Wir hatten uns eingebildet, daß unsere Verfolger, die Affenmenschen, von unserem Versteck im Unterholz nichts wüßten, aber wir sollten bald merken, daß wir uns verrechnet hatten. Man hörte keinen Laut im Wald. Nicht ein Blatt regte sich in den Bäumen, alles war friedlich um uns. Aber durch frühere Erlebnisse hätten wir eigentlich wissen müssen, wie schlau und geduldig diese Kreaturen beobachten und abwarten konnten, bis ihre Chance kam.
Auch nach dem ausgedehnten Schlaf waren alle noch erschöpft. Die Strapazen des Vortages und das unzureichende Essen machten sich bemerkbar. Summerlee war noch immer so schwach, daß er sich nur mit Mühe auf den Beinen halten konnte. Er besaß jedoch eine verbissene Energie und wollte sich nicht geschlagen geben. Wir hielten eine Lagebesprechung ab und beschlossen, noch für ein oder zwei Stunden hierzubleiben und unser dringend notwendiges Frühstück einzunehmen. Danach wollten wir uns über das Plateau und um den Gladys-See herum zu den Höhlen schleichen, wo die Indianer hausten. Wir rechneten damit, daß unsere Schützlinge ein gutes Wort einlegen und uns einen herzlichen Empfang bei ihren Genossen sichern würden. Und dann, nach Erfüllung dieser Aufgabe und im Besitz wertvoller Kenntnisse über dieses Land, wollten wir unsere ganze Energie auf die lebenswichtige Frage unseres Abstiegs richten. Sogar Challenger war jetzt bereit zuzugeben, daß wir dann alles Menschenmögliche getan hatten und verpflichtet waren, unsere Entdeckungen zurück in die Zivilisation zu tragen.
Wir konnten uns endlich die Indianer, die wir gerettet hatten, in Ruhe etwas näher ansehen. Sie waren kleine Männer, drahtig, gelenkig und gut gebaut. Ihre langen schwarzen Haare waren am Hinterkopf mit Lederbändern zu einem Knoten gebunden. Auch ihr Lendenschurz war aus Leder. Sie hatten bartlose, gutgeschnittene und gutmütige Gesichter. Ihre zerfetzten, blutigen Ohrläppchen ließen erkennen, daß sie darin Schmuckstücke getragen hatten, die ihre Peiniger herausgerissen hatten. Ihre Sprache war fließend, aber wir verstanden natürlich kein Wort davon. Als sie aufeinander zeigten und mehrmals das Wort Accala wiederholten, vermuteten wir, daß das der Name ihres Volkes war. Zuweilen, die Gesichter von Furcht und Haß verzerrt, drohten sie mit geballten Fäusten in den Wald hinein und riefen Doda! Doda!, was offenbar die Bezeichnung für den Feind war.
»Was halten Sie von ihnen, Challenger?« fragte Lord John. »Für mich steht fest, daß der kleine Bursche, der den Kopf vorn rasiert hat, ein Häuptling ist.«
In der Tat mußte dieser Mann eine bevorzugte Stellung einnehmen, denn die anderen wagten nur mit allen Anzeichen tiefen Respekts das Wort an ihn zu richten. Er schien der jüngste von ihnen zu sein, war aber dennoch von so stolzer, hochmütiger Haltung, daß er sich wie ein ungezähmtes Pferd aufoäumte und sich mit blitzenden Augen entfernte, als Challenger ihm seine große Pranke auf den Kopf legte. Dann hielt er sich die Hand vor die Brust und wiederholte in würdevoller Haltung mehrere Male das Wort Mareta. Der Professor packte unbeeindruckt den nächsten Indianer an der Schulter und machte sich daran, über ihn zu dozieren, als hätte er ein ausgestopftes Exemplar vor sich.
»Ob man nun nach der Schädelkapazität, dem Stirnwinkel oder nach irgendwelchen anderen Methoden urteilt«, sagte er mit seiner schulmeisterlichen Art, »man kann die Entwicklungsstufe dieser Leute durchaus nicht als primitiv bezeichnen. Im Gegenteil, ich würde sie weit höher ansetzen als die Entwicklungsstufe von so manchem südamerikanischen Indianerstamm, der mir begegnet ist. Wie sich diese Rasse hier entwickelt haben kann, können wir uns mit unseren herkömmlichen ^eorien nicht erklären. Das gilt meiner Meinung nach auch für die Affenmenschen. Sie sind so viel höher entwickelt als jedes Tier, das uns bisher hier begegnet ist, daß man den Ursprung ihrer Entwicklungsgeschichte nicht hier auf diesem Plateau suchen darf.«
»Aber sie können ja nicht vom Himmel gefallen sein«, sagte Lord John.
