Unsere Freunde daheim dürfen sich mit uns freuen, denn wir sind am Ziel und haben wenigstens bis zu einem gewissen Grade feststellen können, daß Professor Challengers Behauptungen beweisbar sind. Zwar haben wir bisher das Plateau noch nicht zu ersteigen vermocht, aber es liegt vor uns, und sogar Professor Summerlee ist inzwischen etwas kleinlauter geworden. Das bedeutet nicht etwa, daß er auch nur für einen Augenblick zugäbe, sein Rivale könne im Recht sein, aber er ist immerhin weniger beharrlich in seinen ewigen Einwänden und bewahrt größtenteils ein nachdenkliches Schweigen.
Ich will jedoch der Reihe nach berichten und meine Aufzeichnungen dort fortsetzen, wo ich sie abgebrochen habe. Wir schicken einen unserer hiesigen Indianer, der sich verletzt hat, zurück, und ich vertraue ihm diesen Brief an, wenn auch mit erheblichen Zweifeln, ob er jemals seinen Bestimmungsort erreichen wird.
Als ich das letztemal schrieb, waren wir im Begriff, das Indianerdorf, bei dem die Esmeralda uns abgesetzt hatte, zu verlassen. Ich muß diese Fortsetzung mit einer schlechten Nachricht beginnen: Die erste schwere persönliche Auseinandersetzung - wenn man von den ständigen Reibereien zwischen den beiden Professoren absieht - hat sich an diesem Abend ereignet und hätte leicht ein schlimmes Ende nehmen können. Ich habe von unserem englisch sprechenden Halbblut, Gomez, berichtet, einem tüchtigen Arbeiter und willigen Burschen, der aber, wie fast alle diese Leute, äußerst neugierig zu sein scheint. An jenem Abend hatte er sich in der Nähe der Hütte, in der wir unsere Beratungen abhielten, versteckt. Er wurde dabei von Zambo, unserem treuen Neger, erwischt, hervorgezerrt und zu uns geschleppt. Gomez riß das Messer aus dem Gürtel, aber der kräftige Zambo entwaffnete ihn, bevor er zustechen konnte. Die Angelegenheit ist mit Verwarnungen einstweilen beigelegt worden, die beiden wurden gezwungen, sich die Hand zu reichen, und somit besteht Hoffnung, daß sich alles wieder einrenkt.
Was die Fehden der beiden Gelehrten betriffi, so lassen sie an Ausdauer und Bitterkeit nichts zu wünschen übrig. Man muß zugeben, daß Challenger sich in höchstem Maße herausfordernd benimmt, auf der anderen Seite aber hat Summerlee eine überaus spitze Zunge und macht damit alles noch viel schlimmer.
Am vergangenen Abend sagte Challenger zum Beispiel, er gehe deshalb so ungern am Ufer der ^emse spazieren, weil er keine Lust habe, seine letzte Ruhestätte vor Augen zu haben. Gemeint hat er damit Westminster Abbey, die Kirche, in der viele bedeutende Engländer beigesetzt werden.
»Ich denke, das Millbank-Gefängnis ist schon längst abgerissen«, hatte Professor Summerlee prompt mit einem giftigen Lächeln entgegnet.
Challengers Selbstbewußtsein ist durch nichts zu erschüttern, also hat ihn die Antwort auch nicht geärgert.
»So, so - abgerissen«, sagte er, und das in einem Ton, als habe er ein etwas störrisches Kind vor sich.
Sie sind beide Kinder - der eine ist verknöchert und zänkisch, der andere furchteinflößend und tyrannisch. Dabei haben beide ein Gehirn, das allen Wissenschaftlern Europas größten Respekt einflößt. Verstand, Charakter und Seele - wie unterschiedlich diese drei entwickelt sein können, lernt man erst im Laufe seines Lebens.
Der nächste Tag brachte den eigentlichen Start zu unserer Expedition. Wir stellten fest, daß alles Gepäck bequem in den beiden Kanus Platz hatte, und teilten uns in zwei Besatzungen von je sechs Mann auf. Im Interesse des allgemeinen Friedens setzten wir in jedes Boot einen Professor. Ich selber fuhr mit Challenger, der gut aufgelegt war und vor Wohlwollen strahlte. Da ich ihn aber schon in anderer Stimmung erlebt habe, bin ich selten überrascht, wenn ein Gewitter aus heiterem Himmel kommt. In seiner Gegenwart fühlt man sich nie ganz unbefangen, weil man ständig damit rechnet, daß seine Laune umschlägt.
