EINE LÜGE MIT EHRENWERTER ABSICHT

9

Um halb neun am nächsten Morgen saß Barnaby an seinem Schreibtisch, stöberte herum, dachte nach und sah die vielen unterschiedlichen Aussagen und Skizzen durch. Keine der Zeichnungen war vollständig, und doch schien jeder zu wisSen, wo er selbst und seine unmittelbaren Nachbarn gestanden hatten. Mit Hilfe dieser Hinweise hatte Barnaby eine große, komplette Skizze angefertigt, die nun an der Wand hing.

Er studierte sie gerade, als die Tür aufging und eine blasse, gespenstische Gestalt mit schwarzumrandeten Pandaaugen 's und einem Tablett in der Hand auftauchte.

»Ist das mein Tee? Wurde ja auch Zeit.«

Barnaby hatte nur fünf Stunden geschlafen. Da er gewöhnlich nie mehr als sechs Stunden Schlaf brauchte, war er in ausgezeichneter Form. Troy war gegen drei Uhr nachts ins Bett gegangen. Das Baby hatte ihn um vier geweckt und bis halb acht immer mal wieder geweint. Um diese Uhrzeit war der Vater aufgestanden und hatte sich angezogen, während die Kleine sanft eingeschlummert war. Das ging nun schon seit einer Woche so. Solch ein Grad an Rachsüchtigkeit bei einem so jungen Wesen machte Troy Kopfzerbrechen. Er reichte ' Barnaby seinen Tee, süßte seinen eigenen mit drei Stücken Würfelzucker, rührte um und trank einen Schluck und verzog das Gesicht. »Kein Zucker.«

»Neulich sagten Sie, Sie möchten Ihren Zuckerkonsum reduzieren.«

»Aber doch nicht auf Null.« Troy brachte die Zuckerdose. Der Chief Inspector bediente sich großzügig und grinste dabei seinen Sergeant an. »Ach - das Glück der Vaterschaft.«

»Sie ist wunderbar. Wunderschön. Aber...«

»Nur nicht mitten in der Nacht. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern.« Er und Joyce hatten sich abgewechselt, als Cully mit den Dreimonatskoliken zu kämpfen hatte. Er fragte sich, ob Maureen auch mit Hilfe rechnen durfte.

»Ich denke, irgendwann werde ich trotzdem durchschlafen können.«

»Das denke ich auch, Gavin.«

Ermutigt von der Stimme der Erfahrung und vom stark gesüßten Tee zu neuem Leben erweckt, studierte Troy die Zeichnung seines Chefs.

»Das wäre es dann also?«

»Ja. Ob und wie wichtig all diese Positionen sind, kann ich noch nicht sagen. Wir werden uns wieder damit beschäftigen, sobald wir den Bericht der Gerichtsmediziner haben. Dann kennen wir den Winkel, mit dem das Messer geführt wurde, und all das.«

»Darüber habe ich mir so meine Gedanken gemacht, Sir.« Mit dem Löffel kratzte Troy den aufgelösten Zuckersatz aus seiner Tasse. »Das Ding war ziemlich lang und spitz. Selbst wenn man es am Körper tragen kann, dürfte sich der Betreffende meiner Meinung nach weder sicher noch bequem gefühlt haben. Ich frage mich, ob es nicht von vornherein im Solar versteckt wurde.«

»Ist wohl nicht gerade das passende Versteck. Und es hätte später auch wieder leicht erreichbar sein müssen.«

»Ich dachte an die Kissen.«

»Wäre ein Risiko gewesen, oder? Weil vielleicht jemand draufsitzt.«

»Es sei denn, man setzt sich eben selbst drauf.«

»Was nicht der Fall gewesen ist.«

»Stimmt, stimmt.« Troy war noch nicht geneigt, seiner Theorie abzuschwören. Er schlenderte zum Fenster hinüber. Es zuckte ihm in den Fingern, so sehr verlangte es ihn nach einer Kippe nach dem Tee. In der Hoffnung auf Ablenkung warf er einen Blick nach draußen. »Natürlich würde das bedeuten, daß Gamelin schon vorher wußte, wo die Rückführung stattfindet. Dazu könnten wir ihn nachher doch befragen.«

Barnaby, der den Stapel Aussagen überflog, antwortete nicht. Gerade als er seine Tasse aufs Tablett zurückstellen wollte, erregte ein Wagen auf dem Besucherparkplatz Troys Aufmerksamkeit. »Sieh an, wenn da nicht jemand klug investiertes Geld parkt.«

Erfreut über die Möglichkeit, seine Beine zu bewegen, trat Barnaby neben seinen Sergeant. Ein atemberaubender Bentley in der Farbe von bitterer Schokolade stand unten auf dem engen Parkplatz. Etwas umständlich stieg ein Mann aus und ging auf das Hauptgebäude zu. Während Barnaby zusah, wie der Autobesitzer langsam und erhaben über den Platz schritt, dachte er, daß es einen erstklassigen Schneider brauchte, um einen Wanst wie diesen distinguiert und nicht abstoßend aussehen zu lassen.

»Wer, verdammt noch mal, könnte das sein?«

»Ich habe da so eine vage Vermutung.«

Kurz darauf tauchte ein Constable aus dem Hauptgebäude mit einer unerhört schlichten, teuren Visitenkarte in der Hand auf, die Barnaby laut las: »Sir Willoughby St. John Greatorex. Gut, Troy - dann holen Sie ihn mal rein.«

Der CID war in einem eigenen Gebäude untergebracht, das durch einen hohen, verglasten Übergang mit dem Hauptgebäude verbunden war. Um zum CID zu gelangen, mußte man eine ganz schöne Strecke zurücklegen, die jedoch nicht so lang war, wie Troy sie erscheinen ließ. Zuerst führte er Sir Willoughby durch die Abteilung für Verkehrsdelikte und dann zwei Treppen hoch. Er gab ein schnelles Tempo vor. Endlich in Barnabys Büro angekommen, schnappte der gutgenährte Herr nach Luft. Ohne eine Miene zu verziehen, meldete Troy ihn an und blickte dann vielsagend zur Decke hoch. Barnaby stellte sich vor und bot Kaffee an. Sir Willoughby tupfte seine Stirn mit einem seidenen Paisleytaschentuch ab und schlug das Angebot aus.

»Er ist sehr gut.«

»Das glaube ich gern, Chief Inspector. Unglücklicherweise darf ich nur noch eine Tasse pro Tag trinken, die ich mir heute schon drei Mal gegönnt habe.«

Der unter Magenverstimmungen leidende Barnaby nickte nicht ganz teilnahmslos. Seine Magenprobleme waren nichts anderes als die durchaus nachvollziehbare Reaktion auf schlichte Hausmannskost und fettiges, fritiertes Kantinenessen, wovon er sich jahrelang ernährt hatte. Er vermutete, daß Greatorex’ Magen und Darmtrakt nach jahrelangem Konsum superber Geschäftsessen und Dinners, auf denen päte de foie gras mit einem Glas Margaux gereicht wurde, ihm den Dienst versagten.

Sir Willoughby verfügte wirklich über eine beeindruckende Statur. Sein Anblick ließ einen unweigerlich an eine riesige tweedüberzogene Birne denken. Alles an ihm hing herunter. Die Nase, die Wangen, die faltigen Tränensäcke. Selbst seine Ohrläppchen erweckten den Anschein, beim leisesten Windstoß zu tanzen. Der Mann meldete sich wieder zu Wort.

»Andererseits kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, einen längeren und relativ unerfreulichen Vortrag vor mir zu haben, und daher dürfte es wohl kaum schaden, wenn ich noch ein weiteres Mal über die Stränge schlage.«

Keine Disziplin, diese Leute, monierte Troy und zog los, um das gewünschte Gebräu zu besorgen. Kein Funken Selbstbeherrschung.

Kurze Zeit später nippte Sir Willoughby vornehm an seinem Kaffee und fragte: »Vielleicht können Sie mir erklären, wie genau die Situation hinsichtlich Mr. Gamelin aussieht. Der Anruf, den ich gestern erhielt, war etwas inkohärent.«

Welch ausgeprägtes Taktgefühl! Barnaby stellte sich die Flüche und das bellende Gezeter vor, das aus dem Greatorex -Hörer geschallt hatte. Zweifellos würde Greatorex bei der Rechnungsstellung derlei Dinge berücksichtigen. Detailliert schilderte er den Stand der Dinge.

Sir Willoughby lauschte den Ausführungen des Mannes, der ihm erst vor kurzem als »ein aufsässiger Mistkerl mit einem Gesicht wie ein Rindersteak« beschrieben worden war. Geduldig legte er seine langen, verblüffend schmalen Finger auf die in eleganten Stoff gehüllten Beine, stöhnte auf und stellte seine fast volle Tasse auf den Schreibtisch des Inspectors. Sich an Troy wendend, fragte Willoughby: »Könnte ich möglicherweise ein Glas Wasser bekommen?«

Perverserweise setzte die Höflichkeit des Mannes dem Sergeant mehr zu als eine herablassende Behandlung. Er schwor sich, daß ihm niemals die Worte »Sir Willoughby« über die Lippen kommen würden. Und auch kein einfaches »Sir«, mit dem die meisten Erwachsenen Personen männlichen Geschlechts anredeten. »In Ordnung...« murmelnd, verließ er das Büro.

»Falls ich richtig verstanden habe«, sagte Sir Willoughby, »als ich mich vergangenen Abend mit Mr. Gamelin über die Angelegenheit unterhalten habe, wird er offiziell beschuldigt.« (»Die Mistkerle haben mich bei den Eiern, Will.«)

»Das ist nicht der Fall, aber wir werden ihn heute morgen noch mal vernehmen. Als Mr. Gamelins Anwalt -«

»Bitte.« Sir Willoughby hob abwehrend die Hände. »Ich bin der Anwalt der McFaddens und in erster Linie erschienen, um Mrs. Gamelin den Rücken zu stärken und sie zu schützen.«

Für einen flüchtigen Augenblick tat Gamelin Barnaby leid. Der arme Tropf hatte garantiert die Hosen bis zu den Knöcheln runterlassen müssen, um einen Fuß in diesen kleinen, exklusiven Familienclan zu kriegen. Das Wasser wurde gebracht. Troy stellte es auf die gegenüberliegende Schreibtischecke und trat ans Fenster.

Barnaby fuhr fort: »- sind Sie herzlich eingeladen, zugegen zu sein.«

Das Angebot entsprang nicht purer Höflichkeit. Die Anwesenheit eines Anwalts sicherte die vorschriftsmäßige Handhabung des Verfahrens. Ersparte einem unnötige Probleme, sollte der Fall jemals vor Gericht kommen. Mit einem Lächeln streckte Sir Willoughby die Hand nach dem Wasserglas aus, trank einen Schluck und setzte erneut zu einer ambivalenten Handbewegung an, die - je nach Auslegung - nichts, alles oder beides gleichzeitig andeuten konnte.

Die werden ihn den Wölfen zum Fraß vorwerfen, zählte Barnaby zwei und zwei zusammen. Er beschloß, Sir Willoughby zum Telefongespräch vom vergangenen Abend zu befragen. Für gewöhnlich war die Befragung des Anwaltes eines potentiellen Verdächtigen ungefähr so sinnvoll wie Mäusemelken und führte in etwa zum selben Ergebnis. Sir Willoughby hingegen zog die Bitte ernsthaft in Erwägung.

»Nun, es war ziemlich laut. Ein Handschuh wurde erwähnt. Das Essen und die Gesellschaft wurden mir ausführlich beschrieben. Selbstverständlich auch der Mord. Und mir war noch ein längerer Vortrag über seine Tochter vergönnt.«

»Was sagte er über den Mord?«

»Nur, daß er nichts damit zu tun hätte.«

»Hat er den Treuhandfonds erwähnt?«

Sir Willoughby setzte sich aufrecht hin. So aufrecht, wie seine Korpulenz es ihm erlaubte. »Nein.«

»Soweit ich weiß, möchte Miss Gamelin die ganze Summe weggeben.«

»Ahhh...« Er erholte sich so schnell, daß man sich unweigerlich fragte, ob in seiner Stimme gerade eben tatsächlich ein Hauch von Verärgerung mitgeschwungen hatte. »Nun, selbstverständlich ist es ihr Geld, und sie hat jetzt das Alter erlangt, wo sie darüber frei verfügen kann.« Nachdem er auf dem Stuhl ein wenig hin und her gerutscht war, stand er auf. »Ich muß heute nachmittag bei Gericht erscheinen... daher...«

»Werden Sie später Mr. Gamelin herfahren, Sir Willoughby? Falls nicht, werden wir einen Wagen schicken.«

»Ich kann wirklich nicht sagen, wann wir uns sehen werden. Von hier aus werde ich direkt nach Manor House fahren, um nachzusehen, wie es Sylvie und ihrer Mutter geht. Insofern sollten Sie sich nicht auf mich verlassen.«

Ja, dachte Barnaby. Definitiv den Wölfen.

Troy übertrug der Polizeibeamtin Brierley die Aufgabe, Sir Willoughby nach draußen zu geleiten, und beobachtete mit gekräuselten Lippen, wie der Bentley davonrollte. Sinjhan, dachte er. Trüge ich den Namen eines pakistanischen Zeitungshändlers, würde ich es für mich behalten.


Niemand hatte viel geschlafen. Das Frühstück machte seinem Namen kaum Ehre. Jeder riet jedem: »Du mußt etwas essen«, ohne selbst einen Bissen zu sich zu nehmen. Zuvor hatten sie sich in der Halle versammelt (niemand konnte den Gedanken ‘ ertragen, einen Fuß in den Solar zu setzen) und sich im Kreis aufgestellt, um neue Energie zu tanken. Zehn Minuten kontrolliertes Atmen ins universelle Bewußtsein zeigte kaum Wirkung. Kummer hatte einen Keil zwischen sie getrieben. Jeder gedachte des Toten auf seine persönliche Art. Alle hatten sich in unsichtbare Käfige zurückgezogen. Selbst Janet, deren Respekt vor und Bewunderung für den Meister nicht an Ergebenheit grenzten, war erschüttert darüber, wie scheußlich sie sich fühlte.

Christopher schenkte Fruchtsaft ein. Arno zerkrümelte ein Stück Gerstenkuchen. Heather hatte etwas Marmelade in der Farbe eines Melassetoffees auf einen verbrannten Toast gestrichen, ohne davon abzubeißen. Auf Hilarions Rat hin war Ken im Begriff, sich mit einem geradegebogenen Drahtkleiderbügel in den Garten zurückzuziehen, um - falls sie noch vorhanden waren - nach ätherischen Spuren von des Meisters Seele zu suchen, sich also mit dem zu beschäftigen, was er »Operation Karmalicht« nannte.

May saß am Tischende. Ihre ansonsten so stolzen Schultern waren nach unten gesackt, ihr wunderschönes Haar weder gebürstet noch geflochten. Die ganze Nacht hindurch hatte sie geweint. Ihre Augen waren feucht, ihr Blick verschwommen. Ohne Make-up wirkte ihr Gesicht ausgemergelt. Sie sah zehn Jahre älter aus, war nur noch ein vages Abbild ihres früheren Ichs. Ihr Anblick brach Arno fast das Herz. Nie hatte er sie mehr geliebt als in diesem Augenblick.

Fast die ganze Nacht über hatte sie neben Tim ausgeharrt. Um vier Uhr früh war Arno aufgetaucht, um sie abzulösen. Bei seinem Erscheinen kauerte der Junge mit um die angezogenen Beine geschlungenen Armen und fest geschlossenen Augen in Embryonallage auf seinem Bett und weigerte sich beharrlich aufzustehen.

Janet fragte: »Soll ich noch mal Tee machen?« Keiner antwortete ihr. Heather erkundigte sich, wo Suhami steckte.

»Sie wird nicht nach unten kommen«, sagte Christopher. »Sie gibt sich die Schuld an Gamelins Besuch und wagt es nicht, euch unter die Augen zu treten.«

»Armes Mädchen.« Schwerfällig erhob sich May. »Jemand sollte nach ihr sehen.«

»Du wirst nicht reinkommen. Sie hat sich mit mir durch die verschlossene Tür unterhalten.«

»O Gott.« Erschöpft in sich zusammenfallend, warf May Janet einen fragenden Blick zu und konstatierte: »Trixie ist auch nicht hier.«

»Nein.« Die Andeutung, sie kenne den Grund für Trixies Abwesenheit, beschleunigte Janets Puls. »Sie schläft noch. Auf dem Weg nach unten habe ich einen Blick in ihr Zimmer geworfen.«

»Wir trauern doch nur um uns selbst.« Mit gepeinigter Miene kehrte May zu dem Thema zurück, mit dem sich alle beschäftigten. »Er hat es hinter sich. Er befindet sich nun in Gesellschaft der Erleuchteten.«

»Wurde schon wiedergeboren«, sagte Heather mit einem wäßrigen Lächeln.

Auch wenn das wahrscheinlich den Tatsachen entsprach, empfand niemand Trost. Es war einfach zu früh. Wie schrecklich nicht nur der Tod ihres Meisters, sondern auch die Umstände seines Dahinscheidens waren, dämmerte ihnen erst jetzt. Legte sich wie ein dunkler Schleier über ihre Seelen. Die Fakten sprachen Bände, was nichts daran änderte, daß keiner von ihnen den Verlust fassen konnte. Es war einfach unfaßbar. Allein May, die immer noch der Überzeugung anhing, eine gewaltige übernatürliche Kraft habe den Meister geholt, war in der Lage, ihre Verzweiflung in Schach zu halten. »Wir müssen unsere düsteren Gedanken vertreiben«, mahnte Heather. »Ich jedenfalls werde mich darum bemühen - weil er es so gewollt hätte.«

»Du hast recht!« Ken sprang auf, soweit das mit einem steifen Bein überhaupt möglich war. »Heute wird hier eine Menge Liebe vonnöten sein. Ich plädiere dafür, daß wir den Tag mit einer Herz-zu-Herz-Begrüßung beginnen - komm her, Heather.«

»Ich komme.« Seine Frau stand auf, und die beiden bauten sich voreinander auf, blickten sich an und legten die Arme um die Taille des anderen.«

»Direkter Augenkontakt.«

»Köpfe aneinander.«

»Voller Körperkontakt.«

»Langsam und leise atmen.«

»....l.a.n.g.s.a.m.....l.e.i.s.e...«

»Mitgefühl fließt.«

»Mein Herzchakra zu deinem...«

»F.l.i.e.ß.t... f.l.i.e.ß.t....«

»Drücken.«

»Loslassen.«

Lächelnd lösten sie sich voneinander. Ken sah schon viel besser aus. Von den anderen hatte keiner Anstalten gemacht, eine Herz-zu-Herz-Begrüßung zu vollziehen. Arno trank Saft und brach ein weiteres Stück Gerstenkuchen ab. »Ich denke, was helfen würde - was auch helfen würde, sollte ich sagen«, er warf Heather einen entschuldigenden Blick zu, »wäre, sich zu beschäftigen. Ich meine, nach einem... Nach so einem Ereignis gibt es doch gewiß so manches zu organisieren, oder?« Er mußte an den Tod seiner Mutter denken, an die Freunde und Verwandten, die kamen und gingen. An Briefe, die zu beantworten waren, an die Bestattungsfeierlichkeiten.

»Es wird eine Obduktion geben, vermute ich«, sagte Christopher. »Bis das vorbei ist und der Leichnam freigegeben wird, können wir nicht viel unternehmen.«

Diese unverblümte Bemerkung ließ May erneut in Tränen ausbrechen. Arno streckte die Hand aus, um sie zu berühren. Im letzten Augenblick verließ ihn allerdings der Mut, und er legte seine sommersprossige Hand neben ihre auf den Tisch. Plötzlich kam ihm der Gedanke, daß sie (selbstverständlich ganz unbewußt) nach seiner greifen würde, und da wurde ihm auf der Stelle leicht schwindlig.

»Fürs erste halte ich es für sinnvoll, wie gewohnt unseren täglichen Pflichten nachzugehen. Das hätte der Meister gewollt. Auf lange Sicht...«

»Was meinst du damit?« fragte Ken. »Mit >auf lange Sicht

»Ich denke, er will damit ganz pragmatisch fragen«, mischte Janet sich in das Gespräch ein, »was auf lange Sicht mit dem Haus passieren wird.«

»Ich verstehe nicht«, meinte May entsetzt.

»Nun, May«, sagte Janet mit sanfter Stimme, »einmal angenommen, daß Manor House sein Vermächtnis war, bestünde ja durchaus die Möglichkeit, daß er es nicht uns vermacht hat.«

Während sich alle mit dieser neuen, beunruhigenden und ungeahnten Möglichkeit beschäftigten, stellte sich Schweigen ein. Nach längerem Überlegen meldete sich May zu Wort. »Er muß es uns vermacht haben. Wir waren seine Familie - seine Angehörigen. Das hat er einmal zu mir gesagt.«

»Zu mir auch«, gestand Arno.

»Weiß denn keiner von euch, wem dieses Haus zufällt?« fragte Christopher. »Immerhin seid ihr beiden am längsten hier.«

Arno schüttelte den Kopf. Wie schnell sie sich einem so alltäglichen Thema zuwandten, deprimierte ihn sehr. »Wir haben über alles andere geredet. Über administrative Dinge, wie man Kurse zusammenstellt, über die Finanzierung. Auf dieses spezielle Thema kam die Sprache nie.«

»Es bestand ja auch kein Grund dazu«, meinte May. »Jedenfalls bis jetzt nicht.«

»Hatte er einen Anwalt?«

»Über derlei Dinge hat er nie ein Wort verloren. Seine Bank oder - besser gesagt - die Bank der Lodge ist die National Westminster in Causton.«

»Dann frag dort nach, May«, schlug Ken vor, »wenn du das nächste Mal hinkommst. Du bist diejenige, die die Konten verwaltet. Dich kennen sie.«

»Zumindest akzeptieren sie meine Unterschrift«, gab May zu. »Aber nur bei gewöhnlichen Angelegenheiten. Ich glaube nicht, daß sie verpflichtet sind, mich in die persönlichen Angelegenheiten des Meisters einzuweihen.«

»Sie könnten dir wenigstens sagen, ob ein Kredit existiert.«

»Ein Kredit?« Ken war entrüstet. »Jesus - an so was habe ich gar nicht gedacht.«

»Er war einfach nicht von dieser Welt«, seufzte Heather.

»Sollte mich nicht wundern, wenn er kein Testament hinterlassen hätte.«

»Dem stimme ich nicht zu«, meinte Arno. »Er hat garantiert an uns gedacht und seine Angelegenheiten geregelt.«

»Höchstwahrscheinlich - er hat sich über Tims Zukunft Gedanken gemacht«, glaubte May.

