Der Mord oben im Manor House überraschte keinen der Bewohner von Compton Dando. Ein eigenartiger Haufen lebte dort. Ein äußerst eigenartiger Haufen. Verrückt.
Mr. und Mrs. Bulstrode waren im Örtchen die einzigen, die - falls man es überhaupt so nennen konnte - Kontakt zur spirituellen Gemeinschaft auf dem weitläufigen Anwesen pflegten. Sie steckte einmal im Monat mit Nachdruck das Gemeindeblatt in den Briefkasten. Er lieferte die tägliche Milchration. Daß der Kontakt nur lose war, änderte nichts an der Tatsache, daß das Ehepaar für die Dorfbewohner die Informationsquelle schlechthin war. Jetzt stieg ihr Wert in der Gemeinschaft, und Mrs. Bulstrode wurde jedes Mal, kaum daß sie einen Fuß vor die Haustür setzte, von einer Menschenmenge empfangen.
Zuerst murmelte sie: »Ich weiß nicht mehr, als ich gestern, wußte, Mrs. Oxtoby...«, ließ sich dann aber von dem Bedürfnis, die Geschichte auszuschmücken, hinwegreißen. Am Abend des dritten Tages hätte es niemanden im Dorf überrascht zu hören, daß die Bewohner von The Lodge of the Golden Windhorse auf Besenstielen über ihre Natursteinmauer geflogen kamen.
Beim Metzger, wo sie ihre Lammleber und einen Knochen für Ponting kaufte, schüttelte Mrs. Bulstrode leicht widerwillig und gleichzeitig besonnen den Kopf. Sie hatte es kommen sehen, gestand sie Major Palfrey (zwei Nieren und ein Topf Schmalz) mit lauter, tragender Stimme. Man konnte sich nur wundern über das, was sich dort oben abspielte. Die Warteschlange, sofort bereit, sich allen möglichen Spekulationen hinzugeben, folgte ihr ins Postamt.
Dort schob Miss Tombs, die ihre vollen Backen praktisch an die Maschendrahtabsperrung preßte, ihr die Briefmarken mit einem Bühnenflüstern zu: »Meine Liebe, darüber werden Sie gewiß nicht so schnell wegkommen. Wo Ihr Derek doch einen Leichnam gefunden hat. So was passiert einem schließlich nicht alle Tage.«
»Ohhh...« Schwer betroffen suchte Mrs. Bulstrode (deren Mann keinen einzigen Blick auf die Leiche geworfen hatte) Halt an der Theke. »Jetzt sehe ich wieder alles vor mir, Myrtle -«
»Der Teufel soll mich holen für meine Schwatzhaftigkeit!« entfuhr es Miss Tombs, und sie mußte Zusehen, wie ihre Kunden verschwanden, um sich wie ein Nebel um ihren Leitstern zu scharen.
In Bob’s Emporium behauptete Mrs. Bulstrode, schon die Art und Weise, wie sie sich kleideten, spräche Bände. Ihrem Publikum war diese Aussage einen Tick zu verhalten. Sie harrten noch kurz aus, ehe sie zu den Pyramiden von Happy-Shopper-Katzenfutter und den aufgeschichteten Möhrensäcken strömten.
»Die Hälfte der Zeit kann man nicht sagen, was Männlein oder Weiblein ist.« Und dann, um die Sache ein wenig anzuheizen: »Was mein Derek an so manchem Morgen hinter den Fenstern erblickt hat... Nun - ich würde mich in Gesellschaft beiderlei Geschlechter gewiß nicht enthüllen.«
»Sie sprechen von...« Eine Frau mit einem Kopftuch und der Nase eines Haifischs atmete schwer. »...Opfern?«
»Lassen Sie es uns doch einfach Zeremonien nennen, ja, Miss Oughtred? Und es besser dabei belassen.«
»Zeremonien!« Mit ernsten Mienen strömten die Menschen geschwind zurück. Abwechselnd malten sie sich melodramatische, banale und schreckliche Bilder aus. Gräber öffneten sich und gewährten den Untoten problemlosen Zugriff auf sorglose Passanten. Ein gehörnter Luzifer mit schwefelgelben Augen klapperte mit seinen Hufen über den Rand des Pentagons. Brennender Sand und ein Mädchen, früher einmal bildhübsch wie eine Mameluckin, an einem Pfahl festgebunden, bei lebendigem Leib einer Heerschar von Ameisen zum Fraß vorgeworfen.
