10 Die wunderbarsten Dinge erlebt

Wir haben die wunderlichsten Dinge erlebt und erleben sie noch ständig. Alles Papier, das ich bei mir habe, besteht aus fünf alten Notizblöcken und einer Menge Zettel. Ich habe nur diesen einen Bleistift, aber solange ich die Hände bewegen kann, will ich fortfahren, unsere Erlebnisse und Eindrücke aufzuzeichnen. Da wir die einzigen Zeugen dieser Geschehnisse sind, halte ich es für äußerst wichtig, alles niederzuschreiben, ehe jenes Geschick, das beständig drohend über uns hängt, uns ereilt. Ob Zambo eines Tages diese Briefe zum Fluß bringen wird, ob ich selbst durch irgendein Wunder sie mitnehmen kann, ob später einmal ein mutiger Forscher unseren Spuren folgt und dieses Bündel Papiere findet - ich weiß es nicht. Auf alle Fälle bin ich überzeugt davon, daß diese Aufzeichnungen nicht verloren gehen werden.

Am ersten Morgen unserer Verbannung ereignete sich etwas, was wenig dazu geeignet war, meine Begeisterung über das Umland zu erhöhen. Als ich kurz nach Tagesanbruch durch einen heftigen Juckreiz aus kurzem Schlaf gerissen wurde, bemerkte ich etwas Seltsames an meinem linken Bein. Meine Hose war in die Höhe gerutscht, zwischen Aufschlag und Socken war eine Handbreit Haut entblößt, und genau da saß etwas, was wie eine dicke rote Traube aussah.

Erstaunt beugte ich mich nach vorn und wollte sie mir vom Bein streichen, als sie auch schon platzte und Blut in alle Richtungen verspritzte. Angewidert schrie ich auf und lockte damit die beiden Professoren herbei.

»Höchst interessant«, sagte Summerlee, über mein Bein gebeugt. »Eine blutsaugende Riesenzecke, meines Wissens bisher noch nicht erfaßt.«

»Die ersten Früchte unserer Anstrengungen«, sagte Challenger zufrieden. »Ixodes Maloni taufen wir sie - das ist das mindeste, was wir tun können. Leider haben Sie das prachtvolle Exemplar zerquetscht, junger Freund. Die kleine Unannehmlichkeit, gebissen worden zu sein, wird Ihnen sicherlich nichts ausmachen, wenn Sie an das unschätzbare Privileg denken, dafür Ihren Namen in den unvergänglichen Annalen der Zoologie verewigt zu sehen.«

»Vielen Dank für die Ehre«, sagte ich gereizt. Mir war wirklich nicht zum Lachen zumute.

Professor Challenger zog erstaunt eine Augenbraue in die Höhe und legte mir beruhigend eine Hand auf die Schulter.

»Sie sollten danach streben, junger Mann«, sagte er, »Ihr Auge und Ihr Denken in den Dienst der Wissenschaft zu stellen. Für einen Mann wie mich - und ich rühme mich, ein Naturphilosoph zu sein - ist die Zecke mit ihrem lanzettenförmigen Rüssel und ihrem aufgeblähten Bauch ein ebenso prachtvolles Kunstwerk der Natur wie der stolze Pfau oder die Aurora borealis. Sie scheinen sich dessen nicht bewußt zu sein, und das finde ich äußerst bedauerlich. Wenn wir genügend Ausdauer auforingen, werden wir sicher ein zweites Exemplar finden und es dann aufbewahren.«

»Zweifellos«, bemerkte Professor Summerlee trok-ken. »Eben ist nämlich das zweite Exemplar in Ihrem Hemdkragen verschwunden, werter Herr Kollege.«

Professor Challenger gebärdete sich wie ein wütender Bulle, schrie und hüpfte auf und ab und zerrte an seinem Jackett und seinem Hemd zugleich. Summerlee und ich mußten derart lachen, daß wir unfähig waren, ihm zu helfen. Er schaffie es aber auch allein, und endlich war der massige Oberkörper nackt. Aus dem Gewirr von schwarzen Haaren, die an Brust und Schultern wuchsen, befreiten wir die verzweifelt herumirrende Zecke, ehe sie ihr Opfer hatte anzapfen können. - In den Büschen rings um uns herum wimmelte es von diesem Ungeziefer, und so waren wir gezwungen, uns einen anderen Lagerplatz zu suchen.