»Andererseits hängt unser Verweilen an diesem Ort«, gab Christopher zu bedenken, »nicht nur von Backsteinen und Mörtel ab, oder? Alle Gemeinschaften, ob religiös oder profan, brauchen einen führenden Geist, auf den sie sich beziehen können. Unser Geist ruhte in ihm. Wer außer ihm kann Vorträge halten, Energiefelder neu aufladen, spirituellen Rat erteilen?«

»Ich bin qualifizierte Therapeutin.« Heather war leicht eingeschnappt. An den Wänden ihres Zimmers hingen fünf gerahmte Zertifikate, darunter eins, das den erfolgreichen Abschluß eines Kurses als Dienerin des Venustempels belegte. »Christopher hat recht«, meinte Janet, die eine ganz andere Meinung zum Thema Beratung hatte als Heather. Normalerweise ging so etwas folgendermaßen vonstatten: Heather saß, ziemlich selbstgefällig auf einem Stuhl, während ihr »Klient« sein Problem erläuterte. Nachdem sie herausgestellt hatte, daß ! jedes Leiden, ob seelisch oder körperlich, das äußere Ergebnis einer inneren spirituellen Ignoranz war, wartete sie kurzerhand mit einer astralausgerichteten Lösung auf. Kaum hatte der Klient seine Rechnung bezahlt und war gegangen, beklagte Heather sich darüber, wie sehr ihre Kunden sie auslaugten.

»Schließlich«, fuhr Janet fort, »sind wir hier alle Laien. Unsere Pflichten waren praktischer Natur. Wir haben Dinge hergestellt, uns darum gekümmert, daß der Laden läuft. Ich habe den Eindruck, unsere zahlreichen Fähigkeiten sind ein wenig dürftig.«

»Du sprichst für dich«, meinte Ken.

Arno machte dem sich daraufhin einstellenden betretenen Schweigen ein Ende. »Hat schon jemand nach Mrs. Gamelin gesehen?«

»Ich möchte sie nicht wecken«, meinte May. »Es ist gerade mal acht Uhr. Sie wird wahrscheinlich noch ein paar Stunden ruhen. Ich habe ihr Ziesttee verabreicht.«

»Herrje, diese Frau hat so viel nötig.« Heather straffte ihre Schultern und legte den Daumen und den kleinen Finger an die Nasenwurzel. Dies tat sie in einer Art und Weise, als ballten sich in ihren Nasenhöhlen wundersam heilende Kräfte zusammen. »Ich weiß wirklich nicht, ob ich damit fertig werde.«

»Darum hat dich auch niemand gebeten, oder?« sagte Janet, stand auf und schenkte sich Tee ein.

Am Ende lief es darauf hinaus, daß May sich um Felicity kümmerte. Gegen neun Uhr öffnete sie vorsichtig die Tür des Erkerzimmers, warf einen Blick durch den Türspalt und entdeckte hinter einem Wust aus grauem, auf dem Boden liegendem Stoff eine zierliche Gestalt in einem Satinunterhöschen, die auf der Bettkante saß und die Wand anstarrte.

Felicity war völlig durcheinander und fühlte sich höchst eigenartig. Sie versuchte, ihren Geisteszustand zu erfassen. Wenigstens ein Gefühl aus den vielen anderen herauszufiltern, isoliert zu betrachten, zu orten. Kaum hatte sie eine Regung sondiert, wurde sie von einem halben Dutzend anderer hinfortgetragen. Sie hatte den Eindruck, schon vor Ewigkeiten auf Manor House eingetroffen zu sein. Erst bei Morgengrauen hatte sie die Augen geschlossen, und das auch nur aus einem unbestimmten Pflichtgefühl heraus, was zweifellos zu ihrem geistigen Chaos beitrug.

Anfänglich hatten die außergewöhnlichen und beängstigenden Ereignisse vom vergangenen Abend sie überhaupt nicht » berührt. Einerseits war ihr alles sehr fröhlich und klar und interessant vorgekommen, auf der anderen Seite aber auch irgendwie irreal, als hätte sich alles auf einer weit entfernten Bühne abgespielt. Oder hinter einer dicken Panzerglasscheibe. (Ehe sie sich in den Solar begeben hatte, hatte sie sich in der Toilette im Erdgeschoß eine dritte Line genehmigt.) Kurz nach dem Eintreffen der Polizei, hatte die Wirkung der Droge nachgelassen. Furcht, Besorgnis und das ganze Durcheinander stürmten auf sie ein und rissen ihr den Boden unter den Füßen weg. Langsam dämmerte ihr, daß sie irgendwie in schreckliche Ereignisse verwickelt war und lächerlich aussah, weil sie Danton erlaubt hatte, aus ihr eine Jahrmarktsnummer zu machen - ein Privileg, für das sie auch noch einen gehörigen Batzen hatte bezahlen müssen. Das Knarzen der Tür ließ sie hochfahren. . Voller Entsetzen starrte sie May an, an die sie sich nicht erinnerte.

May brachte eine Tasse mit dampfendem Tee. In einem besonderen Schränkchen wurden Besucherrationen (Earl-Grey-Teebeutel, Kaffeebohnen und andere dekadente Köstlichkeiten) aufbewahrt. Sie hatte ein paar Tropfen Edelsteinelixier zugegeben, um Felicitys Genesung zu beschleunigen. May stellte die Tasse auf dem Nachtschränkchen ab, setzte sich und nahm Felicitys Hand.

Felicity sah erbärmlich aus. Ihr Gesicht war mit farbenfrohen Klecksen übersät, als sei ein Kind mit einer Packung Buntstifte darüber hergefallen. Die üppige Verwendung von Haarschaum, Spray und Gel hatte ihr Haar in eine leblose, verfilzte Masse verwandelt. May streichelte Felicitys Hand, lächelte • ihr aufmunternd zu und drängte sie nach einer Weile, einen Schluck Tee zu trinken.

Felicity kam der Aufforderung nach, doch ihre Lippen bebten so stark, daß die Zähne gegen den Tassenrand schlugen und sie etwas Flüssigkeit verschüttete. Wieder hielt May die Hand der anderen Frau. Mehr fiel ihr angesichts ihrer eigenen Trauer und dem Gefühlschaos, dem Felicity ausgeliefert war, im Augenblick nicht ein. Sanft, behutsam, so mußte sie vorgehen. Hier war ein großes Maß an Hilfe und Unterstützung notwendig. Das schloß May aus Felicitys unharmonischer Aura. Einer der schlimmsten Fälle, mit denen sie je konfrontiert gewesen war.

Etwas später näherte sich May dem offenen Schweinslederkoffer. In der Absicht, Felicity ein Bad nehmen zu lassen, suchte sie nach frischer Unterwäsche und fand einen großen pinkfarbenen und goldenen Cremetiegel. Mit langsamen, rhythmischen Bewegungen reinigte sie damit Felicitys Gesicht. Nach dem dritten Versuch quoll der Abfallkorb von benutzten Gesichtstüchern über, und Felicitys eigentliche Gesichtsfarbe, ein ebenmäßiges Elfenbeinweiß, kam zum Vorschein.

May ging kurz in ihr eigenes Zimmer, kramte das untere Fach ihres Kleiderschranks durch und fand ein nachtblaues Gewand. (Es gab keine andere Farbe, die den Geist mehr erfrischte.) Außerdem schnappte sie sich noch eine Tube Malvenshampoo und ein weiches Handtuch und kehrte zu Felicity zurück, um ihr die Haare zu waschen.

Dies stellte sich als wesentlich komplizierter heraus als die Reinigung des Gesichts. Felicity beugte sich zwar fügsam über das Becken, hielt ganz still und drückte einen Waschlappen auf die Augen, die Probleme fingen aber damit an, daß sie eine Menge Haare hatte. Das ganze Waschbecken war voll davon. May glaubte, mit einer Löwenmähne zu kämpfen. Die Haarmenge war - wie sich nach dem zweiten Ausspülen herausstellte - einem riesigen Haarbüschel zuzuschreiben, das May überraschenderweise in der Hand hielt. Anfänglich reagierte sie schockiert (hatte sie es hier mit einer starken Malvenallergie zu tun?), erkannte aber, daß es sich um ein falsches Haarteil handelte. Sie wrang es aus, drapierte es über die Stuhllehne und fuhr mit dem Shampoonieren fort. Was für eine widerliche Brühe! Wie konnte es jemand ertragen, all dieses eklige Zeug auf dem Kopf zu haben? May wickelte Felicitys Haar in } das weiche Handtuch und klopfte vorsichtig darauf. Danach ‘ kämmte sie es und umwickelte es mit einem farbigen Haarband, das in ihrer Tasche lag.

»Nun«, May beugte sich auf Felicitys Augenhöhe hinunter und lächelte, »fühlen Sie sich jetzt nicht schon etwas besser?«

Felicity stieß einen traurigen kleinen Laut aus, wie ein hungriges Kätzchen.

»Na, na«, sagte May. »Ich würde jetzt vorschlagen...«, sie nahm Felicity beim Arm, »daß Sie sich bis zur Mittagszeit hinlegen. Etwas später können Sie ein Bad nehmen und eine Kleinigkeit essen.«

Benommen setzte sich Felicity aufs Bett und warf May einen Blick aus ihren dunklen, traurigen Augen zu.

»Es ist schon in Ordnung. Alles wird gut. Wir werden uns um Sie kümmern.« May beugte sich vor und küßte Felicity auf die Wange.

Während in der oberen Etage diese feinfühlige Waschung vonstatten ging, wusch Janet in der Küche das Geschirr ab und knallte wie üblich die von ihr getöpferten Müslischüsseln in das Steinwaschbecken. Beim Nachspülen mit klarem Wasser dachte sie ans Mittagessen. Suhamis Name stand auf der Liste.

Bislang hatte sie sich noch nicht blicken lassen, und jetzt war es schon zehn Uhr. Der heutige Tag würde aus dem Ruder laufen und - wie Janet vermutete - noch viele andere. Die Endgültigkeit des Dahinscheidens des Meisters traf sie mit voller Wucht. Sie hätte schwören können, daß das Leben auf Manor House nie mehr dasselbe sein würde, egal wie sehr sie alle daran festzuhalten versuchten.

Was würde nun mit ihnen allen geschehen? Wohin würden sie gehen, wenn sich herausstellte, daß das Haus nicht mehr zur Verfügung stand? Würden sie versuchen, gemeinsam an einem anderen Ort ihre Zelte aufzuschlagen? Und würde sie das wollen?

Janet war sich darüber im klaren, daß ihr jenes intensive Bedürfnis fremd war, sich in das Leben anderer einzumischen, eine Eigenschaft, die die übrigen Kommunenmitglieder als Freundschaft definierten. Von einem philosophischen Standpunkt aus betrachtet, fiel es ihr schwer, sich konform zu verhalten. Ausufernde Oberflächlichkeit und fantastische Vorahnungen waren ihrem Wesen fremd. Vorzugeben, alle Probleme seien lösbar, fand sie arrogant. Und sie meckerte ab und an ganz gern, was bei ihren Mitbewohnern nur Stirnrunzeln hervorrief. Erst neulich, als sie sich leicht abfällig über das Wetter geäußert hatte, hatte Heather ihr einen Vortrag gehalten und geraten, dankbar zu sein, daß sie nicht blind war oder an multipler Sklerose litt und in einem Hochhaus lebte.

Die Erinnerung erregte ihren Zorn. Janet beschloß, gegen die Regeln zu verstoßen und echten Kaffee zu kochen. Stimulierenden Auftrieb - das brauchte sie im Moment, und wen kümmerte da Magenkrebs? Oder war es ein Leberegel? Sie nahm sich vor, Trixie auch eine Tasse Kaffee zu bringen. Und vielleicht ein paar Kekse.

Im Besucherschrank entdeckte sie eine organisch bedenkliche Schachtel mit Uncle Bob’s Treacle Deligbts. Sie mahlte die Kaffeebohnen, atmete tief das köstliche Aroma ein und machte die Keksschachtel auf. Die Verpackung war multikulturell gestaltet und zeigte eine Chinesin mit einem Sombrero, an dessen Rand Korken baumelten. Für die Deligbts wählte Janet einen Teller mit blauem Blumenmuster, stellte ihn wieder zurück, nahm einen senfgelben mit roten Blüten heraus, stellte auch den zurück und entschied sich nach langem Ringen für einen blaßrosa Teller mit durchbrochenem Rand. Mit Bedacht legte sie die sirupfarbenen Kekse in überlappenden Halbkreisen darauf und schnitt draußen vor dem Küchenfenster eine kleine Rose (die hervorragend zum Teller paßte) ab, während der Kaffee durchlief.

Auf dem Weg in die Halle schnürte sich ihr Magen zusammen bei der Vorstellung, daß sie Trixie gleich aufwecken würde. Janet blieb abrupt stehen. Drüben, auf den unteren Treppenstufen, standen May und Arno und sprachen mit einem kräftigen Mann in einem gemusterten Anzug. Während sie noch zögerte, machten May und der Mann auf dem Absatz kehrt und verzogen sich nach oben.

»Wer war das, Arno?«

»Der Anwalt der Gamelins.« Sein Blick folgte May. Es fiel ihm schwer, sich auf Janet zu konzentrieren, sie anzusehen. »Etwas Schreckliches ist geschehen. Zumindest würde man es normalerweise schrecklich finden. Ich frage mich allerdings, ob es nicht ein Segen ist. Er wurde heute morgen in seinem Hotelzimmer tot aufgefunden.«

•»Was... Guy?«

Arno nickte. »Offenbar hat er darum gebeten, gegen neun geweckt zu werden. Das Mädchen brachte Tee nach oben, und da lag er einfach da. War nicht mal zu Bett gegangen. Sie nehmen an, daß es sich um einen Herzinfarkt gehandelt hat.«

»Wie furchtbar.« Kaum war ihr diese Erwiderung über die Lippen gekommen, empfand Janet Freude. Er war ein gräßlicher Mann gewesen. Habsüchtig und unfreundlich. Ohne ihn war die Welt besser dran. Was für aufregende Nachrichten durfte sie nun Trixie überbringen! Welch süßes Geschenk! Viel besser als echter Kaffee und Uncle Bob’s Deligbts. Viel besser , als die Rose. Arno sagte irgend etwas.

»May nahm an, daß Suhami eher in der Verfassung ist, die Nachricht entgegenzunehmen. Ihre Mutter ist immer noch nicht ganz...« Er brach taktvoll ab. Janet stieg schon die Treppe hoch.

Trixie schlief nicht, sondern hatte es sich auf der Erkerbank bequem gemacht und rauchte. »Ist Post gekommen?«

»Ja.« Janet stellte das Tablett auf der Kommode ab. Sie fragte sich, ob Trixie wieder auf einen dieser Briefe im blauen Kuvert wartete. »Erwartest du einen Brief?«

»Eigentlich nicht.« Trixie trug ein apfelgrünes Seidenkleid. Ihr Gesicht war ungeschminkt, ihre Haut weich und glatt wie Samt. Auf der Innenseite ihrer Arme konnte Janet rote Kneifspuren erkennen, die sich langsam in blaue Flecken verwandelten.

»Ich habe echten Kaffee gekocht.« Sie schenkte zwei Tassen ein.

»Dafür wirst du einen Rüffel kriegen. Wir leben hier in einer koffeinfreien Zone.«

»Und eine Schachtel Kekse aufgemacht.« Janet stellte ihre Tasse ab und brachte das Tablett zum Fenster hinüber. Die Rose wirkte ziemlich dumm, wenn nicht gar überflüssig. Sie hatte vergessen, daß Trixie schon eine Vase mit Rosen aufgestellt hatte. »Trink, solange er noch heiß ist.«

Trixie bat sie, den Mund zu halten. Diese Zurechtweisung akzeptierte Janet mit der Geduld eines Menschen, der wußte, daß er in Kürze ein großes Geheimnis lüften durfte. Sie griff nach ihrer Tasse und nahm einen Schluck. Herrje - sie hatte fast vergessen, wie köstlich echter Kaffee schmeckte! Waren blitzsaubere Gedärme so ein Opfer wert? »Schmeckt er dir?« fragte sie kurz angebunden.

»Köstlich. Wird mich aufwärmen.«

Janet begriff nicht. Die Sonne schien ins Zimmer. Trixie aalte sich darin.

»Gibt es irgendwelche Neuigkeiten? Ich meine, von der Polizei.«

»Die ist gerade hier. Mit dem Anwalt der Gamelins.« Janet hielt inne. Ihr ausgemergeltes Gesicht glühte erwartungsvoll. Nun war der richtige Augenblick gekommen. Dennoch zögerte sie. Die Nachricht konnte sie nur einmal überbringen. Danach stand sie wieder mit leeren Händen da. Trotzdem war es ihr unmöglich, sich zurückzuhalten. Verschlagenheit entsprach nicht ihrem Naturell. Am Ende platzte sie einfach mit der Information heraus.

»Guy Gamelin ist tot. Er hatte einen Herzinfarkt.«

Auf ewig würde sie sich an das erinnern, was dann geschah. Trixie richtete sich derart abrupt auf, als erhielte sie Elektroschocks. Kaffee spritzte auf ihr apfelgrünes Seidenkleid, auf ihre bloßen Beine. Die Kaffeetasse fiel zu Boden. Sie stieß einen lauten Schrei aus und legte blitzschnell die Hand auf den Mund. Dann rief sie: »O Gott - was soll ich jetzt tun?«, und brach in Tränen aus.


Eine halbe Stunde nach dieser dramatischen und überraschenden Reaktion verhörte die Polizei Tim. Unerträglich langsam, richtiggehend widerwillig führte Arno sie zum Zimmer des Jungen. In der Nähe der Tür wurde sein Schritt noch langsamer, bis er ganz stehenblieb, sich zu Barnaby umdrehte und dem Chief Inspector die Hand auf den Arm legte.

»Er wird Ihnen nicht behilflich sein können, wissen Sie?«

»Bitte, Mr. Gibbs. Das haben wir unten ausführlich durchgesprochen.«

»Da Sie entschlossen sind... würden Sie...?« Arno war ein Stück beiseite getreten und winkte. Als die beiden Männer sich zu ihm gesellten, fuhr er mit gesenkter Stimme fort: »Ich denke, ich muß Ihnen etwas über seinen Hintergrund erzählen. Niemand hier weiß Bescheid, doch es könnte Ihnen helfen zu verstehen und... Sehen Sie, ich traf ihn oder, besser gesagt, fand ihn vor sechs Monaten.«

Er brach ab, legte kurz die Hände über die Augen und fuhr dann fort: »Ich habe den Meister nach Uxbrigde gefahren. Ins Krankenhaus. Dorthin ging er jeden Donnerstag. Wir hatten verabredet, uns hinterher am Wagen zu treffen. Ganz in der Nähe gibt es eine öffentliche Toilette, die ich aufsuchen mußte. Auf dem Weg die Treppe hinunter kamen mir drei Männer entgegen. Große, kräftige Männer. Einer hatte rot und blau tätowierte Arme. Sie lachten - laut und herzlos. Häßlich, nicht aus Spaß. Ich benutzte das Urinal, wähnte mich allein. Auf einmal hörte ich leises Jammern, das aus einem der Abteile kam. Er war da drinnen - Tim. Seine Hosen waren bis zu den Knien runtergezogen, und er blutete aus dem After. Sie hatten ihn... genommen.« Arnos Stimme war kaum mehr ein Flüstern. Barnaby neigte sich vor, um sein Gegenüber zu verstehen. »Da war auch... nun... etwas Geld... eine Fünfpfundnote. Ich meine, sie klemmte zwischen den Pobacken... Es war grausam.«

Arno war nicht in der Lage weiterzusprechen. Er zog ein Taschentuch heraus, drehte sich weg und tupfte seine Augen ab. Barnaby, der sich die eben geschilderte Szene ausmalte, empfand Mitleid. Selbst Troy fühlte mit dem Jungen mit und dachte: Das Leben ist grausam, daran besteht kein Zweifel. Nach einer Weile entschuldigte sich Arno und fuhr fort:

»Er litt große Schmerzen und verstand nichts. Nie werde ich vergessen, wie er sich umgeschaut hat... seine Augen... Mir war, als hätte ich ein mißhandeltes Kind gefunden. Oder ein geschundenes Tier. Ich bemühte mich, ihm zu helfen, aber er hielt sich einfach nur an der Toilette fest, schlang die Arme um die Schüssel. Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. So lief ich zum Parkplatz, wo der Meister wartete, und erzählte ihm, was sich zugetragen hatte. Er ging mit mir zurück. Inzwischen hatte Tim die Tür verriegelt. Eine geschlagene Stunde redete der Meister durch die geschlossene Tür auf ihn ein. Der eine oder andere Mann, der in dieser Zeit die Toilette aufsuchte, warf ihm merkwürdige Blicke zu. Sie haben ihn natürlich nie sprechen gehört, Inspector. Er hatte eine ganz außergewöhnliche Stimme. Nicht nur sehr wohlklingend, sondern ungewöhnlich warm... und freundlich. Sehr gewinnend. Was immer er einem erzählte, man glaubte ihm auf der Stelle. Irgendwann entriegelte Tim die Tür. Der Meister redete ihm gut zu, strich ihm übers Haar. Etwas später halfen wir ihm, sich anzuziehen, geleiteten ihn zum Wagen und fuhren mit ihm hierher. May brachte ihn ins Bett, und wir sorgten für ihn. Und das tun wir immer noch. Selbstverständlich mußten wir uns mit dem Sozialamt in Verbindung setzen. Wir wurden ganz genau überprüft, was mir etwas eigenartig vorkam, wenn man sich überlegt, wie sehr man diesen Jungen vernachlässigt hat. Sie werfen ihn aus dem Krankenhaus und stecken ihn in ein Heim, wo er, wenn er Glück hatte, einmal pro Woche von einem Fürsorger besucht wird. Wir bekamen Instruktionen zur Medikamentenvergabe, und das war’s dann mehr oder weniger. Ich denke, den Ausschlag gegeben hat der Umstand, daß wir mehr oder minder eine religiöse Organisation sind. Sie behaupteten, uns von Zeit ZU Zeit zu überprüfen, was bisher nicht passiert ist. Ich glaube, sie sind froh, einen weniger auf der Liste zu haben.«

Arno sprach nicht weiter und warf dem Inspector einen Blick zu. Er hoffte, mit dieser niederschmetternden Geschichte den Beamten von seiner Absicht abgebracht zu haben. Als klar wurde, daß dem nicht so war, sagte er: »Nun, dann kommen Sie bitte mit...«

Tims Zimmer war fast dunkel. Sonnenlicht fiel durch einen Schlitz in den schweren Samtvorhängen auf das Fensterbrett. Arno zog den Samt auf, aber nur ein wenig. Die zusammengekauerte Gestalt unter der Decke rührte sich umgehend und begann zu zittern. Die Luft roch abgestanden. Barnaby hätte viel darum gegeben, das Fenster aufreißen zu dürfen.

Arno näherte sich dem Bett, rief leise den Namen des Jungen. Als er die Bettdecke wegnahm, schimmerte Tims Haar golden auf dem Kissen, und er schlug die Augen auf wie eine mechanische Puppe. Barnaby hörte, wie Troy hinter seinem Rücken den Atem anhielt, und auch er selbst blieb nicht unberührt von der bemerkenswerten Schönheit des Jungen, der Tränen und Trauer nichts anhaben konnten.