»Das mit Sicherheit nicht«, sagte Professor Challenger. »Die Frage ihres Ursprungs wird in wissenschaftlichen Kreisen Europas und Amerikas heftige Diskussionen auslösen. Ich habe natürlich bereits meine Erklärung für das Phänomen.« Er warf sich in die Brust und setzte eine hochmütige Miene auf. »Folgendes: Den gegebenen Bedingungen der geografischen Lage des Landes entsprechend, hat sich das tierische Leben bis zum vertebralen Stadium entwickelt, wobei alte Spezies überlebten und gemeinsam mit den neuen Formen tierischen Lebens dieses Plateau bevölkerten. Daher treffen wir neuzeitliche Geschöpfe wie den Tapir an - ein Tier mit einer stattlich langen Ahnenreihe -, den Hirsch und den Ameisenbär, wie auch Reptilien des Jurazeitalters. Soweit ist der Fall klar. Aber - wie steht es nun mit den Affenmenschen und den Indianern? Wie soll sich der wissenschaftlich denkende Mensch ihre Anwesenheit auf diesem Plateau erklären? Doch nur durch eine Invasion von außen. Es ist durchaus denkbar, daß in längst vergangenen Zeiten ein anthropoider Affe in diesen Breitengraden existiert und seinen Weg auf das Plateau gefunden hat. Er hat sich weiterentwickelt, und schließlich wurde er zu der Kreatur, die wir gesehen haben und die .« - er sah mich mit scharfem Blick an - »zum Teil vom Aussehen und der Gestalt her mit den Menschen verglichen werden könnte, wäre sie mit Intelligenz ausgestattet.«
»Ja, mit Intelligenz«, warf Lord John ein.
Professor Challenger ignorierte die Bemerkung. »Was nun diese Indianer anbelangt«, fuhr er unbeirrt fort, »so besteht für mich kein Zweifel, daß sie erst später auf das Plateau gekommen sind. Von Hunger und dem Kampf ums Dasein getrieben, haben sie sich in das Maple-White-Land geflüchtet. Da sie hier wilde Tiere vorfanden, Ungeheuer von bisher nicht gekannter Scheußlichkeit und Brutalität, haben sie sich in Höhlen verschanzt - unser junger Freund hat die Lage dieser Höhlen beschrieben und sie mit eigenen Augen gesehen. Aber nicht nur monströse Ungeheuer zählten zu den Feinden der Neuankömmlinge, sondern auch die Affenmenschen, die jene als Eindringlinge betrachteten und einen erbitterten Kampf gegen sie führten und noch führen. Einen Kampf, der mit einer Schläue geführt wird, zu der die Ungeheuer nicht fähig sind. Und damit dürfte wohl auch ihre begrenzte Anzahl erklärt sein. Die der Indianer, meine ich natürlich. Habe ich mich verständlich ausgedrückt, meine Herren, oder sind noch irgendwelche Erklärungen nötig?«
Professor Summerlee war zu erschöpft, um das übliche Streitgespräch anzuzetteln, und schüttelte lediglich mißbilligend den Kopf, während Lord John erklärte und sich dabei am Kopf kratzte, daß dies nicht seine Gewichtsklasse sei und er daher auf einen Kampf verzichte.
Und ich, ich war wieder einmal derjenige, der den Dingen durch seine prosaische und praktische Art die plötzliche Wende gab. Diesmal mit der Feststellung, daß einer der Indianer verschwunden war.
»Erholt vielleicht bloß Wasser«, sagte Lord John. »Eine der leeren Büchsen fehlt - das ist der Beweis.«
»Wo holt er Wasser?« fragte ich. »Etwa in unserem Lager?«
»Nein, vom Bach. Er ist bloß ein paar hundert Meter von hier entfernt. Aber er läßt sich Zeit, stelle ich fest.«
»Ich sehe mal lieber nach«, sagte ich, nahm mein Gewehr und ging.
Es mag unbesonnen erscheinen, daß ich die Deckung unseres Dickichts aufgab, und sei es auch nur für ein so kurzes Stück. Man muß jedoch bedenken, daß wir viele Meilen vom Affendorf entfernt waren, die Bestien offenbar unseren Schlupfwinkel noch nicht entdeckt hatten und ich mit meinem Gewehr in der Hand keine Angst vor ihnen zu haben brauchte.
