12 Es war grauenvoll

Wie bereits erwähnt - oder vielleicht auch nicht, denn mein Gedächtnis spielt mir plötzlich bedauerliche Streiche, war ich stolz, daß drei so bedeutende Männer sich bei mir bedankt und betont hatten, ich habe die Situation gerettet beziehungsweise wesentlich verbessert. Als jüngster in unserer Gruppe - nicht allein an Jahren, sondern auch an Erfahrung, Wissen und all den anderen Dingen, die einen Mann ausmachen - hatte ich von Anfang an in ihrem Schatten gestanden. Und nun hatte ich bewiesen, daß auch ich etwas leisten konnte. Ich aalte mich in diesem Gedanken. Leider! Die aufglimmende Selbstzufriedenheit, dieses zusätzliche Maß an Selbstvertrauen sollten mich noch in derselben Nacht zum schrecklichsten Abenteuer meines Lebens verleiten. Wenn ich bloß daran denke, wird mir übel!

Es kam so: Das Abenteuer auf dem Baum hatte mich übermäßig erregt, und an Schlaf war nicht zu denken. Summerlee hielt Wache. Er saß vornübergebeugt an unserem kleinen Feuer, eine komische, eckige Gestalt. Seine Flinte hatte er über die Knie gelegt, und sein spitzer Ziegenbart wackelte jedesmal, wenn er schläfrig nickte. Lord John lag still in seinen südamerikanischen Poncho gewickelt, und Challenger schnarchte, daß es nur so in den Bäumen grollte. Der Vollmond schien hell, und die Luft war frisch und kühl. Welch eine Nacht für einen Spaziergang!

Warum eigentlich nicht? dachte ich plötzlich.

Angenommen, ich schlich mich leise fort. Angenommen, ich fand einen Weg hinunter zum See. Angenommen, ich war zum Frühstück mit einer Beschreibung dieses Ortes zurück - würde man mich dann nicht für einen noch brauchbareren Mann halten?

Und falls sich Summerlee dann durchsetzte und eine Möglichkeit zum Entkommen gefunden wurde, kehrten wir nach London zurück und kannten das innerste Geheimnis des Plateaus, zu dem ich allein und als einziger vorgedrungen war.

Ich dachte an Gladys und McArdle. Einen Artikel von mindestens drei Spalten würde das geben, und damit war meine Karriere gesichert.

Ich griff mir ein Gewehr, steckte mir die Taschen voll Patronen und schlüpfte zwischen den Dornbüschen am Eingang unserer Schutzhecke hindurch. Mein letzter Blick fiel auf den eingeschlafenen Summerlee, den unfähigsten aller Wachtposten, der noch immer vor dem verglimmenden Feuer saß und mit dem Kopf nickte.

Ich war noch keine hundert Meter weit gegangen, als ich meinen voreiligen Entschluß schon bereute. Ich habe eine zu lebhafte Phantasie, um ein wirklich mutiger Mann zu sein, aber allein schon der Gedanke, für ängstlich gehalten zu werden, macht mich krank. Ich brachte es einfach nicht fertig, mich unverrichteter Dinge wieder zurückzuschlei-chen, also ging ich weiter, obwohl sich alles in mir dagegen sträubte.

Es war grauenvoll. Die Bäume standen so dicht, und ihre Zweige waren so ineinander verfilzt, daß ich vom Mondlicht nichts sehen konnte. Nur da und dort bildeten die hohen Bäume vor dem Hintergrund des bestirnten Himmels ein wirres Netz. Als meine Augen sich an die Finsternis gewöhnt hatten, lernte ich verschiedene Grade der Dunkelheit unter den Bäumen unterscheiden. An einzelnen Stellen konnte man undeutliche Umrisse sehen. Dazwischen lagen wie Höhlenöffnungen tiefschwarze Schatten, vor denen ich voller Schrecken zurückzuckte. Ich mußte an den verzweifelten Schrei des gemarterten Iguanodons denken, jenen entsetzlichen Schrei, der die Wälder hatten erzittern lassen, und an die warzige, von Blut triefende Schnauze, die ich im Schein von Lord Johns Fackel gesehen hatte. Im Jagdgebiet dieser Bestie befand ich mich jetzt. Jeden Augenblick konnte sie sich aus dem Schatten auf mich stürzen - dieses namenlose, schreckliche Ungeheuer. Ich hielt an, nahm eine Patrone aus der Tasche und öffnete die Kammer meines Gewehrs. Als ich den Hebel berührte, setzte mein Herz aus. Was ich mitgenommen hatte, war die Schrotflinte und nicht mein Gewehr!