Erst jedoch mußten wir mit unserem treuen Neger sprechen, der eben wieder auf der Felszinne aufgetaucht war und uns Büchsen mit Kakao und Keksen mitgebracht hatte. Nachdem er sie uns eine nach der anderen zugeworfen hatte, sagten wir ihm, daß er Verpflegung für zwei Monate zurückbehalten und den Rest den Indianern als Lohn für ihre Arbeit und dafür, daß sie die Briefe mitnahmen, geben sollte.

Einige Stunden später sahen wir die Indianer im Gänsemarsch über die Ebene wandern, jeder ein Bündel auf dem Kopf. Sie gingen auf dem Weg zurück, den wir gekommen waren. Zambo bezog unser Zelt am Fuße der Felszinne, und dort blieb er - unser einziges Bindeglied zu der Welt unter uns.

Und nun verlegten wir unser Lager von den zeckenverseuchten Büschen in eine kleine Lichtung, die ringsum von Bäumen umgeben war. In der Mitte der Lichtung ein paar flache Felsplatten und gleich daneben eine Quelle. Dort saßen wir, sauber und bequem, und besprachen unseren ersten Vormarsch in dieses neue Land. Vögel zwitscherten in den Bäumen, manche davon mit seltsam heulendem Unterton, aber sonst war alles still.

Als erstes stellten wir eine Liste unserer Vorräte auf, denn wir mußten wissen, wie lange wir damit durchhalten konnten. Insgesamt waren wir mit den Sachen, die wir selbst mitgebracht hatten, und denen, die uns Zambo nachgeliefert hatte, relativ gut versorgt.

Bei den Gefahren, von denen wir umzingelt sein mochten, waren jedoch unsere Gewehre die wichtigsten Ausrüstungsgegenstände. Jeder von uns hatte dreihundert Schuß Munition, außerdem hatten wir noch die Schrotflinte mit hundertfünfzig Patronen. Der Proviant reichte für gut drei Wochen, Tabak besaßen wir ausreichend, und sogar einige Geräte für Forschungszwecke waren vorhanden, darunter ein Teleskop und ein gutes Zeiss-Glas.

All das schaffien wir auf die Lichtung, nachdem wir zur Vorsicht dorniges Gestrüpp geschlagen und uns um die Felsplatten herum einen Schutzwall von einem Durchmesser von vielleicht fünfzehn Metern gebaut hat-ten. Das sollte zunächst unser Hauptquartier sein- unser Zufluchtsort bei plötzlich auftretender Gefahr und natürlich Lagerplatz für unsere Reichtümer.

Wir tauften den Platz »Fort Challenger«.

Bis wir alles so weit hatten, war es Mittag geworden. Die Hitze war nicht quälend, und sowohl Temperatur als auch Vegetation auf dem Plateau entsprachen den Bedingungen, die man in gemäßigten Zonen vorfindet. Unter den Bäumen, die unsere Lichtung umstanden, Buchen, Eichen und sogar Birken. Ein gewaltiger Gingkobaum, der alle anderen überragte, breitete seine langen Äste mit den Fächerblättern bis über das Lager aus, das wir gebaut hatten.

In seinem Schatten hielten wir Kriegsrat, wobei Lord John wieder das Kommando übernommen hatte und uns seine Ansichten auseinandersetzte.

»Solange uns weder Mensch noch Tier gesehen oder gehört haben, sind wir sicher«, sagte er. »Sobald sie aber wissen, daß wir hier sind, geht der Zirkus los. Nichts spricht dafür, daß sie uns bereits gesichtet haben. Wir müssen uns also vorerst einmal möglichst ruhig verhalten und das Land heimlich auskundschaften. Ehe wir unsere Nachbarn aufsuchen, wollen wir sie uns gründlich anschauen.«

»Aber wir können nicht hier sitzenbleiben, sondern müssen raus«, sagte ich.

»Allerdings müssen wir das, junger Mann«, sagte Lord John, der Challengers Art, mich wie einen Schulbuben zu behandeln, übernommen hatte. »Wir werden das Lager verlassen, aber mit Verstand. Wir dürfen uns nie so weit davon entfernen, daß wir nicht zurückkommen können. Und vor allem dürfen wir unter keinen Umständen von unseren Waffen Gebrauch machen.«

»Wobei Sie gestern geschossen haben«, sagte Summerlee.

