9 Wer hätte das voraussehen können?

Etwas Schreckliches ist geschehen. Wer hätte das voraussehen können? Das Ende unserer Notlage ist nicht abzusehen. Wir sind möglicherweise dazu verurteilt, den Rest unseres Lebens an diesem seltsamen, unzugänglichen Ort zu verbringen. Ich bin noch dermaßen verwirrt, daß ich weder unsere gegenwärtige Situation noch unsere Aussichten für die Zukunft ganz überschauen kann. Meinen betäubten Sinnen erscheint beides äußerst gefährlich und schwarz wie die Nacht.

Noch nie hat sich jemand in einer schlimmeren Lage befunden. Es wäre nutzlos, unsere genaue geografische Position anzugeben und unsere Freunde um Entsendung einer Rettungsexpedition zu bitten. Selbst wenn Hilfe käme, wäre aller menschlichen Voraussicht nach unser Schicksal schon lange vor ihrem Eintreffen besiegelt.

Wir sind von menschlicher Hilfe ebenso weit entfernt, wie wenn wir uns auf dem Mond befänden. Sollte es uns vergönnt sein, durchzukommen, so kann uns das nur aus eigener Kraft gelingen. Ich habe drei hervorragende Männer als Leidensgenossen, Männer mit gesundem Verstand und unerschütterlichem Mut. Solange ich auf die zuversichtlichen Gesichter meiner Kameraden blicke, erhellt sich die Finsternis für mich etwas. Ich kann nur hoffen, daß ich äußerlich ebenso unbekümmert wirke wie sie. Insgeheim aber bin ich voller Furcht.

Ich will jedoch die Ereignisse, die zu dieser Katastrophe geführt haben, der Reihe nach und in allen Einzelheiten erzählen. Mein letzter Brief schloß mit der Feststellung, daß wir sieben Meilen vor einer Linie rotbrauner Klippen lagerten, hinter denen zweifellos jenes Plateau liegt, von dem Professor Challenger erzählt hatte. Beim Näherkommen erschienen sie mir teilweise noch höher, als er angegeben hatte - einzelne Abschnitte ragten wenigstens tausend Fuß hoch auf, und waren auf eine sonderbare, meines Wissens für Basaltformationen charakteristische Art gestreift. Auf der Oberkante üppiger Pflanzenwuchs, mit Büschen dicht am Rande und vielen hohen Bäumen dahinter. Von Lebewesen war nichts zu sehen.

An diesem Abend schlugen wir unser Lager unmittelbar am Fuß der Klippen auf - an einer wüsten und verlassenen Stelle. Die Felsen über uns stiegen nicht nur senkrecht auf, sondern hingen stellenweise sogar über, so daß an ein Klettern nicht zu denken war. Ganz in unserer Nähe stand eine hohe dünne Felsenzinne. Sie wirkte wie ein roter Kirchturm. Ihre Spitze lag mit dem Plateau auf gleicher Höhe. Dazwischen aber gähnte ein tiefer Abgrund. Auf ihrer Spitze stand ein hoher Baum. Sowohl der Turm als auch der vor uns liegende Abschnitt der Klippen war verhältnismäßig niedrig - nach meiner Schätzung allenfalls fünf- bis sechshundert Fuß.

»Da droben«, sagte Professor Challenger und zeigte auf den Baum, »hockte der Pterodactylos. Ich bin den halben Felsen hinaufgeklettert, um ihn zu schießen. Es ist anzunehmen, daß ein guter Bergsteiger wie ich sich bis zur Spitze hinaufarbeiten kann. Damit käme er allerdings dem Plateau um keinen Schritt näher.«

Als Challenger von seinem Pterodactylos sprach, beobachtete ich Professor Summerlee. Zum erstenmal glaubte ich, gewisse Anzeichen für eine au&eimende Überzeugung und ein schlechtes Gewissen zu bemerken. Auf seinen dünnen Lippen fehlte das sonst ständig zur Schau getragene verächtliche Lächeln. Sein Gesicht war gespannt, erregt und erstaunt. Challenger merkte es natürlich sofort und kostete den Vorgeschmack seines Sieges voll aus.

»Natürlich«, sagte er spöttisch, »Professor Summerlee weiß, daß ich einen Storch meine, wenn ich von einem Pterodactylos spreche. Aber diese Art Storch hat keine Federn, sondern eine lederartige Haut, membranartige Flügel und Zähne im Schnabel.« Er grinste, zwinkerte und verbeugte sich, bis Professor Summerlee sich umdrehte und davonstapfte.

Am nächsten Morgen, nach einem kärglichen Frühstück, das nur aus Kaffee und Maniok bestand - wir mußten mit unseren Vorräten sparen -, hielten wir Kriegsrat und berieten, wie wir am besten auf das Plateau gelangen könnten.

Challenger führte den Vorsitz mit einer Feierlichkeit, als wäre er der Oberste Richter persönlich. Man muß ihn sich vorstellen, wie er auf einem Felsen thronte, seinen komischen Kinderstrohhut ins Genick geschoben. Seine hochmütigen Augen unter den gesenkten Lidern blickten auf uns herab, und sein großer Bart wackelte, während er uns bedächtig unsere gegenwärtige Lage und seine Pläne auseinandersetzte.

Zu seinen Füßen wir drei - ich, jung, sonnenverbrannt und von unserem Fußmarsch in frischer Luft gekräftigt. Summerlee, schweigsam, in den Dunst seiner unvermeidlichen Pfeife gehüllt. Lord John, scharf wie ein Rasiermesser, die elastische, wachsame Gestalt auf die Flinte gestützt, die Adleraugen aufmerksam auf den Sprecher geheftet. Hinter uns die beiden dunkelhäutigen Indianer, während vor uns die gewaltigen rotbraunen Felsklippen aufragten, die uns den Zugang zu unserem Ziel verwehrten.