Wieder war ich nahe daran umzukehren, aber wieder wehrte sich mein verrückter Stolz gegen den Gedanken. Ich konnte und durfte nicht aufgeben. Letzten Endes war ein Gewehr bei den Gefahren, die mir begegnen konnten, ebenso nutzlos wie eine Schrotflinte.

War schon die Dunkelheit im Walde erschreckend genug gewesen, so wirkte das stille weiße Mondlicht auf der Wiese der Iguanodons noch unheimlicher. Im Gebüsch versteckt, blickte ich lange Zeit hinüber. Keines der riesigen Tiere war zu sehen. Vielleicht hatte die Tragödie, der eines von ihnen zum Opfer gefallen war, sie von der Weide vertrieben. Im dunstigen, silbrigen Licht konnte ich keine Spur von irgendeinem Lebewesen entdecken. Ich raffie mich auf und huschte rasch über die Lichtung. Im Dschungel auf der anderen Seite fand ich den Bach wieder, der mein Wegweiser sein sollte. Wenn ich ihm folgte, mußte ich zum See kommen, und wenn ich an ihm entlang zurückging, konnte ich unser Lager nicht verfehlen. Das verfilzte Gestrüpp zwang mich mehrmals, ihn aus den Augen zu lassen, aber ich blieb stets in Hörweite seines Plätscherns und Rauschens.

Auf meinem Weg den Hang hinab lichtete sich der Wald, und Büsche mit einzelnen hohen Bäumen dazwischen traten an seine Stelle. Hier kam ich gut vorwärts und konnte sehen, ohne selbst gesehen zu werden. Ich ging dicht am Sumpf der Pterodactylen vorbei. Eines dieser großen Untiere stieg mit trockenem, ledernem Flügelschlag ganz in meiner Nähe auf - es hatte eine Spannweite von mindestens zwanzig Fuß - und schoß in die Lüfte empor. Als es vor dem Mond vorbeiflog, schien das Licht durch seine Hautflügel hindurch, und es sah aus wie ein fliegendes Gerippe. Ich duckte mich tief zwischen die Büsche, denn ich wußte, daß die Kreatur mit einem einzigen Schrei Hunderte ihrer abscheulichen Genossen auf mich hetzen konnte. Erst als sie weg war, wagte ich es, mich weiterzuschleichen.

Die Nacht war bisher außerordentlich still gewesen, doch jetzt vernahm ich plötzlich ein leises, polterndes Geräusch, ein unauftörliches Gemurmel, irgendwo vor mir. Je weiter ich kam, desto lauter wurde es, bis es endlich unmittelbar in meiner Nähe war. Als ich stehenblieb, hörte ich das Geräusch gleichmäßig laut, also mußte es von derselben Stelle kommen. Es klang wie ein überkochender Kessel oder wie das Brodeln in einem großen Topf. Bald entdeckte ich die Ursache. In der Mitte einer kleinen Lichtung stieß ich auf einen Teich aus einer schwarzen, teerartigen Masse, deren Oberfläche sich in großen Blasen hob und senkte. Die Luft darüber zitterte vor Hitze, und der Boden in der Umgebung war so heiß, daß ich ihn nicht anfassen konnte.

Der vulkanische Ausbruch, der vor so vielen Jahren dieses Plateau emporgehoben hatte, war also noch nicht am Ende seiner Kraft. Da und dort waren mir schon geschwärzte Felsen und Lavahügel unter der üppigen Vegetation aufgefallen, aber dieser Asphaltteich im Dschungel war für mich das erste Anzeichen dafür, daß der alte Vulkan noch aktiv war. Für eine eingehende Untersuchung hatte ich jedoch keine Zeit, denn ich mußte mich beeilen, wenn ich bis zum Morgen wieder im Lager sein wollte.

Wie gesagt, es war grauenvoll, und ich werde mich noch lange an diese nächtliche Wanderung erinnern. Ich schlich mich am Rande großer Lichtungen entlang, ich tastete mich durch den Dschungel und blieb mit klopfendem Herzen stehen, wenn ein Ast knackte. Immer wieder tauchten für einen Augenblick riesige Schatten auf und waren sofort wieder verschwunden. Große, schweigende Schatten, die auf weichen Sohlen dahinschlichen. Wie oft hielt ich an und wollte umkehren, aber jedesmal besiegte mein Stolz die Furcht und befahl mir unerbittlich, weiterzugehen.