Als nächstes begab sich Mrs. Bulstrode zum Crinoline Tea Room, um dort ein halbes Dutzend Eclairs zu erstehen. Während die Verkaufshilfe die Leckereien mit einer Silberzange in die Tüte legte, blickte sich Mrs. Bulstrode in der Hoffnung um, ihr Publikum noch vergrößern zu können.
Doch hier verließ sie das Glück. Die beiden einzigen Gäste interessierten sich nur für Kaffee und Kuchen. Ann Cosins und ihre Freundin aus Causton, Mrs. Barnaby. Unglücklicherweise machte es wenig Sinn, sich mit den beiden zu unterhalten. Ann mit ihrer trockenen Art - man hatte immer das Gefühl, sie könne nur hinter vorgehaltener Hand lachen - war ganz und gar nicht zu beeindrucken und deshalb bei ihren Mitmenschen nicht sonderlich beliebt. Außerdem hatte sie quasi Verrat an der Dorfgemeinschaft begangen, indem sie tatsächlich einmal einen Kurs im Manor House belegt hatte. Niemandem war entgangen, daß die beiden Frauen eines Freitag nachmittags ganz unverfroren die Zufahrt hochmarschiert und erst am Sonntag wieder aufgetaucht waren. Als ginge es ihr darum, ihre Mitmenschen noch deutlicher vor den Kopf zu stoßen, hatte Ann sich halsstarrig geweigert, sich detailliert über die Gruppenmitglieder und das Haus auszulassen.
Diesem Ereignis war es zuzuschreiben, daß Mrs. Bulstrode sich damit begnügte, den Kopf leicht zum Gruß zu neigen und beim Schließen der Ladentür großmütig das gurgelnde Gekicher zu ignorieren. Kurze Zeit später, auf dem Heimweg, blieb sie stehen, um ein paar Worte mit dem Pfarrer auszutauschen, der mit der Pfeife im Mund am Zaun von Benisons lehnte. Er begrüßte sie mit einem zutiefst zufriedenen Blick. Die Lodge war ihm seit langem ein Dorn im Auge. Obgleich er sich über die Moral der Lodgebewohner im unklaren war, hatte ihn das nicht daran gehindert, eine Reihe hysterischer Leserbriefe an das Causton Echo zu schicken und die Leser des Blattes vor diesem neuen und götzendienerischen Glauben zu warnen, der sich wie ein Schädling im Herzen einer Rose in der blühenden englischen Landschaft breitmachte.
Keine Religion (schrieb der Pfarrer), die vom Menschen erfunden war und in krassem Gegensatz zu den Lehren des Allmächtigen stand, konnte gut sein. Wie sehr er mit seiner Einstellung recht behalten hatte, zeigte sich nun. Über Gott durfte man nicht spotten, und Reverend Phipps und seine kleine Kirchengemeinde hatten sich versammelt, um diese Einsicht gewissermaßen selbstherrlich und voller Zufriedenheit zu feiern. Teilnahmsvoll hob er eine ergrauende Braue und erkundigte sich, ob es weitere Neuigkeiten gebe.
Auch wenn die Andeutung, daß Derek und der CID ganz dick miteinander waren, ihr schmeichelte, brachte Mrs. Bulstrode es nicht übers Herz, einem Mann Gottes Halbwahrheiten aufzutischen, und gestand, es gebe nichts zu berichten. »Aber die gerichtliche Untersuchung ist auf Dienstag angesetzt. Elf Uhr«, fügte sie schnell hinzu.
Das wußte er selbstverständlich. Das wußte jedermann, und alle hatten die Absicht zu erscheinen, selbst wenn das bedeutete, daß man freinehmen mußte, um dabeisein zu können. Der gesamte Ort hoffte, daß die Anhörung den ganzen Tag dauerte, und alle Tische im Soft Shoe Café von Causton waren schon vor Wochen für diesen Tag zum Mittagessen reserviert worden. Seit drei Jungs aus dem Council Estate die Bushaltestelle abgefackelt hatten, hatte Compton Dando keine derartige Aufregung mehr erlebt, und jedermann rechnete damit, daß ihm dieses Drama weitaus größere Befriedigung verschaffte.
