13 Kitiara

Als Tanis die Vorkammer betrat, war die Veränderung so verblüffend, daß sie ihm eine Minute lang völlig unverständlich blieb. Nur einen Moment zuvor hatte er sich abquälen müssen, um inmitten des Mobs auf den Füßen zu bleiben, und jetzt befand er sich in einem kühlen dunklen Raum, ähnlich dem, wo er und Kitiara und ihre Soldaten auf ihren Einzug in die Empfangshalle gewartet hatten.

Er sah sich schnell um; er war allein. Obwohl sein Instinkt ihn drängte, in seiner verzweifelten Suche aus dem Zimmer zu stürzen, zwang er sich, stehenzubleiben, Atem zu holen und das Blut aus den Augen zu wischen. Er versuchte sich zu erinnern, wo der Eingang zum Tempel war. Die Vorkammern, die in einem Kreis um die Empfangshalle angeordnet waren, waren mit dem vorderen Teil des Tempels durch eine Reihe sich windender Korridore verbunden. Einst, vor langer Zeit in Istar, mußten diese Korridore eine logische Ordnung gebildet haben.

Aber die Formveränderung des Tempels hatte sie zu einem Labyrinth verzerrt, dem man nicht entrinnen konnte. Korridore hörten abrupt auf, wenn er erwartete, daß sie weiterführten, während jene, die kurz zu sein schienen, ewig weitergingen.

Der Boden unter seinen Füßen gab nach, während Staub von der Decke wirbelte. Ein Gemälde fiel krachend von der Wand.

Tanis hatte keine Vorstellung, wo er Laurana finden konnte. Er hatte nur gesehen, daß sie hierher verschwunden war.

Sie war in dem Tempel eingesperrt gewesen, aber im unterirdischen Bereich. Er fragte sich, ob sie überhaupt ihre Umgebung erkannt hatte, als man sie hierher gebracht hatte, ob sie eine Vorstellung davon hatte, wie man wieder herauskam. Und dann stellte Tanis fest, daß er selbst nur eine verschwommene Vorstellung davon hatte, wo er sich befand. Er fand eine brennende Fackel, ergriff sie und beleuchtete das Zimmer. Eine mit Tapeten verkleidete Tür, nur an einem zerbrochenen Scharnier hängend, war leicht geöffnet. Er spähte hinein und sah, daß sie zu einem schwach beleuchteten Korridor führte.

Tanis hielt den Atem an. Er wußte nun, wo er Laurana finden konnte!

Eine Brise wehte durch den Gang – frische Luft, prickelnd von den Düften des Frühlings, kühl durch den gesegneten Frieden der Nacht – und berührte seine linke Wange. Laurana mußte diese Brise gespürt und vermutet haben, daß der Korridor aus dem Tempel führte. Schnell lief Tanis weiter, ignorierte den Schmerz in seinem Kopf, zwang seine erschöpften Muskeln, seinem Willen zu gehorchen.

Eine Gruppe Drakonier tauchte plötzlich aus einem Zimmer kommend vor ihm auf. Tanis fiel ein, daß er immer noch die Uniform der Drachenarmee trug, und hielt sie an.»Die Elfenfrau!« schrie er. »Sie darf nicht entkommen. Habt ihr sie gesehen?«

Sie hatten sie offenbar nicht gesehen, wie man ihrem hastigen Knurren entnehmen konnte. Auch die nächste Gruppe, auf die Tanis stieß, war ihr nicht begegnet. Aber zwei Drakonier, die nach Beute suchend durch die Hallen wanderten, hatten sie gesehen. Sie zeigten in die Richtung, auf die Tanis bereits zusteuerte. Sein Mut stieg.

Inzwischen hatten die Kämpfe in der Halle geendet. Die überlebenden Drachenfürsten waren entkommen und befanden sich nun mit ihren Soldaten außerhalb der Tempelmauern.

Einige kämpften, andere zogen sich zurück und warteten ab, wer als Sieger hervorgehen würde. Zwei Fragen beschäftigten alle. Die erste war, ob die Drachen bleiben oder mit ihrer Königin verschwinden würden, so wie es im Zweiten Drachenkrieg der Fall gewesen war. Und zweitens, falls die Drachen blieben, wer würde dann ihr Herr sein?