»Das mußte sein. Zum Glück wehte der Wind so, daß der Schall über die Ebene und nicht hier herüber getragen wurde. Es ist nicht anzunehmen, daß man hier etwas gehört hat. Übrigens, wie sollen wir das Neuland nennen?«

Es kamen ein paar Vorschlage, von denen keiner so recht befriedigend war. Challenger hatte schließlich die Idee, der alle zustimmten.

»Da kommt doch nur ein Name in Frage«, sagte er. »Das Land muß den Namen des Mannes bekommen, der es entdeckt hat - nämlich Maple White. Wir nennen es Maple-White-Land, schlage ich vor.«

Damit war es beschlossene Sache, und ich trug den Namen in die Karte ein, mit deren Entwurf ich beauftragt worden war.

Die friedliche Eroberung des Maple-White-Landes war nun unser dringliches Anliegen. Wir hatten mit eigenen Augen gesehen, daß hier unbekannte Lebewesen hausten, und aus dem Zeichenheft des Amerikaners wußten wir, daß wir früher oder später mit dem Auftauchen gefährlicher Untiere rechnen mußten. Daß es auch Menschen auf dem Plateau gab, schien durch das Skelett bewiesen zu sein, das wir im Bambus gefunden hatten. Daß James Colver nicht das Opfer eines Unfalls gewesen, sondern absichtlich von den Klippen gestoßen worden war, bezweifelte niemand mehr.

Unsere Situation, durch die Tatsache, daß wir das Plateau nicht verlassen konnten, verschärft, war höchst gefährlich und verlangte größte Vorsichtsmaßnahmen. Trotzdem konnten wir, endlich am Saum dieser mysteriösen Welt angekommen, nicht untätig auf unserer Lichtung sitzen bleiben. Die Ungeduld trieb uns hinaus. Wir mußten bis ins Herz des Neulandes vordringen.

Wir verbarrikadierten daher den Zugang zu unserem Lager und machten uns auf den Weg. Wir folgten dem Wasserlauf, der aus unserer Quelle sprudelte. Er sollte uns auch als Wegweiser für den Rückweg dienen.

Wir waren kaum aufgebrochen, als wir auf Anzeichen stießen, die uns davon überzeugten, daß uns tatsächlich wundersame Dinge erwarteten. Nach ein paar hundert Metern dichten Unterholzes - die Bäume, die es überragten, waren mir größtenteils fremd, aber Professor Summerlee, der Botaniker unter uns, hatte für jeden einen exotisch klingenden Namen parat -, kamen wir in ein Gelände, in dem der Bach breiter wurde und der Boden sumpfig war. Dichtes, eigenartiges Schilf wuchs hier, dazwischen standen vereinzelt Baumfarne. Es wehte ein kräftiger Wind.

Lord John, der voranging, hob plötzlich die Hand und blieb stehen.

»Schauen Sie sich das an«, sagte er leise. »Die Spur eines riesigen Vogels.«

Die dreizehigen Abdrücke der Krallen waren in dem feuchten Untergrund klar zu erkennen. Die Kreatur hatte das Sumpfgebiet durchquert und war im Unterholz verschwunden. Wir inspizierten die Spur. Falls sie tatsächlich von einem Vogel stammte - und was hätte es sonst sein sollen -, waren seine Krallen um so vieles größer als die eines Straußenvogels, daß die Stelzen unvorstellbar hoch sein mußten.

Lord John spähte um sich und steckte zwei Patronen in seine Elefantenbüchse.

»Ich möchte wetten«, sagte er, »daß die Spur frisch ist. Das Tier ist noch keine zehn Minuten vor uns hier gewesen. Sie brauchen bloß zu beobachten, wie das Wasser in die tiefen Stellen sickert. Hoppla! Daneben ist ja noch eine Spur. Von einem kleineren Exemplar.«

Tatsächlich lief neben der Spur, die wir zuerst gesehen hatten, eine zweite, deren Abdrücke genau dieselbe Form hatten, aber kleiner waren.

