Sonntag. Der Tag des Rennens. Köster hatte die letzte Woche jeden Tag trainiert. Abends hatten wir dann bis in die Nacht hinein Karl bis aufs kleinste Schräubchen kontrolliert, geschmiert und in Ordnung gebracht. Jetzt saßen wir am Ersatzteillager und warteten auf Köster, der zum Startplatz gegangen war.
Wir waren alle da: Grau, Valentin, Lenz, Patrice Hollmann und vor allem Jupp. Jupp im Overall[74], mit Rennbrille und Rennhaube. Er war Kösters Beifahrer, weil er am leichtesten war. Lenz hatte allerdings Bedenken gehabt. Er behauptete, Jupps riesige abstehende Ohren gäben zu viel Luftwiderstand; entweder verliere der Wagen zwanzig Kilometer an Geschwindigkeit oder er verwandle sich in ein Flugzeug.
„Wie kommen Sie eigentlich zu Ihrem englischen Vornamen?” fragte Gottfried Patrice Hollmann, die neben ihm saß.
„Meine Mutter war Engländerin. Sie hieß auch so. Pat.”
„Ah, Pat, das ist was anderes. Das spricht sich viel leichter.” Er holte ein Glas und eine Flasche hervor. „Also auf gute Kameradschaft, Pat! Ich heiße Gottfried.”
Ich starrte ihn an. Während ich immer noch mit der Anrede herumlavierte, machte er am hellen Nachmittag unverfroren solche Sachen! Und sie lachte dazu und nannte ihn tatsächlich Gottfried.
Aber das war nichts gegen Ferdinand Grau. Der war völlig verrückt geworden und ließ sie nicht aus den Augen. Er rezitierte rollende Verse und erklärte, sie malen zu müssen. Tatsächlich hockte er sich auf eine Kiste und fing an zu zeichnen.
„Hör mal, Ferdinand, alter Totenvogel[75]”, sagte ich und nahm ihm den Block fort, „vergreif dich nicht an lebendigen Menschen. Bleib bei deinen Leichen. Und rede mehr ins Allgemeine. Mit dem Mädchen bin ich empfindlich.”
„Versauft ihr nachher mit mir den Rest der Erbtante meines Gastwirts?”
„Ob den ganzen Rest, weiß ich nicht. Aber einen Fuß sicher.”
„Gut. Dann will ich dich schonen, Knabe.”
Das Geknatter der Motoren wanderte wie Maschinengewehrfeuer um die Bahn.
Nebenan lärmten die Monteure in ihren wohlausgerüsteten Boxen. Wir selbst waren nur sehr dürftig versorgt. Ein bisschen Werkzeug, Zündkerzen, ein paar Räder mit Reservereifen, die wir umsonst von einer Fabrik bekommen hatten, ein paar kleinere Ersatzteile, – das war schon alles. Köster fuhr nicht für eine Fabrik. Wir mussten alles selbst bezahlen. Deshalb hatten wir nicht viel.
Otto kam. Hinter ihm Braumüller, der schon zum Rennen angezogen war. „Na, Otto”, sagte er, „wenn meine Kerzen heute halten, bist du verloren! Aber sie werden nicht halten.”
„Mal sehen”, erwiderte Köster.
Braumüller drohte zu Karl hinüber. „Nimm dich in acht vor meinem Nussknacker!”
Der Nussknacker war eine ganz schwere, neue Maschine, die Braumüller fuhr. Er galt als Favorit.
„Karl wird dir schon Beine machen, Theo!” rief Lenz zu ihm hinüber. Braumüller wollte in der alten ehrlichen Soldatensprache antworten, verschluckte sich aber, als er Patrice Hollmann bei uns sah, machte Stielaugen, grinste ziellos in die Gegend und schob ab.
„Voller Erfolg”, sagte Lenz befriedigt.
Das Gebell der Motorräder fegte über die Bahn. Köster musste sich fertigmachen. Karl war in der Klasse der Sportwagen gemeldet.
„Viel helfen können wir dir ja nicht, Otto”, sagte ich und sah nach dem Werkzeug.
Er winkte ab. „Ist auch nicht nötig. Wenn Karl Bruch macht, nützt selbst eine ganze Werkstatt nichts.”
„Sollen wir nicht doch Schilder raushalten, damit du weißt, wie du liegst?”
Köster schüttelte den Kopf. „Ist ja Sammelstart. Da seh ichs schon. Außerdem passt Jupp auf.”
Jupp nickte eifrig. Er zitterte vor Aufregung und fraß andauernd Schokolade. Aber das war nur jetzt. Beim Startschuss wurde er sofort ruhig wie eine Schildkröte.
„Also los, Hals und Beinbruch!”[76]
Wir schoben Karl vor.
Karl dampfte ab. Wir sahen ihm nach. „Guck mal, die komische Klamotte[77]”, sagte plötzlich jemand neben uns.
Lenz richtete sich auf. „Meinen Sie den weißen Wagen?” fragte er mit rotem Kopf, aber noch ruhig.