Tanis brütete selbst über diese Fragen, während er durch die Korridore lief, manchmal um die falsche Ecke bog und bitter fluchte, wenn er einer festen Mauer gegenüberstand und gezwungen war, wieder zurückzulaufen bis er wieder die frische Luft riechen konnte.

Aber schließlich wurde er zu müde, um überhaupt über etwas nachzudenken. Erschöpfung und Schmerzen forderten ihren Tribut. Seine Beine wurden schwer, jeder Schritt wurde zur Qual. Sein Kopf hämmerte, die Wunde über seinem Auge begann wieder zu bluten. Der Boden erzitterte ständig unter seinen Füßen. Statuen stürzten von ihren Sockeln. Steine fielen von der Decke und hüllten ihn in Staubwolken ein.

Langsam verlor er die Hoffnung. Obwohl er sich sicher war, daß er die einzige Richtung eingeschlagen hatte, die sie genommen haben konnte, hatten die wenigen Drakonier, denen er später begegnet war, sie nicht gesehen. Was konnte passiert sein? Hatte sie... Nein, daran wollte er nicht denken. Er ging weiter. Vor ihm wehte die frische Nachtbrise, hinter ihm blähten sich Rauchschwaden auf.Der Tempel begann zu brennen.

Als er einen schmalen Korridor passierte und über einen Haufen Schutt stieg, hörte Tanis ein Geräusch. Er blieb stehen.

Ja, da war es wieder – genau vor ihm. Er spähte durch den Rauch und den Staub und griff nach seinem Schwert. Die letzte Gruppe Drakonier, der er begegnet war, war betrunken und mordlustig gewesen. Ein einzelner menschlicher Offizier könnte da schnell zum leicht erlegbaren Wild werden... Aber glücklicherweise hatte sich einer von ihnen erinnert, Tanis mit der Finsteren Herrin gesehen zu haben. Beim nächsten Mal würde er vielleicht nicht mehr so viel Glück haben.

Vor ihm lag der Korridor in Trümmern, ein Teil der Decke war eingebrochen. Es war tiefdunkel – seine Fackel bot das einzige Licht -, und Tanis haderte mit sich über die Notwendigkeit, etwas zu sehen, und der Angst, gesehen zu werden.

Schließlich entschied er, das Risiko einzugehen, sie brennen zu lassen. Er würde Laurana niemals finden, wenn er in der Dunkelheit herumirrte.

Wieder einmal mußte er seiner Verkleidung vertrauen.

»Wer da?« brüllte er mit barscher Stimme und hielt die Fackel kühn in den zerstörten Korridor.

Er erhaschte eine rennende Gestalt in einer glänzenden Rüstung, aber sie rannte vor ihm weg – und nicht auf ihn zu. Merkwürdig für einen Drakonier... sein erschöpftes Gehirn schien drei Schritte hinterher zu stolpern. Er konnte die Gestalt jetzt deutlich erkennen, schlank und geschmeidig und viel zu schnell laufend...

»Laurana!« schrie er, dann in der Elfensprache: »Quisalas!«

Die herumliegenden Säulen und Marmorsteine verfluchend, stolperte und lief Tanis, zwang seinen schmerzenden Körper zu Gehorsam, bis er sie eingeholt hatte. Er packte sie am Arm und hielt sie an.

Jeder Atemzug war ein heftiger Schmerz. Er war so benommen, daß er glaubte, ohnmächtig zu werden. Aber er hielt sie in einem todesähnlichen Griff fest, hielt sie sowohl mit seinen Augen als auch mit seiner Hand.Jetzt verstand er, warum die Drakonier sie nicht gesehen hatten. Sie hatte ihre silberne Rüstung abgestreift und eine Drakonierrüstung übergezogen, die sie einem toten Krieger abgenommen hatte. Einen Moment lang konnte sie Tanis nur anstaren. Sie hatte ihn anfangs nicht erkannt und beinahe ihr Schwert in ihn gestoßen. Nur das Elfenwort hatte sie aufgehalten, quisalas, Geliebte. Das – und der eindringliche Blick der Qual und des Leidens in seinem blassen Gesicht.

