6 Tanis verhandelt. Gakhan untersucht

»Wein?«

»Nein.«

Kitiara zuckte mit den Schultern. Sie nahm den Krug aus der Eisschale und goß sich ein Glas ein. Dabei beobachtete sie müßig, wie die blutrote Flüssigkeit aus der Kristallkaraffe in das Glas lief. Dann stellte sie die Karaffe sorgfältig in das Eis zurück, setzte sich Tanis gegenüber und musterte ihn kühl.

Sie hatte nur den Drachenhelm abgenommen, die Rüstung trug sie noch – die nachtblaue Rüstung mit Goldverzierungen, die an ihrem geschmeidigen Körper wie eine Schuppenhautsaß. Das Licht der vielen Kerzen im Zimmer glänzte auf der polierten Oberfläche. Ihr dunkles, schweißnasses Haar lockte sich um ihr Gesicht. Ihre braunen Augen, von langen, dunklen Wimpern beschattet, funkelten hell wie Feuer.

»Warum bist du hier, Tanis?« fragte sie leise, während sie mit ihrem Finger über den Rand des Glases fuhr und ihn gleichzeitig musterte.

»Du weißt den Grund«, antwortete er kurz angebunden.

»Natürlich Laurana«, sagte Kitiara.

Tanis zuckte die Achseln. Er behielt sorgsam einen maskenhaften Gesichtsausdruck bei, fürchtete dennoch, daß diese Frau, die ihn manchmal besser kannte als er sich, jeden Gedanken lesen konnte.

»Bist du allein gekommen?« fragte Kitiara und nippte an ihrem Glas.

»Ja«, antwortete Tanis und erwiderte ohne zu zögern ihren Blick.

Kitiara hob im offensichtlichen Zweifel eine Augenbraue.

»Flint ist tot«, fügte er mit gebrochener Stimme hinzu. Selbst in seiner Angst konnte er nicht ohne Schmerz an seinen Freund denken. »Und Tolpan wandert irgendwo herum. Ich konnte ihn nicht finden. Ich... ich wollte ihn sowieso nicht mitbringen.«

»Das verstehe ich«, sagte Kit sarkastisch. »Flint ist also tot.«

»Wie Sturm«, fügte Tanis mit zusammengebissenen Zähnen hinzu.

Kit sah ihn scharf an. »So ist eben der Krieg, mein Lieber«, sagte sie. »Wir waren beide Soldaten. Er versteht es. Sein Geist hegt nichts Böses gegen mich.«

Tanis würgte wütend, schluckte seine Worte hinunter. Was sie sagte, traf zu. Sturm würde es verstehen.

Kitiara betrachtete schweigend einige Zeit Tanis' Gesicht.

Dann setzte sie ihr Glas ab.

»Was ist mit meinen Brüdern?« fragte sie. »Wo...«

»Warum bringst du mich nicht zum Verhör in deine Verliese?« knurrte Tanis. Er erhob sich aus dem Stuhl und begann in dem luxuriös eingerichteten Zimmer auf und ab zu schreiten. Kitiara lächelte, es war ein nach innen gerichtetes, nachdenkliches Lächeln. »Ja«, sagte sie. »Ich könnte dich hier verhören.

Und du würdest reden, lieber Tanis. Du würdest mir alles erzählen, was ich hören will, und dann würdest du betteln, noch mehr erzählen zu dürfen. Unsere Folterknechte sind nicht nur Spezialisten in der Kunst der Folter, sie sind auch ihrem Beruf leidenschaftlich zugetan.« Kitiara stand langsam auf und ging zu Tanis. In einer Hand hielt sie ihr Weinglas, ihre andere legte sie auf seine Brust und fuhr mit der Handfläche zu seiner Schulter. »Aber dies ist kein Verhör. Sagen wir lieber, eine Schwester sorgt sich um ihre Familie. Wo sind meine Brüder?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Tanis. Er packte ihre Hand beim Gelenk. »Sie sind beide im Blutmeer verschwunden...«

»Mit dem Hüter des grünen Juwels?«

»Mit dem Hüter des grünen Juwels.«

»Und wie hast du überlebt?«

»Meer-Elfen haben mich gerettet.«

»Dann hätten sie die anderen auch retten können?«

»Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Ich bin trotz allem ein Elf. Die anderen waren menschlich.«

Kitiara starrte Tanis lange an. Er hielt immer noch ihr Handgelenk fest. Unter ihrem durchdringenden Blick schlossen sich seine Finger unbewußt fester um das Gelenk.