Nach kurzer Zeit schon hörte ich das Gemurmel des Bachs, aber ein Gestrüpp aus Bäumen und Buschwerk verdeckte ihn noch. An einer Stelle, die eben außerhalb des Gesichtsfeldes meiner Gefährten lag, bahnte ich mir einen Weg hindurch. Plötzlich bemerkte ich etwas Rotes, das zusammengekrümmt zwischen den Büschen lag. Als ich näher herankam, stellte ich voller Schrecken fest, daß es die Leiche des vermißten Indianers war. Er lag auf der Seite, die Knie an den Leib gezogen, den Kopf unnatürlich verdreht, so daß er über seine eigene Schulter zu blicken schien.
Ich rief nach meinen Freunden, rannte vorwärts und beugte mich über den Toten. Mein Schutzengel muß in diesem Augenblick ganz in meiner Nähe gewesen sein, denn irgendeine instinktive Furcht oder vielleicht auch ein leises Rascheln in den Blättern ließ mich hochblicken. Aus dem dichten, grünen Laub über meinem Kopf kamen langsam zwei lange muskulöse, mit roten Haaren bedeckte Arme herab. Noch einen Augenblick länger, und die großen Hände hätten meine Kehle umklammert. Ich sprang zurück, aber so schnell ich auch reagierte, die Hände waren noch flinker. Wohl verfehlten sie durch meinen plötzlichen Sprung ihren tödlichen Griff, aber die eine packte mich im Genick und die andere am Gesicht. Ich riß die Hände empor, um meine Kehle zu schützen. Im nächsten Moment war die riesige Pfote von meinem Gesicht auf den Hals herabgeglitten. Mühelos wurde ich vom Boden hochgehoben und fühlte, wie ein unwiderstehlicher Druck meinen Kopf weiter und weiter nach hinten zwang, bis die Spannung meiner Halswirbel unerträglich wurde. Mit letzter Kraft zerrte ich an der würgenden Hand und konnte sie von meinem Kinn wegdrücken. Ich blickte hoch und sah in ein furchtbares Gesicht mit erbarmungslosen hellblauen Augen, die derart hypnotisch auf mich wirkten, daß ich mich plötzlich nicht mehr wehren konnte. Als die Bestie spürte, wie ich in ihrem Griff erschlaffie, blitzten zwei weiße Fangzähne zu beiden Seiten des scheußlichen Mauls auf. Der Druck auf mein Kinn verstärkte sich von neuem. Dünne, farbige Nebel schillerten vor meinen Augen, und in meinen Ohren klingelten silberhelle Glöckchen. Undeutlich hörte ich aus weiter Ferne einen Schuß krachen und spürte, wie ich fiel und auf den Boden aufschlug, wo ich besinnungslos liegenblieb.
Als ich wieder zu mir kam, lag ich in unserem Versteck. Jemand hatte Wasser vom Bach geholt, und Lord John benetzte mir die Stirn, während mir Challenger und Summerlee mit besorgten Gesichtern den Kopf stützten. Für einen Moment tat ich einen Blick in die menschlichen Seelen hinter den wissenschaftlichen Masken. Es war mehr der Schock als eine wirkliche Verletzung, was mich umgeworfen hatte, und schon nach einer halben Stunde konnte ich mich - wenn auch mit schmerzendem Kopf und steifem Nacken - wieder aufsetzen.
»Mein lieber Malone, Sie sind gerade noch mal davongekommen«, sagte Lord John. »Als ich Ihren Schrei hörte, angerannt kam und den halb verdrehten Kopf und Ihre zappelnden Beine sah, dachte ich schon, wir wären einer weniger. In meiner Aufregung habe ich das Biest verfehlt, aber es hat Sie wenigstens losgelassen und war weg wie der Blitz. Verflixt! Wenn wir fünfzig Mann mit Gewehren hier hätten, ich würde die verdammte Bande ausräuchern und dieses Land gesäuberter verlassen, als wir es angetroffen haben.«
Es stand nun fest, daß die Affenmenschen uns aufgespürt hatten und wir von allen Seiten beobachtet wurden. Während des Tages hatten wir nicht viel zu befürchten, aber im Dunkeln würden sie über uns herfallen. Je eher wir also aus ihrer Nachbarschaft verschwanden, desto besser. Auf drei Seiten waren wir von dichtem Wald umgeben, dort konnten wir in einen Hinterhalt geraten. Auf der vierten Seite aber - die zum See hin abfiel - gab es nur niedriges Unterholz und vereinzelte Bäume, dazwischen gelegentlich eine Wiese. Dort entlang lief auch der Weg, den ich auf meiner nächtlichen Wanderung genommen hatte. Er führte uns direkt auf die Höhlen zu. Alles sprach also dafür, diese Richtung einzuschlagen.