»Ich brauche wohl nicht zu erwähnen«, sagte Professor Challenger, »daß ich damals auf jede mögliche Art versucht habe, die Klippen zu ersteigen. Ich hatte keinerlei Hilfsmittel für das Klettern im Fels bei mir, habe jedoch diesmal vorsorglich alles Notwendige mitgebracht. So bin ich sicher, diese einzelne Zinne bis zur Spitze ersteigen zu können. Da aber die Hauptklippen so weit überhängen, ist jeder Aufstiegsversuch an ihnen aussichtslos. Bei meinem letzten Besuch wurde ich durch die nahende Regenzeit zur Eile getrieben. Meine Zeit war begrenzt, und ich konnte die Klippen nur bis etwa sechs Meilen nach Osten hin untersuchen, aber keinen Weg nach oben finden. Was sollen wir demnach jetzt unternehmen?«

»Es scheint nur einen vernünftigen Weg zu geben«, sagte Professor Summerlee. »Wenn Sie den Osten erforscht haben, sollten wir am Fuß der Klippen nach Westen gehen und dort nach einem geeigneten Punkt für unseren Aufstieg suchen.«

»Ganz meine Meinung«, sagte Lord John. »Alles spricht dafür, daß dieses Plateau keine sehr große Ausdehnung hat. Wir werden an ihm entlanggehen, bis wir entweder einen leichten Weg nach oben entdecken oder an unseren Ausgangspunkt zurückkommen.«





»Ich habe unserem jungen Freund hier bereits erklärt«, sagte Challenger - er pflegt von mir zu sprechen, als ob ich ein zehnjähriges Schulkind wäre -, »daß es ausgeschlossen ist, irgendwo einen leichten Weg nach oben zu finden. Und zwar aus dem einfachen Grund, weil in diesem Falle das Plateau nicht von der Außenwelt abgeschnitten und damit die Voraussetzungen nicht gegeben wären, die dazu geführt haben, daß die allgemein gültigen Gesetze der Evolution außer Kraft gesetzt wurden. Ich gebe aber zu, daß es durchaus Stellen geben könnte, an denen ein tüchtiger Mann nach oben gelangen, ein schwerfälliges, riesiges Tier jedoch nicht herunterkommen könnte. Es ist sogar ganz sicher, daß es einen Punkt gibt, wo ein Aufstieg möglich ist.«

»Und woher wollen Sie das wissen?« fragte Summerlee scharf.

»Weil meinem Vorgänger, dem Amerikaner Maple White, ein solcher Aufstieg gelungen ist. Wie könnte er das Ungeheuer, das er in seinem Heft skizziert hat, sonst gesehen haben?«

»Da eilen Sie mit Ihren Schlußfolgerungen den bewiesenen Tatsachen aber weit voraus«, sagte der hartnäckige Summerlee. »Ihr Plateau erkenne ich an, weil ich es gesehen habe. Aber bisher habe ich mich noch keineswegs davon überzeugen können, daß es dort tierisches Leben in irgendeiner Form gibt.«

»Was Sie anerkennen und was Sie nicht anerkennen, mein lieber Herr Kollege, ist von unvorstellbar geringer Bedeutung. Ich freue mich allerdings, das gebe ich zu, daß Ihnen wenigstens das Plateau nicht entgangen ist.« Er deutete hinauf, sprang im selben Augenblick von seinem Felsblock, packte Summerlee am Genick und drehte ihm das Gesicht nach oben. »Da!« schrie er aufgeregt. »Sehen Sie jetzt nicht vielleicht mit eigenen Augen, daß es da droben tierisches Leben gibt?«

Aus dem dicken Saum grüner Vegetation, die über den Rand der Klippen hing, löste sich etwas dunkel Schillerndes, kam langsam weiter nach vorn und hing schließlich frei über dem Abgrund. Ich brauchte einen Moment, bis ich wußte, daß mich meine Augen nicht trogen. Es war eindeutig eine Schlange. Eine riesige Schlange mit einem plattgedrückten, spatenförmigen Kopf. Ungefähr eine Minute lang wand und ringelte sie sich über unseren Köpfen, dann glitt sie wieder zurück und war aus unserem Blickfeld verschwunden.

Summerlee, der wie hypnotisiert nach oben gestarrt hatte, schüttelte erst jetzt Professor Challengers Hände ab und plusterte sich sofort auf.

»Ich wäre Ihnen zu großem Dank verbunden, werter Herr Kollege«, sagte er, »wenn Sie Ihre Feststellungen in Zukunft verbal mitteilen und es unterlassen könnten, mich körperlich zu belästigen. Das plötzliche Auftauchen einer ganz gewöhnlichen Felspythonschlange rechtfertigt kaum ein derart flegelhaftes Benehmen.«

»Trotzdem gibt es da droben tierisches Leben«, sagte der Professor triumphierend. »Und da diese bedeutsame Tatsache nun bewiesen ist, schlage ich vor, daß wir das Lager abbrechen und nach Westen wandern, bis wir eine geeignete Aufstiegsmöglichkeit gefunden haben.«

Der Boden am Fuße der Klippen war felsig und uneben, und wir kamen nur langsam und unter Schwierigkeiten voran. Plötzlich stießen wir jedoch auf etwas, was unsere Herzen höher schlagen ließ. Es war ein verlassener Lagerplatz. Einige leere Büchsen einer Fleischfabrik aus Chicago lagen herum, eine leere Cognacflasche, ein abgebrochener Büchsenöffner und weitere Abfälle. Eine zerrissene, zerknitterte Zeitung ließ sich gerade noch als eine Ausgabe des Chicago Democrat identifizieren. Das Datum war leider nicht mehr feststellbar.

»Von mir stammt der Abfall nicht«, sagte Challenger. »Also stammt er von Maple White.«

Lord John, der damit beschäftigt gewesen war, den Baumfarn zu untersuchen, der den Lagerplatz beschattete, bat um unsere Aufmerksamkeit. »Schauen Sie sich das an«, sagte er. »Ich halte das für eine Wegmarkierung.«

Er deutete auf ein Stück Holz, das in einem nach Westen weisenden Winkel an den Stamm des Farns genagelt war.

»Natürlich ist das eine Wegmarkierung«, knurrte Professor Challenger. »Was denn sonst? Wenn man sich auf gefährlichen Pfaden befindet, hat man größtes Interesse daran, eventuell nachfolgenden Gruppen ein Zeichen zu hinterlassen. Vielleicht stoßen wir noch auf weitere Anhaltspunkte.«

Dies war der Fall, aber sie waren von schrecklicher und völlig unerwarteter Art. Der untere Rand der Felswand war von einem Bambusdickicht überwuchert, das dem glich, welches wir auf unserem Marsch hatten durchqueren müssen. Die Rohre waren bis zu zwanzig Fuß hoch und hatten scharfe, kantige Spitzen. Als wir an diesem Dickicht entlanggingen, fiel mein Blick zufällig auf etwas Weißes. Ich betrachtete es näher und mußte entsetzt feststellen, daß es sich um den Schädel eines Menschen handelte. Das Skelett, von dem er sich gelöst hatte, lag einen Meter weiter vom Wegrand entfernt.

Mit ein paar Machetehieben legten unsere Indianer die Stelle frei, und so konnten wir die Einzelheiten dieser lange zurückliegenden Tragödie studieren. Nur noch ein paar Stoffetzen waren zu erkennen, an den Fußknochen Reste von Stiefeln, an den Unterarmknochen hing eine Armbanduhr, Marke Hudson, New York. Wir fanden außerdem noch einen silbernen Drehbleistift und ein silbernes Zigarettenetui, auf dessen Deckel Für F. C. von A.E.S. eingraviert war.