Endlich, gegen ein Uhr früh, sah ich Wasser durch die Bäume schimmern. Und nach weiteren zehn Minuten stand ich im Schilf am Ufer des Gladys-Sees. Ich war sehr durstig, und so legte ich mich zunächst auf den Bauch und trank in langen Zügen von dem frischen, kalten Wasser. Dicht am Seeufer lag ein riesiger einzelner Lavablock. Dort hinauf stieg ich, und flach auf seiner Oberfläche ausgestreckt, hatte ich von dort aus nach allen Richtungen einen ausgezeichneten Ausblick.

Schon das erste, was ich sah, erfüllte mich mit Erstaunen. Als ich das Panorama von der Spitze des großen Baumes beschrieb, sagte ich, daß ich an der gegenüberliegenden Seite der Klippen eine Anzahl dunkler Flecken bemerkt hatte, die ich für Höhlenöffnungen hielt. Als ich nun zu diesen Klippen hinaufolickte, sah ich dort überall Lichtkreise, scharf begrenzte, rötliche Flecken, die wie erleuchtete Bullaugen eines Dampfers bei Nacht wirkten. Im ersten Moment dachte ich an glühende Lava, doch dann war mir sofort klar, daß sich jede Art von vulkanischer Tätigkeit in einem Krater und nicht an seinen Rändern abspielt. Was also dann? Es schien unmöglich und dennoch konnte es nicht anders sein: Diese rötlichen Flecken waren der Widerschein von Feuern, die in den Höhlen brannten - von Feuern, die von Menschenhand entzündet sein mußten.

Demnach gab es also doch Menschen auf dem Plateau, und damit war mein Erkundungsgang gerechtfertigt!

Ich lag lange auf dem Lavabrocken und beobachtete die roten, flackernden Lichtkreise, die an die zehn Meilen von mir entfernt waren. Nach einer Weile war mein Blick sogar so konzentriert, daß ich es erkennen konnte, wenn jemand vor dem Widerschein eines Feuers vorbeiging.

Was hätte ich darum gegeben, wenn ich zu diesen Höhlen hinaufschleichen, hineinspähen und den anderen am Morgen hätte berichten können, wie die Lebewesen aussahen, die dort oben hausten. Im Moment war daran jedoch nicht zu denken, aber Maple-White-Land zu verlassen, ohne sich in diesem Punkt Gewißheit verschaffi zu haben, daran war erst recht nicht zu denken.

Der Gladys-See - mein See - lag vor mir wie Quecksilber, das Spiegelbild des Mondes leuchtete hell aus seiner Mitte. Er war flach, an vielen Stellen sah ich niedrige Sandbänke aus dem Wasser ragen. Überall auf seiner Oberfläche bemerkte ich Lebenszeichen, manchmal nur Ringe und kleine Wellen im Wasser, manchmal glitzernd einen großen Fisch mit silbernen Flanken durch die Luft schnellend, und zuweilen tauchte der gewölbte, schieferfarbene Rücken eines schwimmenden Ungeheuers auf. Einmal sah ich auf der gelben Sandbank ein Tier, das wie ein riesiger Schwan aussah, mit plumpem Körper und langem, biegsamem Hals. Nach einem Moment glitt es schon wieder ins Wasser, tauchte unter und war nicht mehr zu sehen.

Bald wurde meine Aufmerksamkeit von diesen fernen Erscheinungen abgelenkt und wandte sich dem zu, was sich direkt zu meinen Füßen abspielte. Zwei Wesen, die riesigen Gürteltieren glichen, waren zur Tränke herabgekommen und hockten am Ufer. Ihre langen, geschmeidigen Zungen bewegten sich beim Trinken wie rote Bänder. Ein riesenhafter Hirsch mit weit verzweigtem Geweih, ein prachtvolles Tier von königlicher Haltung, kam mit einer Hirschkuh und zwei Kitzen und trank neben den Gürteltieren. Es war ein Prachtexemplar von einem Hirsch. Unsere europäischen Elche hätten ihm nicht einmal bis zum Blatt gereicht. Er stieß plötzlich einen kehligen, warnenden Schrei aus und verschwand mit seiner Familie im Schilf. Auch die Gürteltiere flohen. Ein Neuankömmling, ein ganz ungeheuerliches Tier, stapfte den Pfad herab.