Der Schauplatz dieser dramatischen Aufführung war ein ganz ansehnliches Beispiel früher elisabethanischer Architektur. Das zweistöckige Bauwerk war aus grauem Stein gefertigt, mit horizontalen Bändern aus Feuerstein und glatten Kieseln versehen und charmanterweise nicht symmetrisch. Den leicht aus der Mitte verschobenen Türeingang zierten ionische Säulen. Es gab eine kleine Veranda und sechsundvierzig längsverstrebte Fenster. Die Kamine (zu drei Gruppen zusammengefaßt) prangten auf dem Dach. Manche waren gedreht, andere mit Efeublättern verziert und gewunden. Ein Großteil verfügte über sternenförmige Öffnungen, denen während der Wintermonate sternenförmige Rauchschwaden entstiegen. Ein riesiger Metallklumpen, den so mancher als Meteorit deutete, der in den Augen weniger romantischer Menschen allerdings nur eine Kanonenkugel war, lag am Rand des Daches auf rosenroten, moosbewachsenen Ziegeln.
Das Gebäude war ein Geschenk Elisabeth I. an Gervaise Huyton-Corbett, einen ins Exil verbannten Günstling. Während der ersten fünf Jahre waren die Königin und ihre Gefolgschaft gerngesehene Gäste, doch die Ehre ihres Besuches brachten ihn und ein paar seiner Nachbarn an den Rand des Bankrotts. Die Nachkommen von Sir Gervaise (wie er netterweise genannt wurde, nachdem die Armut ihn in die Knie gezwungen hatte) hatten vier Jahrhunderte lang auf Compton Manor gelebt. Leider war es der Familienschatulle nie wieder vergönnt gewesen, sich von den königlichen Besuchen zu erholen. Der jährliche Unterhalt des Anwesens überstieg die eigentliche Bausumme, doch die Liebe der Huyton-Corbetts zu ihrem Haus war so stark, daß sie sich abmühten und über die Maßen verschuldeten, da sie den Gedanken nicht ertragen konnten, sich davon zu trennen. Schließlich, im Jahr 1939, trat Ashley in die Fleet Air Arm ein. Der Sproß des Geschlechts kam in der Schlacht beim River Plate ums Leben. Der'unmittelbaren Nachkommenschaft somit beraubt, verkaufte dessen altersschwacher Vater das Anwesen, und das Dorf mußte in den folgenden Jahrzehnten eine lange Reihe kultureller Schocks und Rückschläge ertragen.
Heutzutage war es den Dorfbewohnern nicht mehr vergönnt, am Tag des Dorffestes durch die Gärten des Anwesens zu flanieren und sich am Anblick von Lady Huyton-Corbett zu ergötzen, die, in fließendes Georgette gehüllt und mit einem schattenspendenden, breitkrempigen Hut leicht angeschickert, mit der Bowlingkugel auf das Schwein zielte (und es gelegentlich gar traf). Der Gutsherr überreichte auch nicht länger einen silbernen Becher bei der Prämierung für die schönsten Zuckererbsen und Rosetten für den zweiten und dritten Platz.
1980 wurde das Anwesen erneut veräußert und in ein Konferenzzentrum umgewandelt. Das tiefe Mißtrauen von seiten der Dorfbewohner gegenüber Veränderungen und deren Abneigung gegenüber Fremden wurde durch die Schaffung von dreißig Arbeitsplätzen ein wenig gemildert, auch wenn diese den Arbeitern keine besonderen Fähigkeiten abverlangten. Fünf Jahre später kam das Anwesen durch schludriges und ineffizientes Management erneut auf den Markt, bis es einer von Mrs. Thatchers Designergladiatoren übernahm. Darüber hinaus kaufte er noch tausend Morgen angrenzendes Farmland in der (heimlichen) Absicht, einen Tudor-Themenpark zu kreieren. Zutiefst schockierte Dandonians jeder Klasse und jedweder politischen Couleur schlossen sich zusammen angesichts dieser niederträchtigen Vergewaltigung der englischen Landschaft. Die umliegenden Dörfer, die insgeheim schon mit einem unerträglichen Verkehrsaufkommen vor ihren Haustüren und ihren auf der Hinterseite liegenden Gärten rechneten, boten Unterstützung an. Nachdem mehrere Petitionen eingereicht und im Unterhaus auf der Galerie ein Transparent aufgehängt worden war, wurde die Baugenehmigung verweigert. Der Unternehmer verschwand blitzschnell von der Bildfläche, um an einem anderen Ort Schaden anzurichten.