»Du tust mir weh...«, flüsterte Kit, »Warum bist du gekommen, Tanis? Um Laurana zu befreien... allein? Selbst du wärst nicht so töricht...«

»Nein«, unterbrach Tanis sie, während sein Griff um Kitiaras Arm fester wurde. »Ich bin hier, um einen Handel abzuschließen. Nimm mich. Laß sie laufen.«

Kitiara riß die Augen auf. Dann warf sie plötzlich ihren Kopf zurück und lachte. Mit einer schnellen Bewegung riß sie sich aus Tanis' Griff los und ging zu dem Tisch, um ihr Weinglas aufzufüllen.

Sie grinste ihn über ihre Schulter an. »Nun, Tanis«, sagte sie und lachte wieder, »was bedeutest du mir, daß ich auf diesen Handel eingehen sollte?«Tanis spürte, wie er rot wurde. Immer noch grinsend fuhr Kitiara fort.

»Ich habe ihren Goldenen General gefangengenommen, Tanis. Ich habe ihnen ihren Glücksbringer weggenommen, ihre wunderschöne Elfenkriegerin. Sie war kein schlechter General, was das betrifft. Sie hat ihnen die Drachenlanzen gebracht und ihnen gezeigt, wie man mit ihnen kämpft. Ihr Bruder brachte die guten Drachen zurück, aber alle haben ihr das zugeschrieben. Sie vereinigte die Ritter wieder, als sie schon längst zersplittert und verfeindet waren. Und du willst, daß ich sie eintausche gegen...«, Kitiara zeigte verächtlich auf ihn, »einen Halb-Elfen, der in Begleitung von Kendern, Barbaren und Zwergen durch die Landschaft zieht!«

Kitiara lachte wieder, sie lachte so heftig, daß sie sich hinsetzen und die Tränen aus den Augen wischen mußte. »Wirklich, Tanis, du hast eine hohe Meinung von dir. Warum, glaubst du, sollte ich dich zurücknehmen? Aus Liebe?«

In Kits Stimme war eine winzige Veränderung wahrnehmbar, ihr Lachen wirkte gezwungen. Sie runzelte plötzlich die Stirn und drehte das Weinglas in ihrer Hand.

Tanis antwortete nicht. Er konnte nur vor ihr stehen, seine Haut brannte wie Feuer von ihrem Hohn. Kitiara starrte ihn an, dann senkte sie ihren Blick.

»Nehmen wir an, ich lasse mich darauf ein«, fragte sie mit kalter Stimme, ihre Augen waren auf das Glas in ihrer Hand gerichtet. »Was könntest du mir als Ersatz bieten?«

Tanis holte tief Luft. »Der Kommandant deiner Soldaten ist tot«, sagte er. Er versuchte, gleichgültig zu klingen. »Das weiß ich. Tolpan sagte mir, daß er ihn getötet hätte. Ich würde seinen Platz einnehmen.«

»Du würdest... in der Drachenarmee dienen?« Kits Augen weiteten sich vor echtem Erstaunen.

»Ja.« Tanis biß die Zähne zusammen. Seine Stimme klang bitter. »Wir haben sowieso verloren. Ich habe eure Fliegenden Zitadellen gesehen. Wir können nicht gewinnen, auch wenn die guten Drachen bleiben. Und sie werden es nicht – die Leutewerden sie zurückschicken. Die Leute haben ihnen sowieso nie getraut, nicht wirklich. Mich interessiert nur eins – laß Laurana frei, unversehrt.«

»Ich glaube wirklich, daß du das tun würdest«, sagte Kitiara leise, immer noch staunend. Lange Zeit musterte sie ihn. »Ich muß es mir überlegen...«

Dann, als ob sie im Streit mit sich läge, schüttelte sie den Kopf. Sie setzte das Glas an ihre Lippen, trank, setzte das Glas wieder ab und erhob sich.