Einen Augenblick überlegte ich, wo ich dieses abscheuliche Untier schon gesehen haben könnte, diesen gewölbten, mit dreieckigen Platten besetzten Rücken und diesen seltsamen, vogelartigen Kopf, der sich dicht über dem Boden dahinschob. Dann fiel es mir wieder ein. Das war der Stegosaurus - die gleiche Kreatur, die Maple White in seinem Skizzenbuch festgehalten und die Challengers Aufmerksamkeit erregt hatte. Da stand er - vielleicht sogar derselbe, der dem Amerikaner begegnet war. Die Erde erzitterte unter seinem unheimlichen Gewicht, und sein geräuschvolles Saufen tönte weit in die stille Nacht hinein. Fünf Minuten lang stand er so dicht neben meinem Felsen, daß ich die scheußlichen, wackelnden Kämme auf seinem Rücken beinahe mit der ausgestreckten Hand hätte berühren können. Dann schwankte er davon und verschwand hinter den Felsen.

Ich blickte auf die Uhr und stellte fest, daß es schon halb drei war und damit höchste Zeit für mich, den Rückzug anzutreten. Die Orientierung bereitete keine Schwierigkeiten, denn auf meinem Hinweg hatte ich den kleinen Bach immer zu meiner Linken gehabt, und dieser mündete keinen Steinwurf von meinem Lavablock entfernt in den See. Ich machte mich also auf den Weg, zufrieden, daß ich den anderen tolle Neuigkeiten berichten konnte. Das wichtigste war natürlich die Entdeckung der erleuchteten Höhlen und die Gewißheit, daß sie von Menschen bewohnt wurden. Aber darüber hinaus konnte ich aus eigener Anschauung über den Gladys-See berichten. Ich konnte bezeugen, daß er voller seltsamer Lebewesen war. Auch hatte ich urzeitliche Geschöpfe gesehen, denen wir bisher noch nicht begegnet waren.

Ich stapfte den Abhang hinauf und hatte schon etwa den halben Weg zum Lager zurückgelegt, als meine Gedanken durch ein sonderbares Geräusch hinter mir wieder in die Wirklichkeit zurückgeholt wurden. Es klang wie ein Schnarchen oder Grollen, tief und überaus bedrohlich. Irgendeine absonderliche Kreatur befand sich offenbar ganz in meiner Nähe, es war aber nichts zu sehen, und so beeilte ich mich, weiterzukommen. Ich hatte ungefähr eine halbe Meile zurückgelegt, als das Geräusch sich plötzlich wiederholte, immer noch hinter mir, aber viel lauter und noch bedrohlicher als vorher. Bei dem Gedanken, daß die Bestie hinter mir her sein könnte, stand mir schier das Herz still. Es überlief mich kalt, und die Haare sträubten sich mir bei dieser Überlegung. Daß sich diese Ungeheuer gegenseitig in Stücke rissen, erschien im Rahmen ihres Daseinskampfes nicht verwunderlich; aber daß sie sich auch gegen mich wenden könnten, diese Vorstellung war einfach ungeheuerlich. Wieder fiel mir die blutbeschmierte Fratze ein, die wir im Schein von Lord Johns Fackel erblickt hatten, gleich einer Vision aus Dantes Inferno.

Mit schlotternden Knien blieb ich stehen und starrte den mondbeschienenen Pfad hinter mir entlang. Alles war still wie in einer Traumlandschaft, silbrige Lichtungen und die schwarzen Flecke der Büsche waren alles, was ich sah. Doch dann plötzlich wieder das tiefe, kehlige Krächzen, jetzt noch lauter und näher als zuvor. Es gab keinen Zweifel mehr. Irgend etwas war hinter mir her und kam mit jeder Minute näher.

Ich stand wie gelähmt und spähte immer noch durch das Gelände, das ich durchquert hatte. Und dann sah ich es plötzlich! Das Gebüsch auf der gegenüberliegenden Seite der Lichtung geriet in Bewegung. Ein großer, dunkler Schatten tauchte daraus hervor und hüpfte heraus ins helle Mondlicht. Ich sagte bewußt >hüpfte<, denn das Ungeheuer bewegte sich wie ein Känguruh und sprang in aufrechter Haltung auf seinen kräftigen Hinterbeinen vorwärts, wobei die Vorderbeine vor der Brust angewinkelt waren. Es war größer als ein ausgewachsener Elefant. Trotz seiner ungeheuren Massigkeit waren seine Bewegungen jedoch außerordentlich behende. Im ersten noch hoffnungsvollen Moment glaubte ich, es sei ein Iguanodon, eines jener abgrundhäßlichen, aber harmlosen Tiere.