Unser altes Lager gaben wir höchst ungern auf - nicht allein der Vorräte wegen, sondern vor allem, weil wir die Verbindung zu Zambo verloren. Munition war ausreichend vorhanden, jeder war noch im Besitz seines Gewehrs, und das war wenigstens beruhigend. Irgendwann, und das hoffentlich bald, würden wir zum Fort Challenger zurückkehren und den Kontakt mit dem Schwarzen wieder aufnehmen können. Er hatte fest versprochen, zu bleiben wo er war, und keiner zweifelte an seinen Worten.
Am frühen Nachmittag brachen wir auf. Der junge Häuptling ging voran und zeigte uns den Weg. Er hatte es kategorisch abgelehnt, irgendwelche Lasten zu tragen. Hinter ihm kamen die beiden anderen überlebenden Indianer mit unseren spärlichen Habseligkeiten auf dem Rücken. Wir vier Weißen gingen mit geladenen und schußbereiten Gewehren als letzte. Bei unserem Auforuch erhob sich in den dichten Wäldern hinter uns plötzlich ein lautes Geheul, das ebensogut Triumphgeschrei wie Hohngelächter über unsere Flucht sein mochte. Als wir uns umblickten, sahen wir nur die dichte Wand der Bäume. Aber dieses Gebrüll sagte uns deutlich genug, wie viele unserer Feinde dahinter lauerten. Die Affen machten jedoch keine Anstalten, uns zu verfolgen, und wir waren bald im freien Gelände und außerhalb ihres Machtbereichs.
Während ich so als letzter von uns vieren dahintrottete, konnte ich ein Lächeln über die äußere Erscheinung meiner drei Gefährten nicht unterdrücken. War das der elegante Lord Roxton, der mir an jenem Abend inmitten seiner persischen Teppiche und Gemälde im gedämpften Licht seiner luxuriösen Wohnung im Albany gegenübergesessen hatte? Und war das der gebieterische Professor, der hinter dem großen Schreibtisch in seinem riesigen Arbeitszimmer in Enmore-Park gethront hatte? Und schließlich: War das die ehrwürdige Gestalt, die vor die Versammlung im Zoologischen Institut getreten war? Zu Hause in England hätte man lange suchen müssen, bis man drei ähnlich zerlumpte Landstreicher aufgetrieben hätte. Dabei befanden wir uns erst seit etwa einer Woche auf dem Plateau. Aber all unsere zusätzlichen Kleidungsstücke waren im Lager geblieben. Meine drei Freunde hatten ihre Hüte verloren und sich statt dessen Taschentücher um den Kopf gebunden. Ihre Kleidung hing in Fetzen herunter, und ihre unrasierten, verschmierten Gesichter waren kaum noch zu erkennen. Sowohl Summerlee als auch Challenger hinkten stark, und ich schleifte meine Füße nur mühsam über den Boden, immer noch von dem Schock am Morgen geschwächt. Mein Nacken fühlte sich von dem mörderischen Griff noch steif an wie ein Holzklotz. Wir waren wirklich ein trauriger Haufen. Es wunderte mich gar nicht, daß unsere indianischen Begleiter sich gelegentlich verwundert nach uns umblickten.
Am Spätnachmittag erreichten wir den See. Als wir aus dem Gebüsch hervortraten und die Wasserfläche vor uns liegen sahen, stießen die Indianer einen schrillen Freudenschrei aus und zeigten aufgeregt nach vorn. Dort bot sich uns ein wundervoller Anblick. Leicht über die glasige Oberfläche dahingleitend, kam eine ganze Flotte von Kanus geradewegs auf unser Ufer zu. Sie waren noch einige Meilen entfernt, kamen aber mit großer Geschwindigkeit näher, und bald konnten die Ruderer uns sehen. Sofort erhob sich bei ihnen ein lautes Freudengeheul. Sie standen von ihren Sitzen auf und schwangen Paddel und Speere. Dann machten sie sich wieder ans Werk, flogen über die Wasserfläche dahin, zogen ihre Boote auf den flachen Sand hinauf und liefen auf uns zu. Mit lauten Begrüßungsrufen warfen sie sich vor ihrem jungen Häuptling zu Boden. Ein älterer Mann mit einer Halskette, einem Armband aus funkelnden Perlen und einem schönen bernsteinfarbenen Fell über den Schultern ging auf den Jüngling zu und umarmte ihn. Er deutete auf uns und stellte ein paar Fragen, dann kam er würdevoll näher und umarmte der Reihe nach jeden von uns. Anschließend mußte sich auf seinen Befehl der ganze Stamm vor uns zu Boden werfen. Mir war diese sklavische Verehrung reichlich peinlich. Lord John und Summerlee schien es nicht anders zu gehen. Bloß Challenger blühte auf wie eine Blume im Sonnenschein.