»Tim? Mr. Barnaby würde sich gern kurz mit dir unterhalten - keine Angst...« Der Junge wich zurück. Schüttelte den Kopf. Wie ein dünner türkiser Wurm pulsierte eine Ader auf seiner Stirn.

»Ich werde nicht Weggehen«, fuhr Arno fort.

Barnaby nahm einen Stuhl, um nicht auf den Jungen herabsehen zu müssen, und setzte sich Arno gegenüber. Auf ein Nicken seines Chefs hin verzog sich Troy in die gegenüberliegende Zimmerecke und holte ohne Hoffnung einen Notizblock hervor.

»Ich kann mir vorstellen, wie unglücklich du bist, Tim, aber ich bin mir sicher, daß du uns gern helfen möchtest.« Das gurrende Zirpen einer Taube. Troy beklagte, daß das Revier derlei Fähigkeiten niemals honorierte. Trotz des einfühlsamen Tonfalls des Inspectors streckte Tim bestürzt die Hände nach Arno aus.

Am vergangenen Abend hatte Arno erwähnt, daß der Junge immer so reagierte. Dennoch bekam der Chief Inspector den Eindruck, daß der Junge von Sekunde zu Sekunde verängstigter wurde und daß seine behutsame Vorgehensweise nichts daran änderte. Dies verriet ihm Tims Blick, die zusehends heftiger pulsierende Ader. Barnaby zählte stumm bis fünf, ehe er fortfuhr.

»Begreifst du, was geschehen ist, Tim? Daß hier jemand gestorben ist?«

Wieder entstand eine Pause. Ein paar Minuten später drehte der Junge sein schwach erleuchtetes Gesicht auf dem Kissen. Die Wangen waren tränenüberströmt. Strahlendblaue Augen suchten Barnabys Blick, schauten in eine andere Richtung, kehrten zurück. Dieser Vorgang wiederholte sich mehrmals. Schließlich fixierte der Junge ihn, schien etwas sagen zu wollen.

»Fragen... fragen...«

»Wen sollen wir fragen, Tim?«

»Frag... sie...«

Die Stimme war kaum mehr als ein leises Wispern. Glücklicherweise machte Barnaby nicht den Fehler, sich weiter vorzubeugen. Er wiederholte nur seine Frage und fügte jetzt, wo er das Geschlecht kannte, hinzu: »Meinst du vielleicht May? Soll ich May fragen? Oder Suhami?«

»Nö... nö...« Tim schüttelte heftig den Kopf, woraufhin der blondschimmernde Heiligenschein erstrahlte. »Unnerfall... Unnnerfall...«

Barnaby fragte: »Sprichst du von einem Unfall?«

»Nein, Chief Inspector. Er sagt nur -«

Arno brach ab, da Tim undeutlich die Worte des Inspectors wiederholte.

»... mein Unnerfall... Un... fall...« Nachdem Tim das Wort einmal richtig ausgesprochen hatte, wiederholte er es in immer kürzeren Abständen, immer lauter und schriller, bis die beiden Silben sich in sinnloses Geplapper verwandelten. Unter der Decke zuckte sein Körper heftig, und er verdrehte unablässig die Augen. So gut, wie es einem Mann seines Temperaments möglich war, warf Arno dem Inspector einen erbosten Blick zu, strich Tim schützend über die Stirn und gab dem Polizeibeamten deutlich zu verstehen, daß er nicht guthieß, was er da trieb.

Barnaby schaltete auf stur und machte dreißig Minuten so weiter trotz seiner Vermutung, daß Tim nichts Neues mehr äußern würde. Der Junge verstummte bald und flüchtete sich in den Schlaf. Arnos Unmut legte sich dennoch nicht. Barnaby konnte nicht umhin, die negative Energie zu spüren.

Er weigerte sich, Schuldgefühle zu empfinden. Er wußte, er hatte das Recht und die Pflicht, Tim zu befragen. Wußte, daß er betont taktvoll und human vorgegangen war. Die geistige Verwirrung des Jungen bedeutete nicht, daß er nicht in der Lage war, die Ereignisse mitzukriegen. Natürlich hatte Barnaby nicht geahnt, wie verwirrt er war. Und trotzdem...

An diesem Punkt des Nachdenkens erhaschte er Troys Blick. Wie gewöhnlich zeigte sein Sergeant eine Miene, die seine wahren Gefühle nicht erkennen ließ. Er senkte die Lider, nachdem er seinem Vorgesetzten einen ungeduldigen, ablehnenden Blick zugeworfen hatte. Diesen Blick übersetzte Barnaby richtig: Was für eine verdammte Zeitverschwendung!

Er konnte noch nicht sagen, ob er derselben Meinung war. Es war nicht uninteressant, daß Tim, der Craigie auf dem Podest am nächsten gewesen war, den Tod als Unfall betrachtete. Darüber hinaus zeugte Arnos Haltung von einer viel tiefsitzenderen Angst, die Barnabys Einschätzung nach nicht allein dem Beschützerinstinkt des Mannes zuzuschreiben war.

Nein - Barnaby stand auf und ging zur Tür -, das war keine Zeitverschwendung gewesen.

Gleich nachdem er von Gamelins Tod erfahren hatte, machte sich Christopher auf die Suche nach Suhami. Ihr Zimmer war leer. Kurz darauf fand er sie auf der zum Kräutergarten führenden Terrasse. May hatte alles darangesetzt, ihn davon abzuhalten. »Sie braucht etwas Zeit für sich allein. Um den Verlust zu verdauen.«

Suhami drehte sich nicht um, sondern blieb reglos wie eine Salzsäule stehen. Er betrachtete ihr Profil. Sie kam ihm sehr ruhig vor, schien tief in Gedanken versunken zu sein.

»Wie fühlst du dich?«

»Ich weiß es nicht.« In diesem Moment wandte sie sich um, und er stellte fest, daß sie längst nicht so gefaßt war, wie er gemeint hatte, sondern ziemlich betroffen zu sein schien. »Ich habe das Gefühl, etwas verloren zu haben, weiß aber nicht, was. Ihn bestimmt nicht... ihn nicht.« In der Wiederholung schwang eine beunruhigende Mischung aus Entsetzen und Zufriedenheit mit.

Christopher fühlte sich unwohl in seiner Haut. Ihre Reglosigkeit kam ihm unnatürlich vor. Nach ihrer Hand greifend, sagte er: »Laß uns Spazierengehen.«

Sie gingen die Stufen hinunter, achteten darauf, nicht auf wuchernden Hauswurz und Grasnelken zu treten, und flanierten in den eigentlichen Garten. Es war schon ziemlich heiß. Das Summen der Bienen, die rosa Lavendel und Borretsch aussaugten, erfüllte die Luft.

Gedanken an eine gemeinsame Zukunft mit Suhami ließen Christopher nicht los. Wäre ihr Vater nicht eben verstorben, hätte er herauszufinden versucht, wie sie darüber dachte, die Kommune zu verlassen, zumal er den Eindruck hatte, daß vor allem Ian Craigies Gegenwart sie hier gehalten hatte. Möglicherweise entschied sie sich, auch nach seinem Tod zu bleiben. Sollte dies der Fall sein, würde er ebenfalls bleiben. Er hatte bestimmt nicht vor, sie aufzugeben. Sie setzten sich auf ein kleines rundes Rasenstück. Ein leuchtender Kreis aus silbernem Thymian und Kamille.

»Wie nimmt deine Mutter es auf?«

»Sie weiß es noch nicht. Will hat mich zuerst informiert. Er hielt es für besser, daß ich mich um alles kümmere. Wenn wir zurückgehen, werde ich es ihr sagen. Oder heute nachmittag. Es ist nicht so, daß es Eile hätte...«

»Ist es wahr, daß sie miteinander unglücklich waren?«

»Den Eindruck erweckten sie jedenfalls immer. Ich kann mir nicht vorstellen, wie jemand mit ihm Zusammenleben und nicht unglücklich sein soll.« Mit angespannter Miene wandte sie sich von ihm ab. »Kann gut sein, daß es bei uns auch so kommen wird.«

»Niemals.« Christopher lächelte. Das »uns« machte ihm Mut. »Das ist das Leben anderer. Wir sind wir. Das...« Er legte seine Hand auf ihren Nacken, zog sie an sich heran und küßte sie. »Das hier bist du...« Seine Lippen blieben nahe bei ihrem •Mund. »Und das bin ich.«

Ihre Schweigsamkeit setzte ihm zu. Noch gestern hatten sie beinahe ekstatisch miteinander getanzt. Er griff in seine Jeanstasche und zog eine in pinkfarbenes Papier gewickelte Schachtel heraus.

»Das hier habe ich dir zum Geburtstag gekauft. Bevor ich wußte, wer du in Wirklichkeit bist. Danach hatte ich das Gefühl, dir das Geschenk nicht geben zu können.«

»Aber du hast dich getäuscht.«

»Ja.«

»Wer ich wirklich bin.« Die Schachtel lag auf ihrem Schoß, ihr Finger steckte in der Schleife. »Der Meister hat gesagt, wir sollen genau das herausfinden. Darum geht es in Wirklichkeit, nicht wahr, Christopher? Im Vergleich dazu ist alles andere belanglos.«

»Du kannst die Philosophin spielen, wenn du alt bist. Auf die großen Fragen gibt es sowieso keine Antworten. Mach dein Geschenk auf.«

Suhami legte die Ohrringe an. Zartes, filigranes Geschmeide, an denen winzige Perlen hingen. Sie drehte ihren Kopf hin und her.

»Du bist wie eine schöne Tempeltänzerin. Ach, du bist so schön, Suze.«

Sie neigte ihren kleinen Kopf ungläubig und mit ernster Miene, ohne zu protestieren, wie das hübsche Mädchen für gewöhnlich machten.

»Was kann ich dir sagen?« fragte er verzweifelt. Sie hob die schmalen Schultern und lachte resigniert. »Gestern, im Schuppen -«, begann er von vorn.

»Gestern hast du gesehen, wie ich früher war. Verängstigt, verzweifelt, nach Glück, nach menschlicher Gesellschaft gierend. Außer mir, wenn man mich allein ließ. So kann ich nicht mehr leben, Christopher, das kann ich einfach nicht. Und das werde ich auch nicht.«

»Du brauchst doch keine Angst zu haben. Ich werde dich niemals verlassen -«

»Ja, das sagst du jetzt. Und vielleicht ist es wahr. Aber die Menschen unterscheiden sich nicht von anderen Lebensformen. Sie verändern sich permanent.«

»Das klingt ein wenig pessimistisch.«

»Nein, das ist realistisch. Offensichtlich. Veränderung ist die einzige Konstante, und ich will mich nicht mein ganzes Leben davor fürchten.«

»Wie steht es mit Glaube und Hoffnung?«

»Ich bin mir nicht sicher, ob sie von Bedeutung sind.«

»Diese Art von Stoizismus paßt zu alten Männern auf dem Schlachtfeld. Oder zu Neurotikern. Aus Angst, daß was schiefgeht, keine Beziehung einzugehen ist dumm. Einsam und allein zu enden, halb tot wie -«

Schweigen machte sich breit. Die Bienen summten lauter als je zuvor. Einer der Fische im Teich sprang nach oben und ließ sich ins Wasser zurückfallen. Ein Lüftchen regte sich. Suhami gelobte: »Wie meine Mutter werde ich nie enden.«

»Es tut mir leid.«

»Du bist sauer, nicht wahr?«

»Natürlich bin ich sauer. Ich muß Zusehen, wie unsere Zukunft den Bach runtergeht.«

»Du hast nicht verstanden.«

»Ich denke, du weißt nicht, was du willst.«

»Ich möchte...« Sie besann sich auf einen einzigen Moment der Erleuchtung im Solar. Auf die Worte des Meisters, mit dem sie sich erst vor vierundzwanzig Stunden unterhalten hatte. Auf seine feste Überzeugung, daß unter ihrem ruhelosen, verwirrenden Dasein all das verborgen lag, was sie brauchte, um Ruhe und Kraft zu finden. »Ich suche etwas, das kein Ende hat.«

»Alles endet irgendwann einmal. Lektion eins aus dem Handbuch für Stoiker.«

»Nein, es gibt etwas, das nicht endet. Man kann es finden und sich immer wieder darauf berufen. Ich weiß, daß das so ist. Der Meister nannte es die kostbare Perle.«

Wie unoriginell von ihm, dachte Christopher. Er streckte die Hand aus und berührte ihren Zopf, zupfte samtene Haarsträhnen heraus, die nach Jasminblütenöl rochen. »Wieso können wir das nicht gemeinsam suchen? Du weißt, auch ich interessiere mich dafür. Aus welchem Grund bin ich deiner Meinung nach hier?« Er zog sie an sich. »Wir könnten unsere Flitterwochen in einem Retreat verbringen, wenn du möchtest.«

»Flitterwochen.« In ihrer Wiederholung schwang ein Anflug von Sehnsucht mit. Ermutigt plapperte Christopher weiter.

»Man muß nicht in einer religiösen Kommune leben, um ein religiöses Leben zu führen. Es gibt eine Menge Laien, die meditieren und beten. Die leise und ohne aufzufallen existieren. Warum können wir nicht wie sie sein?« Suhami legte die Stirn in Falten. Sie machte einen unsicheren, leicht verwirrten Eindruck. »Glaubst du nicht, daß esoterisches Wissen unterschiedlich angewendet werden kann? Trifft man die richtige Entscheidung am richtigen Tag, gut. Wenn nicht...«

Suhami lächelte zaghaft. Ihr gefiel, wie er sich ausdrückte. Es erinnerte sie an die Einschätzung des Meisters: daß das Bestreben, einen Traum wahr werden zu lassen, nicht nur sinnlos, sondern kontraproduktiv war.

Christopher erwiderte ihr Lächeln doppelt, dreifach, vielfach. Sein eigenes war flink und breit, voller Zutrauen. Die Zeit ' war auf seiner Seite. Die Jugend. Und leidenschaftliche Entschlossenheit. Am Ende würde sie gewiß die seine sein.

Bei ihrer Rückkehr ins Haus hatten sich die anderen zu einem Schwätzchen in der Küche versammelt. Alle saßen an dem großen Tisch, zerbröselten Uncle Bob’s Treacle Delights und tranken eine wohlriechende Arabica-Kaffeebohnenmischung. Nachdem sie anfänglich überrascht und dann erfreut die raren säkularen Delikatessen beäugt hatten, schenkten Suhami und Christopher sich Kaffee ein und teilten den letzten Keks miteinander. Die Unterhaltung drehte sich um Trixie, während Janet Fragen gestellt wurden, die aufrecht auf ihrem Stuhl und im wörtlichen wie im übertragenen Sinn mit dem Rücken zur Wand saß.

»Bist du sicher«, fragte Arno, »daß du überhaupt nichts aus ihr rausgekriegt hast?«

»Sie muß doch«, meinte Heather, »irgendwas gesagt haben, was Sinn machte.«

»Menschen, die hysterische Anfälle kriegen, sagen selten etwas, das Sinn macht.«

Die fragliche Szene hatten sie die letzte Stunde gründlich durchleuchtet, und Janet hatte inzwischen die Nase gestrichen voll. Die anderen hatten sich mit der gleichen gierigen Besorgnis auf diese beunruhigende und beängstigende Episode gestürzt, die sie in derartigen Situationen stets an den Tag legten. Die scheinen keinen Unterschied zu machen, dachte Janet verdrießlich, zwischen gutgemeinter Anteilnahme, herrischer Einmischung und Schikane. Andererseits mußte sie sich eingestehen, daß sie Trixie auch ziemlich schikaniert hatte, selbst wenn das nicht ihre Absicht gewesen war.

Auf Trixies Gezeter hin war Janet durchs Zimmer gelaufen und hatte »Tu’s nicht« geraten und dummes Geschwätz wie »Ist doch alles in Ordnung« von sich gegeben. Sie hatte Trixie an den Schultern gepackt oder es zumindest versucht. Aber Trixie hatte sich gewunden, losgerissen, wild mit den Armen um sich geschlagen, Janet einen Schlag auf den Hals verpaßt und nonstop panisches Geschrei ausgestoßen. Unablässig hatte sie wie ein gestrandeter Fisch den Mund geöffnet und geschlossen und Janet mit leeren, nichtssagenden Blicken bombardiert. Ihr Blick hat verraten, dachte Janet später, daß sie die Fähigkeit besaß, das zu tun, was sie getan hatte.

Janet hatte nicht mit Absicht so hart zugeschlagen. Ihre Handfläche schmerzte immer noch. Offenbar hatte sie weit ausgeholt. Als ihre Hand Trixies Wange berührte, war das Mädchen zur Seite getaumelt und gegen die Wand gedonnert. Und doch hatte der Schlag Wirkung gezeigt, wie das in Spielfilmen immer der Fall war. Trixie hörte sofort auf zu schreien. Langsam dämmerte ihr, was Sache war. Ein roter Fleck prangte auf ihrer Wange. Schließlich waren die anderen aufgetaucht und hatten Janet in den Hintergrund gedrängt. Draußen auf der Galerie hatte sie - am ganzen Leib zitternd Halt am Geländer gesucht und immer wieder jenen gewalttätigen Augenblick durchlebt. Zuerst war sie davon überzeugt gewesen, allein aus Verzweiflung gehandelt zu haben (alles war erlaubt, um dieses schreckliche, seelenlose Geschrei abzustellen). Nun wurde sie sich anderer, komplexerer Motive bewußt, die ihr Handeln ebenfalls bestimmt hatten. War sie ehrlich, mußte sie einräumen, daß der Schlag ihr eine gewisse Befriedigung verschafft hatte. Ihre Rachegelüste gestillt hatte. Wie erbärmlich! Dieses Wissen machte Janet krank vor Scham. Bis zum heutigen Tag hatte sie nicht geahnt, daß ihre stumme, unergiebige Liebe Feindseligkeit hervorgerufen hatte. Und Trixie hatte es gutgetan, ihre Freundschaft zurückzuweisen. Sie ' merkte, wie Arno sie besorgt musterte, und rang sich ein Lächeln ab.

Arnos Besorgnis - und er war immer und wegen allem besorgt - umfaßte gar manches. Die Tatsache, daß sein Blick nur auf Janet fiel, war eher dem Zufall als der Absicht zuzuschreiben. Das größte Kopfzerbrechen bereitete ihm selbstverständlich der Mord. Wie die meisten Kommunenmitglieder hielt er Gamelin für schuldig und wußte nun nicht zu sagen, ob der Tod des Mannes ein Segen oder ein Fluch war. Er war gut, falls die Polizei ebenfalls von seiner Schuld überzeugt war. In diesem Fall bestand keine Notwendigkeit, eine Gerichtsverhandlung anzuberaumen. Und in diesem Fall wurde die Kommune nicht zum Dreh- und Angelpunkt öffentlicher Spekulationen. Er war schlecht, wenn sie ihn nicht für schuldig hielt, weil dies ! eine Untersuchung nach sich ziehen und der Gemeinschaft noch größeren Schaden zufügen würde, als das ohnehin schon der Fall war.

Und jetzt war da diese seltsame Sache mit Trixie. Daß sie so heftig auf Guys Dahinscheiden reagiert hatte, machte Arno sehr zu schaffen. Das Unerklärliche oder plötzliche Gefühlsausbrüche, vor allem solche, die ihm unlogisch erschienen, setzten ihm besonders zu. Immerhin hatte sie den Mann kaum gekannt. Als er hörte, wie Janets Hand mit voller Wucht auf die rote Wange klatschte, verflog seine Freude darüber, daß er endlich, nach so langer Zeit, seinen letzten Koän gelöst hatte. Er erkannte, mit welcher Freude er unter normalen Umständen den anderen die großartigen Neuigkeiten mitgeteilt hätte, und empfand somit den Verlust seines geliebten Lehrers um so schmerzlicher. Arno konzentrierte sich wieder auf die Unterhaltung. Heather war offensichtlich gerade dabei, die erste seiner Sorgen laut zu formulieren.

»Wenn wir nur wüßten, was sich zwischen den beiden gestern abgespielt hat.«

»Laut Konfuzius heißt Wissen, zu wissen, daß Wissen nicht Wissen ist«, wandte Ken ein. Er schlug einen alterslosen weisen Ton an und zog die Haut an seinen Schläfen hoch, bis seine Augen die Form von Mandeln hatten.

»Kein Wunder, daß er konfus war«, erwiderte Janet.

Auf die Tragödie vom vorigen Abend wurde nicht eingegangen. Vielleicht hatten alle das Gefühl, daß Spekulationen bei Suhami, die gerade damit beschäftigt war, den Spinat zu waschen, Bestürzung hervorrufen würden. Heather brachte einen tröstenden Gedanken zum Ausdruck.

»Heute morgen habe ich im Obstgarten meditiert. Saß ganz still und ruhig da und rief wie jeden Samstag die gelbe Flamme der Kassiopeia an... ihr werdet nie erraten, was passiert ist.« Alle am Tisch sitzenden Kommunenmitglieder warteten darauf, daß sie fortfuhr. »Eine wunderhübsche Biene setzte sich auf den Klee, ganz dicht neben meiner Hand. Ein richtiges Prachtstück. Sie verharrte einfach dort, schlug mit ihren kleinen Flügeln, als - und ihr dürft das gern als pneumatische Synthese bezeichnen, wenn ihr wollt - versuche sie, mir etwas zu sagen. Nun, ich dachte so bei mir, wer nichts wagt, der nichts gewinnt, und streckte die Hand aus, und die Biene erlaubte mir, mit meinem kleinen Finger über ihr Fellchen zu streichen. Wenn das nicht absolut unglaublich ist, was dann?«

May sagte: »Was wollte sie dir deiner Einschätzung nach damit sagen, Heather?«

»Ich denke - und ich halte das für eine ziemlich bodenständige Auslegung, okay? -, ich deutete die Situation dahingehend, daß ätherische Reste seines Astralkörpers immer noch vorhanden sind, da die Verwandlung des Meisters erst so kurze Zeit zurückliegt. Wer sagt denn, daß auf den Flügeln der Biene keine Spuren davon waren? Diese liebe, kleine, fellbezogene Kreatur spendete mir großen Trost.«

»Das könnte durchaus möglich sein«, fand May. »Gewiß würde der Meister, wenn er denn könnte, uns genau dies vermitteln wollen.«

»Vielleicht«, sagte Suhami und tupfte die grünen Blätter gerade mit einem Küchentuch ab, »war die Biene der Meister. Eine Reinkarnation.«

Ken und Heather tauschten amüsierte Blicke aus. Ken sagte: »Ich glaube kaum, daß ein überragender Geist, nachdem er ein Leben lang seinen Mitmenschen untertänigst gedient hat, als Insekt wiedergeboren wird.«

»Du kannst gleich mal abschwirren«, flüsterte Christopher, der den Spinat in einen Eisentopf packte. Suhami mußte lachen.