Die Freude der Dorfbewohner über seinen Abgang änderte nichts an dem Umstand, daß sie dessen Profitgier wenigstens verstanden, wenn auch nicht gebilligt hatten. Die momentane Situation ging weit über ihr Verständnis hinaus. Als erstes waren die Neuankömmlinge stets unter sich geblieben. Die Dorfgemeinschaft, die sich beim leisesten Anflug herablassender Familiarität seitens durchziehender Parvenüs auf den Schlips getreten fühlte, reagierte doppelt ungehalten, als sich niemand anschickte, um sie zu erwerben. Derlei Verhalten durfte nicht ignoriert werden. Selbst jenes halbe Dutzend Wochenendgäste, das an lauen Freitagen in Golf GTIs mit einem Kofferraum voller Wein und hausgemachter Pasta aus London anreiste, bemühte sich an der Theke von The Swan zaghaft um Integration und wurde dafür mit gespielt witziger Ablehnung gestraft.
Der andere Vorbehalt gegenüber den Windhorse-Bewohnern war wesentlich ernsterer Natur. Sie gaben kein Geld aus. Nicht ein einziges Mal hatte einer der Bewohner einen Fuß in Bob’s Emporium oder gar ins Postamt gesetzt, geschweige denn in das hiesige Pub. Dieses Gebahren wurde murrend hingenommen in der Annahme, die Gemeinschaft sei durch die Bestellung der drei Morgen Land autark, aber als einer von ihnen beim Verlassen des Busses mit zwei Sainsbury-Tragetaschen gesichtet wurde, hatten die Dorfbewohner doch Anstoß genommen, woran sich bis heute nichts geändert hatte. So kam es, daß eine große Menschenmenge voller Erwartung und mit berechtigtem Ressentiment in den Coroner’s Court strömte, um zu verfolgen, was für ein Drama sich auf Manor House abgespielt hatte und wie der Gerechtigkeit Genüge getan wurde.
Der Tote, der bei seinem Ableben dreiundfünfzig Jahre alt gewesen war, hieß James Carter. Die Untersuchung wurde mit der schriftlich festgehaltenen Aussage eines Sanitäters eröffnet, der nach einem Telefonnotruf auf Manor House eingetroffen war und den Leichnam von Mr. Carter neben einer Treppe auf dem Boden vorgefunden hatte.
»Ich habe den Verstorbenen kurz untersucht«, las der Gerichtsdiener vor, »und mich danach bei meiner Einsatzstelle zurückgemeldet, die einen Arzt geschickt und die Polizei verständigt hat.«
Doktor Lessiter machte als nächster seine Aussage. Er war ein aufgeblasener kleiner Mann, der sich einer ausschweifenden Wortwahl bediente und seine Zuhörer so schnell langweilte, daß sie ihre Aufmerksamkeit schon bald den anderen Mitgliedern der Wohngemeinschaft schenkten.
Der Gemeinschaft gehörten acht Mitglieder an, die - kurz gesagt - eine Enttäuschung waren. Mrs. Bulstrodes Schilderungen war es zuzuschreiben, daß die Menschen eine seltene und exotische Gruppe zu sehen erwartet hatten, die sich auf pikante Weise vom Rest der Bevölkerung abhob. Gut - ein Mädchen trug weitgeschnittene Mousselinhosen und hatte einen roten Punkt auf die Stirn gemalt, doch derlei Alltäglichkeiten bekam man jeden Tag in Slough oder Uxbridge zu sehen. Ziemlich angenervt widmeten sich die Leute wieder dem Doktor und schnappten gerade noch die äußerst befriedigenden Worte »starker Brandygeruch« auf.