»Sie mögen unterentwickelt sein«, sagte er, strich sich den Bart und blickte auf sie herab. »Aber ihr Benehmen gegenüber Höhergestellten könnte so manchem unserer Europäer als Beispiel dienen. Sonderbar, wie unfehlbar doch die Instinkte des Naturmenschen sind!«
Die Eingeborenen befanden sich offenbar auf Kriegspfad, denn jeder Mann war mit einem Speer - einem langen Bambusstab mit Knochenspitze -, Pfeil und Bogen und einer Art Keule oder Streitaxt bewaffnet. Die zornigen Blicke Richtung Wald und die häufige Wiederholung des Wortes Doda zeigten deutlich genug, daß sie losgezogen waren, um den Sohn des alten Häuptlings zu retten oder seinen Tod zu rächen.
Der Stamm hielt jetzt, in weitem Kreis hockend, Kriegsrat ab. Wir saßen in der Nähe auf einer Basaltplatte und sahen ihnen zu. Zwei oder drei Krieger sprachen. Schließlich hielt unser junger Freund eine zündende Ansprache mit derart lebhaftem Mienenspiel und beredten Gesten, daß wir alles so gut verstanden, als beherrschten wir seine Sprache.
»Was nützt es euch, umzukehren?« sagte er sinngemäß. »Früher oder später müssen wir doch den Kampf wagen. Eure Brüder sind ermordet worden. Was hilft es, daß ich diesmal heil zurückgekommen bin? Die anderen sind tot. Für keinen von uns gibt es Sicherheit. Jetzt sind wir versammelt und bereit zu kämpfen.« Er deutete auf uns. »Diese seltsamen Menschen sind unsere Freunde. Sie sind große Krieger und hassen die Affenmenschen genauso wie wir. Sie gebieten .« - hier zeigte er zum Himmel empor -»über Donner und Blitz. Wann haben wir noch einmal eine solche Gelegenheit? Wir wollen kämpfen und entweder sterben oder für alle Zeiten in Sicherheit leben. Wie könnten wir sonst unseren Frauen wieder unter die Augen treten, ohne uns schämen zu müssen?«
Die kleinen rothäutigen Krieger ließen sich kein Wort seiner Rede entgehen. Als er geendet hatte, brachen sie in stürmischen Beifall aus und schwangen ihre primitiven Waffen durch die Luft. Der alte Häuptling trat zu uns und fragte etwas, wobei er auf den Wald deutete. Lord John machte ihm ein Zeichen, daß er warten sollte, und wandte sich dann zu uns.
»Sie müssen jetzt selber entscheiden, was Sie machen«, sagte er. »Was mich betriffi, so möchte ich dringlichst mit diesem Affenpack abrechnen. Wenn wir es schaffen, sie auszurotten, brauchte darum niemand traurig zu sein. Ich ziehe mit diesen kleinen roten Kerlen mit und helfe ihnen aus dem Dreck. Und Sie, Malone?«
»Ich gehe auch mit.«
»Und Sie, Challenger?«
»Wie können Sie da fragen?«
»Und Sie, Summerlee?«
»Mir scheint, wir kommen immer weiter vom Zweck dieser Expedition ab, Lord John. Sie dürfen mir ruhig glauben, daß ich, als ich meinen Lehrstuhl in London verließ, dies kaum in der Absicht tat, an einem Überfall von Indianern auf eine Menschenaffensiedlung mitzuwirken.«
»So kann es einem im Leben gehen«, sagte Lord John lächelnd. »Aber so ist es nun einmal. Wie lautet Ihre Entscheidung?«
»Die Angelegenheit erscheint mir äußerst fragwürdig«, sagte Summerlee. »Aber da Sie alle mitgehen, sehe ich kaum eine Möglichkeit, allein zurückzubleiben.«
»Dann wäre das also geregelt«, sagte Lord John, drehte sich wieder zu dem alten Häuptling um, nickte und tippte auf den Lauf seines Gewehrs.