»Laurana«, keuchte Tanis mit jener gebrochenen Stimme, die Raistlin einst gehabt hatte. »Verlaß mich nicht. Warte... hör mir bitte zu!«

Mit einer Armdrehung befreite sich Laurana aus seinem Griff. Aber sie verließ ihn nicht. Sie wollte zu sprechen anfanen, aber ein weiteres Beben des Gebäudes hinderte sie daran.

Als Staub und Schutt auf sie rieselten, zog Tanis Laurana an sich, um sie zu beschützen. Sie umklammerten sich ängstlich, dann war es vorüber. Aber nun standen sie in der Dunkelheit, Tanis hatte die Fackel fallen lassen.

»Bist du verletzt?« fragte Laurana kühl, versuchte wieder, sich seinem Griff zu entziehen. »Wenn ja, kann ich dir helfen. wenn nicht, schlage ich vor, auf weitere Abschiedsfloskeln zu verzichten. Was...«

»Laurana«, sagte Tanis leise und schweratmend. »Ich bitte dich nicht, zu verstehen – ich verstehe es selbst nicht. Ich bitte dich nicht um Vergebung – ich kann mir selbst nicht vergeben.

Ich könnte dir sagen, daß ich dich liebe, daß ich dich immer geliebt habe. Aber das wäre nicht wahr, denn Liebe kann nur von jemandem kommen, der sich selbst liebt, und gerade jetzt kann ich mein eigenes Spiegelbild nicht ertragen. Ich kann dir nur sagen, Laurana, daß...«

»Psst!« flüsterte Laurana und legte ihre Hand auf Tanis'

Mund. »Ich habe etwas gehört.«

Lange Zeit standen sie zusammengedrängt in der Dunkelheit und lauschten. Zuerst konnten sie nur ihre eigenen Atemzüge hören. Sie konnten nichts sehen. Dann flackerte eine Fackel auf, blendete sie, und eine Stimme ertönte.»Was möchtest du Laurana sagen, Tanis?« fragte Kitiara mit freundlicher Stimme. »Fahr fort.«

Ein blankes Schwert glänzte in ihrer Hand. Frisches Blut – rotes und grünes – glitzerte an der Klinge. Ihr Gesicht war weiß vom Steinstaub, sie blutete aus einem Schnitt über der Lippe.

Ihre Augen waren vor Erschöpfung dunkel, aber ihr Lächeln war wie immer hinreißend. Sie steckte ihr blutiges Schwert in die Scheide, wischte ihre Hände an ihrem Umhang ab, dann fuhr sie mit einer Hand abwesend durch ihr lockiges Haar.

Tanis schloß vor Müdigkeit die Augen. Sein Gesicht schien zu altern; er sah sehr menschlich aus. Schmerz und Erschöpfung, Trauer und Schuld würden für immer ihre Spuren hinterlassen, trotz der ewigen, elfischen Jugendlichkeit. Er fühlte, wie Laurana sich versteifte, ihre Hand bewegte sich zum Schwert.

»Laß sie gehen, Kitiara«, sagte Tanis ruhig und hielt Laurana fest. »Halte dein Versprechen, und ich halte meins. Ich will sie nur nach draußen bringen. Dann komme ich zurück...«

»Das glaube ich dir aufs Wort«, bemerkte Kitiara und starrte ihn amüsiert und verblüfft an. »Ist es dir noch nie in den Sinn gekommen, Halb-Elf, daß ich dich küssen und im gleichen Moment töten könnte, ohne mit der Wimper zu zucken? Nein, ich glaube nicht. Ich könnte dich jetzt töten, aus dem einfachen Grund, weil ich weiß, daß es das Schlimmste wäre, was ich der Elfenfrau antun könnte.« Sie hielt die Fackel näher zu Laurana.

»Da – sieh dir ihr Gesicht an!« höhnte Kitiara. »Was für eine schwache und schwächende Sache die Liebe doch ist!«

Kitiaras Hand fuhr wieder durch ihre Haare. Achselzuckend sah sie sich um. »Aber ich habe keine Zeit. Dinge bewegen sich. Große Dinge. Die Dunkle Königin ist gestürzt. Eine andere wird ihren Platz einnehmen. Was ist mit dir, Tanis? Ich habe bereits meine Autorität über die anderen Drachenfürsten gefestigt.« Kitiara tätschelte ihren Schwertknauf. »Ich werde über ein riesiges Reich verfügen. Wir könnten zusammen herr...«

Sie brach abrupt ab, ihr Blick fuhr zu dem Korridor, aus dem sie gekommen war. Obwohl Tanis weder sehen noch hören konnte, was ihre Aufmerksamkeit erregt hatte, so spürte erdoch die eisige, an den Knochen nagende Kälte, die sich im Gang ausbreitete. Tanis wußte, wer sich näherte, noch bevor er die orangenen Augen oberhalb der Rüstung flackern sah.