Zwei Tage lang fuhren wir einen mittelgroßen, einige hundert Meter breiten Fluß hinauf, dessen Wasser dunkel und doch klar war. Meistens konnte man bis auf den Grund sehen. Das ist bei vielen Zuflüssen des Amazonas der Fall. Andere wiederum sind gelblich und trübe. Dieser Unterschied rührt von der verschiedenen Bodenbeschaffenheit ihrer Ursprungsgebiete her. Die dunklen Gewässer zeugen von vermoderter Vegetation, die anderen verdan-ken ihre Färbung lehmigem Boden. Zweimal kamen wir an Stromschnellen, die wir in beiden Fällen durch einen Transport über Land von über einer halben Meile Marsch umgehen mußten. Die Wälder auf beiden Seiten sind ur-zeitlich und leichter zu passieren als jüngere Baumbestände. Wir hatten keine großen Schwierigkeiten, mit unseren Kanus hindurchzukommen.
Wie könnte ich j emals das feierliche, rätselvolle Schweigen vergessen? Die Höhe der Bäume und der Durchmesser ihrer Stämme übertrafen alles, was ich Stadtmensch mir hätte vorstellen können. Wie prachtvolle Säulen ragten sie hinauf. Hoch über unseren Köpfen konnten wir undeutlich erkennen, wie die Äste in beinahe gotischen Bögen ausschwangen und sich zu einem einzigen, dichtverstrebten Laubdach vereinigten. Nur hie und da vermochte ein goldener Sonnenstrahl durchzudrängen, um als blendender Lichtpfeil das majestätische Halbdunkel zu erhellen. Als wir geräuschlos über den dicken, weichen Teppich aus vermodertem Pflanzenwerk gingen, überkam uns das gleiche ehrfruchtsvolle Schweigen, das einen im Zwielicht eines Domes befällt. Professor Challengers übliche Lautstärke sank zu einem Geflüster herab. Ich hatte keine Ahnung von den Namen dieser Baumriesen, aber unsere Wissenschaftler zeigten mir die Zedern, die großen Baumwoll- und Mahagonibäume und all den Überfluß an mannigfaltigen Pflanzen. Bunte Orchideen und Moose in wunderbarer Farbenpracht glühten auf den dunklen Baumstämmen. Wo ein verirrter Sonnenstrahl auf eine goldene Allamanda, die scharlachroten Sternbündel der Tasconia oder das satte Tiefolau der Ipomae fiel, sah es aus wie in einem Traum aus einem Märchenland. Das Leben muß sich in diesen Urwäldern ständig nach oben zum Licht durchkämpfen. Jede Pflanze, sogar die kleinste, windet und ringelt sich der grünen Oberfläche entgegen und schlingt sich um ihre stärkeren Brüder.
Tierisches Leben regte sich kaum in den majestätischen Gewölben, die sich vor uns erstreckten. Aber eine beständige Unruhe weit über unseren Köpfen signalisierte die bunte Welt der Schlangen und der Affen, der Vögel und Faultiere, die dort oben im Sonnenlicht leben und wohl verwundert auf uns winzige, dunkle, dahinstolpernde Gestalten in der Tiefe herabblickten. In der Morgendämmerung und bei Sonnenuntergang schrien Brüllaffen, und Sittiche brachen in schrilles Gekreische aus. Während der heißen Tagesstunden jedoch drang nur das durchdringende Sirren der Insekten an unser Ohr. Sonst regte sich nichts im Dunkel zwischen den Baumstämmen. Nur einmal rannte ein krummbeiniges, watschelndes Etwas, ein Ameisenbär oder was auch immer, unbeholfen vor uns davon und verschwand im Schatten. Das war das einzige Zeichen von tierischem Leben, das ich in diesem riesigen Waldgebiet am Amazonas sah.
Und doch gab es Anzeichen dafür, daß sogar menschliches Leben in dieser Abgeschiedenheit existierte, und gar nicht so weit von uns entfernt: Am dritten Reisetag bemerkten wir in der Luft ein rhythmisches und feierliches Trommeln, das den ganzen Vormittag hindurch anhielt. Im Abstand von wenigen Metern zogen unsere Boote dahin, als wir es zum erstenmal hörten. Unsere Indianer erstarrten. Unbeweglich wie Bronzestatuen lauschten sie, und aus ihren Gesichtern sprach Entsetzen.