»Wer das wohl gewesen sein mag?« sagte Lord John. »Armer Teufel. Jeder einzelne Knochen gebrochen.«

»Und der Bambus wächst zwischen seinen zerschmetterten Rippen durch«, stellte Professor Summerlee fest. »Er gehört zu den schnell wachsenden Pflanzen, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß die Leiche schon so lange hier liegt, wie die Rohre gebraucht haben, eine Höhe von über zwanzig Fuß zu erreichen.«

»Bezüglich der Identität des Mannes gibt es für mich nicht den geringsten Zweifel«, sagte Professor Challenger. »Auf meinem Weg den Fluß hinauf zur Fazenda, wo ich zu Ihnen gestoßen bin, habe ich alle nur möglichen Ermittlungen über Maple White angestellt. In Para wußte niemand etwas. Zum Glück hatte ich einen festen Anhaltspunkt, denn in seinem Zeichenheft ist eine Skizze, die ihn beim Mittagessen mit einem Geistlichen zeigt. Aus der Randbemerkung unter der Skizze wußte ich, daß der Geistliche in Rosario lebt. Ihn zu finden war kein Problem, ihn zu besänftigen - ich hatte dummerweise angedeutet, daß die moderne Wissenschaft eine zersetzende Wirkung auf seinen Glauben habe - wie gesagt, ihn zu besänftigen war dagegen nicht so leicht. Wie dem auch sei, er hat mir schließlich doch sehr wertvolle Informationen geliefert.«

»Nämlich?« drängte ich.

»Hetzen Sie mich nicht, junger Mann«, tadelte mich der Professor. »Ich erfuhr, daß Maple White vor vier Jahren durch Rosario gekommen ist, also zwei Jahre bevor ich in dem Indianerdorf nur noch seinen Tod feststellen konnte. White war nicht allein, sondern in Begleitung eines Amerikaners namens James Colver, der jedoch auf dem Boot geblieben war, während White den Priester aufgesucht hatte. Ich glaube, es besteht also nicht der geringste Zweifel, daß das hier ...« - er deutete auf das Skelett - »die sterblichen Überreste dieses James Colver sind.«

»Und über die Art, wie er ums Leben gekommen ist«, sagte Lord John, »besteht meiner Meinung nach auch kein Zweifel. Er ist von den Klippen gestürzt oder über ihren Rand gestoßen worden. Daher die schrecklichen Knochenbrüche und die Bambusrohre zwischen seinen Gebeinen.«

Jedem von uns war klar, daß Lord John recht hatte. Beklommenes Schweigen folgte auf seine Worte. Eine unausgesprochene Frage quälte jeden einzelnen von uns. War James Colver das Opfer eines Unfalls geworden oder ...

Unheilvolle, schreckliche Vermutungen umwoben bereits das unerforschte Land, das zu erkunden wir uns vorgenommen hatten.

Schweigend setzten wir unseren Weg fort.

Auf den nächsten fünf Meilen sahen wir weder Riß noch Spalte in der Felswand. Dann jedoch stießen wir auf etwas, das uns mit neuer Hoffnung erfüllte. In einer von Regen und Witterung geschützten Höhlung entdeckten wir einen Kreidepfeil, der nach Westen zeigte.

»Wieder von Maple White«, sagte Professor Challenger. »Er scheint geahnt zu haben, daß man irgendwann seine Spur verfolgen wird.«

»Und wo hatte er die Kreide her?« fragte Professor Summerlee.

»Er hatte eine ganze Schachtel voll verschiedenfarbiger Kreiden bei sich«, erklärte Challenger. »Ich habe sie unter seinen wenigen Habseligkeiten gefunden und erinnere mich noch genau, daß die weiße bis auf einen kleinen Stummel abgenützt war.«

»Aha«, sagte Summerlee. »Dann scheint es mir angebracht zu sein, seine Anweisungen zu befolgen und weiter nach Westen vorzustoßen.«

Nach einer Strecke von weiteren fünf Meilen stießen wir auf den nächsten Kreidepfeil. Er war an einer Stelle auf den Felsen gemalt, wo dieser zum erstenmal aufgerissen war. Die Pfeilspitze deutete in die Spalte hinein und war leicht nach oben gerichtet.

Ein bedrückender Ort. Steile Felswände, weit oben ein schmaler Streifen Himmel, der durch überhängenden Pflanzenwuchs fast verdeckt war. Nur wenig Licht drang dadurch auf den Grund.

Wir hatten seit Stunden nichts gegessen und waren durch den Marsch über das felsige, unwegsame Gelände erschöpft, unsere Nerven waren jedoch so angespannt, daß wir uns noch keine Rast gönnen wollten. Wir befahlen daher den Indianern, das Nachtlager aufzuschlagen, während wir vier mit den beiden Mestizen zusammen in die enge Schlucht stiegen.

An ihrem Zugang war sie nicht breiter als vierzig Fuß, wurde bei jedem Schritt schmaler und endete schließlich in einem spitzigen Winkel aus nackten, glatten Felswänden, die unüberwindbar waren.

»Der Pfeil muß etwas anderes bedeuten«, sagte Lord John, und alles nickte nachdenklich.

Wir kehrten um und gingen zurück - die Felsspalte war kaum eine Viertelmeile tief -, als Lord John mit scharfem Blick das entdeckte, was wir suchten. Hoch über unseren Köpfen hob sich inmitten tiefer Schatten ein Kreis von einem noch tieferen Dunkel ab. Es konnte nur der Zugang zu einer Höhle sein.

Direkt darunter lag ein Haufen losen Gerölls. Wir kletterten hinauf, und der letzte Zweifel schwand. Wir befanden uns nicht nur vor dem Eingang einer Höhle, sondern entdeckten einen weiteren Kreidepfeil, der in das Innere der Höhle deutete.

Hier also waren Maple White und sein unglückseliger Freund James Colver in die Felswand eingestiegen.

Wir waren zu aufgeregt, um zum Lager zurückzukehren, und wollten sofort mit unseren Nachforschungen beginnen. Lord John hatte eine elektrische Taschenlampe im Rucksack, die uns als Lichtquelle genügen mußte. Er ging voran, während wir ihm auf den Fersen folgten.

Offenbar war die Höhle durch Wasser ausgespült worden. Ihre Wände waren glatt und der Boden mit runden Steinen bedeckt. Ein Mensch konnte gerade noch in gebückter Haltung hindurchkommen. Fünfzig Meter weit lief sie fast geradlinig in den Felsen hinein und stieg dann in einem Winkel von fünfundvierzig Grad an. Sehr bald wurde dieser Anstieg noch steiler, und wir krochen auf Händen und Knien über loses Geröll, das unter uns nachgab und abrutschte.

Plötzlich ein enttäuschter Ausruf von Lord John Roxton.

»Hier geht’s nicht weiter!«

Wir drängten uns hinter ihn und sahen im gelben Lichtschein der Taschenlampe eine Mauer aus zerbrochenem Basalt, die bis zur Decke reichte.