»Ich muß es mir überlegen«, wiederholte sie. »Aber jetzt muß ich dich verlassen, Tanis. Heute abend ist eine Versammlung der Drachenfürsten. Sie sind aus allen Teilen Ansalons gekommen. Du hast natürlich recht. Ihr habt den Krieg verloren.

Heute abend werden wir Pläne für die endgültige Vernichtung schmieden. Du wirst mich begleiten. Ich werde dich Ihrer Majestät vorstellen.«

»Und Laurana?« fragte Tanis hartnäckig.

»Ich sagte bereits, daß ich es mir überlegen muß!« Eine dunkle Linie verunstaltete die glatte Haut zwischen Kitiaras Augenbrauen. Ihre Stimme klang scharf. »Man wird dir eine Zeremonienrüstung bringen. Sei in einer Stunde umgezogen und bereit.« Sie wollte gehen, dann drehte sie sich noch einmal zu Tanis um. »Meine Entscheidung kann davon abhängen, wie du dich heute abend verhältst«, sagte sie leise. »Vergiß nicht, Halb-Elf, von jetzt an dienst du mir!«

Die braunen Augen glitzerten klar und kalt, als sie Tanis in ihrem Bann hielten. Langsam spürte er, wie der Wille dieser Frau ihn niederdrückte, bis er eine starke Hand war, die ihn auf den polierten Marmorboden zwang. Die Stärke der Drachenarmee stand hinter ihr, der Schatten der Dunklen Königin schwebte um sie, durchdrang sie mit einer Macht, die Tanis schon vorher aufgefallen war.

Plötzlich spürte Tanis eine große Distanz zwischen ihnen. Sie war im wahrsten Sinne des Wortes menschlich. Denn nur die Menschen waren von der Lust nach Macht erfüllt, die so stark war, daß die rohe Leidenschaft ihres Wesens leicht korrumpiert werden konnte. Das kurze Leben der Menschen war wie eine Flamme, die in einem reinen Licht brennen konnte wie Goldmonds Kerze, wie Sturms zerschmetterte Sonne, oder die Flamme konnte zerstören, ein sengendes Feuer, das alles auf seinem Weg verzehrte. Er hatte sein kaltes, schwerfälliges Elfenblut an diesem Feuer gewärmt, er hatte die Flamme in seinem Herzen gepflegt. Jetzt sah er sich, wie er werden würde so, wie er die Körper jener gesehen hatte, die in den Flammen von Tarsis gestorben waren -, eine Masse verkohlten Fleisches, das Herz schwarz und still.

Es war seine Schuld, der Preis, den er zahlen mußte. Er würde seine Seele auf den Altar dieser Frau legen, so wie ein anderer eine Handvoll Silber auf ein Kissen legt. Das schuldete er Laurana. Sie hatte genug wegen ihm gelitten. Sein Tod würde sie nicht befreien, aber vielleicht sein Leben.

Langsam legte Tanis seine Hand an sein Herz und verbeugte sich.

»Meine Fürstin«, sagte er.

Kitiara ging in ihr Privatgemach, sie befand sich in Unruhe. Sie fühlte ihr Blut durch die Venen pulsieren. Aufregung, Begierde, das glorreiche Hochgefühl des Sieges machten sie trunkener als der Wein. Dennoch hatte sie unterschwellig einen nagenden Zweifel, der um so irritierender war, da er das Hochgefühl flach und schal werden ließ. Wütend versuchte sie, ihn aus ihren Gedanken zu verbannen, aber er war da, als sie die Tür zu ihrem Zimmer öffnete.