»Was ist das?« fragte ich.
»Scheinen Trommeln zu sein«, sagte Lord John. »Kriegstrommeln. Ich habe sie schon mal gehört.«
»Ja, Sir, Kriegs trommeln«, sagte Gomez, der Mestize. »Wilde Indianer, Krieger, keine friedlichen Stämme. Sie beobachten uns und wollen uns umbringen.«
»Sie beobachten uns?« wiederholte ich. »Wie denn?«
Ich spähte durch die dunkle, unbewegte Leere um uns herum.
Der Mestize hob die Schultern. »Die Indianer wissen Bescheid. Sie haben ihre Methoden. Mit den Trommeln verständigen sie sich. Sie wollen uns töten.«
Am Nachmittag jenes Tages - nach meinem Taschenkalender war es Dienstag, der 18. August - dröhnten wenigstens sechs oder sieben Trommeln aus verschiedenen Richtungen. Zuweilen schlugen sie rasch, zuweilen langsam, manchmal in offensichtlicher Frage und Antwort. Eine, weit im Osten, brach in ein schnelles Stakkato aus, dem nach einer Pause ein tiefer Wirbel aus Norden folgte. Etwas unbeschreiblich Zermürbendes und Drohendes lag in diesem unauftörlichen Dröhnen, doch nirgends war jemand.
»Wir töten euch!« dröhnte es. »Wir töten euch! Wir töten euch!«
Die Gesichter unserer farbigen Begleiter wurden immer ängstlicher, und selbst der abgebrühte, oft wichtigtueri-sche Gomez war eingeschüchtert, während ich an diesem Tag zum ersten- und ein für allemal begriff, daß sowohl Summerlee als auch Challenger von derselben merkwürdigen Tapferkeit beseelt waren, nämlich der Tapferkeit der Forscherseele. Die Natur hat es voll Barmherzigkeit so eingerichtet, daß das menschliche Gehirn nicht zwei Dinge auf einmal denken kann und somit kein Raum für persönliche Betrachtungen bleibt, wenn die wissenschaftliche Neugier Einzug gehalten hat.
Inmitten des bedrohlichen Trommelns, das aus allen Himmelsrichtungen auf uns eindrang, beobachteten unsere beiden Professoren jeden Vogel, den sie erspähen konnten, und jeden Busch am Rande des Ufers. Und gleichzeitig stritten sie, wie sie es immer taten, über alle möglichen wissenschaftlichen Nebensächlichkeiten. Man hätte meinen können, sie hätten sich nur aus einem Grund zusammen auf Expedition begeben: um einmal rund um die Uhr streiten zu können.
Lediglich ein einziges Mal fielen ein paar Worte über die Trommeln um uns herum.
»Entweder Miranha- oder Amajuaca-Kannibalen«, meinte Challenger beiläufig und deutete mit dem Daumen in das Gewirr von Schlingpflanzen.
»Könnte stimmen«, entgegnete Professor Summerlee. »Höchstwahrscheinlich mongolid, sprechen einen polysynthetischen Dialekt, nehme ich an.«
»Was denn sonst?« knurrte Professor Challenger und lächelte herablassend. »Auf dem ganzen Kontinent existiert keine andere Sprache, wenn ich richtig informiert bin, und das bin ich, weil ich Aufzeichnungen besitze, die beweisen, daß über hundert Dialekte von ihr abgeleitet sind. Das mit dem mongoliden Typus allerdings wage ich zu bezweifeln.«
»Dabei sollte man doch meinen«, entgegnete Professor Summerlee giftig, »daß bereits die elementarsten Kenntnisse in Vergleichender Anatomie ausreichen, um es eindeutig zu bestätigen.«
Challenger schob Kinn und Bart angriffslustig nach vorn. »Die elementarsten Kenntnisse schon«, sagte er. »Verfügt man jedoch über wirklich fundiertes Wissen auf diesem Gebiet, so kommt man zu völlig anderen Schlußfolgerungen, mein lieber Herr Kollege.«
Die beiden Gelehrten sahen sich mit herausfordernden Blicken an, während die Trommeln ohne Unterlaß ihre Todesdrohungen durch den Dschungel sandten.