»Das Dach ist eingestürzt!«

Wir zerrten einige Brocken heraus. Der Erfolg war, daß sich größere Stücke lockerten und drohten, den Abhang herunterzurollen und uns zu zermalmen. Es wurde uns klar, daß wir mit unseren Mitteln nichts ausrichten konnten. Maple Whites Aufstieg konnten wir nicht mehr benutzen.

Niedergeschlagen und wortlos stolperten wir den dunklen Tunnel wieder hinab und machten uns auf den Weg zum Lager.

Ehe wir die Schlucht verlassen hatten, ereignete sich jedoch ein Zwischenfall, der im Hinblick auf die späteren Geschehnisse von Bedeutung war.

Wir hatten uns gerade auf dem Grunde der Schlucht versammelt, etwa vierzig Fuß unterhalb der Höhlenöffnung, als plötzlich ein gewaltiger Felsblock herabgerollt kam und mit unheimlicher Wucht an uns vorbeischoß. Er verfehlte uns nur um Haaresbreite. Woher er gekommen war, konnten wir nicht erkennen. Aber die Mestizen, die noch am Höhleneingang waren, sagten, daß er an ihnen vorbeigeflogen wäre und deshalb von oben heruntergefallen sein müßte.

Wir blickten hoch, konnten aber im Dschungel auf den Klippen keinerlei Bewegung entdecken. Trotzdem zweifelte niemand daran, daß der Steinbrocken uns gegolten hatte und sich demzufolge Menschen auf dem Plateau befinden mußten.

Wir zogen uns eilig aus der Schlucht zurück. Jeder hing seinen eigenen düsteren Gedanken nach. Die Lage erschien ohnehin schwierig genug. Wenn nun zu den natürlichen Hindernissen zu allem Überfluß noch menschlicher Widerstand hinzukam, war unsere Lage aussichtslos. Dennoch gab es nicht einen unter uns, der nach London zurückkehren wollte, bevor wir das Plateau restlos erforscht hatten.

Wir erörterten die Situation und kamen zu dem Schluß, am besten die Umgehung des Plateaus weiter fortzusetzen. Dabei hoffien wir, noch eine andere Möglichkeit zu entdek-ken, um hinaufzukommen. Die Klippen, die hier beträchtlich niedriger waren, bogen jetzt von Westen nach Norden ab. Wenn das Plateau rund war, konnte sein Gesamtumfang nicht allzu groß sein. Schlimmstenfalls würden wir in ein paar Tagen wieder an unseren Ausgangspunkt zurückkehren.

An diesem Tag marschierten wir insgesamt zweiundzwanzig Meilen, ohne etwas Neues zu entdecken. Der Höhenmesser zeigte an, daß wir uns nun dreitausend Fuß über dem Meeresspiegel befanden. Damit erklärte sich auch der Unterschied in Temperatur und Pflanzenwuchs. Die schreckliche Insektenplage, diesen Fluch der Tropen, waren wir endlich los. Vereinzelt ein paar Palmen, sonst Baumfarne. Die Riesenbäume des Amazonasgebiets lagen endgültig hinter uns. Inmitten dieser unwirtlichen Felsen blühten Passionsblumen und Begonien, die uns wie ein Gruß der Heimat erschienen.

An jenem Abend - ich spreche immer noch vom ersten Tag unserer Rundreise um das Plateau - erwartete uns noch ein bedeutendes Erlebnis. Ein Erlebnis, das endgültig den letzten Zweifel an den wunderbaren Dingen, die uns greifoar nahegerückt waren, beseitigte.

Wenn Sie dies lesen, lieber Mr. McArdle, werden Sie vielleicht zum erstenmal erkennen, daß es sich hier nicht etwa um ein fruchtloses Unterfangen handelt, sondern daß zugkräftige Schlagzeilen und ein zündender Bericht zu erwarten sind, sobald wir Professor Challengers Erlaubnis zur Veröffentlichung haben. Und ich werde diesen Artikel nur dann veröffentlichen, wenn es mir gelingt, stichhaltige Beweise mit nach England zu bringen. Ich möchte nicht in den Verruf kommen, Lügen zu verbreiten. Auch Sie werden den guten Ruf der Gazette wegen dieses Abenteuers nicht aufs Spiel setzen wollen, ehe wir dem Chor von Kritikern und Ungläubigen, der notwendigerweise laut würde, entsprechend begegnen können. Also muß diese Begebenheit, die ich jetzt schildern werde und die tolle Schlagzeilen machen könnte, noch in der Redaktionsschublade liegen bleiben.

Folgendes: Lord John hatte ein Ajouti geschossen - das ist ein kleines, unserem Schwein ähnliches Tier. Nachdem wir die Hälfte davon den Indianern gegeben hatten, kochten wir unsere Hälfte auf dem Feuer. Die Luft war nach Einbruch der Dunkelheit kühl, und wir waren alle nahe an die Flammen gerückt. Der Mond stand noch nicht am Himmel, aber im Schein der Sterne konnte man die Ebene ein kleines Stück weit überblicken. Plötzlich stieß etwas Riesiges schwirrend aus der Dunkelheit hernieder.

Unsere Gruppe saß für einen Augenblick unter einem Baldachin aus ledernen Flügeln. Ich hatte eine blitzartige Vision von einem langen, schlangenartigen Hals, einem wilden, gierigen, roten Auge und einem großen, zuschnappenden Schnabel, der zu meiner Überraschung mit kleinen, blinkenden Zähnen besetzt war. Im nächsten Augenblick war das unheimliche Wesen wieder fort - und mit ihm unsere Mahlzeit. Ein gewaltiger schwarzer Schatten von zwanzig Fuß Durchmesser schwang sich in die Luft hinauf. Einen Moment lang verdeckten die ungeheuren Flügel die Sterne, und dann verschwand es hinter dem Rand der Klippen über uns. Wir alle saßen wie erstarrt da und blickten uns erschrocken an. Summerlee fand als erster die Sprache wieder.

»Professor Challenger«, sagte er mit feierlicher Stimme, »ich muß Sie um Verzeihung bitten. Ich war sehr im Unrecht, und ich bitte Sie, das Vergangene zu vergessen.«

Die beiden Männer reichten sich zum erstenmal die Hand, was dem Erscheinen unseres ersten Pterodactylos zuzuschreiben war. Zwei solche Männer zusammenzuführen, war wohl mit einem gestohlenen Abendessen nicht zu teuer bezahlt.