Der Constable, der danach aussagte, bestätigte, den Sanitäter gefragt zu haben, ob es sich seiner Meinung nach möglicherweise nicht um einen Unfall gehandelt hatte, obgleich ihm selbst keine Anzeichen dafür aufgefallen waren. Schließlich trat der erste Augenzeuge von Windhorse in den Zeugenstand. Eine große, breite Frau, gehüllt in ein zweiteiliges Kleid aus farbenprächtiger Liberty-Seide, machte eine imposante Figur. Zuerst versicherte sie, daß sie in der Tat Miss May Cuttle sei, ehe sie ihr Treiben an besagtem Tag ausführlicher als unbedingt nötig schilderte. Und zwar mit wohlklingender und selbstsicherer Stimme, die einem Mitglied des hiesigen Women’s Institute zur Zierde gereicht hätte.
Sie hatte einen Zahnarzttermin in Causton gehabt - »ein aufsässiger Backenzahn« - und kurz nach elf das Haus in Gesellschaft von drei Begleitern verlassen, die eine Mitfahrgelegenheit nach Spinnakers Wood brauchten, wo sie mit der Wünschelrute nach Tierfährten zu suchen beabsichtigten.
»Ich mußte in der Zahnarztpraxis warten. Wegen eines renitenten Kindes. Enten, Teddys, das Versprechen, später Eiscreme essen zu dürfen - nichts half. Habe ihn überredet, orange zu denken - im Handumdrehen wurde er ganz sanftmütig. Aber das Ergebnis dürfte ja niemanden wundern.«
»Backenzahn«, drängte der Gerichtsmediziner.
»Ach ja! Ziemlich angeschlagen ging ich zu Hi-Notes, um Noten zu kaufen. Boccherini, die G 5-Sonate, und etwas von Offenbach. Meiner Meinung nach könnte man ihn durchaus als den Liszt des Cello bezeichnen, finden Sie nicht auch?« Sie strahlte den Gerichtsmediziner an, dessen Lesebrille vor Fassungslosigkeit wild auf der Nase herumtanzte. »Kaufte auch noch eine Gurke und ein Cremeschnittchen. Aß beides unten am Fluß, fuhr dann heim, wo ich um dreiviertel zwei eintraf, und fand den armen Jim. Den Rest haben Sie ja schon gehört.«
Die Frage, ob sie den Leichnam berührt habe, verneinte Miss Cuttle. »Ich erkannte sofort, daß er schon in die Astralebene übergewechselt hatte.«
»Siehe da«, sagte der Gerichtsmediziner, nahm einen Schluck Wasser und wünschte, ihm stünde etwas Stärkeres zur-Verfügung.
Miss Cuttle führte aus, daß sich ihres Wissens niemand im Haus aufgehalten habe. Die anderen trafen - nacheinander - kurz vor dem Tee ein. Auf die Frage, ob ihr noch etwas anderes einfalle, was sich als hilfreich erweisen könnte, antwortete sie: »Eine Sache war komisch. Kurz nach meiner Heimkehr rief jemand an und fragte nach Jim. Sehr seltsam. Er hatte kaum Kontakt zur Außenwelt. War eigentlich ein sehr zurückgezogener Mensch.«
Mit Erlaubnis kehrte sie zu ihrem Platz zurück, ohne sich bewußt zu sein, daß die Gurke und die Tierfährten das exzellente Fundament des Vertrauens, welches auf Seide und ihrer wohlklingenden Stimme basierte, beinah wieder zerstört hatten.
Nach der Person, die James Carter zuerst tot aufgefunden hatte, betrat die Person den Zeugenstand, die ihn zuletzt lebend gesehen hatte. Ein kleiner Mann mit respekteinflößendem Bart (einem kleinen roten Spaten nicht unähnlich) stellte sich als Arno Gibbs vor und erläuterte, er habe das Haus gegen elf Uhr dreißig verlassen, um den Meister -
»Könnten Sie bitte den richtigen Namen verwenden«, unterbrach ihn der Gerichtsdiener.
»Entschuldigen Sie«, beeilte sich der bärtige Mann zu sagen. »Mr. Craigie und Mr. Riley - nach Causton zu fahren, im Lieferwagen. Als wir gingen, tränkte Jim gerade die Pflanzenkübel auf der Terrasse. Er schien guter Dinge zu sein. Sagte, er wolle ein paar Tomaten aus dem Gewächshaus holen und zum Mittagessen eine Suppe zubereiten. Er war an der Reihe gewesen, Calypso zu melken, und hatte deswegen, wie Sie wissen müssen, das Frühstück verpaßt.«
Den kurz aufflammenden Spekulationen über Calypso wurde schnell ein Ende bereitet.