Aber das war nicht der sanfte, rehartige Kopf des großen, dreizehigen Blattfressers, sondern ein breites, gedrungenes, krötenartiges Gesicht. Das grausige Schreien und die unbändige Energie seiner Verfolgung gaben mir vollends die Gewißheit, daß es sich hier um einen der großen fleischfressenden Dinosaurier handeln mußte, um eine jener schrecklichsten Bestien, die es je auf Erden gegeben hat. Mitten in seinem leichtfüßigen Vorwärtsspringen ließ sich das Untier alle zwanzig Meter auf die Vorderpfoten nieder und schnupperte am Boden. Es schnüffelte meiner Spur nach. Manchmal verlor es sie für ein paar Sekunden. Dann fand es sie aber wieder und sprang in riesigen Sätzen weiter.

Der Angstschweiß stand mir auf der Stirn. Was sollte ich tun? Meine Vogelflinte nützte mir wenig. Ich sah mich verzweifelt nach einem Felsen oder Baum um, aber ich befand mich ausgerechnet in einem mit Buschwerk bewachsenen Gelände, wo nichts Höheres zu sehen war. Außerdem wußte ich, daß die Bestie einen ausgewachsenen Baum wie einen Strohhalm umreißen konnte. Meine einzige Chance lag in der Flucht. Auf dem unebenen, rissigen Boden kam ich nicht schnell vorwärts. Ich sah mich voller Verzweiflung um und entdeckte einen hartgetretenen Pfad, der den Bach kreuzte. Auf unseren Erkundungen hatten wir schon mehrere solcher Wildwechsel angetroffen. Dort konnte ich vielleicht meinen Vorsprung halten. Ich bin ein guter Läufer und war in ausgezeichneter Form.





Ich warf die wertlose Flinte fort und rannte um mein Leben. Mein Glieder schmerzten, mein Atem ging keuchend, meine Kehle brannte, aber ich rannte weiter, dieses Schreckgespenst im Nacken.

Schließlich mußte ich anhalten, kaum mehr fähig, mich auf den Beinen zu halten. Für einen Augenblick dachte ich schon, ich hätte das Ungeheuer abgeschüttelt. Ruhig lag der Pfad da. Und dann war plötzlich mit Krachen und Splittern, mit dem Getrappel riesiger Füße und dem Keuchen gigantischer Lungen der Drache wieder hinter mir her. Er war mir unmittelbar auf den Fersen.

Was für ein Narr war ich gewesen, so lange zu überlegen, ehe ich die Flucht ergriffen hatte. Bis dahin hatte er mich nur nach dem Geruch verfolgt und war verhältnismäßig langsam vorangekommen. Als ich aber zu rennen anfing, hatte er mich gesehen. Und von da ab sprang er in gewaltigen Sätzen. Das Mondlicht schien auf seine riesigen vorstehenden Augen, auf die gewaltigen Zahnreihen in seinem offenen Maul und die blanken Krallen an seinen kurzen, mächtigen Vorderarmen. Mit einem Entsetzensschrei warf ich mich herum und stürzte kopflos weiter. Hinter mir wurde der schwere, keuchende Atem des Ungeheuers lauter und lauter. Schon waren seine schweren Tritte neben mir, und ich erwartete jeden Augenblick, seinen Würgegriff im Nacken zu spüren. Da gab es plötzlich einen Krach - ich stürzte ins Leere, und alles versank in Stille und Dunkelheit.

Als ich wieder zu mir kam - lange konnte ich nicht besinnungslos gewesen sein, höchstens ein paar Minuten -, bemerkte ich als erstes den ekelerregenden Gestank. Ich tastete umher und griff mit der einen Hand in etwas, das sich wie ein Klumpen Fleisch anfühlte, während ich in der anderen plötzlich einen Knochen hatte. Über mir ein kreisrunder Ausschnitt des Sternenhimmels - ich lag also auf dem Grund einer Grube.

Ich rappelte mich auf. Jeder einzelne Knochen tat mir weh, aber gebrochen schien nichts zu sein. Ich konnte alle Glieder und Gelenke bewegen.