Die Diener hatten sie nicht so früh erwartet. Die Fackeln waren noch nicht angezündet; das Feuer war vorbereitet, brannte aber noch nicht. Wütend griff sie nach der Glockenschnur. Das würde sie zum Rennen bringen! Aber da schloß sich plötzlich eine kälte und fleischlose Hand um ihr Handgelenk.

Diese Berührung vermittelte ihr ein brennendes Kältegefühl, das durch ihre Knochen und ihr Blut lief, bis es fast ihr Herz gefror. Kitiara keuchte vor Schmerz, wollte sich losreißen, aber die Hand hielt sie fest.»Du hast doch unseren Handel nicht vergessen?«

»Nein, natürlich nicht!« antwortete Kitiara. Sie versuchte, die Angst aus ihrer Stimme herauszuhalten, und befahl streng: »Laß mich los!«

Die Hand lockerte langsam ihren Griff. Kitiara riß eilig ihren Arm weg und rieb die Haut, die selbst in dieser kurzen Zeit bläulich angelaufen war. »Die Elfenfrau wird dir gehören, natürlich erst, wenn die Königin mit ihr fertig ist.«

»Natürlich. Anders will ich sie auch nicht. Mit einer lebenden Frau kann ich nichts anfangen – nicht so, wie du etwas mit einem lebenden Mann anfangen kannst...« Die Stimme der dunklen Gestalt klang unangenehm bei diesen Worten.

Kitiara warf dem bleichen Gesicht einen verächtlichen Blick zu; seine flackernden Augen schwebten körperlos über der schwarzen Rüstung des Ritters.

»Sei kein Narr, Soth«, sagte sie, während sie hastig am Glokkenseil zog. Sie empfand ein Bedürfnis nach Licht. »Ich bin in der Lage, die Vergnügungen des Fleisches von den Vergnügungen des Geschäfts zu trennen – etwas, wozu du nicht in der Lage warst, nach allem, was ich hier über dein Leben weiß.«

»Was für Pläne hast du denn mit dem Halb-Elfen?« fragte Fürst Soth, seine Stimme schien wie gewöhnlich von tief unten zu kommen.

»Er wird mir gehören, ganz und gar«, sagte Kitiara, während sie vorsichtig ihr schmerzendes Handgelenk rieb.

Diener eilten mit zögernden Seitenblicken auf die Finstere Herrin herbei, ihre berüchtigten Zornesausbrüche fürchtend.

Aber Kitiara, die mit ihren Gedanken beschäftigt war, ignorierte sie. Fürst Soth verschmolz mit den Schatten, wie immer, wenn die Kerzen angezündet waren.

»Der einzige Weg, den Halb-Elfen zu besitzen, ist, ihn zusehen zu lassen, wie ich Laurana zerstöre«, fuhr Kitiara fort.

»Das ist kaum der Weg, um seine Liebe zu gewinnen«, gab Fürst Soth verächtlich zurück.

»Seine Liebe will ich nicht.« Kitiara, die ihre Handschuhe auszog und ihre Rüstung aufschnallte, lachte kurz auf. »Ich willihn! Solange sie lebt, werden seine Gedanken bei ihr und bei seiner noblen Opferbereitschaft sein. Nein, der einzige Weg, daß er völlig mir gehört, ist der, ihn unter den Absätzen meiner Stiefel zu zermalmen, bis er nichts weiter als eine formlose Masse ist. Dann wird er mir von Nutzen sein.«

»Nicht lange«, bemerkte Fürst Soth sarkastisch. »Der Tod wird ihn befreien.«

Kitiara zuckte die Achseln. Die Diener hatten ihre Aufgaben ausgeführt und verschwanden schnell. Die Finstere Herrin stand schweigend und nachdenklich im Licht, noch halb in ihrer Rüstung, den Drachenhelm in der Hand.

»Er hat mich angelogen«, sagte sie nach einem Moment.