In dieser Nacht verankerten wir unsere Kanus in der Mitte des Flusses mit schweren Steinen und trafen Vorkehrungen gegen einen eventuellen Angriff. Es ereignete sich jedoch nichts, und so setzten wir beim Anbruch des Tages unsere Reise fort. Langsam erstarb das Trommeln hinter uns.
Gegen drei Uhr nachmittags kamen wir zu einer steilen Stromschnelle, die sich über eine Meile hinzog. Genau hier hatte Professor Challenger vor zwei Jahren Schiffiruch erlitten und sein kostbares Beweismaterial verloren. Beim Anblick dieses Streckenabschnitts empfand ich einen Anflug von Genugtuung, muß ich gestehen, denn hier schienen wir auf den ersten sicheren Beweis gestoßen zu sein, der für die Glaubwürdigkeit Professor Challengers sprach.
Die Indianer schleppten Kanus, Ausrüstung und Proviant durch das schier undurchdringliche Unterholz, während wir vier Weißen das Gewehr schußbereit hielten, um ihnen bei einem plötzlichen Angriff Feuerschutz zu geben.
Bei Einbruch der Dunkelheit hatten wir die Stromschnellen glücklich hinter uns gebracht und waren sogar noch zehn Meilen weiter flußaufwärts vorgedrungen. Wir warfen Anker und bereiteten unser Nachtlager. Nach meiner Schätzung hatten wir bis zu diesem Punkt bereits gute hundert Meilen auf diesem Nebenfluß des Amazonas zurückgelegt.
Am frühen Morgen des nächsten Tages kam die große Kursänderung. Professor Challenger, der seit dem Morgengrauen auffällig unruhig und nervös gewesen war, suchte unauftörlich beide Flußufer ab, bis er plötzlich eine Art Freudengeheul anstimmte und auf einen alleinstehenden Baum deutete, der in einem schrägen Winkel über das Ufer ragte.
»Und wofür halten Sie das?« fragte er Professor Summerlee.
»Für eine Assaipalme«, antwortete dieser.
»Richtig. Und genau diese Assaipalme ist mein Wegweiser. Der verborgene Einstieg liegt genau eine halbe Meile von hier entfernt, am gegenüberliegenden Flußufer. Im Unterholz keine Lücke, das sind das Wunder und das Geheimnis. Keine Lücke, aber statt des dunkelgrünen Dickichts Binsen von einem etwas helleren Grün. Die Binsen verbergen das Tor, welches ins Unbekannte führt. Sie werden es gleich mit eigenen Augen sehen.«
Der Atem stockte mir. Als wir die Stelle mit den Binsen erreicht und unsere Kanus hindurch gesteuert hatten, kamen wir nach etwa hundert Meter in einen ruhig dahinfließenden, flachen Strom, dessen Wassermassen klar und durchsichtig über sandigen Grund glitten. Der Strom mag an die zwanzig Meter breit sein, seine Ufer quellen über vor üppiger Vegetation. Nur wer das scharfe, geübte Auge des Professors besitzt, und ich gehöre zu jenen, ist in der Lage, die leichte Veränderung in der Schattierung der Grüntöne zu erkennen, die den Zugang zu diesem Strom und seiner märchenhaften Umgebung bildet.
Die Landschaft ist prachtvoller, als alle menschliche Phantasie sie zu erträumen vermag. Der reiche Pflanzenwuchs der Ufer strebt in die Höhe, um sich weit über uns wie in einem natürlichen Laubengang zu treffen und ineinander zu verschlingen. Auf seinem Grund in goldenem Zwielicht der Fluß, klar wie Kristall, fast bewegungslos und grün schillernd wie die Kanten eines Eisbergs. Jeder Schlag unserer Paddel bewirkte, daß tausend kleine Fältchen über die Wasseroberfläche glitten. Ein zauberhafter Weg ins Land der Wunder.
Von den Indianern war nichts mehr zu hören, aber Tiere gab es, und ihre Zutraulichkeit schien zu beweisen, daß sie im Menschen keine Gefahr sahen. Die Wildnis hier wurde also selten von Menschen durchstreift.