»Und was schließen Sie daraus?« frage Professor Summerlee und deutete auf den Abdruck einer übergroßen, fünffingrigen Hand zwischen den Abdrücken der dreizehigen Krallen.

»Wealden«, sagte Challenger, der sich nur mit Mühe hatte dazu zwingen können, seine Donnerstimme zu dämpfen. »Solche Abdrücke habe ich schon in Kreideformationen gesehen. Die dazugehörige Kreatur geht aufrecht, hat drei-zehige Krallenfüße und Vorderpfoten mit fünf Fingern, die sie ab und zu zur Stütze benutzt. Das ist kein Vogel, mein lieber Roxton.«

»Sondern?«

»Ein Reptil. Ein Dinosaurier. Diese Spur kann von keiner anderen Kreatur stammen. Vor ungefähr neunzig Jahren will ein Professor, der in Sussex gelebt hat, eine solche Spur gesehen haben, aber es hat ihm natürlich niemand geglaubt. Wer hätte damals ahnen können, daß es diese Kreaturen eben doch gibt.«

Schweigend verfolgten wir die Fährte. Sie führte aus dem Sumpf in dichtes Unterholz. Dahinter eine Lichtung, an deren Rand wir stehenblieben und den Atem anhielten.

Auf der Lichtung befanden sich fünf der außergewöhnlichsten Kreaturen, die ich je gesehen habe.

Lord John befahl uns durch ein Zeichen, uns zu ducken. Hinter Büschen versteckt, beobachteten wir die Tiere.

Es waren, wie gesagt, fünf - zwei ausgewachsene und drei junge. Ihre Größe war enorm. Die Jungen hatten gut das Ausmaß von Elefanten, die Alten waren größer als alles, was ich aus dem Reich der Tiere kannte. Die schiefer-farbene Haut war wie die von Echsen geschuppt und glitzerte, wo die Sonne auftraf. Die Tiere hockten aufrecht auf ihren breiten, kräftigen Schwänzen und den dreizehigen Hinterbeinen, während sie mit den kurzen, fünffingrigen Vorderbeinen Äste herabbogen und die Blätter weideten. Wenn man durchaus einen Vergleich mit einem uns bekannten Tier anstellen will, so stelle man sich vor, daß diese Kreaturen wie sechs Meter große, monströse Känguruhs aussehen, die eine Haut wie schiefergraue Krokodile haben.

Wie lange wir die Tiere beobachtet haben, kann ich nicht sagen. Der Wind stand günstig, wir hockten hinter Buschwerk und riskierten nicht, bemerkt zu werden. Die Jungen gaben von Zeit zu Zeit das Fressen auf und tollten um die Alten herum, wobei sie ungelenk in die Luft sprangen und sich mit einem Plumpsen wieder auf den Boden fallen ließen. Die Kraft der Kreaturen schien grenzenlos zu sein. Wir konnten beobachten, wie eines der beiden ausgewachsenen Exemplare einen Baum von mittlerer Größe mit den Vorderpfoten aus dem Boden riß, als sei er ein Sprößling. Der Baum stürzte auf das Tier, dieses fiel um und stieß ein paar schrille Schreie aus.

Dieser Zwischenfall bewies, daß die Tiere zwar eine Riesenkraft, aber wenig Verstand besaßen; und das veran-laßte sie, den Ort, der sich für sie als gefährlich erwiesen hatte, zu räumen. Sie verzogen sich ins Unterholz, über das ihre häßlichen Köpfe herausragten.

Wir sahen ihnen nach, bis sie aus unserem Blickfeld verschwunden waren.

Jetzt erst erinnerte ich mich wieder daran, daß ich nicht allein war, und drehte den Kopf. Lord John stand regungslos da, den Finger am Abzug, den wachsamen Blick des Jägers auf die Stelle gerichtet, wo die Tiere verschwunden waren. Er hätte sicher viel darum gegeben, wenn er den Kopf einer derart seltenen Beute seiner Trophäensammlung hätte beifügen können. Aber er hatte sich beherrscht.

Die beiden Professoren waren so fasziniert, daß es ihnen die Rede verschlagen hatte. In ihrer Aufregung hatten sie sich gegenseitig an der Hand gepackt und standen da wie kleine Kinder vor dem Nikolaus: Challenger mit einem seligen Lächeln auf dem Gesicht und Summerlee in ehrfurchtsvoller Haltung.