»Fürst Soth«, murmelte Kitiara. »Entscheide dich schnell, Tanis.«

»Meine Entscheidung ist vor langer Zeit gefallen, Kitiara«, antwortete Tanis ruhig. Er trat vor Laurana, schirmte sie so gut es ging mit seinem Körper ab. »Fürst Soth wird erst mich töten müssen, um sie zu erreichen, Kit. Und auch wenn ich weiß, daß mein Tod ihn nicht aufhalten wird – und auch dich nicht -, sie zu töten, wenn ich nicht mehr dasein werde, so bete ich mit meinem letzten Atemzug zu Paladin, daß er ihre Seele beschützt. Die Götter sind mir etwas schuldig. Irgendwie weiß ich, daß meine letzte Bitte erfüllt werden wird.«

Hinter sich spürte Tanis, wie Laurana ihren Kopf an seinen Rücken lehnte; er hörte sie leise schluchzen, und sein Herz erwärmte sich, denn in ihrem Schluchzen war keine Angst, sondern nur Liebe und Mitgefühl und Trauer um ihn.

Kitiara zögerte. Sie konnten jetzt Fürst Soth in dem zerstörten Korridor sehen, seine orangenen Augen flimmerten wie Leuchtkäfer in der Dunkelheit. Dann legte sie ihre blutverschmierte Hand auf Tanis' Arm. »Geht!« befahl sie barsch.

»Lauft schnell, in den Korridor zurück. Am Ende ist eine Tür in der Wand. Du kannst sie fühlen. Sie führt euch in die Verliese. Von dort könnt ihr entkommen.«

Tanis starrte sie einen Moment lang verständnislos an.

»Lauft!« schnappte Kit und schubste ihn.

Tanis warf Fürst Soth einen Blick zu.

»Eine Falle«, flüsterte Laurana.

»Nein«, erwiderte Tanis, seine Augen fuhren wieder zu Kit.

»Diesmal nicht. Leb wohl, Kitiara.«

»Leb wohl, Halb-Elf«, sagte sie mit leiser, leidenschaftlicher Stimme, ihre Augen glänzten hell im Fackellicht. »Vergiß nicht, ich tue dies aus Liebe zu dir. Geht jetzt!«

Kitiara schleuderte ihre Fackel fort und verschwand völlig in der Dunkelheit, als ob sie von ihr verschlungen worden wäre. Tanis blinzelte, geblendet von der plötzlichen Schwärze, streckte seine Hand nach ihr aus. Dann zog er sie zurück. Er drehte sich um, seine Hand fand Lauranas Hand. Zusammen stolperten sie durch den Schutt, tasteten sich ihren Weg an der Wand entlang. Die Kälte, die von dem toten Ritter ausging, ließ ihr Blut erstarren. Als Tanis zurückschaute, sah er Fürst Soth immer näher kommen, seine Augen schienen direkt auf sie zu starren. Hektisch tastete Tanis die Steinwand ab, seine Hände suchten die Tür. Dann spürte er nicht mehr den kalten Stein, sondern Holz. Er griff nach dem Eisengriff und drehte ihn. Die Tür öffnete sich bei seiner Berührung. Er zog Laurana nach, die zwei stürzten durch die Öffnung. Das plötzliche Aufflackern von Fackeln an den Stufen ließ sie für einen Moment erblinden, fast genauso wie die Dunkelheit zuvor.

Hinter sich hörte Tanis Kitiaras Stimme, die Fürst Soth zu sich rief. Er fragte sich, was der tote Ritter, der seine Beute verloren hatte, mit ihr anstellen würde. Der Traum fiel ihm wieder lebhaft ein. Wieder sah er Laurana sterben... Kitiara sterben... und er stand hilflos daneben, unfähig, beide zu retten. Dann löste sich das Bild auf.