Flaumige, kleine Seidenäffchen mit schneeweißen Zähnen und frechen Augen schnatterten uns zu, als wir an ihnen vorbeiglitten. Aus einer lichten Stelle am Ufer lugte uns ein dicker, plumper Tapir hinterher, ab und zu ließ sich ein Alligator mit einem Plumpsen vom Ufer ins Wasser fallen, und einmal sahen wir sogar einen Puma im Unterholz verschwinden. Vögel gab es in Überfluß, vor allem Stelzvögel - Störche, Kraniche und Ibisse hockten in buntgefiederten Gruppen auf jedem Ast, der aus dem Wasser ragte. Und im Wasser wimmelte es von Fischen aller nur erdenklichen Farben und Formen. Drei Tage lang durchquerten wir diesen Tunnel mit seinem sanft grünen Licht. Auf längeren geraden Strecken konnte man kaum erkennen, wo das grüne Wasser endete und der Laubengang begann. Kein Zeichen menschlichen Lebens störte den tiefen Frieden dieses seltsamen Wasserlaufs.
»Hier sind keine Indianer«, sagte Gomez irgendwann. »Zu große Angst vor Curupuri.«
»Curupuri ist der Geist des Urwalds«, erklärte Lord John. »Er ist für die Eingeborenen eine Art Teufel. Sie glauben, daß dort, wo wir hinsteuern, etwas Fürchterliches lauert. Deshalb kommen sie nicht hierher.«
Am dritten Tag war allen klar, daß unsere Reise in den Kanus nicht mehr lange weitergehen konnte. Der Wasserlauf wurde immer flacher. Zweimal in zwei Stunden liefen wir auf Grund und saßen fest. Endlich zogen wir die Boote hinauf ins Gebüsch und verbrachten die Nacht am Flußufer. Am Morgen unternahmen Lord John und ich einen Erkundungsgang von einigen Meilen durch den Wald, wobei wir uns parallel zum Wasser hielten. Je weiter wir flußaufwärts kamen, desto niedriger wurde der Wassertand, und so kehrten wir um und berichteten, was Professor Challenger bereits vermutet hatte: daß wir von nun an unsere Kanus nicht weiter mitnehmen konnten. Wir zogen sie deshalb an Land, verbargen sie im Gebüsch und markierten einen Baum mit der Axt, um sie bei der Rückkehr wiederzufinden. Dann wurden die Lasten verteilt - Gewehre, Munition, Verpflegung, ein Zelt, Decken. Wir schulterten unsere Bündel und brachen zum beschwerlichsten Teil unserer Reise auf.
Ein unseliger Streit zwischen unseren beiden akademischen Hitzköpfen stand am Beginn dieses neuen Abschnitts. Zum Mißvergnügen Summerlees hatte Challenger seit dem Augenblick seines Auftauchens das Kommando über unsere kleine Truppe übernommen. Jetzt, als er seinem Kollegen auch eine kleine Aufgabe zuteilen wollte - es handelte sich lediglich um den Transport eines kleinen Vakuum-Barometers -, kam der angestaute Groll plötzlich zum Ausbruch.
»Darf man fragen«, sagte Summerlee mit unnatürlicher Ruhe, »mit welchem Recht Sie glauben, uns Befehle erteilen zu können?«
Challenger starrte ihn mit gesträubtem Bart an. »Das tue ich in meiner Eigenschaft als Leiter dieser Expedition, Professor Summerlee.«
»Ich fühle mich verpflichtet, Ihnen mitzuteilen, daß ich Sie in dieser Eigenschaft nicht anerkenne.«
»Tatsächlich!« Challenger verbeugte sich ironisch.