Dann schleuderte sie den Helm auf den Tisch, wo er eine Porzellanvase zerschlug, und begann auf und ab zu laufen. »Er hat mich angelogen. Meine Brüder sind nicht im Blutmeer gestorben – zumindest einer von ihnen lebt, das weiß ich. Und auch er – Berem!« Gebieterisch riß Kitiara die Tür auf. »Gakhan!« schrie sie.

Ein Drakonier eilte in das Zimmer.

»Neuigkeiten? Habt ihr den Hauptmann schon gefunden?«

»Nein, Fürstin«, erwiderte der Drakonier. Es war der gleiche, der damals Tanis von dem Wirtshaus in Treibgut gefolgt war, der gleiche, der geholfen hatte, Laurana eine Falle zu stellen. »Er hat dienstfrei, Fürstin«, fügte die Kreatur hinzu, als ob dies alles erklären würde.

Kitiara verstand. »Durchsuch jedes Bierzelt und jedes Bordell, bis du ihn gefunden hast. Dann bringst du ihn hierher. Wenn es sein muß, auch in Ketten. Ich werde ihn verhören, wenn ich von der Versammlung der Fürsten zurück bin. Nein, warte...« Kitiara hielt inne, dann fügte sie hinzu. »Du wirst ihn verhören. Finde heraus, ob der Halb-Elf wirklich allein war, wie er sagt, oder ob andere bei ihm waren. Wenn das so ist...«

Der Drakonier verneigte sich. »Ihr werdet unverzüglich informiert werden, Fürstin.«

Kitiara entließ ihn mit einer Handbewegung. Der Drakonier verbeugte sich wieder, verließ das Zimmer und schloß die Türhinter sich. Einen Moment lang stand sie nachdenklich da, dann fuhr sie sich wütend mit einer Hand durch ihr lockiges Haar und riß die Gurte ihrer Rüstung auf.

»Du wirst mich heute abend begleiten«, sagte sie zu Fürst Soth, ohne auf die Erscheinung des toten Ritters zu sehen, der, wie sie annahm, immer noch hinter ihr stand. »Sei aufmerksam. Lord Ariakus wird über meine Absichten nicht erfreut sein.«

Sie warf den letzten Teil der Rüstung auf den Boden und zog ihre Ledertunika und die blaue Seidenhose aus. Sich in ihrer Nacktheit streckend und reckend, blickte sie über ihre Schulter, um Fürst Soths Reaktion auf ihre Worte zu sehen. Er war nicht da. Erstaunt blickte sie sich schnell im Zimmer um.

Der geisterhafte Ritter stand vor dem Drachenhelm, der auf dem Tisch neben der zerbrochenen Vase lag. Mit einer Bewegung seiner fleischlosen Hand ließ er die Scherben in der Luft vor sich schweben. Dort hielt er sie mit seiner Magie und wandte sich wieder Kitiara zu und musterte sie mit seinen flammenden orangenen Augen, als sie nackt vor ihm stand.

»Du bist trotz allem eine Frau, Kitiara«, sagte Fürst Soth langsam. »Du liebst...«

Der Ritter bewegte sich nicht und sprach auch nicht, aber die Scherben fielen auf den Boden. Mit seinem durchsichtigen Stiefel trat er auf sie, hinterließ aber keine Spuren.

»Und du bist verletzt«, sagte er leise zu Kitiara, als er näher zu ihr trat. »Mach dir nichts vor, Finstere Herrin. Zerquetsch ihn, so oft du willst, aber der Halb-Elf wird immer dein Herr sein – selbst im Tod.«

Fürst Soth verschmolz mit den Schatten im Zimmer. Kitiara stand lange Zeit da und starrte in das lodernde Kaminfeuer, als würde sie versuchen, ihr Schicksal in den Flammen zu lesen.