Aber das vorgeschichtliche Leben, dessen Existenz auf dem Plateau für uns nun erwiesen war, konnte keineswegs im Überfluß vorhanden sein. Während der nächsten drei Tage bekamen wir nichts mehr davon zu Gesicht. In dieser Zeit durchquerten wir eine unfruchtbare und öde Gegend auf der Nord- und Ostseite der Klippen, die teils aus Felswüste, teils aus einsamen Moorflächen voller Wildvögel bestand. Hier war das Plateau bestimmt unzugänglich, und hätte es nicht direkt an der Basis der Felswand eine feste Kante gegeben, so hätten wir umkehren müssen. Mehrere Male steckten wir bis zum Gürtel im Schlamm eines Sumpfes. Obendrein schien dieser Ort ein beliebter Brutplatz der Jaracara-Schlange zu sein, der angriffslustigen und gefährlichsten Giftschlange Südamerikas. Immer wieder krochen und zischten diese schrecklichen Kreaturen über die Oberfläche des fauligen Morastes auf uns zu. Nur mit ständig schußbereit gehaltenem Gewehr fühlten wir uns vor ihnen einigermaßen sicher.

Eine trichterförmige, von faulendem Moos blaßgrün gefärbte Bodenvertiefung werde ich zeitlebens nicht vergessen. Sie muß ein besonders bevorzugter Aufenthaltsort dieses Natterngezüchts gewesen sein. Ihre Hänge wimmelten von Schlangen, die alle auf uns zugekrochen kamen. Es ist eine Eigenart der Jaracara, Menschen anzugreifen, ohne von ihnen auf irgendeine Art belästigt oder angegriffen worden zu sein. Zum Erschießen waren es zu viele. So ergriffen wir die Flucht und rannten, bis wir nicht mehr konnten. Nie werde ich vergessen, wie wir beim Zurückblicken noch weit hinter uns die Köpfe und Hälse unserer Verfolger zu Dutzenden auf- und niederwogen sahen. Auf unserer Karte bezeichneten wir diese Stelle als Jaracara-Sumpf.

Die Klippen hatten ihre rötliche Färbung verloren und waren nun schokoladenbraun. Die Vegetation war spärlicher geworden und die Höhe der Felskante auf drei- oder vierhundert Fuß abgesunken. Aber an keiner Stelle konnten wir einen Punkt entdecken, von dem aus sich ein Aufstieg versuchen ließ.

»Es muß doch irgendwie Wasserrinnen in den Felsen geben«, sagte ich bei unserer Lagebesprechung. »Irgendwo muß das Regenwasser abfließen.«

»Unser junger Freund hat lichte Momente«, meinte Professor Challenger darauftin und klopfte mir wohlwollend auf die Schulter.

»Irgendwo muß das Regenwasser doch abfließen«, wiederholte ich.

»Normalerweise schon«, sagte Professor Challenger. »Leider konnten wir aber aller Logik zum Trotz keine Wasserrinnen entdecken.«

»Wo bleibt dann das Regenwasser?« fragte ich.

»Wenn es nicht nach außen ablaufen kann, dann wird es wohl nach innen ablaufen.«

»Demnach müßte es auf dem Plateau einen See geben.«

»Das ist anzunehmen.«

»Und es ist weiterhin anzunehmen«, sagte Professor Summerlee, »daß sich das Wasser in einem alten Krater sammelt, denn die Formation dieser Landschaft ist weitgehend vulkanischen Ursprungs. Ich nehme an, daß das Plateau zu seiner Mitte hin abschüssig ist und sich dort ein großes Wasserbecken befindet, das einen unterirdischen Ablauf hat, der sich möglicherweise in den Jaracara-Sumpf ergießt.«

»Oder der Ausgleich geschieht durch Verdunstung«, sagte Challenger, worauftin die beiden Gelehrten innerhalb von Sekunden in eine ihrer üblichen wissenschaftlichen Diskussionen verwickelt waren, bei denen Lord John und ich passen mußten.

Am sechsten Tag hatten wir den Rundmarsch um das Felsplateau hinter uns und erreichten wieder unseren Lagerplatz an der freistehenden Felsenzinne. Wir hatten das Gelände mit einer Genauigkeit durchforscht, die nicht zu überbieten war, hatten aber nirgends eine Stelle entdecken können, an der ein Aufstieg möglich gewesen wäre, und dieses Ergebnis war mehr als deprimierend. Und durch die Schlucht einzusteigen, wie es Maple White offensichtlich getan hatte, das kam nicht in Frage - darüber waren wir uns einig.

Was sollten wir tun? Über unsere Vorräte an Proviant machten wir uns zu dem Zeitpunkt noch keine Gedanken. Wir hatten auf unserem Weg alles Genießbare erlegt, was uns vor den Lauf unserer Flinten gekommen war, und hatten dadurch wenig Konserven verbraucht. Trotzdem würde der Tag kommen, wo auch diese zur Neige gingen. Dazu kam, daß in sechs bis acht Wochen die Regenzeit beginnen und unser Lager wegschwemmen würde. Der Felsen war hart wie Marmor, und wir versuchten nicht einmal, Stufen hineinschlagen zu wollen. Weder die Zeit noch unsere Geräte reichten aus, auf diese Weise die Felsen bezwingen zu wollen.

Kein Wunder also, daß an jenem Abend die Stimmung auf den Nullpunkt gesunken war und wir in unsere Decken krochen, ohne viel gesprochen zu haben.

Als mir die Augen zufielen, saß Professor Challenger noch am Feuer und war tief in Gedanken versunken. Er hatte nicht einmal mit dem Kopf genickt, als ich ihm eine gute Nacht gewünscht hatte. Wahrscheinlich hatte er es gar nicht gehört.

Am nächsten Morgen jedoch war er wie verwandelt. Er war die Zufriedenheit und Zuversicht in Person. Beim Frühstück mimte er den Mann, der sich ständig in Bescheidenheit übt, aber sein energisch nach vorn gerecktes Kinn, die geschwellte Brust bewiesen, daß der Schein trog.

Wie Napoleon steckte er eine Hand in seine Jacke und sah uns herausfordernd an. »Meine Herren«, sagte er. »Sie können mir gratulieren, und wir können uns gegenseitig beglückwünschen. Das Problem ist gelöst.«

»Heißt das, daß Sie eine Möglichkeit gefunden haben, auf das Plateau zu kommen?«

»Jawohl - das heißt es.«

»Und wie?«

Wortlos deutete Professor Challenger auf die kirchturmartige Felszinne, an deren Fuß wir kampierten.

Wir blickten an ihr hoch, und unsere Gesichter wurden länger und länger. Der Fels mochte tatsächlich zu erklimmen sein, aber zwischen ihm und der Felswand gähnte ein unüberwindbarer Abgrund.

»Da kommen wir doch nie rüber«, sagte ich.

»Aber rauf können wir erst einmal«, sagte der Professor. »Und wenn wir droben sind, dann kann ich Ihnen vielleicht beweisen, daß ein erfinderischer Geist Unmögliches möglich machen kann.«

Nach dem Frühstück wurde Professor Challengers Kletterausrüstung ausgepackt. Ein starkes, leichtes Seil von hundertfünfzig Fuß Länge, Steigeisen, Haken und anderes Gerät kamen zum Vorschein.