»Vielleicht hätten Sie die Güte, mir dann meine Rolle bei diesem Unternehmen zu erklären.«
»Jawohl, die Güte habe ich. Sie sind ein Mann, dessen Glaubwürdigkeit bezweifelt wird. Dieses Komitee ist hierhergekommen, Sie zu überprüfen. Sie befinden sich in der Gesellschaft Ihrer Richter, verehrter Herr Kollege.«
»Du meine Güte!« sagte Challenger und setzte sich auf den Rand eines Kanus. »In diesem Falle können Sie Ihren Weg fortsetzen, und ich werde Ihnen nach Belieben folgen. Wenn ich nicht der Anführer bin, können Sie auch nicht erwarten, daß ich Sie führe.«
Dem Himmel sei Dank, daß es wenigstens noch zwei normale Menschen - Lord John Roxton und mich - gab, die verhüten konnten, daß wir wegen der Launenhaftigkeit unserer Gelehrten mit leeren Händen umkehren mußten. Welcher Argumente, Beschwörungen und Erklärungen bedurfte es, bis wir sie besänftigt hatten! Dann war endlich Summerlee bereit, vorauszugehen. Challenger stapfte grollend hinterher. Durch einen glücklichen Zufall fanden wir zu diesem Zeitpunkt heraus, daß unsere Professoren die denkbar schlechteste Meinung von einem Dr. Illingworth in Edinburgh hatten. Das wurde unsere Rettung. Jede gefährliche Situation wurde nun dadurch entspannt, daß wir den Namen dieses schottischen Zoologen ins Gespräch brachten, und prompt bildeten unsere Freunde in ihrer Verachtung und Beschimpfung dieses gemeinsamen Gegners eine vorübergehende Allianz.
Als wir im Gänsemarsch am Ufer weiter vorrückten, bemerkten wir bald, daß der Fluß sich zu einem bloßen Bach verengte. Schließlich verlor er sich ganz in einem großen grünen Morast aus schwammigen Moosen, in den wir bis zu den Knien einsanken. Wolken von Stechmücken und alle möglichen Arten fliegender Insekten plagten uns. Wir waren froh, als wir uns wieder auf festen Grund gerettet hatten, und entschlossen uns zu einem Umweg durch den Wald.
Am zweiten Tag unseres Fußmarsches änderte sich der Charakter der Landschaft. Unser Weg führte beständig aufwärts. Die Wälder wurden spärlicher und verloren ihre tropische Üppigkeit. Die gewaltigen Bäume der AmazonasEbene wichen Phönix- und Kokospalmen, die in einzelnen Gruppen inmitten dichten Gebüschs standen. In den feuchteren Mulden breiteten Mauritia-Palmen ihre anmutig herabhängenden Wedel aus.
Wir gingen nur nach dem Kompaß. Einmal gab es M einungsverschiedenheiten zwischen Challenger und den beiden Indianern. Dabei vertraute, um Challengers Worte zu gebrauchen, die ganze Gesellschaft »den fehlerhaften Instinkten primitiver Wilder mehr, als dem Wissen eines feinnervigen Exponenten der modernen europäischen Kultur.« Am dritten Tag stellte sich heraus, daß Challenger recht gehabt hatte. Er konnte uns mehrere markante Punkte seiner Expedition vor zwei Jahren zeigen. An einer Stelle trafen wir auf vier vom Feuer geschwärzte Steine, die von einem Lagerplatz stammten.
Unser Weg stieg weiterhin an. Wir überquerten einen felsübersäten Abhang, wozu wir zwei Tage brauchten. Wieder hatte der Pflanzenwuchs sich verändert. Nur der Elfenbeinbaum blieb noch übrig, daneben herrliche Orchideen im Überfluß, darunter zuweilen die äußerst seltene Nuttonia Vexillaria. Vereinzelte Bäche mit steinigem Grund und farnbewachsenen Ufern gurgelten in flachen felsigen Betten und boten uns allabendlich gute Lagerplätze an den Ufern von Felstümpeln. Schwärme von Fischen mit blauem Rücken - ungefähr von der Größe und Form der Forelle - lieferten uns schmackhafte Mahlzeiten.
Am neunten Tag nach Verlassen der Kanus - wir hatten etwa hundertzwanzig Meilen zurückgelegt - gab es auch keine Bäume mehr, nur noch Gestrüpp, das schließlich in eine Bambuswildnis überging, die so dicht war, daß wir uns mit Macheten einen Pfad bahnen mußten. Wir brauchten einen ganzen Tag, von sieben Uhr morgens bis acht Uhr abends mit nur zwei Pausen von je einer Stunde, um dieses Hindernis zu überwinden.
Etwas Eintönigeres und Ermüdenderes kann man sich nicht vorstellen. Sogar an den lichtesten Stellen konnte ich nicht weiter als zehn bis zwölf Meter sehen. Für gewöhnlich beschränkte sich mein Gesichtsfeld auf die Rückseite von Lord Johns Baumwolljacke vor mir und die gelbe Mauer zu beiden Seiten. Fünfzehn Fuß über unseren Köpfen sahen wir die Rohre gegen einen tiefolauen Himmel schwanken. Welche Lebewesen ein solches Dickicht bewohnen, weiß ich nicht; wir hörten lediglich mehrere Male, wie große, schwere Tiere ganz in unserer Nähe es durchbrachen. Aus den Geräuschen schloß Lord John, daß es sich um eine Büffelart handelte. Bei Einbruch der Abenddämmerung kamen wir aus dem Bambusgürtel heraus und schlugen un-ser Lager auf, erschöpft von diesem arbeitsreichen Tag.