„Eben”, erwiderte ihm der riesige Monteur aus der Nachbarbox wegwerfend über die Schulter weg und reichte seinem Nachbarn die Bierflasche. Lenz begann vor Wut zu stottern und schickte sich an, die niedrige Bretterwand zu übersteigen. Ich zerrte ihn zurück. „Lass den Quatsch”, fluchte ich, „wir brauchen dich hier. Wozu willst du schon vorher ins Lazarett!”
„Sehen Sie”, sagte ich zu Patrice Hollmann, „das ist angeblich der letzte Romantiker, dieser irrsinnige Ziegenbock! Können Sie glauben, dass er mal Gedichte geschrieben hat?”
Das wirkte sofort. Es war Gottfrieds wunde Stelle. „Lange vor dem Kriege”, entschuldigte er sich. „Außerdem, Baby, beim Rennen verrückt zu werden ist keine Schande. Was, Pat?”
„Verrückt sein ist überhaupt keine Schande.”
Gottfried salutierte. „Ein großes Wort!”
Das Donnern der Motoren übertönte alles Weitere. Die Luft bebte. Erde und Himmel bebten. Das Feld raste vorbei. „Vorletzter!” knurrte Lenz. „Das Biest hat beim Anfahren doch wieder gestottert.”
„Macht nichts”, sagte ich, „der Start ist Karls Schwäche. Er zieht langsam ab, aber dann hört er überhaupt nicht mehr auf.”
Die Wagen brummten heran. Sie zitterten in der Ferne wie Heuschrecken auf der Bahn, wurden größer und rasten auf der gegenüberliegenden Seite an den Tribünen vorbei in die große Kurve. Es waren noch sechs, Köster immer noch an vorletzter Stelle. Dann schoss die Meute heraus. Einer vorweg – der zweite und dritte dicht hinter ihm und dann Köster. Er war in der Kurve vorgegangen und fuhr jetzt als vierter.
Wieder dröhnte der ungeheure Herzschlag der Maschinen heran, an den Tribünen vorbei. Wir starrten zu Köster hinüber. Er schüttelte den Kopf; er wollte keine Reifen wechseln. Als er zurückkam, hatte er etwas aufgeholt. Er hing dem Dritten dicht am Hinterrad. So rasten sie in die unendliche Gerade.
„Verflucht!” Lenz nahm einen Schluck aus der Flasche.
„Er hat das trainiert”, sagte ich zu Patrice Hollmann. „In der Kurve rangehen ist seine Spezialität.”
„Auch einen Schluck aus der Pulle, Pat? fragte Lenz.
Ich sah ihn ärgerlich an. Er hielt, ohne zu blinzeln, meinen Blick aus.
„Lieber ein Glas”, sagte sie. „Aus der Flasche trinken habe ich noch nicht gelernt.”
„Da sieht mans!” Gottfried angelte nach dem Glas. „Das sind die Fehler der modernen Erziehung.”
In den folgenden Runden zog das Feld sich weiter auseinander. Braumüller führte. Die ersten vier hatten allmählich dreihundert Meter Vorsprung. Köster verschwand mit dem Dritten Kühler an Kühler hinter der Tribüne. Dann tobten die Wagen wieder heran. Wir sprangen auf. Wo war der Dritte geblieben? Otto kam allein hinter den beiden anderen herangefegt. Da, – endlich brummelte der Dritte heran. Zerfetzte Hinterreifen. Lenz grinste schadenfroh; der Wagen hielt vor der Nebenbox. Der riesige Monteur fluchte. Eine Minute später war die Maschine wieder flott.
Die nächsten Runden änderten nichts am Klassement. Lenz legte die Stoppuhr beiseite und rechnete. „Karl hat noch Reserven”, verkündete er dann.
„Ich fürchte, die andern auch”, sagte ich.
„Kleingläubiger!” Er warf mir einen vernichtenden Blick zu.
Wie ein glasklares Tier lagerte die Spannung jetzt über dem weiten Platz und den Tribünen, als die Wagen zum Endkampf ansetzten. „Fasst alle Holz an”, sagte ich und umklammerte einen Hammerstiel. Lenz griff an meinen Kopf. Ich stieß ihn weg. Er grinste und fasste an die Barriere.
In einer Wolke von Gewittern fegten die drei Wagen heraus, heran, wir schrien wie die Verrückten, auch Valentin und Graus ungeheurer Bass waren jetzt dabei, – Köster war der Wahnsinn geglückt, er hatte den zweiten in der Kurve von oben her überholt, weil der sich verschätzt und im schärferen Bogen innen Fahrt verloren hatte, und jetzt stieß er wie ein Habicht auf Braumüller los, der plötzlich nur noch zwanzig Meter vor ihm lag und scheinbar Fehlzündungen hatte. „Gib ihm, Otto! Gib ihm! Friss den Nussknacker”, brüllten wir und winkten.
Die Wagen verschwanden in der letzten Kurve. Lenz betete laut zu allen Göttern Asiens und Südamerikas um Hilfe und schwenkte sein Amulett. Ich riss meins ebenfalls heraus. Patrice Hollmann stützte sich auf meine Schulter, das Gesicht spähend weit nach vorn gereckt wie das Antlitz einer Gallionsfigur[78]