Lord John war ein erfahrener Bergsteiger, und auch Professor Summerlee hatte schon so manche schwierige Gebirgstour hinter sich, womit ich der einzige war, der keine Erfahrung auf diesem Gebiet hatte und sich lediglich auf seine Kondition und Geschicklichkeit verlassen mußte.

So schwierig war es eigentlich gar nicht, wobei es jedoch Momente gegeben hat, wo mir die Haare zu Berge gestanden sind. Die erste Hälfte war problemlos, doch dann wurde der Felsen immer steiler, bis wir uns bei den letzten fünfzig Fuß buchstäblich mit Fingern und Zehen an winzigen Vorsprüngen und Spalten festklammern mußten. Wenn Challenger den Gipfel nicht erreicht und dort das Seil an den Stamm des Baumes befestigt hätte, wären Professor Summerlee und ich kurz vor dem Ziel hängen geblieben. Doch mit Hilfe des Seils gelang es uns, das letzte Stück Steilwand zu überwinden, und so standen auch wir schließlich auf der kleinen, grasbewachsenen Fläche von höchstens fünfundzwanzig Fuß Durchmesser.

Der Ausblick über das Land, das wir durchquert hatten, war ungemein überwältigend. Die ganze brasilianische Ebene schien unter uns zu liegen und sich bis ins Unendliche auszudehnen, bis sie sich schließlich am Horizont in blauen Dunst auflöste. Im Vordergrund der langgestreckte, mit Felsbrocken und Baumfasern gespickte Hang, im Mittelfeld, noch eben über dem Rücken des Hügels sichtbar, das Bambusdickicht, durch das wir uns gearbeitet hatten. Dahinter wurde die Vegetation immer reicher, bis sie sich schließlich zum Urwald verdichtete, der sich so weit erstreckte, wie das Auge reichte.

Fasziniert betrachtete ich dieses Panorama, als mir plötzlich Professor Challenger eine Hand auf die Schulter legte.

»Umdrehen, junger Mann«, sagte er. »Nie zurückblik-ken, sondern immer nach vorn auf das glorreiche Ziel.«

Ich drehte mich um und fand mich auf gleicher Höhe mit der Oberkante des Plateaus. Die grüne Fläche aus Gebüsch und vereinzelten Bäumen war so nah, daß es unbegreiflich schien, wie unerreichbar dieses Land nach wie vor für uns war, doch an die vierzig Fuß trennten uns davon. Ich hielt mich an dem Baumstamm fest und beugte mich über den Abgrund. Tief unter mir die Gestalten unserer Lastenträger. Sie blickten zu uns herauf. Die Wand unter mir fiel senkrecht ab, genau wie die Klippen gegenüber.

»Das ist wirklich sehr, sehr merkwürdig«, sagte Professor Summerlee mit knarrender Stimme.

Ich drehte mich um und sah, daß er mit großem Interesse den Baum betrachtete, an dem ich mich festhielt. Die glatte Rinde und die gerippten Blätter kamen mir bekannt vor.

»Wenn das keine Buche ist«, rief ich, »war meine ganze Schulzeit umsonst.«

»War sie nicht«, sagte Professor Summerlee. »Eine alte Bekannte in einem fremden Land.«

»Nicht nur das, mein Lieber«, sagte Professor Challenger, »sondern gleichzeitig eine Verbündete - wenn ich mich einmal so ausdrücken darf. Diese Buche soll unser Problem lösen.«

»Natürlich!« rief Lord John. »Eine Brücke.«

»Genau - eine Brücke. Ich habe mir vergangene Nacht schließlich nicht umsonst den Kopf darüber zerbrochen, wie wir auf das Plateau kommen. Ich habe zu unserem jungen Freund hier einmal gesagt, daß der alte G.E.Ch. sich selbst übertriffi, wenn er vor einem angeblich unlösbaren Problem steht. Sie werden zugeben, daß wir gestern abend alle der Meinung waren, die Situation sei ausweglos. Aber wo Wille und Intellekt zusammenkommen, da gibt es immer eine Lösung. Die Schwierigkeit mußte überbrückt werden, im wahrsten Sinne des Wortes, und hier ist die Brücke.«

Es war wirklich die rettende Idee. Der Baum hatte gut seine sechzig Fuß Höhe, und wenn er auf die richtige Seite stürzte, überbrückte er leicht den Abgrund. Beim Aufstieg hatte sich Professor Challenger die Axt über die Schulter gehängt, und jetzt drückte er sie mir in die Hand.

»Unser junger Freund hier hat die nötige Kraft und Ausdauer«, sagte er. »Ich denke, er eignet sich am besten für diese Aufgabe. Und nun noch eine dringliche Bitte: stellen Sie ab sofort jedes selbständige Denken ab und tun Sie nur genau das, was ich Ihnen sage.«

Unter seiner Anleitung schlug ich seitlich Kerben in den Baumstamm, der bereits von Natur aus eine Neigung zum Plateau hin hatte, wodurch praktisch garantiert war, daß er in die gewünschte Richtung stürzen würde.

Ich kam ordentlich ins Schwitzen und nahm Lord Johns Angebot, sich mit mir abzuwechseln, gerne an. Nach etwa einer Stunde neigte sich der Baum vornüber, brach, stürzte und bohrte seine Äste in die Büsche auf der anderen Seite. Einen Moment lang dachten wir, es wäre alles umsonst gewesen, denn der Stamm rollte bis kurz vor den Rand der kleinen Felsplattform. Er blieb jedoch einige Zoll vor der Kante liegen, und so hatten wir unsere Brücke ins Unbekannte.

Wortlos schüttelten wir einer nach dem anderen Professor Challenger die Hand, während dieser den Strohhut zog und sich vor jedem verbeugte.

»Ich verlange, als erster hinüberzugehen«, sagte er. »Finden Sie nicht, daß dieser Moment auf einem Gemälde festgehalten werden müßte?«

Der Professor setzte den Fuß auf den Stamm, aber Lord John hielt ihn zurück.

»Das kann ich leider nicht zulassen, verehrter Professor«, sagte er.

»Nicht zulassen?« wiederholte Challenger und reckte grimmig den Bart nach vorn.

»Solange es sich um wissenschaftliche Dinge handelt, ordne ich mich Ihnen unter, das wissen Sie«, sagte Lord John. »Aber Sie haben sich mir unterzuordnen, wenn etwas in mein Ressort fällt.«

»In Ihr Ressort?«

»Jeder von uns hat seinen Beruf, und meiner ist nun einmal der des Soldaten. Wenn ich die Situation richtig einschätze, sind wir im Begriff, ein fremdes Land zu erforschen, das vom Feind besetzt sein kann. Sich aus Mangel an gesundem Menschenverstand und Geduld blindlings da hineinzustürzen, entspricht nicht meinen Vorstellungen von Kriegsführung.«

Challenger nahm die Argumente lächelnd hin. »Und was schlagen Sie vor, Lord John?« fragte er.