»Heather hat recht«, sagte May, »in bezug auf die Materiereste. Ich habe heute morgen dasselbe gespürt. Unter meinem Fenster schnatterte eine Gruppe Elohim. Wir müssen uns vor Bosheit in acht nehmen. Die sind doch immer darauf aus, eine Aura anzuzapfen. Ach je...« Sie schob den Stuhl zurück. »Es ist gleich zwölf. Ich muß los und Felicity ein Bad einlassen. Janet, könntest du womöglich an meiner Stelle das Mittagessen zubereiten?«

»Kein Problem.«

»Laßt uns lieber unsere Pflichten erledigen«, sagte Arno zu Ken. »Ich glaube, wir beide haben heute Gartendienst.«

»Mein Bein setzt mir ganz schön zu, Arno.«

»Nun... du kannst ja harken.«

»Beim Bücken scheint sich der Schmerz nur noch zu verschlimmern.«

»Hast du jetzt nicht nur Beinprobleme, sondern auch noch Rückenschmerzen?« fragte Janet ziemlich spitzfindig.

Ken bedachte sie mit einem nachsichtigen Lächeln. Die arme alte Jan projizierte wieder einmal. Hätte die Gruppe nach ihrem Eintreten in die Gemeinschaft das Pendel bemüht, wie er das vorgeschlagen hatte, wären sie wenigstens vorgewarnt gewesen. »Oh, ich habe keine Probleme, mich zu beschäftigen.«

»Womit?«

»Hilarion hat mich auf die Inkarnation mehrerer Gottwesen vom Pluto vorbereitet. Ich habe die Absicht, mich zur Vorbereitung für einen längeren Zeitraum unter meine Chela-Pyramide zu setzen. Später möchte ich den großen Bonsai-Baum stutzen.«


10

Ian Craigies Habseligkeiten waren freigegeben worden. Troy hatte sie abgeholt. Der Bericht der Polizisten, die zuerst am Tatort eingetroffen waren, mußte auch bald fertig sein. Barnaby hatte darauf spekuliert, daß die Gerichtsmediziner mit etwas Handfestem aufwarteten, mit dem er die bisherigen Indizienbeweise gegen Gamelin untermauern konnte. Falls es nichts Handfestes gab oder sich gar herausstellte, daß er unschuldig war, sah sich der Chief Inspector gezwungenermaßen mit einem Fall konfrontiert, der seit langem einer der interessantesten, aber auch kompliziertesten war.

Als er hörte, daß sein Hauptverdächtiger entlastet wurde, war seine erste Reaktion überwältigende Erleichterung. Vergangenen Abend war er schon kurz davor gewesen, den Mann verhaften zu lassen. Ein Todesfall im Gefängnis zog berechtigterweise eine langwierige und sorgfältige Untersuchung nach sich, um der inzwischen immer lauter werdenden Kritik wegen »Polizeibrutalität« entgegenzutreten. Man stelle sich nur mal vor, was Guy Gamelins Tod in diesem Fall nach sich gezogen hätte: erstklassige Rechtsanwälte, eine Riege hochrangiger Gesetzeshüter, Heerscharen von Spitzenjournalisten und Fotografen, Anfragen im Unterhaus, ... Barnaby empfand tiefe Dankbarkeit, daß Gott ihn vor einem gravierenden Fehler bewahrt hatte.

Mit einer grauen Plastiktüte in der rechten Armbeuge kam Troy ins Zimmer. »Hab hier die Sachen von unserem Ober-Guru, Chef.« In seinen Worten schwang ein Anflug neugieriger Vorfreude mit. Seine Augen glänzten aufgeregt. Mit langsamen theatralischen Handbewegungen zog er Sandalen, ein blutverschmiertes Gewand und eine Baumwollunterhose hervor, hielt inne und warf Barnaby einen gespannten und erwartungsvollen Blick zu.

»Sollten Sie auf einen Trommelwirbel warten, können Sie warten, bis Sie schwarz werden. Jetzt mal raus damit.«

Troy griff erneut in die Tüte und zog ein Bündel strahlendweißer Haare hervor. Barnaby streckte die Hand danach aus. Die Perücke war erstklassig gearbeitet. Auf ein Netz geknüpftes Echthaar.

»Sehr hübsch. Und teuer.«

»Stimmt einen nachdenklich, nicht wahr, Chief?«

»Ja, in der Tat.«

Barnabys Herz schlug schneller. Zum ersten Mal gab der Tote etwas über sich selbst preis. Bisher hatten alle Informationen aus zweiter Hand gestammt. Erinnerungen, Gedanken, Einschätzungen von Dritten. Das hier war eine Offenbarung aus dem Grab. Ein echter Hinweis. Barnaby legte dieses exquisite Requisit der Schauspielerzunft beiseite und sagte: »Ich frage mich, wieviel Leute wußten, daß er sie trug.«

»Keiner, möchte ich wetten«, vermutete Troy. »Ich denke, die Perücke untermauert Gamelins Theorie. Das ist doch eindeutig ein Hilfsmittel, das Gauner einsetzen.«

Ein nicht unvernünftiger Einwand. Eigentlich ziemlich verführerisch. Wieso griff ein wahrer Gläubiger, fragte sich Barnaby, auf solch trickreiches Zubehör zurück? Kaum war ihm dieser Gedanke gekommen, mußte er an die üppigen Gewänder der Priester und Prälaten orthodoxer Religionen denken. Im Vergleich dazu kam ihm eine Perücke fast bescheiden vor.

Craigie hatte also künstliche Hilfsmittel eingesetzt, um ein Bild von sich zu entwerfen, das seinen Gefolgsleuten Sicherheit vermittelte. Das hieß allerdings noch längst nicht, daß seine Lehren oder seine Person falsch waren oder ihm ein Täuschungsmanöver nachzuweisen war. Dennoch...

Gamelins Meinung war eindeutig gewesen. War er - was durchaus verständlich gewesen wäre - nur wegen des Treuhandfonds zu dieser Einschätzung gelangt? Oder hatte, wie Troy vermutete, ein Betrüger einen Gleichgesinnten erkannt? Es schadete nicht, in diese Richtung zu ermitteln, wenngleich es immer ein schwieriges Unterfangen war, einen Betrüger festzunageln. Erstens hielten sie sich nie länger an einem Ort auf und verfügten über so viele Namen wie Überseekonten. Zweitens wurden die wirklich Gerissenen nie gefaßt und waren daher auch nicht im Computer zu finden. Trotzdem -ein Versuch schadete nicht.

»Ich habe auch so eine Idee zu dem Handschuh, Chief«, sagte Troy. »Kam mir, als ich mich mit Maureen beim Frühstück unterhielt.« Bei der Erinnerung an die erste Mahlzeit bekam seine Stimme einen leicht säuerlichen Unterton. Die Mahlzeit, die eigentlich dazu gedacht war, den Ernährer der Familie bis zum Mittagessen zu sättigen. Heute morgen hatte es Cornflakes und Tee gegeben, und der war nicht mal frisch aufgebrüht gewesen. Ein kleines Baby, und schon machte es zuviel Mühe, ein paar Eier in die Pfanne zu hauen, ein paar Speckstreifen in den Grill zu schieben, ein paar frische Champignons zu dünsten und ein paar Scheiben Brot in den Toaster zu werfen. Gezwungenermaßen hatte er in der Kantine einen Burger und Pommes runtergeschlungen. Seither warfen die Damen am Empfang ihm spöttische Blicke zu.

»Gibt es ein Problem, Chief?«

»Handschuh.«

»Ach ja. Sie war gerade beim Abwaschen und meckerte, daß die Gummidinger nie lang halten. Ich hörte nicht richtig zu - ähm, Sie tun das bestimmt auch nicht, oder? Aber ich hörte sie sagen: >Der linke geht immer zuerst kaputt.< Das setzte sich bei mir fest, denn unserer war doch für Linkshänder. Danach sagte sie: irgendwann hatte ich Unmengen von rechten Gummihandschuhen übrig, bis ich rausfand, daß man welche kaufen kann, die auf beide Hände passen.< Und da fragte ich mich, ob das nicht auch auf unseren zutrifft.«

»Könnte sein. Doch wer oder was sollte einen linkshändigen Mörder daran hindern, einen rechten Handschuh zu tragen? Oder umgekehrt, was die Sache noch komplizierter macht.«

»Wäre es in so einem Fall nicht schwierig, das Messer richtig zu halten? Wo wir hier doch von jemandem reden, der sehr flink ist.«

»Stimmt.« Barnaby erhob sich. »Ich werde veranlassen, daß man Craigie überprüft. Für gewöhnlich orientieren sie sich bei der Namensänderung am Original. Möglicherweise sind die Initialen dieselben.«

»Wie alt ist er wohl gewesen... fünfundfünfzig? Sechzig?«

»Das würde ich auch sagen. Möglicherweise noch einen Tick älter. Ich gehe mal ins Pathologie-Labor rüber und finde raus, wie weit die sind.« Er nahm seine dünne Jacke vom Garderobenhaken. »Und später versuchen wir noch mal, Felicity Gamelin zu verhören. Könnte ja sein, daß wir heute ein paar einigermaßen schlüssige Antworten aus ihr rauskriegen.« Er drehte sich in Richtung Tür. »Und wir könnten Ihre Aura deuten lassen, wo wir schon mal dabei sind.« Troy tippte mit dem Zeigefinger an die Schläfe. Barnaby grinste. »Oder Ihr Horoskop. Welches Sternzeichen haben Sie noch gleich? Sirius, der Hundestern?«

»Wenn dem so wäre«, meinte Troy, »könnte ich wetten, daß der kleine Mistkerl Männchen macht.«


Nachdem Arno längere Zeit im Garten gearbeitet und etwas Obst zu sich genommen hatte, um klarer denken zu können, plagte er sich mit einem Haiku ab. Seine Gedanken kreisten ausschließlich um May (das Gedicht war selbstverständlich für sie bestimmt). Der Haiku - drei Zeilen mit fünf, sieben und fünf Silben, in die ein einziger erhellender Gedanke gefaßt wurde - war keine leichte Form. Neben Arnos Stuhl war der Fußboden mit zusammengeknüllten Papierkugeln bedeckt.

Laut seufzend, beklagte er frustriert, daß Thalia, die poetische Muse sich so rar machte, daß die englische Sprache ungewöhnlich widerspenstig war.

Geliebte Blume leichtfüßiger Musikus Seele der Flamme.

Das konnte er ihr nicht geben. Zum einen wirkte es unvollständig, wie der Anfang eines viel längeren Gedichts. Und dann war da dieses »geliebte«. Derlei Zärtlichkeiten schlichen sich immer wieder ein. In jedem seiner vorherigen Versuche kam mindestens eine solche Liebkosung vor. Wollen wir doch mal ehrlich sein, gestand sich Arno mißmutig ein: Bezeichnet man eine Person als »Engel«, »schöne Blume« oder »allerliebster Schatz«, wird die betreffende Person früher oder später aus dem Gedicht etwas anderes als Freundschaft oder Respekt herauslesen.

Verärgert und geistig ermattet, gab Arno vorzeitig auf und trat an das Becken, um seine schmutzigen Hände zu waschen. In der festen Überzeugung, nur die edelsten Materialien würden dieser heiligen Pflicht gerecht, hatte er feinstes Pergament, eine Flasche sepiafarbener indianischer Tinte und eine Kalligraphiefeder gekauft. Dummerweise kam er, der normalerweise Kugelschreiber verwendete, mit dem Schreibwerkzeug überhaupt nicht zurecht. Die vielen Tintenkleckse waren der Beweis dafür.

Die Hände und die Knöchel schrubbend, betrachtete ein deprimierter Arno sich in dem kleinen, abgeblätterten Spiegel. An sein Erscheinungsbild konnte er sich nie gewöhnen, nicht in einer Million Jahren. Wenn er nur großgewachsen und gutaussehend wäre! Ohne zu zögern, würde er ihr den Boden unter den Füßen wegreißen und mit ihr auf dem Sattel eines wunderbaren weißen Pferdes mit edelsteinbesetztem Geschirr und goldenen Zügeln davonreiten.

Die Vorstellung ließ Arno schmunzeln. Seine Mutter hatte derlei Schwelgereien immer als »in Ekstase geraten« bezeichnet. Kritisch musterte er sein Gesicht, zupfte an seinem Bart, teilte ihn vorsichtig, wickelte die beiden Enden um seine Finger.

Er hatte einen Rauschebart ausprobiert, ein Ding voller Eigenleben, das ihm bis auf die Brust fiel, der ihm nicht gestanden hatte. Zu jener Zeit hatte er wie ein Zwerg mit einer Fußmatte am Kinn ausgesehen. Der, den er jetzt trug, war... tja... nett. Wenigstens glänzte er, seit er regelmäßig eine Hennapackung auftrug. Manchmal allerdings überkam ihn der Verdacht, daß er ohne Gesichtsbehaarung jünger aussehen würde.

Bevor er sich abwandte, bespritzte Arno sein Gesicht mit grünlichem Wasser aus einer halbvollen Schüssel mit Steinbrech. Heather hatte ihm glaubhaft versichert, daß dies ein hervorragendes Mittel für das Bleichen von Sommersprossen sei. Seit einem geschlagenen Monat verwendete er das Zeug nun schon und konnte absolut keinen Unterschied ausmachen. Er trocknete sein Gesicht ab und legte das Handtuch ordentlich zusammengefaltet zurück. Gleich war es Zeit, das Mittagessen einzunehmen.

In zehn Minuten mußte das Essen auf dem Tisch stehen, und Janet war es gerade mal gelungen, ein improvisiertes Hauptgericht zusammenzustellen. Halbherzig hatte sie den Vorratsschrank geplündert, verschiedene Schachteln und Dosen herausgenommen, um sie wieder zurückzustellen und sich für eine Packung Sossomix zu entscheiden. Die Verpackung zierte das Bild von granulierten Würstchen, die in einer Pfanne brutzelten. Nicht zum ersten Mal monierte Janet die perversen Verpackungstechniken der Firmen, die mit ihrem Produkt auf die stetig anwachsende Zahl der Menschen abzielten, die kein Fleisch mehr essen wollten.

Nußsteaks, Veggie-Burgers, Cashewschnitzel. Unten im Karmic Pulse hatten sie zu Hühnerschlegel gepreßtes Tofu im Sortiment, die mit Sojabröseln überzogen waren. Nicht zu unterscheiden, versicherte das Verpackungsetikett den Kunden, von echten Hühnerbeinen.

Gedankenverloren hatte Janet zuviel Wasser in das Granulat geschüttet. Anstelle eines schön festen, formbaren Teiges hatte sie versehentlich eine pampige Masse angerührt. Bei dem Versuch, die überschüssige Flüssigkeit abzugießen, war ein bißchen von der Masse im Abfluß gelandet. Ziemlich entnervt von der ganzen Angelegenheit, hatte Janet die Schüssel in das Abtropfgestell gelegt und war wieder nach oben gegangen, um noch mal zu versuchen, sich mit Trixie zu unterhalten.

Nachdem sie praktisch jeden, der ihr mit Rat und Tat zur Seite stehen wollte, aus ihrem Zimmer verbannt hatte, hatte Trixie die Tür abgeschlossen. Das war nicht ungewöhnlich, aber normalerweise antwortete sie, falls jemand anklopfte, und wenn auch nur, um die Leute zu fragen, warum sie sie nicht endlich in Ruhe ließen. Heute hingegen gab sie keinen Muckser von sich.

Diese Stille ist irgendwie anders als sonst, dachte Janet, klopfte unablässig an die Tür und rief: »Trixie - Essen...« Heute war die Stille total, allumfassend. Man hörte nicht mal einen gedämpften Schritt. Kaum zu glauben, daß hinter der Tür ein Herz schlagen sollte.

Sich vergewissernd, daß sie nicht beobachtet wurde, und in dem Gefühl, wie der große Inquisitor zu sein, kniete Janet sich hin und spähte durchs Schlüsselloch. Leider konnte sie nur einen bestimmten Bereich von Trixies Bett sehen. Errötend erhob sie sich.

Unten in der Küche stieß sie auf Christopher, der sich heimlich ins Dorf geschlichen und eine riesengroße Schokoladentorte besorgt hatte, »um alle aufzumuntern«.

»Heather hat zum Nachtisch eine Tapiokaroulade mit Feigenglasur gemacht«, erinnerte sie ihn.

»Genau!«

Janet mußte lachen und stellte hocherfreut fest, daß der Sossomix das übrige Wasser aufgesaugt hatte und nun fest genug war, um sich formen und braten zu lassen. Sie schaltete das Gas unter dem Spinat ein und bat Christopher, die anderen zu Tisch zu rufen.

Heather fand er in einem königsblauen Trainingsanzug auf der Terrasse. Mit hocherhobenen Armen, um die tellurischen Energielinien anzuzapfen, rezitierte sie:

»Bewegung nehme ich in meine Essenz auf.

Rennen und Springen nehme ich in mich auf,

Ich bin Rennen... ich bin Springen...«

Danach begann sie, auf der Stelle auf und ab zu springen. Ihr mächtiger Busen und ihr Hintern zitterten wie Wackelpudding. Gerade als er sagen wollte, daß das Mittagessen fertig war, hielt ihn eine poetische Explosion davon ab.

»Jede kleine Zelle in meinem Körper ist glücklich...

Jeder kleinen Zelle in meinem Körper geht es gut...«

Christopher war vertraut mit Heathers Lobeshymnen zur Preisung des holistischen Positivismus. Diese Hymnen bleute sie all ihren Kunden ein, egal wie schlecht es um deren Gesundheit bestellt war.

Keuchend sagte sie: »Kenny... Büro... gehe...«, und sprang im Pogostil an der Hausmauer entlang.

Ken produzierte gerade ein paar Poster für den kommenden Eheworkshop (An einem klaren Tag können Sie sich gegenseitig sehen). Sein kaputtes Bein ruhte auf dem Schreibtisch, während der alte Vervielfältigungsapparat schwerfällig arbeitete.

»Es gibt Mittagessen«, rief seine Gattin schweratmend und steckte den Kopf durch die Tür.

»Ist auch Zeit«, meinte Ken. »Ich bin am Verhungern.«

»Tut mir leid, aber an einem Tag wie heute ist alles ein wenig chaotisch.« Heather stürmte ins Büro und nahm ein Poster in die Hand. Auf himmelblauem Hintergrund waren zwei Tauben abgebildet. Eine hatte lange Wimpern und trug eine Schürze, die andere war bis auf ein Büschel weißer Federn splitterfasernackt. Die mit den weißen Federn schlang einen Flügel um die Mitte der anderen. Darunter standen Kens und Heathers Namen und nach Kens (in Klammern): »Intuitiver Diagnostiker, Autor, Chaneller«. Heather wurde als »Heilerin, Autorin, Priesterin« angekündigt. Sie meinte: »Das müßte die Leute doch anziehen. Ich hoffe, wir werden den Kurs durchführen können, ich meine, bei dem ganzen Durcheinander.«

»Ich empfange deine Schwingungen, Heth«, sagte er und nahm sein Bein herunter. »Entspann dich bitte. Ich muß dir etwas mitteilen.«

»Oh - was gibt es denn?« Etwas umständlich setzte sich Heather mit überkreuzten Beinen auf den Boden.

»Tja, du kennst ja meine Devise - erledige niemals eine Sache, wenn du gleichzeitig drei erledigen kannst.« Heather nickte. »Nun, während ich die Poster abzog, bemühte ich auch mein Gedanken-Energie-Netz, um mit Hilarion in Verbindung zu treten und ihn nach unserer Zukunft hier zu fragen.«

»Brillant. Was hat er gesagt?«

»Er hat mir nichts gesagt, dieser alte Halunke - uups!« Ken legte den Kopf auf den Schoß und die Hände darauf, als müsse er sich vor Steinschlag schützen. »Entschuldige, Hilarion...«, rief er durch die Finger. »Das war nur ein Scherz.« Dann setzte er sich wieder auf und fuhr fort: »Aber er rückte mit anderen Informationen heraus. Gewährte mir einen kompletten Ausblick auf die kosmische und globale Lage. Der Gute spielte ganz eindeutig auf die Löcher in der Ozonschicht an und - wo wir schon von einer Veränderung der Paradigmen sprechen -darüber müssen wir uns keine Sorgen machen.«

»Was? Ich fasse es nicht...« Hoffnung und Skepsis spiegelten sich auf Heathers glänzendem Antlitz.

»Es ist wahr. Kommt direkt von ganz oben. Weißt du, wie sich das Wasser teilt, wenn ein Baby geboren wird? Nun, wir haben es mit genau demselben Prozeß zu tun. Wie wir alle wissen, findet just in diesem Augenblick ein großer spiritueller Erguß aus dem Reich der Engel statt. Wie sollte das möglich sein, wenn die Öffnungen nicht im Himmel beschlossen worden wären?«

Seine Frau klatschte vor Verwunderung in die Hände. »Daran habe ich nie gedacht.«

»Na, wenn das nicht profund ist. Dieser raffinierte Fuchs.«

»Dann sind diese neuen Aerosoldinger und Kühlschränke und alles also -«

»Reine Zeitverschwendung.«

Heather sprang auf. »Das müssen wir unbedingt den anderen sagen.

»Und hinterher der restlichen Welt.«

Auf dem Weg zur Küche warf Ken in der Halle einen Blick auf die »Fühlst-du-dich-schuldig«-Schale. Heute lag kein Geld drin, aber er entdeckte etwas anderes. Einen Schlüssel mit einem Anhänger, auf dem »25« stand. Der Schlüssel zu Trixies Zimmer.


Am Nachmittag herrschte große Hitze. Beide Fenster in Barnabys Büro standen offen, doch kein Lüftchen regte sich. Die Polizistin Brierley feierte ihren zweiundzwanzigsten Geburtstag. Klugerweise war jemand auf die Idee gekommen, Eis, ein großes Netz Zitronen und eine Auswahl an Kuchen- und Tortenstücken zu besorgen. Aus Furcht, daß ihm die Füllung auf sein Hemd oder auf die auf dem Schreibtisch angehäuften Unterlagen tropfte, unter denen sich auch der eben angelieferte Bericht vom Schauplatz des Mordes befand, hielt der Chief Inspector ein Glas frischgemachter Zitronenlimonade steif in der einen Hand und knabberte vorsichtig an seinem Donut.

Das mehrstimmig vorgetragene Geburtstagsständchen drang durch die offenstehende Tür. Ihm fiel auf, daß sich sein Sergeant auf Audreys Schreibtisch gepflanzt hatte. Troy hielt ein paar Computerausdrucke in Händen und sang aus voller Kehle mit, während sein Blick auf ihren schwarzbestrumpften Beinen ruhte.

Sie hat sich in den letzten drei Jahren gut entwickelt, die kleine Audrey, dachte Barnaby. Anfangs war sie relativ schüchtern gewesen, hatte keinen Schimmer gehabt, wie man mit der koketten Anmache und den chauvinistischen Herabsetzungen, die wie siamesische Zwillinge miteinander in Beziehung standen, umgehen mußte. Die Mädchen, die blieben, wurden im Lauf der Zeit härter im Nehmen. Während Barnaby zusah und gerade noch verhindern konnte, daß das rote Gelee auf sein Hemd fiel, beugte sich Troy mit dem Blick eines Jägers vor, murmelte etwas und zwinkerte. Audrey zwinkerte und murmelte ebenfalls ein paar Worte. Lautes Gelächter ertönte. Der Sergeant entfernte sich.