Als mir langsam wieder einfiel, warum ich überhaupt in diese Grube gestürzt war, riß ich erschreckt den Kopf hoch, aber nirgends eine Spur des Ungeheuers. Auch nicht das geringste Geräusch.

Ich tastete mich vorsichtig durch die Dunkelheit. Die Wände der Grube fielen schräg ab. Ihr Boden war eben, der Durchmesser betrug etwa zwanzig Fuß. Überall lagen Fleischfetzen herum. Sie waren halb verwest, daher der unerträgliche Gestank.

Genau in der Mitte der Grube berührten meine Finger etwas Hartes: einen senkrecht stehenden Pfahl, der in den Boden gerammt war. Er war so hoch, daß ich seine Spitze mit der Hand nicht erreichen konnte. Er schien mit Fett oder Öl eingeschmiert zu sein.

Plötzlich erinnerte ich mich an die Schachtel mit Streichhölzern in meiner Hosentasche. Ich zog sie heraus, zündete eines an und sah mich in seinem flackernden Schein um.

Wozu die Grube diente, war mir im selben Moment klar.

Es handelte sich um eine Falle - von Menschenhand gebaut. Der Pfahl in der Mitte war an die neun Fuß hoch, an seiner Spitze klebte das vertrocknete Blut von den Tieren, die sich hier aufgespießt hatten. Die Fleischfetzen auf dem Boden dienten als Köder.

Menschen könnten sich auf dem Plateau nicht behaupten, hatte Professor Challenger einmal gesagt. Ihre jämmerlichen Waffen und Hilfsmittel seien gegen die Untiere, die es bewohnten, nicht ausreichend. Aber sie hatten sich zu helfen gewußt und eine Möglichkeit gefunden, zu überleben. In ihre kleinen Höhlen konnten die Ungeheuer nicht eindringen, sie boten den Menschen, wie sie nun auch immer aussehen mochten, Schutz vor räuberischen Angriffen. Gegen die grenzenlose Kraft der Bestien machtlos, hatten sie auf den Trampelpfaden Gruben angelegt und damit bewiesen, daß sie den Tieren doch überlegen waren.

Für einen durchtrainierten Mann wie mich war es keine Schwierigkeit, die schrägen Wände der Grube zu überwinden, aber ich brauchte meine Zeit, bis ich wieder nach oben und damit in die Reichweite des Ungeheuers gelangte, dem ich so knapp entronnen war. Woher konnte ich wissen, ob es mir nicht immer noch auflauerte?

Beim Gedanken an ein Gespräch zwischen den beiden Professoren über die Lebensgewohnheiten der Saurier faßte ich schließlich Mut. Challenger und Summerlee waren sich einig gewesen, daß diese Tiere praktisch kein Gehirn besitzen, weil in ihrer winzigen Schädelhöhle kein Platz dafür vorhanden ist. Ihr Aussterben sei in erster Linie auf ihre eigene Dummheit zurückzuführen, die es ihnen nicht ermöglicht hatte, sich neuen Umweltbedingungen anzupassen.

Falls die Bestie noch auf der Lauer lag, war das ein Beweis dafür, daß sie begriffen haben mußte, was mit mir passiert war, und somit die Fähigkeit besaß, Ursache und Wirkung miteinander in Verbindung zu bringen.

Da der Saurier jedoch laut Challenger und Summerlee kein Gehirn besaß und sich demzufolge nur durch seine Instinkte leiten ließ, mußte das Ungeheuer, das mich verfolgt hatte, seine Jagd in dem Moment aufgegeben haben, da seine Beute im wahrsten Sinne des Wortes spurlos verschwunden war.

Nach diesen Überlegungen wagte ich es schließlich, bis an den Rand der Grube hinaufzuklettern und darüber hinwegzuspähen. Die Sterne waren am Verblassen, der Himmel wurde bereits heller, und ein kühler Morgenwind blies mir ins Gesicht. Von meinem Feind war nichts zu hören und zu sehen.

Ich kletterte vollends aus der Grube und hockte mich daneben auf den Boden, bis ich den Mut auforachte, mich über den Pfad zurückzustehlen. Ich fand sogar das Gewehr wieder, das ich weggeworfen hatte, hob es auf und stieß schließlich auf den Bach, der mir die Richtung zum Lager anzeigte.

Und so machte ich mich auf den Heimweg, wobei ich tausendmal ängstlich über die Schulter blickte.