»Wer weiß, ob nicht eine Bande von Kannibalen in den Büschen hockt und auf ein gutes Mittagessen wartet«, antwortete Lord John. »Wenn man nicht in den Kochtopf wandern will, sollte man sich erst Gewißheit verschaffen. Wir wollen zwar hoffen, daß uns da drüben nichts Unliebsames erwartet, werden uns aber so verhalten, als wäre es der Fall. Malone und ich werden also wieder runterklettern und die vier Gewehre, Gomez und die anderen herauftolen. Anschließend kann einer von uns über den Baumstamm gehen, während die anderen ihm Schützenhilfe leisten. Erst wenn feststeht, daß nichts passieren kann, kommen die anderen nach.«

Challenger setzte sich auf den Baumstamm und stöhnte vor Ungeduld, aber Professor Summerlee und ich waren derselben Meinung und fanden, daß man sich nach den Anweisungen Lord Johns richten sollte, wenn es um praktische Dinge ging. Jetzt, wo uns an der schlimmsten Stelle das Seil zur Verfügung stand, war das Klettern bedeutend einfacher. Es dauerte eine knappe Stunde, bis die vier Gewehre und eine zusätzliche Schrotflinte nach oben ge-schaffi waren. Auch die Mischlinge waren auf die Felszinne geklettert. Auf Lord Johns Anweisung hin hatten sie sogar Verpflegung mitgebracht, denn wir konnten ja nicht wissen, wie lange sich der erste Erkundungsgang ausdehnen würde.

Jeder von uns schnallte sich Patronengurte um.

»So, Professor Challenger«, sagte Lord John, als alle Vorbereitungen getroffen waren. »Wenn Sie wirklich der erste sein wollen, der den Fuß auf das unbekannte Land setzt, dann darf ich bitten.«

»Zu großzügig von Ihnen«, sagte der Professor. »Wenn Sie mir schon die Erlaubnis erteilen, werde ich die Gelegenheit ergreifen und - wie immer - Pionierarbeit leisten.«

Er schwang sich das Beil über die Schulter, hockte sich so auf den Baumstamm, daß links und rechts ein Bein herunterbaumelte, und hoppelte in dieser Stellung über die Brücke.

Auf der anderen Seite angekommen, warf er die Arme in die Luft.

»Endlich!« rief er zu uns herüber. »Endlich ist es soweit.«

Besorgt sah ich zu ihm hinüber. Ich hatte Angst, daß sich jeden Augenblick etwas Furchtbares aus dem grünen Vorhang lösen und auf ihn stürzen könnte. Aber alles blieb ruhig. Nur ein sonderbarer buntschillernder Vogel flog vom Boden auf und verschwand in den Bäumen.

Summerlee ging als zweiter. Die zähe Energie in seinem zerbrechlichen Körper war bewundernswert. Er bestand darauf, sich zwei Gewehre umzuhängen. So waren beide Professoren bewaffnet, als er drüben ankam. Der nächste war ich. Ich gab mir große Mühe, nicht nach unten in die schreckliche Tiefe zu blicken. Summerlee hielt mir seinen Gewehrkolben hin, und einen Augenblick später ergriff ich seine ausgestreckte Hand. Dann kam Lord John. Er ging hinüber - aufrecht, ohne jede Stütze! Er muß Nerven aus Stahl haben.

Nun waren wir alle vier im Traumland angelangt, in der verschollenen Welt des Maple White. Wir alle empfanden dies als den Augenblick größten Triumphes. Wer hätte vermutet, daß er der Auftakt zu unserem tiefsten Unglück war?

Wir hatten uns vom Rande entfernt und waren etwa fünfzig Meter weit durch dichtes Gebüsch vorgedrungen, als wir hinter uns ein fürchterliches Krachen hörten. Wie ein Mann stürzten wir an unseren Ausgangspunkt zurück. Die Brücke war nicht mehr da!

Ich beugte mich vor und sah weit unten, am Fuß der Klippen, eine Masse von Ästen und zersplittertem Holz. Das war unsere Buche! War der Rand der Plattform abgebröckelt und hatte den Baum abrutschen lassen? Für einen Augenblick schien uns dies die einzig mögliche Erklärung. Aber dann schob sich an der uns abgewandten Seite des Felsenturms ein dunkelhäutiges Gesicht hervor: das Gesicht von Gomez, dem Mestizen. Ja, es war Gomez. Aber nicht mehr der Gomez mit dem beflissenen Lächeln und dem maskenhaften Gesicht. Dieses Gesicht hatte flammende Augen und verzerrte Züge voll Haß und Hohn.

»Lord Roxton!« brüllte er. »Lord John Roxton!«

»Ja«, sagte dieser, »hier bin ich.«

Ein brüllendes Gelächter drang über den Abgrund zu uns. »Ja, da bist du, du englischer Hund, und da sollst du auch bleiben! Ich habe gewartet und gewartet. Jetzt endlich ist meine Stunde gekommen. Es war schwer genug für euch, da hinaufzuklettern; ihr werdet es aber noch schwerer haben, wieder herunterzusteigen. Ihr verdammten Narren, jetzt sitzt ihr in der Falle, ihr alle!«

Wir waren zu überrascht, um antworten zu können. Das Gesicht verschwand, kam aber gleich wieder zum Vorschein.

»Wir hätten euch beinahe schon mit dem Stein bei der Höhle erwischt«, schrie Gomez. »Aber so ist es noch viel besser. Es geht langsamer und qualvoller. Eure Knochen werden da oben ausbleichen, und kein Mensch wird wissen, wo ihr liegt. Niemand wird kommen, euch zu begraben. Und wenn du im Sterben liegst, Roxton, dann denk an Lopez, den du vor fünf Jahren am Putomayo-Fluß erschossen hast. Ich bin sein Bruder. Jetzt kann ich beruhigt sterben. Ich habe ihn gerächt.«

Hätte der Mischling es damit bewenden lassen und schleunigst das Weite gesucht, so wäre alles gut abgelaufen für ihn. Sein törichter, südländischer, unwiderstehlicher Hang zum Dramatischen jedoch sollte ihm zum Verhängnis werden. Roxton war nicht der Mann, den man ungestraft herausfordern konnte. Der Mestize stieg auf der uns abgekehrten Seite der Felsnadel ab. Aber ehe er den Boden erreichen konnte, war Lord John am Rande des Plateaus entlanggelaufen und hatte eine Stelle gefunden, von der aus er den Mann sehen konnte. Seine Flinte krachte ein einziges Mal. Wir konnten zwar nichts sehen, hörten aber den Schrei und darauf den fernen Aufschlag des abstürzenden Körpers. Roxton kam mit steinernem Gesicht zu uns zurück.