»Früher ist sie mal richtig niedlich gewesen, dieses Mädchen«, beklagte er sich wütend und wedelte mit den Computerausdrucken. »Tierisch feminin - falls Sie wissen, was ich meine.«

»Ich finde sie immer noch recht niedlich.«

»Macht man denen ein Kompliment, gehen sie einem gleich an die Gurgel.«

Das Kompliment war folgendes gewesen. Troy: »Zur Feier des Tages lade ich Sie auf einen Drink ein. Irgendwo, wo es richtig hübsch ist. Wie wäre es mit diesem kleinen verschwiegenen Pub am Fluß? Sie werden sich gut amüsieren. Nicht umsonst hält man mich für einen Senkrechtstarter.« Audrey: »Dann rühren Sie doch damit Ihren Tee um.«

»Frauen, die ungehobelt sind, vergeben sich was - finden Sie nicht, Sir?«

Lesend sagte Barnaby: »Hier taucht kein Craigie auf.«

Troy bemühte sich, seine Verdrossenheit abzulegen. »Ich habe auch ähnlich klingende Namen überprüft. Es gibt einen Brian Craig. Versicherungsbetrug. Starb in Broadmoor.«

»Na, wenn das nicht der richtige Ort zum Sterben ist.« Barnaby machte selten Witze, und dieser war keinen Lacher wert.

»Da kommt noch mehr. Ich warte auf einen Cranleigh und einen Grawshaw.« Er klang ziemlich munter und optimistisch. »Bin überzeugt, daß Gamelin recht hatte. Das spüre ich in den Knochen.«

Troy spürte dauernd etwas in den Knochen. Seine Knochen waren in etwa so zuverlässig wie ein Bernhardiner, der Cognac getrunken hatte.

»Was steht in dem Bericht der Polizisten, die zuerst am Schauplatz des Verbrechens eintrafen?«

»Nicht viel.«

Troy las die beiden eng bedruckten Seiten. Nichts im Handschuh - was zu vermuten gewesen war. Und auch ansonsten nicht viel. Nur ein vergrößertes Foto einer Faser, die am Messer geklebt hatte.

»Bißchen enttäuschend«, meinte er, nachdem er mit dem Lesen fertig war. »Sieht nicht so aus, als stamme es von irgendwelchen Kleidungsstücken. Obwohl - nicht jeder hatte etwas an, worunter er oder sie das Messer verstecken konnte. May Cuttles Kleid hatte lange, weite Ärmel, aber sie ist aus dem Spiel. Könnte es allerdings jemandem ausgehändigt haben. Hey - vielleicht hat sie es Wainwright zugesteckt. Er hätte es nicht selbst mitbringen können. Enge Jeans, Turnschuhe, kurzärmliges Hemd.«

»Außerdem ist er nicht in die Nähe des Podests gekommen.«

»Wer käme sonst noch in Betracht? Die lesbische Frau hatte Hosen an - sie hätte es reinbringen können. Für die Blondine dürfte es schwierig gewesen sein. Gibbs hätte es in seiner Strickjacke verstecken können. Gamelin und die Beavers hätten es ebenfalls verstecken können und auch dieser Junge, der einen Sprung in der Schüssel hat. Er hatte einen ausgeleierten Pulli an. Oder Gamelins Gattin - in ihrem Kleid hätte die einen ganzen Besteckkasten verbergen können. Das gilt auch für ihre Tochter im Sari.«

Troy schürzte angöwidert die Lippen. Wenn er etwas auf den Tod nicht ausstehen konnte, dann weiße Frauen, die sich wie Schwarze kleideten. »Wenn die mir gehören würde«, murmelte er, »würde ich sie heimschleifen, das rote Zeugs abwaschen und sie mal ordentlich übers Knie legen.«

»Menschen >gehören< uns nicht, Sergeant. Sie sind weder Autos noch Waschmaschinen. Und Sie haben jemanden vergessen.«

»Nein, habe ich nicht.« Barnaby zeigte auf die Zeichnung an der Wand. »Craigie?« Troy lachte ungläubig. »Nun, er wird doch nicht dem Mörder in die Hand spielen, indem er das Messer selber reinschmuggelt, oder?«

»Er war anwesend. Wir dürfen ihn nicht ausschließen. Wie gehen wir immer vor, Troy?«

»Wir halten uns alle Möglichkeiten offen«, rezitierte Troy mit einem Seufzer und dachte, daß manche Leute sich derart viele Möglichkeiten offenhielten, daß sie vor lauter Wald die Bäume nicht mehr sahen.

»Schauen Sie doch mal nach, ob es noch mehr von diesen Donuts gibt.«


Janet durchstöberte Trixies Zimmer. Wie sinnlos das war, begriff sie schnell. Sie hatte es schon zweimal durchsucht, zuerst ziemlich hastig und halb wahnsinnig vor Kummer, danach noch einmal langsam und sorgfältig. Ganz systematisch war sie jede einzelne Schublade durchgegangen. Hatte unter die Matratze, unter die Teppiche geschaut, Bücher durchgeblättert und in einem Augenblick totaler Verzweiflung sogar den Kaminrost kontrolliert. Nur Hinweise, wohin Trixie wohl geflohen sein mochte, fand sie keine.

In Wahrheit suchte Janet natürlich einen Brief. Davon gab es weit und breit keine Spur. Nicht einmal ein paar Papierschnipsel, die einem, nachdem man sie zusammengesetzt hatte, eine Adresse verrieten. Auch im Adreßbuch, das im Büro lag, stand nichts. Nach telefonischer Anmeldung war Trixie übers Wochenende zu Besuch gekommen und nicht wieder gegangen, nachdem eine Finanzierungsmöglichkeit gefunden worden war.

Die Intensität ihres Leids setzte ihr genauso stark zu wie das Leiden selbst. Wie hatte sie es zulassen können, an solch einen Punkt zu gelangen? Die Entwicklung war heimtückisch vonstatten gegangen. Anfänglich hatte sie Trixie nicht mal gemocht. Das Mädchen war ihr oberflächlich und dumm vorgekommen. Sie beide hatten nichts gemein gehabt. Dann, peu ä peu, hatte sie begonnen, die jüngere Frau zu bewundern, und sie schließlich um ihre heitere Natur beneidet. Um ihre Selbstsicherheit und ihre Schlagfertigkeit. Janet, bei deren Erziehung man großen Wert auf höfliche Zurückhaltung gelegt hatte, litt permanent unter ihrer Gehemmtheit und darunter, daß ihre guten Manieren ihr verboten, mit der Sprache rauszurücken.

Ziemlich früh war ihr aufgefallen, daß Trixie keine wahre Sucherin war. Daß sie sich nicht sonderlich für eine andere Bewußtseinsebene interessierte. Sie hatte meditiert, hatte ein paar Unterredungen mit dem Meister gehabt und bei quasireligiösen Diskussionen hin und wieder ein paar ehrerbietige Bemerkungen fallenlassen, aber Janet wußte, daß sie nicht mit dem Herzen dabei war. Irgendwann war sie zu der Überzeugung gekommen, daß Trixie nur das Nötigste tat, um einen Fuß in der Tür zu behalten. Häufig hatte Janet das Bedürfnis verspürt, sie zu fragen, aus welchem Grund sie auf Manor House lebte. Aus Mangel an Mut war es jedoch nie dazu gekommen. Trixie behauptete immer, daß ihr Neugierde verhaßt war.

Am Schminktisch sitzend und die frischen Rosen in der Vase betrachtend, war Janet ganz krank vor Sehnsucht. Erneut zog sie die oberste Schublade heraus und inspizierte das, was von Trixie übriggeblieben war. Eine halbvolle Packung Tampax, ein rosa Angorapulli, der unter den Achseln roch, und ein paar Bahnhofsschmöker, schlecht geschrieben und recht pornographisch (Janet hatte ein paar Seiten überflogen). Spätestens auf Seite sieben hatte jeder seine Unschuld verloren.

Janet zählte eins und eins zusammen. Furcht mußte Trixie dazu getrieben haben abzuhauen. Diese Angst hatte irgend etwas mit Guy Gamelin zu tun. Noch im Tod besaß dieser monströse Mann die Macht, Schaden anzurichten. Janet stellte sich vor, wie Trixie allein und verängstigt auf der Flucht war. Hatte sie Geld? Würde sie per Anhalter reisen? Nicht nach all den schrecklichen Geschichten, die einem zu Ohren kamen. Irgendwann zwischen halb elf und zwölf mußte sie weggegangen sein. Wahrscheinlich hatte sie sich mit ihrem Koffer mit den blauen Rollen durch die Halle geschlichen, während Janet nur ein paar Meter weiter in der Küche zugange gewesen war.

O Gott!

Sie sprang vom Stuhl auf und schlang die Arme fest um ihren Brustkorb. In diesem Augenblick brauchte Trixie ihre Freundschaft mehr denn je. Janet hatte soviel zu geben. Sie konnte spüren, wie es wie ein großer, schwerer Klumpen dort lag, wo eigentlich ihr Herz hätte sein müssen. Ihr ganzes Leben lang schien sie ihn mit sich herumgetragen zu haben, und von Tag zu Tag wurde er schwerer.

Plötzlich fiel ihr Blick auf ihr Spiegelbild. Ihre Haare standen wild ab, die Haut spannte sich über ihrer Hakennase. Als ihr dämmerte, daß Trixie womöglich nie wieder zurückkehren würde, spürte sie einen dicken Kloß im Hals. Wurde sich des Verlustes erst richtig bewußt. Das Ausmaß ihrer Qualen zwang sie fast in die Knie. Sie hatte das Gefühl, in Zukunft in unerträglichem Zwielicht leben zu müssen, ohne jemals die Schönheit eines strahlenden Tages kennengelernt zu haben.

Vor einiger Zeit hatte sie mal gelesen, daß die Intensität eines wirklich starken Gefühls alle Erinnerungen auszulöschen vermochte. Janet bildete sich ein, das Vergessen ertragen zu können. Ihre Liebe zu Trixie war einem dumpfen Schmerz vergleichbar, ähnelte einer verlorenen Erinnerung. Diesem Bild haftete etwas Sauberes, Strenges an. Mit Sicherheit zu wissen, daß man niemals Trost fand, war auch ein Trost. Sie würde allein bleiben und das unbeugsame, zutiefst unbefriedigende Epigramm in Erinnerung behalten, daß man im Leben nur bekam, was man wollte, wenn man wollte, was man bekam.

»Finde dich damit ab«, hätte ihre Mutter ihr in diesem Fall geraten. »Ich werde mich damit abfinden.« Daß sie das immer gesagt hatte, daran erinnerte sich Janet noch sehr gut. Diesen Ausspruch hatte sie immer dahingehend gedeutet, daß man nicht genau das kriegte, was man wollte, daß das aber immer noch besser war als gar nichts.

Kaum hatte Janet entschieden, sich mit dem schmerzlichen Verlangen nach menschlichem Kontakt zufriedenzugeben, mit einem Hauch von Wärme, der einem das Leben erträglich machte, da schnürte es ihre Brust zusammen. Bitterlich weinend, tauchte sie ihr Gesicht in die duftenden Rosen.


Christopher und Suhami hatten sich ins Büro zurückgezogen. Sie schaute aus dem Fenster, er saß an dem einbeinigen Tisch, an dem Barnaby die Verhöre durchgeführt hatte. Neben Christophers Fuß stand ein kleiner Schweinslederkoffer, und auf dem Tisch lag ein großer, unverschlossener Briefumschlag. In dem seit drei Tagen nicht mehr benutzten Raum bildete sich auf allen Gegenständen schon eine dünne Staubschicht.

Das Paar unterhielt sich über den Tod. Suhami mit der getriebenen Gereiztheit eines Menschen, der sich verpflichtet fühlt, eine alte Wunde zu begutachten, Christopher, der langsam ebenfalls mürrisch wurde, mit großen Widerwillen.

»Es ist unmöglich, oder?« sagte sie. »Sich vorzustellen, wie es sich anfühlt, tot zu sein. Man stellt sich vor, bei der eigenen Beerdigung anwesend zu sein. Man sieht, wie die Trauergäste weinen. Man sieht die vielen Blumen. Dennoch, man muß leben, um sich dieses Bild ausmalen zu können.«

»Ich denke schon. Können wir nicht über etwas anderes sprechen?« Sie antwortete ihm nicht. Ungeduldig stellte er den Koffer auf einen Stuhl mit gerader Lehne. »Wir könnten die Sachen deines Vaters durchsehen?«

»Was gibt es da durchzusehen? Das sind nur Klamotten. Wenn jemand nächstes Mal nach Causton fährt, soll er die Sachen in den Laden einer wohltätigen Organisation tragen.«

»Und da ist noch dieser Umschlag.«

»Ich weiß, ich weiß. Ich habe den Empfang quittiert, nicht wahr?«

»Beruhige dich.« Er schüttete den Inhalt auf den Tisch. Guys Brieftasche, seine Schlüssel, ein Taschentuch, ein Zigarrenabschneider und ein Feuerzeug. Ein leeres braunes Glasröhrchen. Eine kleine Karte, zerknittert, als habe sich jemand daran festgehalten. Eingraviert war eine Nachricht von Ian und Fiona (Besitzer). Christopher drehte die Karte um. Eine Elfe mit Schuhen, deren Spitzen hochgebogen waren, zeigte mit einem Stab auf eine kursiv gesetzte Zeile: Sie zu erfreuen ist unser wahres Anliegen. Wm. Shakespeare. Und da war noch etwas anderes im Umschlag. Ganz unten im Knick.

Christopher fuhr mit der Hand hinein und holte die Armbanduhr heraus. Diesen ungewöhnlich schönen, nur aus Juwelen, Edelmetall und geschliffenem Glas bestehenden Gegenstand nahm er in die Hand. Er hielt den Atem an (er konnte nicht anders) und spürte, wie sie sich umdrehte. Als er aufschaute, beobachtete Suhami ihn. Ihr Gesichtsausdruck war nicht zu deuten. Er legte die Uhr auf den Tisch. Auf dem dunklen Rosenholz funkelte sie wie ein Stern. Als er endlich wieder sprechen konnte, ohne sich seine Habsucht anmerken zu lassen, sagte er: »Was meinst du? Sollten wir diese Sachen deiner Mutter geben?«

»Wohl kaum.« Suhami trat näher. »Das letzte, was sie brauchen kann, sind Erinnerungsstücke. Ihren derzeitigen Zustand hat sie ihm zu verdanken.«

»Dieses Röhrchen ist leer.«

»Herztabletten.«

»Dann hatte er also noch Zeit, sie einzunehmen.«

»So scheint es.«

»Da steckt noch was in seiner Brieftasche.« Das metallischcremefarbene Lederbehältnis mit den großen Krokodilschuppen war auf einer Seite ausgebeult. Als Christopher die Finger in das Fach schob, flog Konfetti heraus. Ein paar Schnipselchen fing er mit der Hand auf. »Das ist Geld.«

»Wie grotesk.« Suhami musterte die verstreuten Fragmente.

Auf einmal wurde sie unerklärlicherweise von Angst ergriffen. »So etwas würde er niemals tun. Es sei denn...« Für einen Sekundenbruchteil sah sie Guy in extremis, wie er schlagartig die Sinnlosigkeit seines Reichtums erfaßte und symbolisch einen großen Geldschein zerriß. Gleich darauf wurde ihr klar, wie sentimental und unsinnig dieses Bild war.

»Es sei denn was...?«

»Keine Ahnung. Er war... ziemlich am Ende. Emotional gesehen. Neulich nachmittag, im Verlauf unserer Unterhaltung, tat er mir beinahe leid. Nicht daß ich es mir hätte anmerken lassen.«

»Wieso nicht?«

»Er verabscheute jedwede Zurschaustellung von Gefühlen. In seinen Augen war das mit Schwäche gleichzusetzen.«

»Klingt alles ein bißchen traurig.«

»Vergeude nicht deine Gefühle an ihn«, meinte Suhami. »Er hat das Messer genommen, vergiß das nicht. Ach - räum die verdammten Sachen weg. Nein - warte...« Sie nahm die Armbanduhr und hielt sie ihm hin. »Hier - nimm sie.«

»Wie bitte?«

»Nimm sie.« Fassungslos starrte er sie an. »Nur zu.«

Christopher schluckte. Langsam, als könne er es nicht verhindern, wanderte sein Blick zu der Uhr hinüber. »Das kann nicht dein Ernst sein.«

»Warum nicht?«

»Ich weiß nicht, sie ist so unglaublich... so...« Er wußte wohl, daß seine Gier sich auf seinem Gesicht spiegelte, doch ändern konnte er daran nichts. »Wem gehört sie nun?«

»Mir. Er hat immer behauptet, er würde alles mir vermachen.«

»Du kannst doch nicht einfach...« Seine Gier drängte ihn, den Arm zu heben, die Finger, die Hand auszustrecken.

»Gewiß - ich kann.« Sie machte einen Satz, drückte ihm die Uhr in die Hand und wich wieder zurück.

»Bist du sicher?«

»Klar doch.« Sie wich immer weiter von ihm zurück. »Verkauf sie, wenn du willst. Kauf dir das, was die Agenten einen guten Ruf nennen. Nur trag sie bitte nicht, wenn du dich in meiner Nähe auf hältst.«

Christopher stopfte die Uhr in seine Tasche. Sie wog nichts. Die Größe des Geschenks verschlug ihm die Sprache. Auf der anderen Seite bestürzte ihn die beiläufige Art, mit der sie es ihm gegeben hatte. Suhami hatte ihm die Uhr praktisch unter die Nase gehalten. War die ganze Angelegenheit eine Art Prüfung gewesen, und hatte er versagt, indem er das Geschenk angenommen hatte? Zweifelsohne ging von ihr eine gewisse Hochspannung aus, die er nicht nachvollziehen konnte. Mit einem Mal bildete er sich ein, daß die Uhr eine Art Abschiedsgeschenk gewesen war, daß sie beschlossen hatte, ihren eigenen Weg zu gehen, ohne ihn. Diese Einschätzung stimmte ihn -nicht nur wegen dieser beleidigenden »Abfindung« - zornig. Er zog Suhami einem Zeitmesser in jedem Fall vor, egal, wie außergewöhnlich der auch sein mochte.


Nach drei Uhr fuhren Barnaby und Troy vor Manor House vor. May begrüßte sie. In ihrem mehrfarbig gestreiften Djeballa, der von einem Kupfergürtel zusammengehalten wurde, wirkte sie unerhört extravagant.

»Ah - da sind Sie ja.« Als hätte man sie persönlich vorgeladen. »Ich freue mich sehr über Ihr Kommen, denn ich muß Ihnen etwas sagen.«

»Ach ja, Miss Cuttle?« Barnaby folgte ihr in die Halle. Bis auf das leise Klappern von Geschirr herrschte im Haus Stille. Ihm fiel das farbenfrohe, durchs Oberlicht einfallende Licht auf, und er gab einen Kommentar dazu ab.

»Wir aalen uns darin, Chief Inspector. Wir laden unsere Psyche damit auf. Wenigstens einmal pro Tag. Unterschätzen Sie niemals die heilende Kraft der Farben. Vielleicht möchten Sie...«

»Ein anderes Mal. Was wollten Sie -?«

»Nicht hier.« Schnellen Schrittes marschierte sie weiter und gab ihnen mit hocherhobenem Arm und wedelnder Hand zu verstehen, daß sie ihr folgen sollten. Ihr Anblick ließ Barnaby an den Kommandoturm eines Unterseebootes denken.

Heute fiel ihr Haar locker auf die Schultern herab. Eine Wolke aus Korkenzieherlocken, Wellen, Kringeln, begrenzt von einem zerzausten Pony, der bei einer nicht ganz so rubenesken Gestalt keck gewirkt hätte. Ihr zu folgen war kein Problem. Tatsächlich schien die magnetische Anziehungskraft ihres fließenden Gewandes gar keine andere Möglichkeit zuzulassen. Sie scheuchte sie in ein Zimmer, warf kurz einen Blick den Flur hoch und runter und schloß dann die Tür.

Nach dieser aufwendigen Einleitung rechnete Barnaby damit, daß May sofort einen ganzen Schwall wichtiger Informationen ausspucken würde, doch sie wartete ein wenig, rümpfte ihre schöne römische Nase und bewegte ihre zarten Nasenflügel. Schließlich sagte sie: »Hier gibt es eine ganze Reihe negativer, unerhört negativer Schwingungen.« Ihr Blick tanzte zwischen den beiden Männern hin und her. »Ich nehme an, sie gehen von Ihnen aus.« Troy zog die Augenbrauen hoch. Cool wie immer. »Ich muß Sie um etwas Geduld bitten, bis ich die positiven Ionen wiederhergestellt und meinen Vitalitätsindex erhöht habe.«

Sie setzte sich an einen kleinen runden Tisch, auf dem eine orangefarbene Chenilledecke mit Fransen lag, stützte die Ellbogen auf dem Rand ab und schloß die Augen. Mehrere Minuten verstrichen.

Ist jemand zu Hause? fragte sich Troy. Er hoffte inständig, daß ihm nicht seine Tante Doris erschien. Er hatte ihr fünfzig Pfund geschuldet, als sie von einem Ford Sierra überfahren wurde. Sie war extrem spitzzüngig gewesen.

»Oh! Gleißende helle Strahlen fließt in mich! Erquickender allumfassender Frieden entfalte dich und schaffe Harmonie unter Vestas alles sehenden Augen. Ida und Pingala - kreuzt meine Schwingungsknoten.«

Bei den ersten laut ausgesprochenen Worten hätte Troy fast einen Satz gemacht. Seine Schuhe musternd, weigerte sich Barnaby beharrlich, den Blick seines Sergeants zu erwidern. In einer Zimmerecke registrierte er einen größeren Tisch, auf dem mehrere Flaschen mit heller Flüssigkeit standen. Zweifelsohne Futter für die Leichtgläubigen. May atmete ein paarmal hintereinander laut aus und ein, blickte sich dann um und bedachte die beiden Beamten mit einem warmen, freundlichen Lächeln.

»Ja. Ist es jetzt nicht besser? Fühlen Sie sich wohl?« Barnaby nickte. Troy stierte weiterhin wie gebannt aus dem Fenster.

»Heute nacht habe ich nicht geschlafen, wie Sie sich bestimmt vorstellen können, aber nach dem Mittagessen habe ich mich kurz hingelegt und bin weggedöst. Während dieser kurzen Ruhepause erhielt ich einen Besuch vom grünen Meister Rakowsky. Er erteilt Ratschläge in juristischen Fragen, wie Sie wahrscheinlich wissen dürften, und er schlug mir vor, mit Ihnen zu sprechen.«

»Ich verstehe«, sagte der Chief Inspector. Die Selbstverständlichkeit, mit der May davon ausging, daß er in diesen Dingen bewandert war, irritierte ihn sehr.

»Mein Anliegen steht nicht in Verbindung mit der Wiedergeburt des Meisters, sondern mit einer ganz anderen Sache, die mir schon seit längerem Kopfzerbrechen macht und über die ich gerade in dem Augenblick, als der Meteor vom Dach fiel, mit Christopher reden wollte. Dann ist es mir aber wieder entfallen. Zu jenem Zeitpunkt begriffen wir nicht, daß das ein Vorbote war.« Barnabys nichtssagende Miene als Unverständnis auslegend, fügte sie freundlich hinzu: »Das heißt ein Omen, wissen Sie.«

»Ja«, antwortete der Chief Inspector.