»Sapperlott!« Professor Summerlee schüttelte nachdenklich den Kopf. »Ich bin gespannt, was sie zu Hause sagen, wenn sie das hören.«

»Mein lieber Summerlee«, meinte Professor Challenger, »das ist nicht schwer zu erraten. Sie werden sagen, daß Sie ein abgefeimter Lügner und wissenschaftlicher Scharlatan sind. Warum sollte es Ihnen besser gehen als mir?«

»Und wenn wir Fotos mitbringen?«

»Dann wird es heißen, daß sie gefälscht sind.«

»Wir können ja noch mehr Beweismaterial vorlegen.«

»Damit können wir sie vielleicht fangen. Vielleicht wird der Tag kommen, an dem Malone und seine widerwärtigen Kollegen unser Loblied singen. Heute ist der achtundzwanzigste August, der denkwürdige Tag, an dem wir fünf lebende Exemplare des Iguanodon in einer Lichtung des Maple-White-Landes gesehen haben. Vermerken Sie das in Ihrem Tagebuch, junger Mann, und geben Sie diese wichtige Information an Ihr Käseblatt weiter.«

»Und machen Sie sich gleichzeitig darauf gefaßt, daß Ihnen der Redakteur in den Hintern tritt«, setzte Lord John hinzu. »Vom Londoner Breitengrad aus betrachtet, sehen die Dinge etwas anders aus. Es gibt so manchen, der seine Abenteuer für sich behält, weil er nicht damit rechnen kann, daß man ihm glaubt. Aber kann man es ihnen verübeln? In einem Monat wird uns alles selbst wie ein Traum vorkommen. Wie sagten Sie, heißen diese Biester?«

»Man spricht vom Iguanodon«, antwortete Professor Summerlee. »Abdrücke dieser fossilen Riesenechsen sind in Hastings, Kent und Sussex zu finden. In Südengland muß es einmal von den Biestern nur so gewimmelt haben, als es noch genug saftiges Grünzeug gab. Aber die Bedingungen haben sich geändert, und sie sind ausgestorben. Hier scheinen die Lebensbedingungen ideal zu sein.«

»Wenn wir je lebend hier herauskommen«, sagte Lord John, »dann habe ich den Kopf von so einem Biest dabei, das schwöre ich Ihnen. Aber das dürfte jetzt zweitrangig sein, denn ich habe das ungute Gefühl, daß etwas in der Luft liegt.«

Auch ich hatte es seit einem Moment gespürt. Im Schatten der Baumkronen schien etwas Bedrohendes zu schweben. Furchtsam blickten wir hinauf. Die gräßlichen Kreaturen, die wir eben gesehen hatten, waren plumpe, faule Tiere, die nicht von sich aus angriffen und eher als friedlich zu bezeichnen waren, aber wer wollte wissen, ob in dieser Welt wundersamer Geschehnisse nicht wilde, grausame Lebewesen lauerten und darauf warteten, sich auf uns zu stürzen.

Ich hatte wenig Ahnung von vorgeschichtlichen Kreaturen, konnte mich aber genau an ein Buch erinnern, in dem solche Bestien beschrieben waren und in dem es hieß, daß sich gewisse Arten von ihren furchtlos auf Löwen und Tiger stürzten. Existierten auch sie in den Wäldern dieses seltsamen Landes?

Noch an diesem Tag, am ersten, den wir im Maple White Land verbrachten, sollten wir zu spüren bekommen, welche Gefahren uns umgaben. Es war ein schauderhaftes Abenteuer, an das ich voll Abscheu zurückdenke. Falls uns die Lichtung der Riesenechsen später, wie Lord John gesagt hat, wie ein Traumbild vorkommen wird, dann wird uns der Sumpf mit den Pterodactylen mit Sicherheit wie eine Szene aus einem Alptraum verfolgen.

Lassen Sie mich genau beschreiben, was passiert ist.