Auf die Frage, wie es um die Trinkgewohnheiten des Toten bestellt gewesen sei, antwortete Mr. Gibbs, daß die Gemeinschaft sich der Abstinenz verschrieben hätte, einmal abgesehen von der Flasche Brandy, die für Notfälle im Medizinschränkchen aufbewahrt wurde. Jedenfalls hatte Mr. Carter nicht getrunken, als sie sich auf den Weg gemacht hatten.
Danach rief der Gerichtsmediziner Timothy Riley in den Zeugenstand, was den Gerichtsdiener veranlaßte, eilig an dessen Tisch zu treten und ihm leise etwas zuzuflüstern. Stirnrunzelnd nickte der Gerichtsmediziner, blätterte in seinen Unterlagen und rief Mr. Craigie auf.
Inzwischen stand die Luft im Raum. Gesichter waren schweißbedeckt, Hemden und Kleider dunkelgefleckt. Die Blätter des alten Deckenventilators wälzten knarzend heiße Luft um. Mehrere große Schmeißfliegen knallten gegen die Fenster. Der Mann, der nun vortrat, um seine Aussage zu machen, wirkte nicht erhitzt. Er trug einen blassen Seidenanzug. Sein Haar war schlohweiß (keine Spur grau oder gelb), wurde von einem Gummiband zusammengehalten und fiel als Roßschwanz auf den Rücken. Mrs. Budstrode äußerte nicht gerade leise die Meinung, daß weißes Haar sehr trügerisch sein konnte. Die Augen des Mannes waren in der Tat nicht rheumatisch, sondern von einem leuchtenden klaren Blau. Seine klare, blasse Haut wies fast keine Falten auf. Kaum hatte er zu sprechen begonnen, stieg das Maß der Aufmerksamkeit im Gerichtsraum. Seine sanfte Stimme hatte eine eigenartige, nahezu enthüllende Qualität, als würde er jeden Augenblick die großartigsten Neuigkeiten an jene weitergeben, die Ohren zum Hören hatten. Alle Anwesenden beugten sich vor, um ja keine Silbe zu verpassen. Man hätte meinen können, sie befürchteten, etwas Wertvolles zu verpassen.
Fatalerweise hatte er kaum Neues zu erzählen. Er schloß sich dem vorangegangenen Zeugen in seiner Meinung an, daß der Verstorbene sich wie gewöhnlich verhalten hätte - guter Dinge und positiv sei er am Morgen seines Todes gewesen. Er fügte noch hinzu, daß Mr. Carter ein Gründungsmitglied der Gemeinschaft gewesen sei, ein Mensch, den jeder gemocht hatte und der nun schmerzlich vermißt würde. Dann traten nacheinander die anderen Wohngemeinschaftsmitglieder hervor, bestätigten die eigene Abwesenheit und die der anderen, ehe der Gerichtsmediziner sich daranmachte, die Ergebnisse zusammenzufassen.
Die Jury, inzwischen eine dahinschmelzende Masse auf einer langen, harten Bank, bemühte sich, unbeteiligt, intelligent und einigermaßen wach zu erscheinen. Man sagte ihnen, in diesem Fall gebe es offenbar keinen Grund zur Annahme, daß der Tod kein Unfall gewesen sei. Alle Bewohner von Manor House hatten sich zum Zeitpunkt von Mr. Carters unglücklichem Tod erwiesenermaßen anderen Ortes aufgehalten. Der abgewetzte Läufer auf dem oberen Treppenabsatz in Kombination mit der kleinen Menge Alkohol, von einer Person auf leeren Magen konsumiert, die allem Anschein nach derlei Getränke nicht gewöhnt war, hatte zu dem tödlichen Sturz geführt. Der Gerichtsmediziner stellte heraus, wie sinnvoll die Verwendung eines Rutschschutzes war, daß Teppichläufer auf blankgescheuerten Bodendielen nichts zu suchen hatten und sprach den Freunden des Toten sein Mitgefühl aus. Am Ende wurde »Tod durch Unfall« verkündet.