Laurana wartete auf der Treppe, das Licht der Fackel glänzte auf ihrem goldenen Haar. Eilig schlug er die Tür zu und lief zu ihr.

»Das war die Elfenfrau«, sagte Fürst Soth, seine flammenden Augen folgten mühelos den beiden, die vor ihm wie verängstigte Mäuse wegliefen. »Und der Halb-Elf.«

»Ja«, sagte Kitiara ohne jegliches Interesse. Sie zog ihr Schwert hervor und begann, das Blut mit dem Saum ihres Umhangs abzuwischen.

»Soll ich ihnen nachgehen?« fragte Soth.

»Nein. Auf uns warten jetzt wichtigere Angelegenheiten«, erwiderte Kitiara. Sie sah zu ihm hoch und lächelte ihn bezaubernd an. »Die Elfenfrau würde dir sowieso nicht gehören, nicht einmal im Tod. Die Götter beschützen sie.«

Soths flackernder Blick wandte sich Kitiara zu. Die bleichen Lippen kräuselten sich vor Abscheu. »Der Halb-Elf bleibt trotzdem dein Meister.«

»Nein, das glaube ich nicht«, entgegnete Kitiara. Sie sah sich um, als Tanis gerade die Tür hinter sich schloß. »Manchmal, in den dunkelsten Stunden der Nacht, wird er neben ihr im Bett liegen, und dann wird er an mich denken. Er wird sich an meine letzten Worte erinnern, er wird von ihnen gerührt sein. Ich habe ihnen ihr Glück gegeben. Und sie muß mit dem Wissen leben, daß ich für immer einen Platz in Tanis' Herzen habe. Welche Liebe sie auch zueinander finden werden, ich habe sie vergiftet. Meine Rache an beiden ist vollendet. Nun, hast du das dabei, wonach ich dich geschickt habe?«

»Das habe ich, Finstere Herrin«, erwiderte Fürst Soth. Mit einem Zauberwort brachte er einen Gegenstand hervor und hielt ihn ihr mit seiner Skeletthand hin. Ehrfürchtig legte er ihn ihr zu Füßen.

Kitiara hielt den Atem an, ihre Augen glänzten in der Dunkelheit fast genauso hell wie die des toten Fürsten. »Hervorragend! Kehre nach Burg Dargaard zurück. Sammle die Soldaten. Wir werden die Kontrolle über die Fliegenden Zitadellen übernehmen, die Ariakus nach Kalaman geschickt hat. Dann werden wir uns zurückziehen, uns neu gruppieren und abwarten.«

Das grauenvolle Gesicht von Fürst Soth lächelte, als er auf den Gegenstand zeigte. »Sie gehört dir nun rechtmäßig. Jene, die sich gegen dich gestellt haben, sind entweder tot, wie du befohlen hast, oder sind geflohen, bevor ich sie erreichen konnte.«

»Ihr Untergang ist lediglich aufgeschoben«, sagte Kitiara, die ihr Schwert wieder einsteckte. »Du hast mir gut gedient, Soth, und ich werde dich reich belohnen. Auf dieser Welt gibt es genug Elfenmädchen.«

»Jene, die auf deinen Befehl sterben sollen, werden sterben. Jene, denen du das Leben gestattest«, Soths Blick flackerte zu der Tür, »werden leben. Vergiß nicht – von allen, die dir dienen, Finstere Herrin, kann nur ich allein dir unsterbliche Loyalität anbieten. Das mache ich jetzt mit Freuden. Meine Kriegerund ich werden nach Burg Dargaard zurückkehren, wie es dein Wunsch ist. Dort werden wir deine weiteren Befehle abwarten.«

Er verneigte sich vor ihr und nahm ihre Hand in seinen Skelettgriff. »Leb wohl, Kitiara«, sagte er, dann hielt er inne. »Wie fühlt man sich, meine Liebe, wenn man weiß, daß man den Verdammten Freude gebracht hat? Du hast mein langweiliges Totenreich interessant gemacht. Wie wäre das nur gewesen, wenn ich dich als lebender Mann gekannt hätte!« Das bleiche Gesicht lächelte. »Aber meine Zeit ist ewig. Vielleicht warte ich auf eine, die mit mir meinen Thron teilen kann...«

Kalte Finger liebkosten Kitiaras Fleisch. Sie erschauerte krampfhaft, endlose, schlaflose Nächte taten sich wie gähnende Abgründe vor ihr auf. So lebhaft und erschreckend war das Bild, daß Kitiaras Seele angstvoll zuckte, als Fürst Soth sich bereits in Dunkelheit aufgelöst hatte.