Wir pirschten uns vorsichtig durchs Unterholz. Lord John ging wieder voran, unsere Professoren gingen immer wieder in die Knie, um hier ein Gewächs, dort ein Insekt zu inspizieren, das ihnen unbekannt war. So waren wir an die drei Meilen am rechten Ufer des Flüßchens entlanggegangen, als wir wieder zu einer diesmal viel größeren Lichtung kamen, die auf der uns gegenüberliegenden Seite in einen Gürtel von Buschwerk überging, der zu einem Hügel aus Geröll hinaufführte. Uns im Unterholz am Rande der Lichtung haltend, gingen wir auf den Gürtel zu, als wir plötzlich ein sonderbar schnatterndes, pfeifendes Geräusch hörten, das die Luft erfüllte.

Lord John machte uns ein Zeichen, duckte sich, lief wie ein Wiesel auf den Gürtel zu und kletterte im Schutz des Buschwerks die Anhöhe hinauf. Wir folgten ihm auf den Fersen. Oben angekommen, richtete sich Lord John ein wenig auf und spähte über den Rand. Es dauerte einen Moment, bis er uns an seine Seite winkte. Ich sah es ihm an, daß uns etwas höchst Außergewöhnliches, aber auch höchst Gefährliches erwartete.

Wir krochen neben ihn und spähten ebenfalls über den oberen Rand der Geröllhalde. Vor uns lag ein kleiner Krater, der auf seinem Grund, etwa hundert Meter von uns entfernt, flach war wie eine Schüssel. Tümpel mit abgestandenem, faulig grünem Wasser, Schilffüschel am Rand der Tümpel und Hunderte von Pterodactylen.

Wir waren auf den Nistplatz dieser scheußlichen Ungeheuer gestoßen. Weibchen, die auf ihren ledrigen gelben Eiern hockten und brüteten, und zwischen ihnen ein Gewimmel von Jungen, die unauftörlich schnatterten. Der Gestank, der zu uns aufstieg, war unbeschreiblich.

Und am oberen Rand des Kraters, jeder auf einem Stein für sich, hockten die Männchen, die von einer so vertrockneten, abstoßenden Scheußlichkeit waren, daß man es mit Worten nicht beschreiben kann. Nur aus dem Rollen ihrer hervorquellenden Augen und einem gelegentlichen Schnappen nach irgendeinem Insekt konnte man ersehen, daß sie nicht versteinert waren, sondern tatsächlich lebten. Die gewaltigen Hautflügel hatten sie mit verschränkten Vorderbeinen zusammengefaltet und wirkten wie riesige alte Weiber, die sich in einen mit Spinnweben überzogenen Schal gehüllt hatten. Insgesamt etwa tausend dieser ekelerregenden Kreaturen waren hier versammelt.

Unsere Professoren waren so fasziniert und studierten mit einer solchen Intensität diese Überbleibsel prähistorischen Lebens, daß sie am liebsten den ganzen Tag geblieben wären. Sie machten sich gegenseitig auf Reste von Fischen und Vögeln aufmerksam, die im Geröll herumlagen und offensichtlich die Nahrung dieser Kreaturen darstellten, und beglückwünschten sich gegenseitig, daß endlich die Frage gelöst war, warum in eng begrenzten Gebieten immer gleich haufenweise Skelette dieser Flugdrachen gefunden worden waren. Jetzt war bewiesen, daß sie wie die Pinguine in großen Scharen zusammenlebten.

Und so kam es, daß Challenger in seiner Besessenheit, dem Kollegen etwas zeigen zu wollen, den Kopf zu weit vorreckte und uns damit fast ins Unglück stürzte. Im selben Moment hatte auch schon eines der uns am nächsten hockenden Männchen einen schrillen Schrei ausgestoßen, schlug mit den Flügeln, die gut eine Spannweite von zwanzig Fuß hatten, und erhob sich in die Luft. Die Weibchen und die Jungen drängten sich eng zusammen, während sich die Männchen einer nach dem anderen in die Lüfte schwangen. Der Anblick war unglaublich. Gut hundert von diesen abscheulichen Kreaturen verdunkelten den Himmel und zogen Kreise, als wollten sie den Durchmesser der Gefahrenzone erforschen. Die Kreise wurden immer enger, die Drachen kamen immer weiter herunter, bis wir glaubten, das Dröhnen ihres Flügelschlages würde uns das Trommelfell sprengen.

»In den Wald und zusammenbleiben!« rief Lord John und brachte das Gewehr in Anschlag.

