem einen Bein…»

Wieder wollte die Bitterkeit in ihm aufsteigen. Aber als er Gianninas trauriges Gesicht sah, bezwang er sich.

«Marco schickt für Giovanni Kleider und Schuhe. Hier sind sie, Onkel Ernesto. Sie sind ihm zu klein geworden und könnten Giovanni passen, meint er.» «So!» In Ernestos Gesicht zuckte es. Giannina breitete die Herrlichkeiten auf der Bank aus. «Wenn nur Paolo erst wieder da wäre», sagte sie, «dann wäre alles gut… Seht nur, die schönen Schnallenschuhe!» «Packe alles wieder ein, Giannina», sagte Ernesto mit rauher Stimme. Giannina sah ihn überrascht an.

Ernesto strich ihr über das Haar. «Denkst du denn, Giovanni würde das annehmen, Giannina?» fragte er leise. Das Mädchen errötete.

«Er meint es doch gut, Onkel Ernesto», sagte sie zaghaft.

«Ich weiß, Giannina. Du mußt es trotzdem zurückgeben. Sag nur dem jungen Herrn, daß ich selbst Giovanni neue Kleider kaufen werde. Morgen schon! Sag es ihm so, daß er sich nicht verletzt fühlt! — Vielleicht wird er es verstehen», setzte er sinnend hinzu.

Giannina wußte nicht, was sie erwidern sollte. Und die Sorge um Paolo war wichtiger als alles andere und ließ die Kleidergeschichte schnell in den Hintergrund treten. Sie ging in das Haus ihrer Eltern und bereitete für sich und Ernesto ein kleines Frühstück. Während des Essens berieten sie gemeinsam, was zu tun sei. Giovannis Vater meinte, sie solle gegen Mittag zu Meister Benedetto gehen und dort nach der schwarzen Barke fragen. Etwas anderes könne er ihr nicht raten.

Schweren Herzens ging Giannina zu dem Freund. Sie wußte, wie sehr er an Paolo hing. Die Nachricht würde ihn schwer treffen. Aber es blieb ja nichts anderes übrig. Sie mußte ihm sagen, was geschehen war, je schneller, desto besser.

Als das Mädchen, unberührt von der Schönheit der Lagune, die kleine Bootswerft im Sonnenschein liegen sah, stand Giovanni gerade bei Meister Benedetto und empfing eine der weisen und lustigen Belehrungen. Der Meister, den erhobenen Zeigefinger noch in der Luft haltend, brach seine Worte plötzlich ab. «Aha», sagte er zu dem nichtsahnenden Giovanni, «die Windsbraut kommt. Na, dann lauf nur schnell zu ihr hin.» Sprach's und verschwand in seinem Schuppen.

Giovanni blickte überrascht auf. Wie sollte er das nun wieder verstehen? Was meinte der Meister nur? Da gewahrte er Giannina. Sie ging langsam dahin und kam ihm nicht wie sonst freudig entgegengesprungen.

Er wußte nicht recht, ob er lachen oder ernst sein sollte. Aber die Freude über Gianninas Kommen war stärker als der Arger über des Meisters Spott. Soll er nur sehen, daß Giannina meine Freundin ist, dachte er trotzig, alle können es sehen, meinetwegen.

«Da bist du mal wieder in Murano», sagte er, erstaunt über den Ernst in ihrem Gesicht. «Hat er dich gehen lassen?» Er verbesserte sich schnell. «Ich meine… Marco… läßt er was bestellen?»

Giannina beachtete seine Verwirrung nicht. In gleichförmigem Ton erzählte sie ihm, warum sie gekommen war. Mit hängenden Schultern stand sie vor ihm, als sie geendet hatte. Der Wind spielte mit ihrem Kleid, und die Sonne schien auf ihr dunkelglänzendes Haar. Die Axtschläge und das Klopfen der Hämmer drangen grell in ihr Bewußtsein.

Giovanni wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. «Etwas hineingeflogen», murmelte er und wandte sich ab. Das stach und biß in seinen Augen!

«Wir glauben nicht, daß Paolo ertrunken ist. Messer Bocco lügt!» sagte Giannina, um das lähmende Schweigen zu brechen.

«Natürlich lügt er», fuhr Giovanni sie an. «Warte mal, ich habe da etwas im Auge… So, jetzt ist es schon besser!»

Er erzählte ihr, daß er gestern die schwarze Barke gesehen habe.

Giannina stieß einen Freudenschrei aus, schlug sich aber gleich auf den Mund, weil sie sich sagte, daß mit der Existenz der Barke ja noch nicht bewiesen war, ob Paolo lebte oder nicht.

Sie dachten nach, was am besten zu tun sei. Giovanni hielt es für richtig, wenn sie Meister Benedetto die Geschehnisse von Anfang bis zu Ende erzählten. Sicher würde er ihnen dann die Wohnung Kapitän Matteos mitteilen. Giannina stimmte dem Vorschlag zu.