Früh am nächsten Morgen waren wir wieder auf den Beinen und stellten fest, daß der Charakter der Landschaft sich abermals verändert hatte. Hinter uns stand die Bambusmauer, so scharf begrenzt, als folge sie einem Flußlauf. Vor uns eine freie Ebene, die leicht anstieg und mit Büscheln von Baumfarnen bewachsen war. Gegen Mittag erreichten wir einen langen Kamm. Es folgte ein flaches Tal, das wiederum zu einer sanften Anhöhe anstieg. Als wir den ersten dieser Hügel überquerten, trat ein Ereignis ein, das ebensogut bedeutungsvoll wie unwichtig gewesen sein konnte.
Challenger, der mit seinen zwei Indianern die Vorhut unserer Gruppe bildete, blieb plötzlich stehen und zeigte aufgeregt nach rechts. Als wir aufolickten, sahen wir in einer Entfernung von ungfähr einer Meile etwas Ähnliches wie einen riesigen grauen Vogel mit schwerem Flügelschlag vom Boden aufsteigen und sanft davongleiten. Er flog sehr niedrig und geradlinig und verschwand hinter den Baumfarnen.
»Haben Sie das gesehen?« rief Challenger triumphierend. »Summerlee, haben Sie das gesehen?«
Professor Summerlee starrte noch immer auf die Stelle, an der das seltsame Wesen verschwunden war. »Was war das Ihrer Meinung nach?« fragte er.
»Ein Pterodactylos, dafür lege ich die Hand ins Feuer.«
Summerlee brach in höhnisches Gelächter aus. »Ein Pteroquatschylos!« wieherte er. »Ein Storch war das, ein ganz gewöhnlicher Storch.«
Challenger war so wütend, daß es ihm die Rede verschlug. Er schwang sich sein Bündel über die Schulter und marschierte weiter.
Lord John kam zu mir nach vorn, und sein Gesicht war ernster als üblich. Er trug sein Zeißglas in der Hand.
»Ich habe das Ding noch ins Blickfeld bekommen, bevor es weg war«, sagte er. »Ich möchte mich nicht festlegen, aber ich wette meinen Ruf als Sportsmann, daß mir so ein Vogel noch nie unter die Augen gekommen ist.«
So liegen die Dinge also. Stehen wir wirklich direkt am Rande des Unbekannten, stoßen wir bereits auf die Vorposten jener verschollenen Welt, von der unser Anführer erzählt? Ich schreibe Ihnen den Vorfall so auf, wie er sich zugetragen hat, und damit wissen Sie genausoviel wie ich. Es blieb übrigens der einzige dieser Arb. Und nun, liebe Leser, habe ich Sie den breiten Fluß hinaufgeführt, durch das grüne Schilf hindurch, den grünen Tunnel entlang, den langen palmenbewachsenen Abhang hinauf, durch das Bambusgestrüpp und über die Ebene mit den Baumfarnen. Endlich liegt unser Ziel vor uns. Als wir nämlich den zweiten Hügelkamm erstiegen hatten, erblickten wir vor uns eine unregelmäßige, palmenbewachsene Ebene und dahinter die Linie der hohen roten Klippen, die ich schon vom Bild her kannte.
Die Ebene läuft bogenförmig links und rechts von uns und erstreckt sich über das ganze Blickfeld. Challenger stolziert umher wie ein preisgekrönter Pfau, und Summerlee ist still geworden, aber immer noch skeptisch. Der nächste Tag wird wohl einige unserer Zweifel klären. Inzwischen will ich diesen Brief mit Jose zurückschicken. Er hat sich den Arm an zersplittertem Bambus verletzt und besteht darauf, umzukehren. Wir hoffen, daß er den Weg zurück findet.
Ich füge dem Brief eine Kartenskizze bei, die den Weg zeigt, den unsere Expedition bisher genommen hat, seit wir den Amazonas verließen.