Der alte Mann drückte uns allen nacheinander die Hand, und seine Leute schrien lauter als zuvor. Für einen Auforuch am gleichen Abend war es zu spät geworden, und so schlugen die Indianer ein primitives Biwak auf. Auf allen Seiten begannen Lagerfeuer zu flackern und zu rau-chen. Einige Männer waren im Dschungel verschwunden und kamen zurück, ein junges Iguanodon vor sich hertreibend. Es hatte einen Asphaltfleck an der Schulter. Als wir einen der Eingeborenen mit Besitzermiene vortreten und seine Einwilligung zum Schlachten des Tieres geben sahen, begriffen wir, daß diese sich wie Rinderherden in Privatbesitz befanden und die schwarzen Flecke wie die bei uns üblichen Brandzeichen die Herdenzugehörigkeit und deren Besitzer kennzeichneten. Stumpfsinnig, mit großem Körper, aber winzigem Hirn, ließen sich diese Tiere sogar von einem Kind aufstöbern und treiben.
In wenigen Minuten war das Tier zerteilt, und große Fleischstücke brieten über einem Dutzend Lagerfeuer, zusammen mit großen, schillernden Fischen, die mit Speeren im See gefangen worden waren.
Summerlee hatte sich in den Sand gelegt und schlief. Wir anderen streiften am Ufer entlang, auf der Suche nach neuen Entdeckungen. Zweimal stießen wir auf Vertiefungen mit Lehm von der gleichen blauen Farbe wie im Sumpf der Pterodactylen. Es waren alte Vulkanschlote, und aus irgendeinem Grunde erregten sie Lord Johns größtes Interesse. Challenger wiederum wurde von einem brodelnden, gurgelnden Schlammgeysir angezogen, auf dessen Oberfläche irgend ein Gas große Blasen bildete. Er steckte ein hohles Schilfrohr hinein und schrie in kindlichem Entzücken auf, als er mit einem brennenden Streichholz am anderen Ende des Rohres einen Knall und eine blaue Stichflamme produzieren konnte. Noch erfreuter zeigte er sich, als es ihm gelang, einen Lederbeutel, den er über das Rohr gestülpt und mit Gas gefüllt hatte, in die Luft steigen zu lassen.
»Ein brennbares Gas, das entschieden leichter als Luft ist«, erklärte er. »Ich möchte behaupten, daß es einen beträchtlichen Anteil von freiem Wasserstoff enthält. Die Flut erfinderischer Einfalle ist bei G.E.Ch. noch nicht versiegt, mein junger Freund. Ich werde Ihnen noch beweisen, wie man sich die Natur nach seinem Willen dienstbar machen kann.«
Er war erfüllt von einem geheimen Plan, wollte aber nichts weiter verraten.
Von allem, was wir am Ufer sahen, erschien mir nichts so wundervoll wie die gewaltige Wasserfläche vor uns. Unsere Anwesenheit hatte alle Lebewesen vom Ufer verscheucht. Bis auf einige Pterodactylen, die hoch über unseren Köpfen ihre Kreise zogen und auf Abfälle wartete, blieb um das Lager herum alles still.
Ganz anders war es aber auf den rötlich leuchtenden Wassern des Gladys-Sees. Er kochte und brodelte vor Leben. Große schieferfarbene Leiber und hohe, gezackte Rückenflossen schossen in silbrigem Schaum aus dem Wasser empor und stürzten sich wieder hinab in die Tiefe. Auf den Sandbänken weiter draußen krochen schwerfällige Tiere herum - riesige Schildkröten, sonderbare Saurier und eine große, platte Kreatur, die sich wie eine pulsierende, fettig schwarze Masse langsam zum See hinunterwand. Da und dort ragten Schlangenköpfe aus dem Wasser, die mit einem kleinen Schaumkragen vorn und einer langen, strudelnden Welle hinten sich schnell dahinzogen, wobei sie in graziösen Bewegungen auf- und niederwogten. Als eines dieser Geschöpfe ein paar hundert Meter vor uns auf eine Sandbank glitt und dabei unterhalb des langen Schlangenhalses ein plumper, faßförmiger Rumpf mit riesigen Ruderflossen zum Vorschein kam, brachen Challenger und Summerlee, der sich inzwischen zu uns gesellt hatte, in Begeisterungsstürme aus.
»Ein Plesiosaurus! Ein Süßwasser-Plesiosaurus!« rief Summerlee. »Daß ich einen solchen Anblick erleben darf! Wir sind die glücklichsten aller Zoologen seit Weltbeginn, mein lieber Challenger!«
Erst als die Nacht hereingebrochen war und die Feuer unserer Verbündeten rot im Dunkeln leuchteten, konnten sich unsere beiden Gelehrten von den Wundern dieses ur-zeitlichen Sees losreißen. Am Ufer liegend, hörten wir bis spät in die Nacht hinein ihr Schnaufen und Platschen.