In der Sekunde, in der wir die Flucht ergreifen wollten, kreisten uns die Ungeheuer ein und kamen so nah an uns heran, daß ihre Flügelspitzen an unseren Gesichtern zu streifen drohten. Wir schlugen mit den Kolben unserer Gewehre nach ihnen, die Ungeheuer schienen es aber nicht zu spüren. Dann schoß plötzlich ein langer Hals aus dem Kreis wild schlagender Flügel hervor, und ein scharfer Schnabel hackte nach uns. Ein zweiter und ein dritter folgten diesem Beispiel. Summerlee stieß einen Schrei aus und schlug die Hände vor das blutende Gesicht. Ich spürte einen Schlag im Nacken, der so wuchtig war, daß mir schwindelig wurde. Challenger stürzte zu Boden. Als ich mich bückte und ihm auftelfen wollte, bekam ich den zweiten Schlag in den Nacken und fiel auf ihn. Im selben Moment hörte ich Lord Johns Büchse knallen und sah, wie eine der Kreaturen mit gebrochenem Flügel auf dem Boden herumkroch, den Schnabel weit aufgerissen, die blutunterlaufenen Augen auf uns gerichtet. Der Schuß hatte die anderen wieder weiter in die Lüfte hinaufgetrieben.

»Los!« schrie Lord John. »Weg von hier!«

Wir taumelten und stolperten über die Geröllhalde und hatten gerade den Rand des Unterholzes erreicht, als die Bestien erneut angriffen. Challenger bekam einen Schlag ins Genick und ging zu Boden, wir konnten ihn aber gerade noch rechtzeitig ins Gestrüpp ziehen.

Als wir uns zu unserem Lager zurückschleppten, übel zerschunden und erschöpft, sahen wir die Bestien noch geraume Zeit über unseren Köpfen kreisen. Sie flogen mittlerweile so hoch, daß sie nicht größer als Wildtauben aussahen. Nachdem wir dichter bewaldetes Gebiet erreicht hatten, gaben sie die Verfolgung schließlich auf.

»Ein interessantes und sehr lehrreiches Erlebnis«, meinte Professor Challenger, als wir am Bach Rast machten und er sein angeschwollenes Knie kühlte. »Jetzt sind wir über die Verhaltensweisen eines in Rage geratenen Pterodactylos bestens informiert.«

Professor Summerlee wischte sich das Blut von der Platzwunde an der Stirn, während ich mir mein Taschentuch um den Hals band. Das Ungeheuer hatte mir eine relativ große Stichwunde beigebracht, die zwar wenig blutete, dafür aber um so mehr schmerzte. Lord John war am besten weggekommen. Ihm hatte einer der Flugdrachen lediglich das Jackett zerrissen, die Haut an der bloßen Schulter aber nur leicht geritzt.

»Wir müssen also feststellen«, fuhr Professor Challenger fort, »daß unser junger Freund hier eine Stichwunde davongetragen hat, während Lord John lediglich eine leicht zerfetzte Jacke zu beklagen hat. Professor Summerlee ist an der Stirn verletzt, und mir haben sie mit den Flügeln auf den Kopf geschlagen, womit wir eine bemerkenswerte Demonstration ihrer Angriffsmethoden geliefert bekommen haben.«

»Wir sind gerade noch einmal mit dem Schrecken davongekommen«, sagte Lord John ernst. »Ich könnte mir einen schöneren Tod vorstellen, als von so einem Biest in Stücke gehackt zu werden. Es tut mir leid, daß ich mein Gewehr benutzen mußte, aber es blieb mir keine andere Wahl.«

»Wenn Sie es nicht getan hätten, wären wir nicht hier«, sagte ich, und es war meine feste Überzeugung.

»Möglicherweise hat es nicht einmal etwas geschadet«, sagte Lord John. »Hier in diesem Urwald kracht öfter einmal etwas. Zum Beispiel wenn ein Baum splittert oder umstürzt. Für heute, würde ich sagen, haben wir genug Aufregungen gehabt, und unser Bedarf an Spannung dürfte eigentlich gedeckt sein. Ich schlage daher vor, daß wir zum Lager zurückkehren und erst einmal die Wunden ordentlich behandeln. Wer weiß, was für Gift an den Schnäbeln dieser gräßlichen Viecher hängt.«

Unser Bedarf an Aufregung und Spannung war zwar wirklich mehr als gedeckt, als wir jedoch zu unserem Lager kamen, wartete die nächste Katastrophe auf uns.