Gakhan lief eilig durch den Korridor im Palast der Königin, seine Klauenfüße klapperten über den Marmorboden. Die Gedanken des Drakoniers hielten mit seinem Gang Schritt. Es war ihm plötzlich eingefallen, wo der Hauptmann zu finden sein könnte. Als er zwei Drakonier aus Kitiaras Kommando am Ende des Korridors herumlungern sah, gab er ihnen Zeichen, ihm zu folgen. Sie gehorchten sofort. Obwohl Gakhan in der Drachenarmee keinen Rang bekleidete – nicht mehr -, war er offiziell als der militärische Berater der Finsteren Herrin bekannt. Inoffiziell war er als ihr persönlicher Mörder bekannt.

Gakhan stand seit langer Zeit in Kitiaras Diensten. Als die Königin der Finsternis und ihre Häscher Nachricht von der Entdeckung des blauen Kristallstabs erhielten, gab es nur wenige Drachenfürsten, die seinem Verschwinden eine Bedeutung beimaßen. Intensiv mit dem Krieg beschäftigt, der allmählich das Leben in den nördlichen Ländern Ansalons auslöschte, verdiente so etwas Triviales wie ein Stab mit Heilkräften nicht ihre Aufmerksamkeit. Es würde schon eine Menge Heilkunst vonnöten sein, um die Welt zu heilen, hatte Ariakus lachend im Kriegsrat bemerkt.

Aber zwei Fürsten hatten das Verschwinden des Stabs ernst genommen: Einer herrschte in jenem Teil Ansalons, wo der Stab entdeckt worden war, der andere war in diesem Gebiet geboren und aufgewachsen. Einer war ein dunkler Kleriker, der andere eine erfahrene Schwertkämpferin. Beide erkannten, wie gefährlich sich ein Beweis für die Rückkehr der alten Götter auf ihre Sache auswirken könnte.

Der eine, Lord Verminaard, schickte Schwärme von Drakoniern, Goblins und Hobgoblins nach dem blauen Kristallstab aus. Kitiara schickte Gakhan.

Es war Gakhan, der Flußwind und den blauen Kristallstab bis zum Dorf Que-Shu verfolgt hatte, und es war Gakhan, der den Überfall auf das Dorf anordnete, bei dem die meisten seiner Bewohner systematisch umgebracht wurden.

Aber plötzlich verließ er Que-Shu, da er Berichte erhalten hatte, daß der Stab in Solace gesichtet worden war. Der Drakonier reiste zu der Stadt, nur um herauszufinden, daß er einige Wochen zu spät gekommen war. Aber hier erfuhr er von Einheimischen, die er ›befragt‹ hatte, daß sich die Barbaren, die den Stab hatten, einer angeblich aus Solace stammenden Gruppe von Abenteurern angeschlossen hatten. Gakhan mußte an diesem Punkt eine Entscheidung treffen.

Er konnte versuchen, ihre Spur zu finden, die zweifellos im Laufe der Wochen kalt geworden war, oder er konnte zu Kitiara mit Beschreibungen dieser Abenteurer zurückkehren, um herauszufinden, ob sie ihr bekannt waren. Wenn das so wäre, konnte sie ihn mit Informationen versorgen, die die Suche vereinfachen würden.

Er entschied, zu Kitiara zurückzukehren, die im Norden kämpfte. Lord Verminaards unzählige Soldaten würden wahrscheinlich eher den Stab finden als er. Gakhan lieferte Kitiara vollständige Beschreibungen der Abenteurer. Sie war sichtlich erschrocken gewesen, daß es sich um ihre Halbbrüder, ihre alten Waffenkameraden und ihren ehemaligen Liebhaber handelte. Kitiara erkannte sofort das Wirken einer großen Macht, denn sie wußte, daß diese Gruppe bunt zusammengewürfelter Wanderer zu einer dynamischen Kraft des Guten – oder des Bösen – werden konnte. Unverzüglich teilte sie der Königin der Finsternis ihre Befürchtungen mit, die bereits über das Fehlen der Konstellation des Tapferen Kriegers beunruhigt war. Die Königin wußte sofort, daß sie recht behalten hatte – Paladin war zurückgekehrt, um sie zu bekämpfen. Aber als sie die Gefahr erkannte, war der Schaden bereits angerichtet.