Der Gerichtsmediziner erhob sich, der Ventilator gab ein letztes apathisches Stöhnen von sich, und eine tote Schmeißfliege landete auf dem Kopf des Gerichtsdieners. Die Windhorse-Gruppe blieb sitzen, während alle anderen zur Tür strömten. Die Enttäuschung unter den Zuhörern war überdeutlich spürbar. Ein Mord - so hatten die Dorfbewohner es wenigstens gesehen - war ihnen versprochen worden. Sie schauten sich nach jemandem um, dem sie die Schuld geben konnten, aber die Bulstrodes - ehrlose Propheten - hatten sich schon davongeschlichen. Mürrisch und enttäuscht trottete die Menge die Treppe hinunter in Richtung Parkplatz oder The Soft Shoe.
Zwei hübsche junge Mädchen, deren lange Beine in Stone-washed-Shorts verschwanden, warteten, bis die Zeugen den Gerichtssaal verließen. Die eine blickte sich neugierig um, stieß ihrer Freundin den Ellbogen in die Seite und zeigte auf den schäbigen Morris-Kombi.
»Schau dir den an.«
»Wo?« Ein Mann mit sonnengebleichter Afrokrause drehte sich hektisch um.
»Bist du blind? Dort drüben, Schwachkopf. Das ist ihr Wagen.«
»Und?«
»Sieh doch...«
Atemlosigkeit. »Ange...«
»Gefällt er dir?«
»Machst du Witze?«
»Dann quatsch ihn an. Los, nur zu.«
»Kev würde mich umbringen.«
»Wenn du’s nicht tust, mach ich es.«
»Das würdest du nicht tun.«
»Ich werde sagen, daß der Wagen nicht anspringt.«
»Wir haben keinen Wagen.«
Kichernd und sich gegenseitig stoßend, wagten sie sich einen Schritt vor, wichen zwei zurück und bauten sich schließlich vor dem Seitenfenster des Lieferwagens auf. Das Mädchen, das nicht Ange hieß, gab ihrer Freundin mit der Aufforderung »Los jetzt...« einen Schubs.
»Dann hör endlich auf zu lachen.«
Zögerndes Klopfen auf Glas. Ein Mann verdrehte den Kopf. Einen Augenblick starrten sich die drei reglos an, ehe die beiden Mädchen, schlagartig unterkühlt und mit schockierten Mienen, einen Schritt zurücktraten.
»Es tut mir ja so leid...«
»Entschuldigung.«
»Ich wollte nur...«
»Wir haben es nicht so gemeint.« Sich an den Händen haltend, rannten sie davon.
Weiter hinten im Gericht weinte die Trägerin der Mousselinhosen und wurde getröstet. Ihre Kameraden scharten sich um sie, schlossen sie in die Arme und klopften ihr auf die knochigen Schultern. Der Mann mit dem Spatenbart entfernte sich, kehrte einen Moment später zurück, um zu vermelden, daß alle anderen inzwischen fort waren und sie sich nun vielleicht ebenfalls auf den Heimweg machen konnten.
Mit dieser Einschätzung lag er nicht ganz richtig. Als die kleine Gruppe bekümmert durch die offenstehenden Türen ging, erhob sich ein junger Mann auf der Galerie. Völlig reglos stierte er auf den verwaisten Stuhl des Gerichtsmediziners, zog eine Weile später ein Blatt Papier aus der Tasche seiner Jeans und überflog es - so hatte es zumindest den Anschein - immer wieder. Am Ende steckte er das Blatt in seine Tasche zurück und stützte sich schwer gebeutelt auf dem Galeriegeländer ab. Dergestalt harrte er einige Minuten lang aus, ehe er eine spitz zulaufende Kappe auf sein blondes Haar setzte und sich umdrehte, um das Gericht zu verlassen. Was allerdings nicht hieß, daß er sich nun schon besser fühlte. Ganz im Gegenteil. Mit zu Fäusten geballten Händen lief er die Treppe hinunter. Sein Gesicht war weiß vor Zorn.
Fünf Tage später wurde Jim Carters Asche um den Stamm einer hohen Zeder verteilt, unter der er früher so gern gesessen hatte. Im Gebet wurde seine Wiedergeburt als Chohan des Ersten Stahls beschworen. Jemand hielt einen Holzrahmen mit kleinen Glocken und Glasperlensträngen, die in der Sonne glitzerten. Leiser Gesang ertönte. Hinterher tranken alle Zitronentee und aßen ein Stück von Miss Cuttles glasiertem Karottenkuchen, ehe sich jeder wieder seinen Aufgaben widmete.