May blickte zum Fenster hinüber, an dessen Rahmen Troy seinen Kopf preßte. »Fühlt sich Ihr Sergeant nicht wohl?«

»Es geht ihm gut.«

»Ich fürchte«, fuhr May fort, »ich kann meine Vogel-Strauß-Mentalität nicht länger aufrechterhalten. Hier stimmt ganz eindeutig irgend etwas nicht.«

Großer Gott, dachte Barnaby, da steckt sie bis zum Hals in Mord und begreift nun endlich, daß was nicht stimmt.

»Alles fing an, nachdem Jim Carter uns verlassen hat.«

»An den Namen entsinne ich mich nicht, Miss Cuttle.«

»Nein. Er verstarb, ehe Sie hier eintrafen.«

Darauf ließ sich Barnaby erst gar nicht ein. »Und wer war er?«

»Oh, ein guter Mensch. Eines unserer ältesten Mitglieder. Er hatte einen Unfall - einen tödlichen Unfall. Es überrascht mich, daß Sie nichts darüber wissen.«

»Tödliche Unfälle fallen nicht in unseren Zuständigkeitsbereich.«

»Es gab eine Untersuchung.« May musterte Barnaby in einer Art und Weise, als habe er heimlich im Heuschober geraucht. »Ein, zwei Tage nach seinem Tod war ich auf dem Weg in die Waschküche und wurde Zeuge einer Unterhaltung. Oder zumindest eines Teils einer Unterhaltung. Die Tür zu des Meisters Heiligtum stand einen Spalt offen. Jemand sagte: >Was hast du getan? Falls sie beschließen, eine Obduktion vorzu-< Dann senkten sie die Stimmen und schlossen die Tür.«

»Haben Sie gesehen, wer da gesprochen hat?«

»Nein, ein Wandschirm versperrte mir die Sicht.«

»War es Ihrer Ansicht nach Mr. Craigie, der da sprach?« Beim Reden beugte Barnaby sich vor. Troy hörte auf, das Fenster zu massieren und wandte sich mit fragendem Blick den anderen zu. Anspannung machte sich im Zimmer breit.

»Keine Ahnung. Die Stimme klang ziemlich gepreßt. Als die Untersuchung anberaumt wurde und der Bericht des Pathologen vorlag und alles in Ordnung zu sein schien, nahm ich an, ich würde den Worten zu große Bedeutung beimessen. Ein paar Wochen später weckte mich mitten in der Nacht ein Geräusch. Leises Poltern, als verrücke jemand vorsichtig Möbel, und Knarzen wie beim Öffnen und Schließen von Schubladen.«

»Woher kamen die Geräusche?« wollte Troy wissen.

»Von nebenan - aus Jims Zimmer. Es war nicht verschlossen, wieso also diese seltsame Heimlichtuerei? Warum ging der Betreffende nicht einfach bei Tag rein?«

»Ein Einbrecher?« schlug Barnaby vor.

»Ganz gewiß nicht«, meinte May und schilderte, wie die Person am Haus entlanggelaufen war.

»Warum haben Sie nicht die Polizei verständigt?«

»Nun, wissen Sie, so handeln wir hier nicht.« May warf Troy ein tröstendes Lächeln zu. »Ich bin sicher, Sie sind sehr kompetent, aber diese Reaktion hätte womöglich großen psychischen Schaden angerichtet.«

»Glauben Sie, daß er - oder sie - beim Wegrennen gehört hat, wie Sie Ihr Fenster öffneten? Ich nehme an, die betreffende Person wußte, daß Ihr Zimmer nebenan lag.«

»Durchaus möglich.« Sie warf ihm einen Blick aus ihren strahlend hellen Augen zu. »Ist das wichtig?«

Auf diese Frage reagierte Troy mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Fassungslosigkeit. Diese Frau fuhr einen Wagen, kümmerte sich um die finanziellen Angelegenheiten der Kommune, handhabte alle Bankgeschäfte und umsorgte gelegentlich eine stattliche Anzahl von Besuchern. All diese Fähigkeiten gingen Hand in Hand mit dem Glauben an Erzengel, außerirdische Hilfe in häuslichen und juristischen Dingen und an einen astralen Messerwerfer, der den großen Meister mühelos in eine andere Dimension befördert hatte. Er beobachtete, wie sie seinem gequält dreinblickenden Chief sachte die Hand auf den Arm legte.

»Fühlen Sie sich nicht ganz wohl, Inspector Barnaby?«

Barnabys Räuspern hörte sich wie ein trockenes Scharren an. May machte einen besorgten Eindruck. »Ein zugeschnürter Kehlkopf weist manchmal auf gravierende Nierenprobleme hin.« Die Gelassenheit, mit der er auf die formidable Diagnose reagierte, ließ sie fortfahren: »Es würde keine Mühe machen, für Sie kurz den Passionsblumeninhalator zu holen.« Barnaby zog sich unwiderruflich in sich zurück.

So was kann er nun gerade überhaupt nicht ausstehen, konstatierte Troy. Dieser alte Teufel. Müßte einen Gang runterschalten.

Barnaby spürte Mays Enttäuschung. Traurig schüttelte sie den Kopf, doch ihre opulente Selbstsicherheit nahm keinen Schaden. Es war nicht von der Hand zu weisen, daß sie zu den Menschen gehörte, die stets anderen helfen mußten. Er zweifelte nicht an der Echtheit ihrer Freundlichkeit, vermutete jedoch, daß sich ihre Anteilnahme dergestalt äußerte, daß sie das vorliegende Problem gemäß ihrer eigenen Prinzipien anpackte und sich in Wahrheit nicht bemühte, den Nöten des Hilfesuchenden gerecht zu werden.

»Dürften wir möglicherweise einen Blick in Mr. Carters Zimmer werfen?«

»Da gibt es nichts zu sehen. All seine Sachen sind weg.«

»Nichtsdesto trotz...«

»Ich möchte Ihnen einen Rat geben«, sagte sie und setzte sich in Bewegung, »der Ihnen helfen dürfte. Ziehen Sie ein Tausendschön mit der Wurzel heraus, an einem Freitag, an dem Vollmond ist, ansonsten funktioniert es nicht. Wickeln Sie die Pflanze in ein weißes Tuch, es muß aus Leinen sein, und tragen Sie sie auf der Haut. Fortan können Kugeln Ihnen nichts anhaben.«

»Zu diesem Zweck gibt die Polizei Westen aus, Miss Cuttle.«

»Sieh an, sieh an. Taugen die was?« Auf einmal war sie richtig interessiert. »Tragen Sie jetzt auch eine kugelsichere Weste? Dürfte ich eventuell einen Blick darauf werfen?«

Mays Augen funkelten, ihre Bernsteinohrringe ebenfalls. Überraschenderweise mußte sie feststellen, wie ungemein aufregend es war, an einer polizeilichen Ermittlung beteiligt zu sein. Sie fragte sich, ob auf Windhorse, wo es weder Fernsehen, Radio noch Druckerzeugnisse profaner Natur gab, nicht nur alle negativen Schwingungen ausgemerzt wurden, sondern darüber hinaus eine ganze Palette lebendiger Farben. Ich sollte öfter ausgehen, dachte sie, und schämte sich auf der Stelle für ihren Mangel an Loyalität.

»Würden Sie sagen, daß ich Ihnen >bei Ihrer Untersuchung behilflich< bin, Inspector?« Sie blieb vor dem Zimmer neben ihrem stehen. »Ich habe mich des öfteren gefragt, was mit diesen Worten gemeint ist.«

Kaum hatte sie dies gesagt, öffneten die Herren die Tür, bedankten sich kurz und knallten ihr die Tür vor der Nase zu.

Barnaby und Troy schauten sich um. Das Zimmer war so ordentlich wie eine Seemannskajüte. Ein Minimum an Möbeln. Zwei helle Eichenstühle mit hohen, geraden Lehnen, ein schmales Bett, ein Kartentisch, ein Schrank mit einer leeren Schuhschachtel (das Etikett kündete von eleganten italienischen Slippern) und eine Kommode mit mehreren Schubladen. An der gegenüberliegenden Wand war ein einfaches Holzbrett mit drei Haken angeschraubt worden. Die Bettdecke war aus weißem grobem Baumwollstoff gefertigt, wie man sie auf Eisenbettgestellen in Männerwohnheimen fand. Der Bettüberwurf war krankenhausmäßig umgeschlagen und straff über die Matratze gespannt. Die strenge Zurückhaltung paßte gut zum restlichen Raum, in dessen puritanischer Schlichtheit eine Falte extrem wollüstig gewirkt hätte. An einer der Wände hing ein Poster mit folgendem Ausspruch: Gott ist ein Kreis, Dessen Zentrum überall und dessen Grenzen nirgendwo sind.

Troy kontrollierte die Schubladen. Leer. Barnaby ließ seinen Blick schweifen und wunderte sich über den augenfälligen Beweis, daß es eine direkte Verbindung zwischen physischer Unbequemlichkeit und spiritueller Verwirklichung gab. Er dachte an Bettelmönche in Büßerhemden, an Selbstgeißelung, an Yogis, die jahrelang in Höhlen zubrachten, an Märtyrer, die sich in die Flammen stürzten oder den gefräßigen Mäulern großer Raubkatzen auslieferten. Diese Form der Lebensführung kam dem Inspector sinnlos vor. Er liebte seine Bequemlichkeiten. Den vielbenutzten Sessel nach einem langen Tag, Musik, die aus offenstehenden Terrassentüren schallte. Er liebte es immer noch, mit Joyce ins Bett zu gehen. Oder an einem warmen Feuer zu sitzen und die klaren Konturen ihres Profils zu beobachten.

Dem Chief Inspector war es nicht gegeben, sich länger mit philosophischen Themen zu beschäftigen. Was nicht nur daran lag, daß es ihm an der nötigen Zeit mangelte, sondern auch dem Umstand zuzuschreiben war, daß derlei Gedanken in seinen Augen unerhört hochtrabend waren. Er gab sich Mühe, ein anständiges Leben zu führen. Er sorgte für Frau und Tochter, ging einer anständigen Arbeit nach und unterstützte ein halbes Dutzend karitativer Einrichtungen. Er hatte wenig Freunde, da er seine knapp bemessene Freizeit gern mit seiner Familie verbrachte, doch die Freunde, die er besaß, konnten sich in schwierigen Zeiten auf seine Unterstützung verlassen. Insgesamt hatte er es - seiner eigenen Einschätzung nach - nicht schlecht getroffen. Eigentlich sogar so gut, daß die Waagschale - sollte es so einen hinterlistigen metaphysischen Witz wie das Jüngste Gericht geben - in seine Richtung ausschlug.

»Nicht viel für ein ganzes Leben, nicht wahr, Sir?« Troy war an das Bücherregal getreten. Drei Holzbretter, die auf einer ‘ Reihe amethystfarbener Steine aufgeschichtet waren. Er kniete sich hin, um ein Buch aus dem untersten Regal hervorzuziehen. »Hier gibt es einen Schinken über Wölfe.« Er reichte es weiter. »Meine Biographie von R. R. Hood.« Er kicherte.

Barnaby wußte nie zu sagen, ob sein Sergeant sich tatsächlich für witzig hielt. Das Gegenteil anzunehmen war unhöflich. Er warf einen Blick auf den Buchrücken. Der Autor war ein gewisser Wolf Messing, der auf dem Umschlag als »wichtigster russischer Seelenheiler« ausgewiesen wurde. Barnaby machte sich daran, selbst ein Buch herauszuziehen. Deathing: Eine intelligente Alternative, den Tod bewußt zu erleben von Anya Foos-Graber. Aufgeheitert durch die Nachricht, daß es eine Alternative gab, tat es dem Inspector nur leid, daß es dem armen alten Jim nicht gelungen war, das Prinzip zu erfassen.

Entweder das, oder er hatte keine Zeit gehabt, seine Intelligenz ins Spiel zu bringen.

»Ist besser, wenn wir sie alle durchsehen - man weiß ja nie.« Die beiden Männer zogen einen Band nach dem anderen heraus und blätterten sie durch. In der irrigen Annahme, ausschließlich auf fernöstliche Themengebiete zu stoßen, überflog Barnaby angenehm überrascht die Titel. Sufismus, Buddhismus, Sagen, Mythen und Legenden über Druiden, Runensysteme, Rosenkreuzer, eine Jung-Fibel. Und es gab auch Bücher zu I Ging, zu UFOs, The Tao of Physics und das Arkana Dictionary of New Perspectives. Die meisten waren gebrauchte Taschenbuchausgaben. Der dickste Band hatte drei Pfund fünfundsiebzig, der billigste fünfundzwanzig Pence gekostet.

»Er muß doch auch persönliche Gegenstände besessen haben, Chief?« Troy blätterte das letzte Buch durch und stellte es vorsichtig zurück. »Die meisten Menschen besitzen zumindest eine Geburtsurkunde, ein paar Fotografien. Man kann nicht existieren, indem man nur die Klamotten, die man am Leib trägt, und ein paar Bücher sein eigen nennt.«

»Mönche schon.«

»Ähm... ja... Mönche.« Troys Tonfall verriet ein derart tiefes Unverständnis, als würden die beiden sich über Marsmenschen unterhalten. Barnaby nahm The Meaning of Happiness heraus. Wen würde das nicht interessieren?

»Eins hier ist von einem Yogi. Um ehrlich zu sein, von Yogi-Bär. Zehn aufregende Porridgegerichte.«

»Wenn Ihnen nichts anderes einfällt, als dumme Witze zu machen, können Sie gehen und Mrs. Gamelin verhören.«

»In Ordnung. Haben Sie eine Ahnung, wo sie steckt?«

»Sie verfügen doch über Sprechwerkzeug. Fragen Sie. Sie wissen, was wir erfahren möchten.«

Ich weiß, was ich will. Eine schöne lange, gutriechende Zigarette. Troy machte die Tür auf und stolperte beinah über May, die umgehend anbot, ihn zu Felicity zu bringen. Auf dem Weg dorthin warf sie ihm wiederholt ermutigende Blicke zu und blieb einmal sogar stehen, um vorzuschlagen, er dürfe sich sein Haar nicht so kurz schneiden lassen, weil Haare als Antenne für kosmische Kräfte fungierten.

»Der Siegertempel auf der Venus steht Ihrem Bewußtsein am siebzehnten dieses Monats offen. Sind Sie daran interessiert, an einer kleinen Heilungszeremonie teilzunehmen?«

Troys Verblüffung kannte keine Grenzen mehr. »Sie müssen sich dringend heilen lassen, wissen Sie? Sehr dringend.« Sein Schweigen als Unentschlossenheit auslegend, fuhr sie fort: »Hier behandeln wir den ganzen Menschen. Bei einem gewöhnlichen Arzt kriegen Sie einfach ein Medikament verschrieben. Werden Sie ins Krankenhaus eingeliefert, kümmern sich die Chirurgen ausschließlich um das betroffene Organ und nicht um den Menschen mit all seinen Facetten.«

Troy, der sein ganzes Erwachsenenleben damit zugebracht hatte, nach einer Frau mit solch ausgeprägtem Talent für uneigennützigen Eifer zu suchen, seufzte laut auf. »Ja... nun... bin augenblicklich sehr beschäftigt. Mit dem kleinen Baby und all dem...«

Troy auf der Galerie zurücklassend, betrat May Felicitys Zimmer, um gleich darauf wieder herauszukommen und zu sagen: »Sie ist wach, aber ihr Energiefeld ist immer noch sehr schwach, darum -«

»Wir werden schon zurechtkommen, Miss Cuttle.«

Troy erkannte Felicity kaum wieder. An einen Berg aufgeschüttelter Kissen gelehnt, saß Felicity im Bett. Ihr Haar war mit einem bunten Band zurückgebunden, und sie trug ein blaues Seidengewand. Für Troy war das Schönste an diesem Verhör, daß er die ganze Zeit rauchen konnte, ohne sie um Erlaubnis zu fragen. Dieser kleine Vorteil wurde allerdings von dem Umstand, daß sie ihn kaum wahrnahm, geschweige denn zu einer Aussage zu überreden war, beträchtlich geschmälert.

Im Grunde genommen kam sie ihm noch abgedrehter als gestern vor. Erinnerte sich kaum, wo sie auf dem Podest gesessen und wer neben ihr gewesen war. Troy fragte sich, inwieweit sie den Mord absichtlich ausblendete. Der Ehrlichkeit halber mußte er einräumen, daß es schon schrecklich genug war, sich in einem Zimmer aufzuhalten, in dem ein Mord begangen wurde, hatte man dazu auch noch nicht alle Tassen im Schrank...

Auf die Frage, was sie über den McFadden-Treuhandfonds und die damit in Zusammenhang stehende Schenkung dächte, regte sie sich ziemlich auf und behauptete, davon nichts gewußt zu haben. Er stellte die Vermutung an, daß ihr Mann sicherlich Bescheid gewußt hätte, woraufhin sie sagte: »Das will ich gern glauben.« Und: »Er würde alles in seiner Macht Stehende tun, um so etwas zu verhindern.«

»Das Erbe gehört Ihrer Tochter, Miss Gamelin. Gewiß liegt die Entscheidung bei ihr?«

»Wem das Geld gehört, macht keinen Unterschied.« Sie regte sich noch mehr auf, warf wild den Kopf hin und her. Troy entschied, sich aus dem Staub zu machen. Ehe er die Tür erreichte, begann sie, sich lautstark über die physische und psychische Verfassung ihres Gatten auszulassen. Vor lauter Bewunderung für ihre anschauliche Schilderung (das Netteste, was sie über ihn zu sagen hatte, war »froschgesichtiger, ehebrecherischer, habsüchtiger Mistkerl«) fiel ihm anfänglich gar nicht auf, daß sie von ihm in der Gegenwartsform sprach. Als Felicity sich keuchend gegen die Kissen fallen ließ, sagte er knapp: »Ich finde das nicht nett, Mrs. Gamelin. Schließlich ist er gerade erst gestorben.«

Felicity stieß einen lauten Schrei aus, fiel zur Seite und hing wie ohnmächtig über dem Bettrand. In diesem Moment kam May ins Zimmer gerauscht.

»Sie dummer Hund, Gavin«, schimpfte Barnaby auf der Rückfahrt zum Revier.

»Ähm, woher hätte ich das wissen sollen? Sie lag da wie der aufgewärmte Tod. Daher nahm ich an, jemand habe ihr längst die guten Neuigkeiten überbracht. Sir Sinjhan Furzheimer ist gegen zehn Uhr morgens dagewesen.« Verdrießlich blickte er zu Boden. »Ich kriege hier für alles mögliche die Schuld in die Schuhe geschoben.«

Wieder bin ich der Prügelknabe. Hätte Installateur werden sollen. Oder Streckenarbeiter wie mein Vater. Kaum ging er in Gedanken diese Alternativen durch, wußte Troy, daß das nicht sein Ernst war. Seit jeher hatte er Polizist werden wollen, liebte es, Polizist zu sein, würde niemals einen anderen Beruf ausüben. Was nichts daran änderte, daß es Zeiten gab, in denen ihm das ewige Genörgel, die Schreibarbeiten, das Herumschnüffeln, das doppelte Händeschütteln, die schwammige Einstellung der Außenseiter, die nie das Durcheinander ausräumen mußten, die politische Einmischung, die Notwendigkeit, die Klappe zu halten, falls man vorwärtskommen wollte, und all die anderen täglichen Irritationen gegen den Strich gingen und ihn zu überwältigen drohten.

Troys schmaler Mund und die roten Flecken auf seinen Wangen brachten Barnaby zu der Einsicht, wie unfair er gewesen war. Die Annahme, daß Felicity über den Tod ihres Mannes in Kenntnis gesetzt worden war, war nicht aus der Luft gegriffen, was nichts daran änderte, daß sein Sergeant die ganze Angelegenheit nicht besonders geschickt angefaßt hatte. Sein moderates Level an akademischer Bildung war für Troy ein wunder Punkt. Stempelte man ihn als dumm ab, stach man direkt in offene Wunden. Normalerweise vertrat der Chief Inspector die These, daß das Leben eben hart war, und hätte es dabei belassen, doch heute war er großmütig gestimmt.

»Dieser Fehler hätte jedem unterlaufen können, Sergeant.«

»Sir.«

Mehr brauchte es nicht. In Windeseile war Troys Selbstbewußtsein wieder in Topform. Schon fragte er sich, ob diese ungewohnte Nachsichtigkeit Ermunterung genug war, vorsichtig das Dauerthema Talisa Leanne anzuschneiden. Er murmelte ein paar Worte. Nur eine kleine Anspielung, nichts Besonderes. Auf Barnabys abwesendes Nicken hin begann er umgehend, sich über den Charme, die Schönheit, die ungewöhnliche Wachstumsrate (Größe, Zähne, Haare, Nägel), die Sprachentwicklung, ihren Teddybär (wie geschickt sie mit ihm umging) und die musikalische Begabung (kreatives Trommeln mit einem Kochtopfdeckel) des Babys auszulassen. Und über ( das letzte Gemälde, das mit einem Magneten an der Kühlschranktür befestigt und dem Pudel des Kindermädchens wie aus dem Gesicht geschnitten war.

Barnaby war es gewohnt, auf Durchzug zu schalten. Er dachte an Jim Carters kärglichen Raum. Ein Mann, der sich ernsthaft mit seinem Glauben auseinandersetzte, der freundlich zu seinen Mitmenschen war. Ihm ging das Fitzelchen Unterhaltung durch den Kopf, das May aufgeschnappt hatte.

»Was hast du getan? Falls sie beschließen, eine Obduktion vorzu-«

Eine Obduktion? Was sonst, zwei Tage nach einem unerklärlichen Todesfall? Fürchteten Craigie (vermutlich) und wenigstens eine andere Person so eine Vorgehensweise? Mittlerweile war auch Craigie tot. Standen die beiden Todesfälle miteinander in Beziehung?

In diesem Stadium waren Spekulationen fruchtlos. Pure Energieverschwendung. Darüber hinaus beeinträchtigten sie die Konzentration. Weiß Gott, dachte Barnaby, ich habe schon genug Probleme zu lösen. Die neue Information mußte erst mal hintangestellt werden und warten, bis die Zeit reif war.


Es dauerte nicht lange, bis die Zeit dann tatsächlich reif war. Gleich am nächsten Tag warfen weitergehende Auskünfte ein ganz neues und sehr beunruhigendes Licht auf Jim Carters Tod.


11

Frühstück chez Barnaby. Cully und Joyce teilten sich den Independent. Tom knabberte an einem sehr labbrigen, sehr rosafarbenen, sehr feuchten Etwas.