Kitiara schickte Gakhan wieder auf die Suche. Schritt für Schritt verfolgte der kluge Drakonier die Gefährten von Pax Tarkas bis ins Königreich der Zwerge. Er war es gewesen, der ihnen nach Tarsis gefolgt war, und dort hätten er und die Finstere Herrin sie auch gefangengenommen, wenn nicht Alhana Sternenwind und ihre Greife dazwischengekommen wären.

Geduldig war Gakhan auf ihrer Fährte geblieben. Er wußte von der Trennung der Gruppe, hörte Berichte über sie aus Silvanesti, wo sie den großen grünen Drachen, Cyan Blutgeißel, vertrieben hatten, und dann von Eismauer, wo Laurana den dunklen Elfenmagier, Feal-Thas, getötet hatte. Er wußte von der Entdeckung der Kugeln der Drachen – der Zerstörung der einen, der Beherrschung der anderen durch den zerbrechlichen Magier.Es war Gakhan, der Tanis in Treibgut gefolgt und der in der Lage gewesen war, die Finstere Herrin zu der Perechon zu führen. Aber auch hier, wie schon zuvor, spielte Gakhan mit geschicktem Einsatz, um herauszufinden, daß die Karten seines Gegners den letzten Zug verhinderten. Der Drakonier gab nicht auf. Gakhan kannte seinen Gegner, er kannte die große Macht, die gegen ihn arbeitete. Er spielte mit einem hohen Einsatz – mit einem sehr hohen Einsatz.

Mit diesen Gedanken verließ er den Tempel Ihrer Majestät, in dem sich jetzt die Drachenfürsten zur Sitzung versammelten, und trat in die Straßen von Neraka. Jetzt, vor Anbruch des Abends, war es hell. Als die Sonne am Himmel hinunterglitt, wurden ihre letzten Strahlen von den Schatten der Zitadellen befreit. Sie brannte jetzt über den Bergen und färbte die immer noch schneebedeckten Wipfel blutrot.

Gakhans Reptilienblick weilte aber nicht auf dem Sonnenuntergang, Statt dessen suchte er die Straßen der Zeltstadt ab, die jetzt fast leer waren, da die meisten Drakonier an diesem Abend ihren Fürsten zur Verfügung stehen mußten. Die Fürsten hegten einen bemerkenswerten Mangel an Vertrauen untereinander und zu ihrer Königin. In ihren Gemächern waren schon Morde begangen worden und würden wahrscheinlich weiterhin begangen werden.

Das bereitete Gakhan jedoch keine Sorgen. In der Tat erleichterte es seine Arbeit. Schnell führte er die beiden Drakonier durch die stinkenden, mit Abfällen übersäten Straßen. Er hätte sie allein mit dieser Aufgabe betrauen können, aber Gakhan hatte allmählich seinen großen Gegner sehr gut kennengelernt und verspürte ein entschiedenes Gefühl von Dringlichkeit.

»Hier ist es«, sagte er, vor einem Bierzelt anhaltend. Auf einem Schild an einem Pfahl stand in der Umgangssprache »Das Drachenauge«, während ein Plakat am Eingang verkündete »Für Drakos und Goblins Zutritt verboten«. Gakhan spähte durch die schmutzige Zeltöffnung und sah sein Opfer. Er machte seinen Begleitern Zeichen.Sein Eintritt löste einen Aufruhr aus, als die Menschen im Schankraum ihre verschleierten Blicke auf die Neuankömmlinge richteten und sie als drei Drakonier erkannten. Man schrie höhnische Bemerkungen. Die Schreie und höhnischen Bemerkungen erstarben jedoch sofort, als Gakhan seine Kapuze abnahm, die sein Reptiliengesicht versteckte. Jedermann erkannte Fürstin Kitiaras Gefolgsmann. Eine Dunstwolke legte sich über die Menge, die dicker war als der übelriechende Rauch und die ekligen Gerüche, die den Raum erfüllten. Die Menschen warfen den Drakoniern ängstliche Blicke zu, dann wandten sie sich zusammengekauert ihren Getränken zu und versuchten, unauffällig zu wirken.