Der mit Dornengebüsch verbarrikadierte Zugang zum Fort Challenger war unberührt, die stacheldrahtähnliche Umfriedung völlig intakt, aber trotzdem hatte in unserer Abwesenheit eine Kreatur, die Bärenkräfte haben mußte, verheerenden Schaden angerichtet.

Nicht ein Fußabdruck zu sehen, also mußte sie über die Äste des Gingkobaums gekommen und auf diesem Wege auch wieder verschwunden sein.

Unsere Habseligkeiten waren über den Boden verstreut. Die Büchsen lagen in der Gegend herum. Eine davon war aufgerissen und der Inhalt- es war Corned Beef gewesen - aufgefressen. Eine Munitionskiste war zu Kleinholz verarbeitet, der Metalldeckel total zerfetzt.

Schieres Entsetzen kroch uns über den Rücken. Mit ängstlichen Blicken spähten wir durch die dunklen Schatten, die uns umgaben und voll von neuen Gefahren sein konnten.

Als wir plötzlich die Stimme unseres treuen Zambo durch die Stille zu uns dringen hörten, war es uns, als rücke die Welt wieder in normale Bahnen. Wir liefen zum Rand des Plateaus, und da saß er gegenüber auf der Felszinne und grinste von einem Ohr zum anderen.

»Alles in Ordnung, Master Challenger, alles in Ordnung«, rief er. »Zambo hier bleiben. Keine Angst. Sie mich immer finden, wenn mich brauchen.«

Sein ehrliches schwarzes Gesicht und die Landschaft dahinter riefen uns ins Gedächtnis zurück, daß wir Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts waren, auf der Erde lebten und nicht auf einem Planeten der frühen Entstehungsgeschichte.

Trotzdem fiel es mir schwer, mir vorzustellen, daß sich hinter der violetten, verschwommenen Linie des Horizonts der Amazonas durch den Urwald wälzte, daß Schiffe auf diesem Strom fuhren und Menschen an seinen Ufern lebten, während wir von Kreaturen längst verflossener Zeitalter umgeben und bedroht waren.

Noch eine Erinnerung an diesen aufregenden Tag ist mir geblieben, und mit ihr will ich diesen Bericht abschließen. Unsere Professoren, durch ihre Verletzungen zweifellos noch gereizter als sonst, hatten sich wieder einmal in den Haaren und stritten sich, ob die Ungeheuer, die uns angegriffen hatten, zur Gattung Pterodactylus oder Dimorphodon gehörten. Da ich mir ihre Fachsimpelei nicht länger mit anhören wollte, setzte ich mich etwas abseits auf einen Baumstumpf und rauchte in aller Ruhe eine Pfeife, als auf einmal Lord John sich zu mir gesellte.

»Folgendes, Malone«, sagte er. »Erinnern Sie sich an das Loch, in dem diese ekelhaften Biester hockten?«

»Genau.«

»Das ist doch eine Art Krater, oder?«

»Ist anzunehmen.«

»Ist Ihnen die Bodenbeschaffenheit aufgefallen?«

»Ja - Felsgeröll.«

»Aber auf dem Grund des Kraters - da, wo die Binsen stehen.«

»Da war der Boden lehmig, aber dunkel. Nicht schwarz, sondern eigentlich blau.«

»Eben«, sagte Lord John. »Also handelt es sich um einen vulkanischen Trichter, der bis oben hin voll mit blauem Lehm ist.«

»Und was hat das zu bedeuten?« fragte ich.

»Ach nichts ... nichts.«

Und damit schlenderte Lord John zu den sich immer noch streitenden Wissenschaftlern zurück. Professor Challenger versuchte mit schriller Stimme gegen den sonoren Baß Professor Summerlees anzuschreien.

Ich hätte Lord Johns letzte Bemerkung vergessen, hätte ich sie an dem Abend nicht noch einmal gehört.

»Blauer Lehm«, murmelte er wie zu sich selbst vor sich hin, »ein vulkanischer Trichter, bis oben hin voll.«

Ich hatte seine Worte noch in den Ohren, als ich in einen tiefen Schlaf der Erschöpfung sank.

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