»Ich würde wünschen, du würdest den Speck richtig braten. Warum kriegen wir nie knusprigen?«

»Letztes Mal, als ich knusprigen Speck servierte, hast du behauptet, er sei verbrannt.«

»Er war verbrannt.«

»Wo wir gerade vom Essen sprechen«, Cully faltete ihren Zeitungsteil zusammen, legte ihn auf den Schoß und griff nach einem weiteren Brioche, »wie läuft es mit deinen Kochkünsten, Dad?«

»Diese Woche werde ich nicht hingehen können.«

»Ich meine den morgigen Abend, Dummerchen.« Sie bestrich ihr Brioche mit fast weißer Butter, trug Kirschmarmelade auf und begann wieder die Zeitung zu lesen, ohne seine Antwort abzuwarten.

»Den ersten Gang habe ich fertig, aber es wäre nicht unklug, für den zweiten Gang was bei Sainsbury zu besorgen.

»Sainsbury?«

Joyce mahnte: »Sprich nicht mit vollem Mund.«

»Wir reden hier über mein Verlobungsessen. Und über meinen Geburtstag.«

»Ich werde euch alle zum Essen einladen, wenn der Fall abgeschlossen ist.«

»Das ist nicht dasselbe.«

»Wie ich sehe, hat es dieser schreckliche Tycoon geschafft, auf die Titelseite zu gelangen.« Joyce schlug ihren Zeitungsteil auf. »Und weiter hinten wird es, wie ich vermute, eine Todesanzeige geben. Ich frage mich, was da geschrieben steht.«

»Glücklicherweise kamen keine menschlichen Wesen zu Schaden«, erwiderte ihr Gatte.

»Ist er so schlimm gewesen?«

»Wäre es unverfroren, auch um einen Zeitungsteil zu bitten?« Barnaby streckte die Hand aus, was ihm aber nicht weiterhalf. »Wieso kriege ich in diesem Haushalt niemals das, was ich möchte?«

»Wir lieben dich alle, Dad.«

»Mir wäre es aber lieber, man ließe mich einen Blick in die Zeitung werfen.« Barnaby fragte sich, wie lange es wohl dauerte, bis die Presse dahinterkam, wo sich der eben verstorbene Millionär nur wenige Stunden vor seinem Tod aufgehalten hatte. Nicht sehr lange, lautete seine Schlußfolgerung, und er hoffte, daß sich die Leute von Golden Windhorse darauf einstellten.

Cully kicherte wieder, und die Zeitung, von ihren zarten Fingern mit den grell pinkfarbenen Nägeln gehalten, erzitterte. Sie trug einen seidenen Herrenhausmantel und hatte das lange dunkle Haar mit ein paar Haarnadeln locker auf ihrem hübsch geformten Kopf festgesteckt. Eine Locke fiel ihr in die Stirn, die sie immer wieder mit beiläufiger Grazie aus dem Gesicht strich. Oder vielleicht doch nicht so ganz beiläufig? Man konnte nie sagen, wann die Tochter und wann die Schauspielerin zum Vorschein kam. Während Barnaby die schönen Wangen, die herrlich makellose Aprikosenhaut und die feinen goldenen Härchen auf ihren Unterarmen bewunderte, mußte er sich immer wieder bewußt machen, daß dieses Mädchen schon ziemlich viel erlebt hatte. Kaum sechzehn Jahre alt, hatte sie während ihrer Punkrockphase weiche Drogen eingepfiffen. In dieses Geheimnis hatte sie ihn erst eingeweiht, als die Phase schon vorüber war. Und jetzt saß sie hier am Frühstückstisch, fünf Jahre älter und weiß Gott wie viele Liebesbriefe später, und glich einer exquisiten, unberührten, gerade eben erblühten Rose. Ach, Jugend... Jugend...

»Was, um Himmels willen, ist denn los, Tom?«

»Hmm?«

»Hast du Verdauungsprobleme?«

»Nein, dank des Specks habe ich keine. Nun, wenn ich schon kein Stück Zeitung kriege«, sagte er und warf seiner Tochter einen verdrossenen Blick zu, »dann darf ich euch vielleicht wenigstens einen Witz erzählen?

Ein Mann, der sich einbildete, daß man ihn zu Unrecht verurteilt hatte, brach in die Räume des Richters ein und kochte seine Perücke in einem elektrischen Wasserkocher.«

»Das glaube ich nicht. Das glaube ich wirklich nicht.«

»Es ist wahr.«

»Zeig’s mir.« Es funktionierte beinahe. Die Zeitung wurde schon ein Stück weit rübergeschoben. Und dann in letzter Minute zurückgerissen.

Joyce lachte und fing an, Details aus ihrem Zeitungsteil vorzulesen: den Wetterbericht, ein Rezept, einen ausführlichen Bericht über jemanden, der einen Baum besetzte, um Wale zu retten.

»Wird dort oben nicht gerade viele Wale antreffen«, spottete Barnaby.

»Am Wochenenende gab es schon wieder eine Autobombe.« Raschel, raschel. »Das Opfer war jemand aus der UDR. Anscheinend will er nach Kanada auswandern.«

»Dann muß es ja eine ganz ordentliche Explosion gewesen sein.« Cully grinste ihren Vater an.

»Das ist nicht besonders witzig, Liebling.«

»Ist es dieser Mord in Compton Dando« - Joyce spähte über den Seitenrand -, »an dem du gerade arbeitest?«

»Ja.«

»Und wieso hast du das nicht erwähnt?«

»Das habe ich.«

»Du sagtest nur >draußen bei Iver Way<.«

»Was hat das -«

»Das ist mal wieder absolut typisch.« Joyce faltete die Zeitung zusammen und knallte sie auf den Tisch. Der Salzstreuer drohte umzufallen. Barnabys Hand schoß vor.

»Wag es ja nicht!« schimpfte seine Frau.

»Weißt du, was heute morgen in deine Mutter gefahren ist?«

Gully schaute aus dem Fenster und betrachtete den blühenden Jasmin. Wie üblich weigerte sie sich, Partei zu ergreifen oder sich einzumischen.

»Sprich nicht so, als ob ich nicht anwesend wäre, Tom. Das bringt mich auf die Palme.«

»Na gut. Was ist denn nun wieder ganz typisch für mich?«

»Du unterhältst dich nicht mit mir.«

»Mein Gott, Joyce - ich spreche nun schon seit zwanzig Jahren mit dir über meine Arbeit. Ich dachte, du würdest dich freuen, nichts mehr darüber zu hören.«

»Und - was noch schlimmer ist - du hörst nicht zu.« Barnaby stöhnte auf. »Ich wette, du erinnerst dich nicht mehr an Ann Cousins?«

»An wen?«

»Siehst du? Meine Freundin aus Compton Dando.«

»Ah.«

»Letztes Jahr, nach Alans Tod, veranstalteten die Leute von Manor House einen Workshop mit dem Titel >Neue Horizonte<. Sie meinte, daß ihr das helfen könnte. War eine große Enttäuschung, wie sich herausstellte. Nur Getue, keine Substanz. Wir sind zusammen hingegangen.«

»Was? Wieso hast du mir das nicht erzählt?«

»Ich habe es dir erzählt.« Joyce schmunzelte mit grimmiger Zufriedenheit. »Und zwar ganz ausführlich. Selbst wenn dein Körper daheim ist, ist dein Verstand in der Arbeit. Du interessierst dich nicht im geringsten für das, was ich tue.«

»Das ist aber ziemlich übertrieben und unfair. Ich habe mir dein letztes Bühnenbild angeschaut. Ich verpasse nie eine deiner Vorstellungen -«

»Die letzte hast du verpaßt.«

»Zwei Kinder sind entführt worden. Vielleicht erinnerst du dich nicht -«

»Poppy Levine heiratet.«

Cullys laute und klare Stimme schnitt durch die tiefer werdende Kluft ihrer Eltern, die sofort ihren Zwist beendeten in der Annahme, der gemeinsamen Tochter damit zu sehr zuzusetzen.

Cully, die sich einfach nur langweilte, fuhr fort: »In einem superkurzen Rock und Spitzenstrümpfen.«

»Ich komme zu spät.« Barnaby stand auf. »Über deinen Besuch unterhalten wir uns, wenn ich heimkomme.«

»Auf einmal schenkst du mir deine Aufmerksamkeit«, monierte Joyce säuerlich. Sie stand ebenfalls auf und trat hinter Cullys Stuhl, um den graugelockten Schopf zu neigen und mürrisch das Hochzeitsfoto zu studieren. »Sechs Ehemänner, und sie sieht immer noch wie einundzwanzig aus. Wie macht sie das nur?«

»Schenkt man den Gerüchten Glauben, hat sie ihre Epidermis dem Teufel verkauft. Sieh dir das mal an.« Cully tippte mit dem Fingernagel auf die Zeitung. »Es geht mir echt gegen den Strich, daß sie bei Frauen immer das Alter erwähnen. Poppy Levine, neununddreißig, heiratet den Kameramann Christopher Wainwright. Über sein Alter verlieren sie kein Wort - Dad!« Der Indy wurde ihr aus den Fingern gerissen. »Sei doch nicht so verdammt unhöflich!«

Barnaby überflog die entsprechende Seite und faltete sie zusammen.

»Auf der Rückseite ist ein Interview mit Nick Hytner... Dad...«

»Was ist denn?« fragte Joyce. »Hat es etwas mit deinem Fall zu tun?«

»Tut mir leid.« Barnaby schlüpfte in sein Jackett. »Dauert zu lange, das zu erklären.«

»Da haben wir’s mal wieder. Genau das meine ich.« Die Tür fiel ins Schloß. Joyce wandte sich an Cully und wiederholte: »Da haben wir’s mal wieder.«


Troy raste die A40 hinunter. Schnell, gelassen. Entspannt genoß er seine privilegierte Position. Sein Fahrgast trommelte auf die in blauen Jeansstoff gehüllten Knie. Zuvor hatte er mit einer Packung Polos aus dem Handschuhfach gespielt und hinterher an seinem Sicherheitsgurt rumgezerrt, bis Troy ihn angeherrscht hatte, dies zu unterlassen.

»Aber aus welchem Grund möchte er mich sehen?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen, Sir.«

»Ich bin mir sicher, Sie könnten es mir sagen, wenn Sie Lust dazu hätten.«

Troy ließ sich nicht provozieren. Und er war auch nicht so dumm, sich anmerken zu lassen, wie sehr er es genoß, wenn ein Mitglied der großartigen britischen Öffentlichkeit ihm hilflos ausgeliefert war. Schwitzte, flehte. Ganz besonders freute ihn, daß es Wainwright war, den er von Anfang an für einen hinterfotzigen Mistkerl gehalten hatte. Ihn jetzt ein bißchen schmoren zu lassen, kam dem Sergeant gerade recht.

»Ich nehme mal an, es geht um den Mord?«

»Wahrscheinlich, Mr. Wainwright.« Troy schloß den Mund, um ein Lächeln zu unterdrücken. Es gefiel ihm sehr, »Mr. Wainwright« zu sagen. Den Kerl zum Narren zu halten. Die ganze Sache machte ihm solchen Spaß, daß er es wieder sagte, als er die Uxbridge-Ausfahrt runterfuhr.

»Bald sind wir da, Mr. Wainwright. Dauert höchstens noch fünf Minuten.«

Barnaby saß an seinem Schreibtisch und las erneut die Aussagen durch, als ein blauer Orion an seinem Fenster vorbeiflitzte und eine atemberaubende Kurve beschrieb, ehe er dicht vor der Revierwand abbremste und zum Stehen kam.

Der Chief Inspector bestellte drei Tassen Kaffee, die zusammen mit Sergeant Troy und dessen Begleiter kamen, der sich setzte, blasser als gewöhnlich wirkte und davon überzeugt war, daß er ganz knapp einem Sturz durch die Windschutzscheibe entkommen war.

»Aus welchem Grund möchten Sie mich sprechen?« Christopher nahm den Kaffee entgegen, trank ihn schnell aus und sagte dann: »Stört es Sie, wenn ich rauche? Auf Windhorse sind Zigaretten ziemlich verpönt.«

Zu Troys Kummer (das Nicht-Rauchen-Schild war deutlich genug) gab Barnaby Wainwright die Erlaubnis, sich eine Zigarette anzuzünden. Wenn ich das täte, murrte der Sergeant stumm, bekäme ich was zu hören. Könnte mir bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag Vorwürfe anhören. Christopher holte eine Schachtel Gitanes heraus und bot den Beamten Zigaretten an. Beide Männer schlugen das Angebot aus, Troy allerdings schweren Herzens. Die Zigarette wurde angezündet. Wainwright nahm einen Zug und wiederholte seine Frage.

»Ich nehme an, Sie haben die Zeitung von heute noch nicht zu Gesicht bekommen?«

»Ist nicht gestattet. Zuviel externe Stimuli, die die Reise auf eine höhere Bewußtseinsebene erschweren.«

Barnaby hätte schwören können, einen Hauch Sarkasmus herauszuhören. »Poppy Levine hat gestern geheiratet.«

»Schon wieder?« staunte Christopher. »Nun, es ist freundlich, daß Sie mich darüber informieren, aber ein einfaches Telefonat hätte auch genügt.«

»Das ist schon ein ungewöhnlicher Zufall.« Barnaby faltete den Independent auf. »Der Bräutigam ist ein Fernsehkameramann.« Er schob die Zeitung rüber.

»Warum auch nicht? Wir sind keine vom Aussterben bedrohte Spezies.« Er warf einen Blick auf das Gedruckte. »Was für ein scheußliches -« Er hielt den Atem an. Barnaby schnappte sich die Zeitung, ehe eine Kaffeetasse umkippte. Es dauerte eine Weile, bis Christopher sagte: »Scheiße.«

»Das stimmt.« Barnaby begann vorzulesen: »Der Bräutigam, der sich bei der Brautmutter in Stowe aufhielt, ist erst vor kurzem von Dreharbeiten in Afghanistan zurückgekehrt. Nach einer heftigen Romanze und der Trauung in der Chelsea Town Hall begab sich das glückliche Paar in das Haus der Braut in Onslow Gardens. Nächsten Monat treten sie etwas verspätet ihre Flitterwochen in Santa Cruz an. Also...«, er warf die Zeitung in den Mülleimer, »das sagt uns alles über Christopher Wainwright. Was wir nun natürlich gern wissen würden, ist, wer, verdammt noch mal, sind Sie?«

Der Barnaby gegenübersitzende Mann drückte seine Zigarette in der Untertasse aus, griff in die Tasche seines Baum-woll-Madras-Jacketts und klopfte eine neue Zigarette aus dem Päckchen. »Könnte ich eventuell noch etwas Kaffee haben?«

Verzögerungstaktik. Wird ihm nichts bringen. Troy ging ins Vorzimmer, wo Audrey gerade telefonierte. Die einzige andere anwesende Polizistin verhörte eine Nutte, die vorgab zu weinen, aber darauf wäre nicht mal ein Kleinkind reingefallen. Widerwillig besorgte er selbst den Kaffee. Bei der Erledigung dieser kurzen und extrem einfachen Aufgabe gelang es ihm, sich extrem gönnerhaft zu geben, was in keinem Verhältnis zu der Anforderung stand. Bei seiner Rückkehr stierte der Befragte über Barnabys Kopf hinweg und drückte die zweite Zigarette aus. Der Chief hatte ein aufgeschlagenes Notizbuch vor sich liegen und hielt einen Kugelschreiber in der Hand. Wainwright nahm den Kaffee entgegen, trank einen Schluck, rührte ihn um. Barnaby wartete, bis die Tasse leer war, ehe er sagte: »Beantworten Sie nun bitte die Frage.«

»Das ist einfach Pech.« Mit dem Kinn deutete er auf den Independent. »Er hat sie gerade kennengelernt, als wir miteinander zum Mittagessen gegangen sind. War echt überwältigt von ihr. Quasselte die ganze Zeit über sie.«

»Dieses Mittagessen fand, wie ich annehme, statt, bevor Sie nach Manor House zogen?«

»Kurz davor. Ich lief Chris in der Jermyn Street über den Weg. Er hatte gerade ein paar Hemden bei Herbie Frogg’s gekauft. Ich war auf dem Weg zu einem billigen Laden, um ein paar Würstchen zu kaufen, was Ihnen eine Vorstellung von der fast zu vernachlässigenden Diskrepanz unserer Einkommen geben dürfte. Es stimmt, daß er und ich früher die gleiche Schule besucht haben. Und er war ein mieses kleines Arschloch. Mischte sich immer in die Gespräche anderer ein, in deren Jobs, zwängte sich in deren Betten.«

»Bleiben Sie beim Thema.« Barnaby fiel es leicht, zorniger zu klingen, als er war. Eine durchaus nützliche Begabung. Der falsche Christopher Wainwright fuhr fort:

»Wir gingen zusammen auf einen Drink ins Cavendish, und dann schlug er vor, zusammen bei Simpson’s zu Mittag zu essen. Beim Essen berichtete er mir ausführlich von seinem rasanten Aufstieg in der BBC und von diesem Trip >zum Dach der Welt<, wie er es nannte, obgleich ich immer der Meinung war, damit wäre Tibet gemeint. Irgendwann begann er über Poppy zu plaudern. Ich hatte keine Chance, auch etwas zu sagen, darum schaltete ich einfach auf Durchzug und konzentrierte mich auf die köstlichen Proteine. Zum Nachtisch bestellten wir Trifle, und als die Rechnung kam, holte er sein Jackett - wir belegten eine der Nischen an der Wand - und konnte seine Brieftasche nicht finden. Behauptete, sie beim Hemdenmacher vergessen zu haben. Da saß ich nun mit einer Rechnung über achtundvierzig Pfund. Ich war stinksauer, weil ich gerade blank war. Vor allem aber, weil ich sicher war, daß er sie nicht verloren hatte. Der ist schon in der Schule knickrig gewesen. Hat alles weggeschlossen - sogar seinen Waschlappen.«

Barnaby beugte sich vor, ohne die Ellbogen vom Tisch zu nehmen. Wie schlecht die Luft in seinem Büro war, registrierte er kaum. Mit der linken Hand machte er eine ermunternde Bewegung und lud »Christopher« zum Weiterreden ein.

»Ich mußte dem Golden Windhorse unbedingt einen Besuch abstatten. Um mich im Haus umzusehen, die Leute kennenzulernen. Ihre Zimmer zu durchsuchen und ihre Habseligkeiten, falls nötig. Unter meinem eigenen Namen wäre mir das " nicht möglich gewesen.«

»Und wie lautet der?«

»Andrew Carter.«

Troy warf seinem Chef einen Blick zu und beobachtete, wie dieser den Namen aufnahm, sich zurücklehnte und entspannte. Als wäre nun der Punkt erreicht, wo es keine Umkehr gab, wo die Geschichte ohne sein Zutun ihren Lauf nahm.

»Jim Carter war mein Onkel. Ich weiß nicht, ob der Name Ihnen was sagt.«

»Er ist mir bekannt, ja.«

»Ich glaube, daß er ermordet wurde. Aus diesem Grund halte ich mich auf Windhorse auf. Um rauszufinden, wieso. Und von wem.«

Barnaby sagte: »Schweres Geschütz.«

»Nicht, wenn Sie meine Beweggründe erfahren.« Er zog einen Umschlag hervor und eine Fotografie. »Mein bona fide, wenn’s recht ist.«

Er reichte das Foto weiter. Darauf abgebildet war ein lachender blonder Junge, vielleicht zehn oder elf Jahre alt, auf einem Esel. Ein Mann mittleren Alters, ebenfalls blond, hielt die Zügel. Der Junge blickte geradeaus. Der Mann, der vorsichtig und ängstlich wirkte, studierte die Miene des Jungen, als spende sie Sicherheit und Freude.

»Da besteht doch eine gewisse Ähnlichkeit.« Barnaby gab das Foto nicht zurück. »Wenn auch nur vage.«

»Haben Sie deshalb Ihr Haar gefärbt, Sir?« Troy stand nun hinter dem Schreibtisch und nahm das Foto in die Hand.

»Jesus, ist das so offensichtlich?« Nervös strich er über den dunklen Schopf. »Ja. Ich dachte, dann wären die Ähnlichkeiten weniger augenfällig. Er hat mich großgezogen - mein Onkel nachdem meine Eltern umgekommen sind. Er war unglaublich nett. Konnte es sich nicht leisten, mich weiterhin nach Stowe zu schicken, aber ansonsten bekam ich alles, was ich wollte. Selbstverständlich war mir nicht bewußt, wie sehr er seine eigenen Bedürfnisse zurückstellte. Kinder merken so was nie.« Er streckte die Hand nach dem Foto aus. »Ich war ziemlich vernarrt in ihn.«

»Ich würde davon gern eine Kopie machen, Mr. Carter.«

Andrew zögerte. »Das ist das einzige Bild, das ich besitze.«

»Sie werden es zurückkriegen, bevor Sie gehen.« Barnaby gab das Foto Troy, der damit abzog. »Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?«

»Ist schon eine Weile her. Unsere Beziehung war eng, doch wir sahen uns nicht sehr oft, nachdem ich ausgezogen war. Ich war achtzehn. Wir hatten eine Auseinandersetzung. Ich hatte eine Beziehung zu einer wesentlich älteren, verheirateten Frau. Das war das einzige Mal, daß wir einen echten Konflikt hatten. Er hielt mein Verhalten für unmoralisch. War ein wenig altmodisch. Er war richtig sauer. Seine Enttäuschung löste bei mir Schuldgefühle aus, und da lief ich weg. Der Streit dauerte keine fünf Minuten - und die Affäre auch nicht -, aber von da an wohnte ich nur noch kurzfristig bei ihm. Ich war ein bißchen so was wie ein Rumtreiber, fürchte ich. War gern unterwegs und arbeitete, wo und wann sich die Gelegenheit bot, manchmal sogar im Ausland. Ich half bei der Traubenernte in Italien und Frankreich, zog weiter, lebte dann auf einer Skihütte in den Alpen. Arbeitete bei einem Zirkus in Spanien - ausgerechnet als Löwenbändiger, aber das waren arme, zahnlose Tiere. Ging in die Staaten - konnte keine Arbeitserlaubnis kriegen. Habe mich dort eine Weile lang illegal aufgehalten und bin dann zurückgekommen. Verdingte mich eine Zeitlang auf der Golden Mile in Blackpool, auf dem Rummelplatz. Alles ziemlich pittoresk. Oder schäbig, je nachdem, wie alt man ist und wie tolerant.«

»Sie hielten immer Verbindung zu Ihrem Onkel?«

»Aber sicher doch. Ich schrieb regelmäßig. Und besuchte ihn immer zwischen zwei Einsätzen. Er päppelte mich dann ein bißchen auf. Hielt mir niemals Vorträge, obwohl ihn meine Entwicklung vermutlich etwas enttäuscht hat. Akzeptierte mich als das, was ich bin. Als schwarzes Schaf.«

Diese letzten Worte wurden so leise ausgesprochen, daß Barnaby sich anstrengen mußte, sie zu verstehen, doch Carters Miene sprach eine eindeutige Sprache. In seinen Augen loderte eine brodelnde Mischung aus Angst und Verzweiflung. Seine Kinnmuskeln verspannten sich in dem Bemühen, das Beben seiner Lippen zu besänftigen. Als Troy mit der Fotografie und neuem Kaffee zurückkehrte, gab Barnaby ihm mit einer herrischen Handbewegung zu verstehen, daß er warten sollte.