Plötzlich vernahm ich etwas, das mich an meine fernen Gefährten mahnte. Von weither erscholl durch die klare, stille Morgenluft der scharfe, peitschende Ton eines einzelnen Gewehrschusses. Ich blieb stehen und lauschte, aber es folgte nichts weiter. Einen Moment lang erschreckte mich der Gedanke, irgendeine akute Gefahr könnte über meine Freunde hereingebrochen sein, aber dann fiel mir eine einfachere und natürlichere Erklärung ein. Es war schon heller Tag. Sie hatten nun ohne Zweifel meine Abwesenheit bemerkt, nahmen an, daß ich mich im Wald verirrt hätte, und hatten diesen Schuß abgefeuert, um mir die Richtung zu weisen. Wir hatten uns zwar strikt gegen jedes Schießen entschieden, wenn sie jedoch glaubten, daß ich in Lebensgefahr schwebte, würden sie nicht zögern. Ich mußte also so schnell wie möglich zurück und sie beruhigen.

Ich war müde und erschöpft, und so kam ich nicht so rasch voran, wie ich gern wollte. Aber endlich gelangte ich in bekannte Gefilde. Zu meiner Linken lag der Sumpf der Pterodactylen, vor mir war die Iguanodon-Wiese. Wenig später war ich im letzten Waldgürtel, der mich von Fort Challenger trennte. Mit lauter Stimme rief ich meine Gefährten, um ihre Befürchtungen zu zerstreuen. Keine Antwort kam. Diese Stille schien mir nichts Gutes zu verheißen. Ich beschleunigte meine Schritte und rannte das letzte Stück. Die Schutzhecke erhob sich vor mir genau so, wie ich sie verlassen hatte, aber das Tor stand offen. Ich stürzte hinein. Ein furchtbarer Anblick bot sich mir im kalten Morgenlicht. Unsere Ausrüstung lag in wüstem Durcheinander über den Boden verstreut. Meine Kameraden waren verschwunden, und neben der verglühenden Asche unseres Feuers war das Gras rot gefärbt von einer scheußlichen Blutlache.

Von diesem plötzlichen Schock war ich so betäubt, daß ich für kurze Zeit ganz von Sinnen gewesen sein muß. Wie man sich auf einen bösen Traum besinnt, erinnere ich mich dunkel, daß ich planlos um das verlassene Lager herum durch den Wald irrte und immer wieder laut nach meinen Kameraden rief. Die schweigenden Schatten aber gaben keine Antwort. Der schreckliche Gedanke, daß ich sie nie wiedersehen würde und von jetzt an allein und verlassen an diesem entsetzlichen Ort wäre, ohne Aussicht, je wieder in die Außenwelt zu gelangen, trieb mich zur Verzweiflung. Ich hätte mir die Haare ausreißen und mit dem Kopf gegen die Bäume rennen mögen. Jetzt erst begriff ich, wie sehr ich mich auf meine Gefährten verlassen hatte - auf Challengers unerschütterliches Selbstvertrauen und auf Lord Johns überlegene, humorvolle Kühle. Ohne sie war ich wie ein Kind im Dunkeln, hilflos und ohnmächtig. Ich wußte nicht, wohin ich mich wenden oder was ich zuerst tun sollte.

Nachdem ich geraume Zeit in Verwirrung dagesessen hatte, machte ich mich daran, zu untersuchen, was für ein unverhoffies Mißgeschick meine Gefährten ereilt haben mochte. Der Zustand des Lagers sprach dafür, daß sie angegriffen worden waren, und der Gewehrschuß gab den Zeitpunkt an. Da nur ein einziger Schuß gefallen war, mußte man annehmen, daß alles in Sekundenschnelle vorüber gewesen war. Die Gewehre lagen noch am Boden, und eines davon - das von Lord John - enthielt eine leere Patronenhülse. Challengers und Summerlees Decken neben dem Feuer sprachen dafür, daß sie zur Zeit des Angriffs noch geschlafen hatten. Die Kisten mit Munition und Lebensmitteln sowie unsere Kameras und Plattenkästen lagen im wüsten Haufen durcheinander, aber nichts davon fehlte. Lediglich die unverpackten Nahrungsmittel - und ich erinnerte mich, daß wir eine ganze Menge davon hatten - waren verschwunden. Es mußten also Tiere gewesen sein, keine Menschen.