Jetzt stand sie allein in der Finsternis, und einen Moment lang hatte sie Angst. Der Tempel erzitterte. Kitiara wich gegen eine Wand zurück, ängstlich und allein. So allein! Dann berührte ihr Fuß etwas. Sie bückte sich, und ihre Finger schlossen sich dankbar um den Gegenstand. Sie hob ihn hoch.

Das war Wirklichkeit! Hart und fest, dachte sie und atmete erleichtert auf.

Kein Fackellicht leuchtete auf seine goldene Oberfläche oder fiel auf die blutroten Juwelen. Kitiara brauchte keine Fackeln, um das zu bewundern, was sie in ihren Händen hielt.

Lange Zeit stand sie in dem zerstörten Gang, ihre Finger fuhren über die rauhen Metallränder der blutverschmierten Krone.

Tanis und Laurana liefen die Wendeltreppe hinunter zu den Verliesen. Sie hielten am Schreibtisch des Gefängniswärters an.

Tanis sah auf den Leichnam des Hobgoblins.

Laurana starrte ihn an. »Komm schon«, drängte sie und zeigte in östliche Richtung. Als sie ihn zögern und in den Norden schauen sah, zuckte sie die Schultern. »Du willst nicht dortlang gehen! Dorthin... haben sie mich gebracht.« Sie drehte sich schnell um, ihr Gesicht wurde blaß, als sie die Schreie und Rufe aus den Gefängniszellen hörte.

Ein wie ein Plünderer aussehender Drakonier lief vorbei.

Vielleicht ein Deserteur, vermutete Tanis, denn die Kreatur knurrte wütend und schreckte angesichts der Rüstung eines Offiziers zurück.

»Ich habe Caramon gesucht«, murmelte Tanis. »Man muß sie hierhergebracht haben.«

»Er ist mit mir gekommen«, sagte Tanis. »Mit Tika und Tolpan und... Flint...« Er stockte, dann schüttelte er den Kopf.

»Nun, falls sie hier waren, jetzt sind sie es nicht mehr. Komm weiter.«

Laurana errötete. Sie sah zu den Steinstufen zurück, dann zu Tanis.

»Tanis...«, begann sie stammelnd. Er legte eine Hand auf ihren Mund.

»Wir werden später Zeit zum Reden haben. Jetzt müssen wir einen Weg nach draußen finden!«

Wie um seine Worte zu bekräftigen, wurde der Tempel von einem weiteren Beben erschüttert. Diesmal war es stärker als die anderen und schleuderte Laurana gegen eine Wand.

Tanis' Gesicht, das vor Erschöpfung und Schmerz blaß war, wurde noch blasser, als er versuchte, auf den Beinen zu bleiben.

Ein lautes Poltern und ein zermalmendes Krachen kam aus dem nördlichen Korridor: Das Geschrei aus den Gefängniszellen erstarb abrupt, während eine riesige Staubwolke aus dem Korridor stieg.

Tanis und Laurana flohen. Schutt rieselte auf sie herab, während sie in östlicher Richtung liefen, über Leichen und Steinhaufen stolperten.

Ein weiteres Beben erfaßte den Tempel. Sie konnten nicht mehr stehen. Sie fielen auf Hände und Knie und konnten nur noch entsetzt beobachten, wie sich der Korridor langsam hob und senkte, sich wie eine Schlange krümmte und wand.Sie krochen unter einen eingestürzten Balken, kauerten sich zusammen, mußten mit ansehen, wie sich Boden und Wände im Korridor wie Wellen im Ozean bewegten. Über sich hörten sie seltsame Geräusche, wie von riesigen Steinen, die aneinander rieben, nicht stürzten, sondern nur ihre Position veränderten. Dann plötzlich hörte das Beben auf. Alles war ruhig.