»Ich blinder Idiot«, sagte er. »Allein durch meine Dummheit sind wir in diese Lage geraten. Ich hätte daran denken müssen, daß diese Leute ein gutes Gedächtnis haben, und hätte mehr auf der Hut sein müssen.«

»Und was ist mit den anderen? Einer allein kann doch unmöglich diesen Baum über die Kante gerollt haben.«

»Ich hätte ihn auch töten können, habe ihn dann aber doch laufen lassen. Vielleicht ist er unschuldig.«

Jetzt, da wir Gomez’ Motiv kannten, erinnerte sich jeder von uns an Einzelheiten seines hinterhältig-zutraulichen Benehmens - an seine ständigen Bemühungen, unsere Pläne zu erfahren, und seine heimtückischen, haßerfüllten Blicke, die uns jedesmal so erstaunt hatten. Wir sprachen darüber, bemüht, uns seelisch auf die neuen Verhältnisse einzustellen, aber plötzlich wurde unsere Aufmerksamkeit durch eine fast komisch wirkende Szene in der Ebene unter uns gefesselt.

Ein Mann in weißer Kleidung, der nur der überlebende Mestize sein konnte, rannte, als ob ihm der Tod im Nacken säße. Hinter ihm her, wenige Meter zurück, in riesigen Sätzen die ebenholzfarbene Gestalt Zambos, unseres treu ergebenen Negers. Zambo sprang dem Flüchtling auf den Rücken und schlang ihm die Arme um den Hals. Beide wälzten sich am Boden. Einen Augenblick darauf erhob sich Zambo, ignorierte den hingestreckten Mann, winkte uns fröhlich mit der Hand und kam auf uns zugerannt. Die weiße Gestalt blieb bewegungslos liegen.

Uns war jede Möglichkeit genommen, wieder zu der Felsnadel zurückzukommen. Die Verräter waren vernichtet, aber das Vermächtnis hatten sie uns hinterlassen. Wir waren auf das Plateau verbannt. Einen Weg zurück gab es nicht. Unter uns lag die Ebene, dahinter, jenseits des violetten, dunstigen Horizonts, floß der Strom, der in die Zivilisation zurückführte. Aber das Zwischenglied fehlte. Keine menschliche Erfindungsgabe konnte ein Hilfsmittel ersinnen, das den Abgrund überbrückte, der zwischen uns und unserer heimischen Welt aufgebrochen war. Ein einziger Augenblick hatte unsere gesamten Lebensbedingungen von Grund auf verändert.

Dies war aber auch der Augenblick, in dem ich erfuhr, aus welchem Holz meine drei Kameraden geschnitzt waren. Zwar wurden sie ernst und nachdenklich, behielten aber ihre ungebrochene Zuversicht. Gespannt warteten wir auf Zambos Erscheinen. Bald tauchte sein ehrliches schwarzes Gesicht über dem Felsen auf, und seine massige Gestalt schwang sich auf die Spitze der Zinne.

»Was ich jetzt tun?« rief er. »Sie mir sagen, und ich tun!«

Das war eine Frage, die leichter gestellt als beantwortet war. Nur eines stand fest. Er war unser einziges zuverlässiges Verbindungsglied zur Außenwelt. Er durfte uns unter keinen Umständen verlassen.

»Nein, nein«, rief er, als habe er unsere Gedanken erraten. »Ich Sie nicht verlassen. Was auch passieren, Sie mich immer hier finden. Aber ich nicht kann Indianer hier festhalten. Sie schon sagen, zu viel Curupuri hier. Und sie nach Hause gehen. Ich nicht können halten.«

Es stimmte, unsere Indianer hatten in letzter Zeit auf verschiedenste Art gezeigt, daß sie umkehren wollten. Wir wußten, daß Zambo die Wahrheit sagte und daß es für ihn unmöglich war, sie zurückzuhalten.

»Zwing sie, bis morgen zu warten, Zambo«, brüllte ich, »dann kann ich ihnen einen Brief mitgeben.«

»Gut, Herr! Ich versprechen, sie bis morgen warten«, sagte der Neger. »Aber was ich jetzt für Sie tun?«

Es gab eine Menge für ihn zu tun, und der treue Bursche erledigte alles gewissenhaft. Zuallererst löste er unter unserer Anleitung das Seil vom Baumstamm und warf uns das eine Ende herüber. Es war nicht dicker als eine Wäscheleine, aber sehr stark. Wenn wir es auch nicht als Brücke benutzen konnten, so mochte es uns doch unschätzbare Dienste leisten, falls wir noch irgendwelche Klettertouren zu bewältigen hatten. Dann befestigte er an seinem Seilende das Paket mit Verpflegung, das noch drüben lag, und wir konnten es zu uns herüberziehen. So hatten wir Lebensmittel für wenigstens eine Woche. Anschließend stieg Zambo hinunter und brachte eine Munitionskiste und etliche andere Sachen herauf; wir holten uns alles mit dem Seil herüber.

Als er endgültig abstieg, war es schon Abend. Zum Schluß versprach er nochmals, die Indianer bis zum nächsten Morgen aufzuhalten, und ich habe deshalb die ganze erste Nacht auf dem Plateau damit zugebracht, beim Schein eines Windlichts unsere Erlebnisse aufzuzeichnen.

Wir aßen zu Abend und lagerten dicht am Rande der Klippen; unseren Durst löschten wir mit zwei Flaschen Apollinaris, die in einer der Kisten lagen. Es ist lebenswichtig für uns, Wasser zu finden, aber keiner von uns war dazu aufgelegt, den ersten Vorstoß ins Unbekannte noch an diesem Abend zu unternehmen. Wir vermieden es, ein Feuer zu entfachen oder unnötig laut zu sein.

Morgen oder richtiger heute, denn der Morgen dämmert bereits, während ich dies schreibe, werden wir uns zum erstenmal in dieses merkwürdige Land hineinwagen. Wann ich wieder zum Schreiben komme - oder ob ich überhaupt jemals wieder schreiben werde -, weiß ich nicht. Im Augenblick kann ich nur sehen, daß die Indianer noch an ihrem Lagerplatz liegen, und ich bin sicher, daß Zambo gleich hier sein wird, um meinen Brief abzuholen. Hoffentlich kommt er gut an.

P.S. Je mehr ich darüber nachdenke, desto verzweifelter erscheint mir unsere Lage. Ich sehe keine Möglichkeit zur Rückkehr. Wenn es dicht am Rande des Plateaus einen hohen Baum gäbe, könnten wir vielleicht versuchen, wieder in umgekehrter Richtung eine Brücke zu schlagen. Aber im Umkreis von fünfzig Metern gibt es hier keinen. Und unsere vereinten Kräfte würden nicht ausreichen, einen großen Stamm herbeizuschleppen. Das Seil ist andererseits viel zu kurz, als daß wir daran absteigen könnten. Unsere Lage ist hoffnungslos - schrecklich und hoffnungslos!

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