Wo aber waren meine Kameraden? Wenn sie von wilden Tieren zerrissen worden waren, dann hätten Überreste und nicht nur eine Blutlache vorhanden sein müssen. Ein Ungeheuer wie jenes, das mich in der Nacht verfolgt hatte, konnte mit Sicherheit seine Opfer einfach davontragen. In diesem Falle hatten die anderen die Verfolgung aufgenommen, hätten aber ganz bestimmt ihre Gewehre mitgenommen. Je länger ich mich bemühte, die Zusammenhänge in meinem verwirrten und übermüdeten Kopf zu ergründen, desto rätselhafter erschien mir alles. Ich suchte den Wald ab, konnte aber keine Spur finden.

Plötzlich kam mir ein Gedanke, der etwas Trost brachte. Ich war doch nicht ganz allein auf der Welt. Unten am Fuß der Klippen und in Rufweite wartete der treue Zambo. Ich ging zum Rand des Plateaus und blickte hinunter. Da hockte er auf seinen Decken neben dem Feuer in seinem kleinen Lager. Zu meiner Überraschung saß ihm ein zweiter Mann gegenüber. Einen Augenblick hüpfte mein Herz vor Freude. Ich dachte schon, einer meiner Kameraden wäre heil nach unten gelangt. Aber ein zweiter Blick zerstörte diese Hoffnung. Im Schein der aufgehenden Sonne leuchtete die Haut des Mannes rötlich auf. Er war ein Indianer.

Ich rief laut und schwenkte mein Taschentuch. Zambo sah sofort hoch, winkte mit der Hand und lief zur Felsenzinne. Kurz darauf stand er oben nahe bei mir und hörte sich bekümmert meine Geschichte an.

»Bestimmt der Teufel sie alle holen, Mr. Malone«, sagte er. »Sie gehen in Teufelsland, und er sie alle holen. Sie auf mich hören, Mr. Malone, und kommen schnell runter, sonst er Sie auch noch holen.«

»Aber wie denn?«

»Sie nehmen Kletterpflanzen von Bäumen und werfen zu mir. Ich binden fest an diesen Stumpf, dann Sie haben Brücke.«

»Geht nicht«, rief ich zu Zambo hinüber. »Es gibt hier keine Kletterpflanzen, die uns aushallen würden.«

»Schicken nach Seilen, Mr. Malone. Schicken nach Indianerdörfern, viele Lederriemen in Indianerdorf. Indianer unten, ihn hinschicken.«

»Wer ist der Mann?«

»Einer von unseren Indianern. Die anderen ihn auf den Kopf schlagen und nehmen Lohn weg. Er kommen zu uns zurück. Jetzt wollen nehmen Brief, bringen Seil - tun alles.«

Einen Brief abschicken! Warum nicht? Vielleicht konnte er Hilfe bringen. Wenn das nicht der Fall war, so war wenigstens dafür gesorgt, daß unsere Opfer nicht umsonst waren und die Nachricht von unseren Entdek-kungen London erreichte. Zwei abgeschlossene Briefe hatte ich schon fertig. Ich wollte diesen Tag nutzen, noch einen dritten zu schreiben, der meine jüngsten Erlebnisse bis zu dieser Stunde enthält.

Ich wies Zambo an, am Abend wiederzukommen, und verbrachte einen trübsinnigen einsamen Tag damit, meine Abenteuer seit der vergangenen Nacht niederzuschreiben. Außerdem verfaßte ich einen Hilferuf, der an irgendeinen weißen Händler oder Dampferkapitän, dem der Indianer begegnen mochte, gerichtet war. Ich bat darin, uns Seile zu schicken, da unser Leben davon abhinge. Diese Dokumente werfe ich Zambo am Abend hinüber, dazu meine Geldbörse mit drei Goldstücken. Sie sind für den Indianer bestimmt, und ich verspreche ihm doppelt soviel, wenn er mit Stricken zurückkommt.

Sie werden also jetzt verstehen, lieber Mr. McArdle, wie diese Botschaft zu Ihnen gelangt, und Sie werden ferner wissen, was passiert ist, falls Sie nie wieder etwas von Ihrem unglückseligen Korrespondenten hören. Heute abend bin ich zu müde und deprimiert, um noch irgendwelche Pläne zu schmieden. Morgen muß ich mir eine Möglichkeit einfallen lassen, wie ich nach den Spuren meiner unglückseligen Freunde suchen kann, ohne die Verbindung mit dem Lager zu verlieren.

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