Meister Benedettos Gesicht sah ungewöhnlich ernst aus, als er den Bericht der zwei gehört hatte. Er dachte an den Besuch Kapitän Matteos und sah einige Dinge in anderem Licht: die beschädigte Barke, das zerschlagene Gesicht Matteos und auch dessen, wie er sich jetzt erinnerte, etwas gemachte Heiterkeit. Fragen bestürmten ihn. Hing das alles mit dem Verschwinden des Dieners Paolo zusammen? Hatte es einen Kampf zwischen den beiden gegeben, bei dem Matteo den Gegner über Bord geschleudert hatte?

Paolo war mit einer schwarzen Barke gefahren und nicht wieder zurückgekehrt.

Ein merkwürdiger Zufall hatte Kapitän Matteo nach Murano geführt. Jetzt standen der Junge und das Mädchen vor ihm und verlangten einen Rat.

Meister Benedetto kannte das Leben Kapitän Matteos. Der Freund war einer der geschicktesten Schmuggler, dem man aber, obwohl er sein Geschäft schon einige Jahre betrieb, noch nie das mindeste hatte nachweisen können. Das wußte Benedetto, und es war in seinen Augen kein Verbrechen. An diesem Geschäft beteiligten sich insgeheim auch die Herren, die im Großen Rat mit scheinheiligen Reden die strengste Bestrafung der Schmuggler forderten. Nur verstanden sie es, im Hintergrund zu bleiben.

Hatte sich Matteo zu einem Mord hinreißen lassen? Das war die Frage, die Meister Benedetto zu ernstem Nachdenken veranlaßte. Er konnte sich das nicht vorstellen; denn er wußte, daß Matteo sich trotz seines abenteuerlichen Lebens seine gutmütige Natur bewahrt hatte. Vielleicht war er angegriffen worden und hatte sich seiner Haut wehren müssen?

Er war den Kindern, die unruhig vor ihm standen, eine Antwort schuldig. Er durfte nicht länger schweigen. So entschloß er sich endlich, mit ihnen zu reden. «Kommt!» sagte er.

Giovanni und Giannina folgten ihm ins Freie. Das lange Schweigen des Meisters hatte besonders bei Giovanni ein beklemmendes Gefühl wachgerufen.

«Ich werde euch beschreiben, wo Kapitän Matteo wohnt», sagte Meister Benedetto. Mit der Fußspitze zeichnete er ihnen den Weg in den Sand.

«Geht zu ihm», sagte Meister Benedetto, noch immer mit dem gleichen ernsten Gesicht. «Am besten morgen früh. Heute abend werdet ihr ihn nicht mehr antreffen. Und bestellt, daß ich es war, der euch zu ihm geschickt hat. Sagt, ich wolle genau wissen, wie sich das alles verhielte. Und redet mit keinem darüber.»

Mit schleppenden Schritten ging er in den Schuppen zurück, suchte in den Holzspänen nach seinem Krug und trank einen Schluck.

Giannina verabschiedete sich von ihrem Freund. Obwohl sie nun endlich wußte, wo die schwarze Barke zu finden war, war ihr Herz nicht leichter geworden. Sie hatte Angst, daß sie morgen eine schreckliche Nachricht erfahren würden, wollte es aber Giovanni nicht merken lassen und sagte mit gespielter Munterkeit:

«Da werde ich jetzt gehen. Das Wichtigste haben wir ja erfahren.»

«Ja», erwiderte Giovanni, «geh nur zurück… Es ist wie im Sommer heute, man möchte den ganzen Tag im Freien sein.»

Als Giannina gegangen war, stand er lange gedankenverloren da und starrte vor sich hin.


Marco kam in den späten Abendstunden niedergeschlagen zurück. Maria ließ ihn ein.

«Messer Pietro Bocco ist hier gewesen», sagte sie. «Er kam von Bruder Lorenzo und schien sehr böse zu sein, weil Ihr nicht im Hause wart.»

Marco sah im Schein des Leuchters ihr verweintes Gesicht und unterdrückte eine heftige Bemerkung. Er wußte, wie sehr sie sich um Paolo grämte.

Kommt nur, Oheim, dachte er voll Zorn, ich werde Euch die richtige Antwort geben. Aber die Kampfbereitschaft, die er sich einreden wollte, war nicht echt. Das vergebliche Suchen lastete auf ihm. «Giannina schläft wohl schon?» fragte er. «Sie wartet auf Euch, junger Herr.» Langsam stieg Marco die Treppen hinauf.

Sie stand am Fenster, als er in die Stube trat. Auf den ersten Blick bemerkte sie, daß er nichts erreicht hatte.

«Endlich kommst du», sagte sie, froh, daß die Stunden des qualvollen Wartens vorbei waren und sie ihm eine gute Nachricht geben konnte. Die Kleider, die für Giovanni bestimmt gewesen waren, hatte sie zurückgebracht und wieder in die Truhe gelegt. Sie wollte in diesen Stunden nicht darüber reden. «Ich werde morgen weiter suchen», sagte Marco.

Das Mädchen trat schnell auf ihn zu. «Giovanni weiß, wo die schwarze Barke ist», sagte sie lebhaft. «Morgen gehen wir zu Kapitän Matteo, er ist der Besitzer der Barke.»

Marco konnte sich gar nicht so recht freuen.

Vielleicht war er zu müde dazu?

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