Benommen erhoben sie sich und rannten los, die Angst trieb ihre schmerzenden Körper weiter. Alle paar Minuten erzitterten die Grundmauern des Tempels, Aber sooft Tanis auch erwartete, daß die Decke über ihren Köpfen einstürzen würde, sie blieb stehen. Die unerklärlichen Geräusche über ihnen waren so seltsam und beängstigend, daß sie den Einsturz der Decke fast als Erleichterung begrüßt hätten.

»Tanis!« schrie Laurana plötzlich. »Luft! Nachtluft!«

Erschöpft sammelten sie ihre letzten Kräfte und kämpften sich weiter durch den sich schlängelnden Korridor vor, bis sie auf eine Tür stießen, die offen an ihren Scharnieren hing. Auf dem Boden war ein roter Blutfleck und...

»Tolpans Beutel!« murmelte Tanis. Er kniete nieder und sah auf die Schätze des Kenders, die über den ganzen Boden verteilt waren. Dann sank sein Mut. Voller Trauer schüttelte er den Kopf.

Laurana kniete sich zu ihm. Ihre Hand schloß sich um seine.

»Zumindest war er hier, Tanis. Er ist so weit gekommen. Vielleicht hat er es geschafft.«

»Er würde niemals seine Schätze zurücklassen«, sagte Tanis.

Der Halb-Elf sank auf den bebenden Boden und starrte nach draußen auf Neraka. »Sieh mal«, sagte er schroff zu Laurana.

»Das ist das Ende, so wie es das Ende für den Kender war. Sieh!« verlangte er wütend, als er ihr Gesicht sah, auf das sich eine dickköpfige Ruhe gelegt hatte, sah, daß sie sich weigerte, die Niederlage einzugestehen.

Laurana schaute.

Die kühle Brise, die ihr entgegenschlug, erschien ihr jetzt wieblanker Hohn, denn sie brachte nur den Gestank von Rauch und Blut und die qualvollen Schreie der Sterbenden. Orangefarbene Flammen erleuchteten den Himmel, wo kreisende Drachen kämpften und starben, während ihre Fürsten zu entkommen versuchten oder wie ihre Drachen weiterkämpften. Die Nachtluft brannte von den aufzischenden Blitzen und Flammen. Drakonier strömten durch die Straßen, töteten alles, was sich bewegte, schlachteten sich gegenseitig in ihrem Wahnsinn ab.

»Das Böse richtet sich gegen sich selbst«, flüsterte Laurana, ihr Kopf lehnte an Tanis' Schulter, während sie ehrfürchtig das schreckliche Spektakel beobachtete.

»Was hast du gesagt?« fragte er müde.

»Etwas, was Elistan immer sagte«, erwiderte sie. Der Tempel erbebte wieder.

»Elistan!« Tanis lachte bitter auf. »Wo sind jetzt seine Götter? Sehen von ihren Schlössern in den Sternen aus zu, genießen die Vorstellung? Die Dunkle Königin ist verschwunden, der Tempel zerstört. Und hier sind wir – in einer Falle. Wir würden draußen keine drei Minuten überleben...«

Plötzlich stockte er.

Sanft schob er Laurana beiseite, seine Hand suchte in Tolpans zerstreuten Schätzen. Eilig schob er die glänzende Scherbe eines zerbrochenen blauen Kristalls beiseite, einen Vallenholzsplitter, einen Edelstein, eine kleine weiße Hühnerfeder, eine verwelkte schwarze Rose, einen Drachenzahn und ein von Zwergenhand geschnitztes Holzstück, das einen Kender darstellte.

Unter all diesen Dingen war ein goldener Gegenstand, der im flackernden Schein des Feuers und der Zerstörung funkelte.

Als er ihn aufhob, füllten sich seine Augen mit Tränen. Er hielt ihn fest in seiner Hand, spürte die scharfen Kanten in sein Fleisch schneiden.

»Was ist das?« fragte Laurana, die nicht verstand, ihre Stimme bebte vor Angst.»Verzeih mir, Paladin«, flüsterte Tanis. Er zog Laurana zu sich, hielt seine Hand aus und öffnete sie.

In seiner Hand lag, ein feingeschnitzter, zierlicher Ring aus goldenen, miteinander verbundenen Efeublättern. Und um den Ring, immer noch in seinem magischen Schlaf, lag ein goldener Drache.

Загрузка...