Mit dem Morgengrauen wurde es in unserem Lager lebendig, und schon eine Stunde später waren wir zu unserer denkwürdigen Expedition unterwegs. Oft hatte ich davon geträumt, einmal Kriegsberichterstatter zu werden. Aber einen Feldzug wie diesen hätte ich mir auch im wildesten Traum nicht ausmalen können. Hier folgt also mein erster Bericht vom Schlachtfeld:
Ein weiterer Trupp von Eingeborenen war während der Nacht aus den Höhlen gekommen und hatte unsere Zahl verstärkt. Wir mögen beim Abmarsch vier- bis fünftundert Mann gewesen sein. Ein Halbkreis von Spähern ging voraus. Dahinter bewegte sich der Rest in zusammenhängender Marschsäule den langen Abhang des Buschgebiets hinauf, bis wir dicht am Waldrand waren. Hier schwärmten sie zu einer langen, ununterbrochenen Linie von Speerwerfern und Bogenschützen aus. Roxton und Challenger begaben sich an die rechte Flanke, Summerlee und ich an die linke. Ein Steinzeitheer war es, das wir in die Schlacht begleiteten - wir, die wir mit den letzten Erzeugnissen moderner Büchsenmacherkunst ausgerüstet waren.
Wir brauchten nicht lange auf den Feind zu warten. Ein wüstes, schrilles Geheul erhob sich am Waldrand, und plötzlich stürzte eine Horde mit Keulen und Steinen bewaffneter Affenmenschen hervor und stürmte auf das Zentrum der Schützenkette los. Ein tapferer, aber idiotischer Angriff, denn die großen krummbeinigen Kreaturen waren schlecht zu Fuß, während ihre Gegner katzenhafte Behendigkeit bewiesen. Es war entsetzlich, mit anzusehen, wie die wütenden Bestien mit schäumendem Maul und hervorquellenden Augen auf die Indianer losgingen und sie packen wollten, sie aber stets verfehlten, während sich Pfeil auf Pfeil in ihr Fell bohrte. Ein großer Kerl, ein Dutzend Schäfte in Brust und Rücken, lief brüllend an mir vorbei. Ich gab ihm den Gnadenschuß, und er stürzte mit ausgebreiteten Armen in einen Aloenbusch.
Es blieb bei diesem einen Schuß, denn der Angriff hatte sich gegen das Zentrum unserer Streitmacht gerichtet, und die Indianer bedurften keiner Hilfe, ihn abzuschlagen. Nicht einer von den Affenmenschen, die aus dem Wald herausgekommen waren, gelangte wieder dorthin zurück.
Sobald wir jedoch zwischen die Bäume kamen, wur-de die Angelegenheit ernst für uns. Bald nach unserem Eindringen in den Wald tobte ein erbitterter Kampf, in dem wir uns zeitweise kaum zu behaupten vermochten. Aus dem Unterholz sprangen Affenmenschen hoch, riesige Keulen schwingend. Sie fielen über die Indianer her, von denen sie oft drei oder vier niederstreckten, ehe ein Speer sie durchbohrte. Ihre furchtbaren Schläge zerschmetterten alles, was sie trafen. Einer schlug Summerlees Flinte zu Kleinholz und hätte ihm mit dem nächsten Schlag den Schädel zertrümmert, wäre er nicht von einem Indianer ins Herz getroffen worden. Andere schleuderten aus den Bäumen über uns Steine und Holzknüttel herunter und ließen sich schließlich selbst auf unsere Reihen fallen, wo sie wütend kämpften, bis sie niedergestreckt werden konnten.
Einmal brachen unsere Verbündeten unter dem feindlichen Druck zusammen und hätten ohne die verheerende Wirkung unserer Gewehre gewiß den Rückzug antreten müssen. So aber sammelten sie sich wieder unter ihrem tapferen alten Häuptling und griffen erneut und mit einer derartigen Wucht an, daß die Affenmenschen zu weichen begannen. Summerlee hatte keine Waffe mehr, aber ich schoß ein Magazin nach dem anderen leer, während wir von der anderen Seite her das pausenlose Krachen der Gewehre unserer Gefährten vernahmen.