Gakhans glitzernde schwarze Augen fuhren über die Menge.

»Dort«, sagte er auf drakonisch und zeigte auf einen Mann, der über der Theke hing. Seine Begleiter handelten unverzüglich, ergriffen den einäugigen menschlichen Soldaten, der sie in seinem betrunkenen Zustand entsetzt anstarrte.

»Bringt ihn nach draußen«, befahl Gakhan.

Die Proteste und Bitten des verwirrten Hauptmannes wie auch die haßerfüllten Blicke und gemurmelten Drohungen der Menge ignorierend, zogen die Drakonier ihren Gefangenen nach draußen. Gakhan folgte langsam.

Die erfahrenen Drakonier brauchten nur wenige Augenblicke, um ihren Gefangenen so weit auszunüchtern, daß er reden konnte – die heiseren Schreie des Mannes ließen vielen Stammgästen die Lust auf Alkoholisches vergehen – und schließlich in der Lage war, auf Gakhans Fragen zu antworten.

»Erinnerst du dich, heute nachmittag einen Offizier der Drachenarmee wegen Verdacht auf Desertion verhaftet zu haben?«

Der Hauptmann erinnerte sich, viele Offiziere befragt zu haben... er war ein geschäftiger Mann... sie sahen alle gleich aus.

Gakhan machte den Drakoniern Zeichen, die prompt und wirksam reagierten.

Der Hauptmann schrie vor Schmerzen auf. Ja, ja! Er erinnerte sich! Aber es war nicht nur ein Offizier, es waren zwei gewesen.

»Zwei?« Gakhans Augen glitzerten. »Beschreib den anderen!«

»Ein großer Mensch, wirklich groß. Er quoll fast aus seiner Uniform heraus. Und sie hatten Gefangene...«

»Gefangene!« Gakhans Reptilienzunge zuckte aufgeregt in seinem Mund. »Beschreib sie!«

Der Hauptmann war allzu glücklich, sie beschreiben zu können. »Eine menschliche Frau, rote Locken, Brüste in der Größe von...«

»Fahr fort«, knurrte Gakhan. Seine Klauenhände zitterten.

Schluchzend gab der Hauptmann eilig Beschreibungen von den zwei anderen Gefangenen, die Worte sprudelten nur so heraus.

»Ein Kender«, wiederholte Gakhan, der immer aufgeregter wurde. »Fahr fort! Ein alter Mann, weißer Bart...« Er hielt verwirrt inne.

Der alte Zauberkundige? Sicherlich hätten sie niemals zugelassen, daß dieser klapprige alte Narr sie auf solch einer wichtigen und gefährlichen Mission begleitet, Wenn nicht, wer dann?

Jemand, den sie unterwegs aufgelesen hatten?

»Erzähl mir mehr über den alten Mann«, befahl Gakhan.

Der Hauptmann wühlte verzweifelt in seinem alkoholdurchweichten und schmerzbetäubten Gehirn. Der alte Mann... weißer Bart...

»Gebückt?«

»Nein... großgewachsen, breite Schultern... blaue Augen. Komische Augen...« Der Hauptmann stand am Rande einer Ohnmacht. Gakhan packte den Mann mit einer Klauenhand und quetschte seinen Hals.

»Was ist mit den Augen?«

Ängstlich starrte der Hauptmann den Drakonier an, der ihn langsam erwürgte. Er babbelte etwas.

»Jung... zu jung!« wiederholte Gakhan jubelnd. Jetzt wußte er Bescheid. »Wo sind sie?«Der Hauptmann keuchte ein Wort, dann schleuderte Gakhan ihn krachend auf den Boden.

Die Fronten klärten sich. Gakhan fühlte sich wie im siebten Himmel. Ein Gedanke flatterte in seinem Gehirn wie die Flügel eines Drachen, als er und seine Begleiter das Zelt verließen und auf die Verliese unter dem Palast zueilten.

Berem... Berem... Berem!

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