Und dann kam plötzlich der Moment, an dem sich die Schlacht von einer Sekunde zur anderen in Panik auflöste. Schreiend und heulend stoben die großen Bestien nach allen Richtungen durch das Unterholz davon, während un-sere Verbündeten wilde Freudenrufe ausstießen und ihren fliehenden Feinden nachsetzten. Alle Fehden unzähliger Generationen, aller Haß und alle Grausamkeit ihrer Stammesgeschichte, alle Peinigungen und Verfolgungen sollten an diesem einen Tag endlich Vergeltung finden. Endlich sollte der Mensch seine Herrschaft antreten und das Menschentier für alle Zeiten auf den ihm zugedachten Platz verweisen. So sehr die Flüchtlinge auch liefen, den flinken Indianern entkamen sie nicht. Im dichten Wald hörten wir von allen Seiten die triumphierenden Schreie, das Schwirren der Bogensehnen, das Krachen und den Aufschlag, wenn die Affenmenschen aus ihren Verstecken in den Bäumen heruntergeschossen wurden.
Lord John und Challenger waren zu uns herübergekommen.
»Es ist vorbei«, sagte Lord John. »Ich denke, das Aufräumen überlassen wir den Indianern. Je weniger wir sehen, desto ruhiger werden wir schlafen.«
Challengers Augen glänzten noch vor Kampfeslust.
»Wir hatten soeben die einmalige Gelegenheit«, rief er und stolzierte umher wie ein Pfau, »eine der typischen Entscheidungsschlachten der Weltgeschichte mitzuerleben - jener Schlachten, die das Geschick der Erde bestimmt haben. Was, meine Freunde, bedeutet dagegen die Unterwerfung einer Nation durch die andere? Sie ist unwesentlich und zeitigt jedesmal das gleiche Ergebnis. Aber jene unerbittlichen Kämpfe, in denen sich in grauer Vorzeit der Höhlenmensch gegen das Tier behaupten und erkennen mußte, daß es jemanden gab, der ihm überlegen war, das waren die wirklichen Entscheidungsschlachten - die bleibenden Siege. Durch eine seltsame Schicksalsfügung haben wir eine derartige Auseinandersetzung miterlebt und entscheiden helfen. Von jetzt an gehört auch auf diesem Plateau die Zukunft dem Menschen.«
Man brauchte schon einen robusten Glauben an diesen Endzweck, um die mehr als gewaltsamen Mittel gutzuheißen. Als wir weiter in den Wald hineingingen, fanden wir die Affenmenschen, von Speeren und Pfeilen durchbohrt, reihenweise niedergemetzelt. Hie und da bezeichnete eine kleine Gruppe zerschmetterter Indianer die Stelle, wo einer der Anthropoiden sein Leben bis zum äußersten verteidigt hatte. Vor uns hörten wir noch immer das Schreien und Rufen, das uns die Richtung der Verfolgung wies. Die Affenmenschen waren zu ihrem Dorf zurückgetrieben worden. Sie hatten dort eine letzte Schlacht geliefert und waren wieder geschlagen worden.
Die allerletzte schauerliche Szene wurde uns nicht erspart. Etwa achtzig bis hundert männliche Affen, die letzten Überlebenden, waren über die Lichtung bis an den Rand der Klippen getrieben worden. Als wir hinzukamen, hatten die Indianer sie mit einem Halbkreis von Speerwerfern umzingelt. Dreißig bis vierzig wurden an Ort und Stelle niedergemacht. Die übrigen wurden, so sehr sie auch schrien und sich sträubten, in den Abgrund gestoßen.
Es traf ein, was Challenger gesagt hatte: Die Herrschaft des Menschen war in Maple-White-Land für alle Zeiten gesichert. Die Affenmännchen waren ausgerottet, ihr Dorf zerstört, Weibchen und Junge wurden in die Sklaverei getrieben. Der lange Kampf um die Vorherrschaft hatte seine blutige Entscheidung gefunden.
Für uns brachte der Sieg einen großen Vorteil. Wir konnten wieder unser Lager aufsuchen und zu unseren Vorräten gelangen. Wir konnten auch die Verbindung mit Zambo wieder aufnehmen, der entsetzt mitangesehen hatte, wie eine Lawine über die Klippen gestürzt worden war, eine Lawine von Affen.
»Weg, schnell weg!« rief er mit schreckgeweiteten Augen. »Der Teufel Sie bestimmt noch kriegen, wenn Sie oben bleiben!«
»Die Stimme der Vernunft!« sagte Summerlee im Brustton der Überzeugung. »Wir haben genug Abenteuer erlebt, mehr als für uns gut ist. Ich nehme Sie jetzt beim Wort, Challenger. Von jetzt an werden Sie Ihre ganze Energie darauf verwenden, uns aus diesem scheußlichen Land heraus und wieder zurück in die Zivilisation zu bringen!«