»Wann ist Ihr Onkel nach Windhorse gezogen?«

Carter atmete tief durch. Es dauerte einen Moment, bis er eine Antwort gab. Er vermittelte den Eindruck, sich mühsam zu wappnen für den nächsten Schritt, als konfrontiere ihn dieser mit der Quelle seines Elends.

»Er schrieb mir von seinem Eintritt in die Kommune, als ich in den Staaten war. Ich muß einräumen, daß ich nicht gerade überrascht war. Er ist nie verheiratet gewesen. Als Kind war ich darüber froh. Weil das bedeutete, daß ich ihn mit niemandem teilen mußte. Außerdem ist er schon immer ein wenig... ähm... einsiedlerisch gewesen. Zu bestimmten Tageszeiten bat er darum, in Ruhe gelassen zu werden, um einfach still dazusitzen. Ich nehme mal an, heute würde man das Meditieren nennen. Fast alle seine Bücher hatten einen religiösen oder philosophischen Inhalt. Bhagavad-Gita, Tagore, Pascal. Soweit ich weiß, beschäftigte er sich während meiner gesamten Kindheit mit diesen Themen. Die meisten stehen jetzt noch in seinem Zimmer auf Manor House. Hat mich echt fertiggemacht, als ich sie fand...«

Er brach ab, preßte die Knöchel seiner Hand an den Mund, als könne er damit unsichtbare Gefühlsregungen im Zaum halten. Als er die Hand wegnahm, waren seine Lippen blutleer. Diskret plazierte Troy die Fotografie auf dem Schreibtisch.

»Das geschah achtzehn Monate vor meiner Heimkehr nach England. Ich zog in ein Zimmer in Earl’s Court, übermittelte ihm schriftlich meine neue Adresse und Telefonnummer und benachrichtigte ihn, daß ich für ein verlängertes Wochenende zu Besuch kommen würde, sobald ich eine Arbeit gefunden habe. Es ging ihm nicht besonders gut. Er hatte Magenprobleme. Dann, ein paar Tage später, erhielt ich den Brief.« Er nahm wieder den Umschlag in die Hand und zog ein liniertes Blatt Papier heraus, das er Barnaby aushändigte. Darauf stand geschrieben: Andy, etwas Schreckliches ist passiert. Rufe dich morgen abend (Donnerstag) um acht Uhr aus dem Dorf an. Kann nicht vom Haus aus telefonieren. Sei bitte auf jeden Fall da. In Liebe, Jim. Der letzte Satz war dick unterstrichen.

»Danach habe ich nie wieder was von ihm gehört. Am Freitag blieb ich bis zum Mittagessen daheim. Schließlich habe ich in Manor House nachgefragt. Ich konnte es echt nicht fassen, als sie mir sagten, daß er gestorben sei. Meine ganze Familie war auf einen Schlag... tot. Stundenlang saß ich da und versuchte zu begreifen. Dann ging ich aus und habe mich furchtbar betrunken. Ob Sie es glauben oder nicht, erst am nächsten Tag ergaben die beiden Dinge - der Brief und sein Tod - einen Sinn für mich.«

»Möchten Sie damit andeuten, daß er umgebracht wurde, um zum Schweigen gebracht zu werden?«

»Ja, genau das möchte ich.«

»Ist das nicht ein bißchen melodramatisch, Mr. Carter? Sein Tod kann die unterschiedlichsten Ursachen gehabt haben. Möglicherweise ist er sehr krank gewesen.«

»Er war erst Ende Fünfzig. Um seine Gesundheit war es, mal abgesehen von den Magenproblemen, von denen ich gerade gesprochen habe, sehr gut bestellt. Man erzählte mir, es habe sich ein Unfall ereignet. Ein tragischer Unfalk« In diesen letzten Worten schwang grenzenlose Ablehnung mit. »Ich kriegte raus, wann die Anhörung stattfand und ging hin. Saß oben auf der Empore. Da dämmerte mir dann auch, daß ich mich nicht irrte.«

Inzwischen war Barnabys Kaffee kalt. Selbst Troy hatte vergessen, daß er eine halbvolle Tasse in der Hand hielt.

»Bis zu jenem Zeitpunkt machte ich mir große Sorgen, weil ich nichts Definitives in Händen hatte. Aber als ich den Autopsiebericht vernahm, wußte ich Bescheid.« Er beugte sich vor, hielt sich an Barnabys Tischrand fest. »Der Arzt behauptete, Jim habe getrunken. Daß er nach Whisky gerochen habe, daß etwas davon auf sein Revers getropft sei. Das ist kompletter Unsinn. In seinem ersten Brief hatte er mir geschrieben, daß der Doktor ihm Tabletten gegen eine Mageninfektion verschrieben und ihm deutlich zu verstehen gegeben habe, daß er nicht trinken dürfte, da Alkohol unerfreuliche, wenn nicht gar gefährliche Nebenwirkungen auslösen würde. Die Warnung war überflüssig, weil mein Onkel sowieso nicht trank.«

Barnaby wartete kurz, ehe er sagte: »Dann glauben Sie also, daß jemand, der das gewußt hatte, ihn gezwungen hat, etwas zu trinken? Und ihn auf diese Weise getötet hat?«

»Nein, das hätte doch ein gewisses Risiko dargestellt. Nein, ich denke, daß sie ihn umgebracht und ihm dann Alkohol eingeflößt haben, damit es so aussah, als sei er betrunken gestürzt.«

»Leichter gesagt als getan, Mr. Carter. Die Fähigkeit zu schlucken, endet - wie die meisten anderen Körperfunktionen - nach dem Tod. Eine Leiche - verzeihen Sie mir meine Direktheit - kann man nicht zum Schlucken zwingen.«

»Und trotzdem hätte man bei der Anhörung darauf eingehen müssen. Ich habe mich felsenfest darauf verlassen.« Carters Gemüt war erhitzt, er hob die Stimme. »Bislang dachte ich immer, das sei der Sinn und Zweck von Obduktionen.«

»Pathologen sind sehr beschäftigte Menschen. Vielleicht hatte er gerade viel zu tun. Eine Obduktion beginnt am Kopf...« Urplötzlich sah Barnaby vor seinem geistigen Auge all die Prozeduren, die eine Obduktion ausmachten, und fühlte sich kurzzeitig unwohl, »...dann hat er einen Blick auf das Genick geworfen und gesehen, daß es gebrochen war, und an diesem Punkt aufgehört.«

»Aber... analysiert man nicht den Mageninhalt? Gehört das nicht dazu?«

»Nur für den Fall, daß die Umstände verdächtig sind. Dieser Tod schien offenbar eindeutig zu sein. Es ist schade«, sagte er, faltete den Brief zusammen und legte ihn unter einen Briefbeschwerer, »daß Sie die Polizei nicht sofort über Ihre Zweifel in Kenntnis gesetzt haben.«

»Was hätte ich beweisen können? Der Leichnam war noch vor der Anhörung verbrannt worden - dafür haben sie schon gesorgt. Alle Beweise waren buchstäblich in Rauch aufgegangen. Und ich rechnete damit, daß die Leute auf Manor House den Mund halten würden, wenn ich die Polizei informierte und die sie verhörte. Die hätten dichtgemacht, und ich hätte nichts erreicht.«

»Haben Sie denn etwas erreicht?«

»Nein.« Seine Miene verdüsterte sich, wurde verschlossen. »Nicht die kleinste Kleinigkeit habe ich rausgefunden. Ich war sehr vorsichtig. Bin einen Monat lang dort gewesen, bevor ich Fragen stellte. Und dann auch ganz beiläufig. Ich erwähnte ihn nur mal so nebenbei. Glaubte, daß dies kein Aufsehen erregte - daß die anderen sogar damit rechneten. Sie wissen doch, wie neugierig Menschen nach einem unnatürlichen Tod werden. Ich rechnete damit, daß die anderen meine Fragen unter Neugier verbuchten. Fand aber nur heraus, wie er als Mensch gewesen war, was ich sowieso schon wußte.«

»Hatten Sie jemals das Gefühl, daß sich jemand nur widerwillig äußerte? Oder den Eindruck, daß sie etwas verbargen?«

»Nein, verflucht noch mal. Ab einem gewissen Punkt fragte ich mich, ob sie alle dahinterstecken.« Er bemerkte den fragenden Blick, die in Falten gelegte Stirn. »So was kommt gar nicht so selten vor.«

»Dessen bin ich mir bewußt.« Barnaby, der seinen Stift schon längst weggelegt hatte, schob ihn nun zusammen mit dem Block beiseite. »Sicherlich ist es unwahrscheinlich, daß keiner auf Manor House von den Medikamenten Ihres Onkels und den möglichen Nebenwirkungen wußte.«

»Da habe ich so meine Zweifel. Das Thema Alkohol wurde bestimmt nie angeschnitten. Die Kommune ist trocken, müssen Sie wissen.«

»Trocken}« Ganz unvermittelt kam dem Sergeant dieses Wort über die Lippen. Mit ernster Miene schaute Troy sich um, als befände sich eine vierte Partei im Raum, versteckte sich eventuell im Aktenschrank und besitze die Dreistigkeit, sich ungefragt zu äußern.

»Sie haben nicht zufälligerweise sein Zimmer durchsucht?«

»Woher wissen Sie das?« Er schien kurzzeitig beeindruckt zu sein.

»Man hat Sie gehört.«

»O Gott. Das ist dumm.«

»Haben Sie nach etwas Bestimmtem gesucht?«

Andrew errötete. Er schien sich nicht wohl in seiner Haut zu fühlen, und zum ersten Mal seit Beginn des Verhörs wirkte er unaufrichtig. Er zögerte kurz, zuckte mit den Achseln und drehte die Handflächen nach oben, als müsse er sich rechtfertigen. »Das wird so kurz nach dem Tod meines Onkels bestimmt hartherzig klingen, aber ja, ich suchte nach einem Testament. Vor seinem Umzug nach Windhorse hat er sein Haus verkauft. Nichts Großes. Ein Reihenhäuschen mit drei Schlafzimmern in einem Teil von Islington, der vor Jahren nicht gerade edel war. So was gibt es heute natürlich nicht mehr. Er bekam einhundertachtzigtausend Pfund dafür.« Troy stieß einen leisen Pfiff aus. »Ich ging zu seiner Bank, Barclays, wo er seit Jahren ein Konto hatte, doch die hatten kein Testament für ihn aufbewahrt und konnten mir nichts über seine Angelegenheiten sagen.«

»Vielleicht hat er es der Kommune vermacht?«

»So funktioniert das aber nicht. Man muß sich nicht einkaufen. Die Menschen kommen selbst für ihren finanziellen Unterhalt auf. Und außerdem hätte er das nie und nimmer getan. Er hätte mich nicht bei sich aufnehmen und großziehen müssen. Nachdem er sich dazu entschieden hatte, standen wir uns sehr, sehr nah. Ich war sein nächster Verwandter, und ich weiß, daß er mir das aus dem Verkauf des Hauses stammende Vermögen hinterlassen hätte. Auf alle Fälle eher mir als einer Horde Fremder.« Bei den letzten Worten hob sich seine Stimme erneut. Er legte eine Pause ein. Atmete tief durch und griff, um sich zu beruhigen, nach der dritten Zigarette.

»Wären Sie so freundlich, mir die letzte Adresse, die von EarPs Court, zu geben, Mr. Carter?«

Barnaby nahm wieder seinen Stift in die Hand.

»Barkworth Gardens 28. Leicht zu behalten, denn das entspricht meinem Alter.«

»Sie behaupten, Sie sind an jenem Morgen, an dem Ihr Onkel verstarb, bis mittags daheim geblieben. Waren Sie allein?«

»Teilweise ja. Gegen halb elf fragte Noeleen, eine Australierin, die nebenan wohnte, ob ich mit ihr Kaffee trinken möchte. Wir gingen dann in ihre Wohnung. Das Telefon befindet sich im Flur, und sie ließ die Tür offenstehen. Warum fragen Sie?«

Anstatt zu antworten, stellte Barnaby ihm noch eine Frage. »Was werden Sie nun tun, wo Ihre Tarnung aufgeflogen ist?«

»Wieso ist sie denn aufgeflogen?« Beide Männer warfen ihm erstaunte Blicke zu. »Im Haus gibt es weder einen Fernseher noch Radio.«

»Es steht in allen Boulevardzeitungen, Mr. Carter«, gab Troy zu bedenken. »Vielleicht wurde die Heirat auch plakatiert. Man muß keine Zeitung kaufen. Man muß nur irgendwo in der Nähe eines Verkaufsstandes sein.«

»Davon weiß ich nichts. Ich war heute morgen im Dorf, und mir ist nichts dergleichen aufgefallen. Wie auch immer - die Neuigkeit hält nur einen Tag vor, nicht wahr? Morgen ist alles Schnee von gestern. Ich denke, ich werde den Mund halten und die Daumen drücken.«

»Die Journalistenmeute wird jeden Augenblick über die Kommune herfallen«, prophezeite Barnaby. »Mit dem neuen Mord und Gamelins Tod. Es macht keinen Sinn, in deren Gegenwart zu behaupten, Sie seien Christopher Wainwright.«

»Mist. Ich denke, Sie haben recht. Dann hat Trixie das wahrscheinlich kommen sehen. Falls sie zurückkehrt -«

»Zurückkehrt? Was meinen Sie damit?«

»Sie ist davongelaufen.«

»Wie bitte?«

»Ist uns erst vor dem Mittagessen aufgefallen.«

»Und wieso, zum Teufel, haben Sie uns nicht darüber informiert?«

»Ach, das ist nichts Ernstes. Sie ist aus freien Stücken gegangen. Hat all ihre Sachen mitgenommen.«

»Es liegt nicht bei Ihnen zu entscheiden, was ernst ist und was nicht!« rief Barnaby entgeistert. »Sie alle sind angewiesen worden, den Ort nicht zu verlassen, ohne die Polizei davon in Kenntnis zu setzen.«

»Es ist ja nicht so, als hätte sie ihre Finger -«

»Sie ist Zeugin in einer Morduntersuchung, Mr. Carter. Und eine potentielle Verdächtige.«

»Eine Verdächtige... aber das ist doch... ich dachte...«

»Der Fall ist noch nicht abgeschlossen.« Er beobachtete, wie Wainwright diese Andeutungen aufnahm.

»Ich muß Suze da wegholen. Ihr die Wahrheit erzählen. Sie wird es begreifen. Warum ich mich als jemand anderer ausgeben mußte. Oder nicht?« Er klang unsicher. »Was die anderen von mir denken, ist mir schnurzegal.«

»Das ist eine närrische und unvorsichtige Haltung, Mr. Carter«, sagte der Chief Inspector. »Sollte etwas an Ihrem Verdacht in bezug auf den Tod Ihres Onkels dran sein - und ich sage Ihnen ganz ehrlich, daß es mich nicht überraschen würde, wenn dem so wäre -, dann hat jemand auf Manor House schon zwei Menschen auf dem Gewissen. Ich versichere Ihnen, daß es so jemandem nichts ausmachen wird, im Notfall noch einen dritten Mord zu begehen.«

»Aus welchem Grund sollte mich jemand umbringen wollen? Ich habe doch nichts rausgefunden.«

»Dann dürfte es klug sein, dies kundzutun. Und auch«, schloß Barnaby, »daß Sie auf sich aufpassen.«


In der Küche räumten die Beavers nach dem Mittagessen auf. Heather wusch und trocknete ab, Ken unternahm den Versuch, das Geschirr wegzuräumen, stellte sich aber umständlich an und stöhnte permanent.

»Wenn ich nur an das Sprossentimbale denke.« Sie klang ziemlich gereizt.

»Du hast es doch nicht weggeworfen?« Ken war außer sich. Essen wegzuwerfen war eine unverzeihliche Sünde. Alles, sogar der Staubsaugerbeutelinhalt, kam auf den Komposthaufen - der auf Windhorse einen nahezu ikonenähnlichen Status hatte. Voller Hingabe kümmerte man sich um ihn, harkte und schichtete ihn mit einer langen Mistgabel um. Mischte etwas Limone darunter. Arno mit seinen Gummistiefeln übernahm stampfend die Funktion eines sanften Kompressors. Würmer wurden besonders geschätzt, und einige dieser glitschigen Wesen, die ganz bescheiden ihr Tagwerk verrichteten, mußten entsetzt feststellen, daß sie aus terra firma gerissen und durch die Luft geschleudert wurden, um auf einem Haufen verrottender Eierschalen zu landen, ob ihnen das nun gefiel oder nicht.

»Sei nicht dumm«, erwiderte Heather. »Wir können es zum Abendessen aufwärmen.« Sie goß das Abwaschwasser in den Ausguß. Auch Spülwasser wurde nicht einfach weggeschüttet. Das ganze Abwasser (bis auf das aus der Toilette) wurde durch eine aufwendige Rohrkonstruktion in den Kräutergarten geleitet, der undankbarerweise nicht in dem Maß aufblühte, wie sie sich das vorgestellt hatten. »Oh, sei vorsichtig. Hier - laß mich...«

Ken drohte umzufallen, als er sich auf die Zehenspitzen stellte, um die Teller wegzupacken. »Tut mir leid... recht herzlichen Dank. Fällt mir heute nicht so leicht, meine Mitte zu finden.«

Während Heather den Ysoptee einschenkte, kam sie noch einmal auf das Thema zu sprechen, über das sie sich vergangene Nacht bis in die Morgenstunden unterhalten hatten. »Hast du weiter darüber nachgedacht«, erkundigte sie sich, »was wir tun werden, falls...«

Ken schüttelte den Kopf. Er trank etwas Tee und schürzte dabei die Oberlippe wie ein Hase, um den Schnauzbart nicht zu benetzen. »Heute wird sich was ergeben.«

Es bestand keine Notwendigkeit, weiter darauf einzugehen. Beide wußten, daß mit »was« ein Testament gemeint war.

Als dieses Thema in der Gruppe diskutiert worden war, hatten Heather und Ken sich relativ mißbilligend und weltfremd gegeben. Zu ihrer Meinung befragt, hatten sie einen Standpunkt vertreten, der ihrer selbstlosen und vorsichtigen Art widersprach. Doch später, ä deux, hatten sie einander eingestanden, daß Fakten Fakten waren, egal wie brüchig alles war. Mittlerweile war diese Unsicherheit nicht mehr aus ihrem Leben wegzudenken.

Sie waren auf Windhorse sehr zufrieden und hatten sich schnell daran gewöhnt, unter einem festen Dach zu schlafen, sich mit warmem Wasser zu waschen, sich in beheizten Räumen aufzuhalten. Keiner von ihnen verspürte das Bedürfnis, das Hippiedasein wiederaufzunehmen, das sie noch so lebhaft in Erinnerung hatten. Sie entsannen sich, wie sie in undichten Wohnwägen, in dreckigen Bussen durchs Land gezogen waren. Wie sie von der Polizei aufgespürt und von ihr oder hartherzigen Landbesitzern, für die die Worte »füreinander sorgen und miteinander teilen« keinerlei Bedeutung hatten, nicht gerade freundlich vertrieben worden waren. Müde waren sie von einem verrauchten Zelt ins nächste gezogen, hatten sich um kaum wärmende Lagerfeuer geschart, umgeben von hungrigen Hunden und weinenden Kindern. Sie hatten Eis für die Teezubereitung gehackt, Ladendiebstähle begangen - was Ken ganz besonders verhaßt gewesen war - und nächtliche Gewaltausbrüche ertragen, wenn die ortsansässigen Barbaren ihnen lautstark auf die Pelle rückten. Einmal war Heather von ohrenbetäubenden Motorradgeräuschen aufgeschreckt worden und hatte entdecken müssen, daß brennende Stoffetzen auf ihrem Kopfkissen lagen.

In jenen Tagen hatten sie beide noch nichts von der Vielzahl ihrer hellseherischen Fähigkeiten gewußt. Hier auf Manor House war Ken als Channeller als einer der fähigsten Köpfe, den die Welt je gesehen hatte, anerkannt, und Heather wurde als Venusreisende betrachtet, die von dort mit überragenden Heilkräften zurückgekehrt war.

Vor allem wegen ihrer Arbeit waren sie darauf bedacht, auch weiterhin auf Windhorse zu leben. Das Haus war ein Hafen, in den die Geplagten und spirituell Durstigen einlaufen konnten und Unterstützung fanden. Sollte sich herausstellen, daß dieses Anwesen einem Fremden, oder - schlimmer noch - der Regierung in die Hände fiel, wohin würden diese armen Seelen dann gehen? Und - wo sie schon darüber nachdachten - wohin sollten Heather und Ken gehen? Besitz war selbstverständlich Diebstahl, aber selbst wenn dem nicht so wäre, sie verfügten nicht über Ersparnisse, um ein Haus zu kaufen. Da sie kinderlos waren, hatten sie kein Anrecht auf eine Sozialwohnung. Ken hatte nicht nur ein kaputtes Bein, sondern litt auch noch unter zu geringer Spermadichte.

Selbst alltägliche Ausgaben konnten sich in Zukunft als problematisch erweisen. Das Sozialamt hatte sich bei ihrer ersten Antragstellung auf Unterstützung, die sie vor einem Jahr eingereicht hatten, als ungeheuer phantasielos erwiesen. Vergeblich hatte sich Heather darum bemüht, die Bedeutung ihrer Arbeit deutlich zu machen: ein liebevolles Lächeln hier in Ux-bridge wärmt ein Herz in Katmandu. Und schließlich sparte die staatliche Krankenkasse viele tausend Pfund im Jahr durch ihre Heilungen. Das Amt war in Kens Fall genauso kurzsichtig gewesen und hatte bei seinem Antrag auf eine Schwerbeschädigtenrente immer wieder auf konventionelle medizinische Gutachten wie Röntgenbilder gepocht.

»Soweit wird es noch kommen«, hatte Ken sich zur Wehr gesetzt, »daß ich meinen Körper einer solchen Maschine und ihren krebserregenden Strahlen aussetze.«

Heather hatte ihm den Rücken gestärkt und gerufen: »Warum schicken Sie ihn nicht einfach nach Tschernobyl? Dann haben Sie Ihre Ruhe?«

Die gute alte Heather. Als Ken langsam die Tassen zum Spülbecken brachte und sie ausspülte, betrachtete er sie. Sie trug ein billiges weißes Baumwollsackkleid, unter dessen Stoff sich ihr in schwarzen Höschen steckendes Hinterteil deutlich abzeichnete. Da sie den Kristall abgelegt hatte, wirkte ihre rosafarbene Stirn nackt, hoch und gewölbt und ließ sie unerhört intelligent erscheinen.

»Eigentlich interessiere ich mich ja nicht für derlei Dinge«, sagte Ken mit gesenkter Stimme, »das weißt du nur zu gut. Trotzdem frage ich mich, ob Suhami, jetzt wo der Meister weg ist, noch gewillt ist, ihr Geld der Lodge zu vermachen.«

»Ach, das hoffe ich!« rief Heather. »Selbst wenn es einem persönlich gelingt, sich nicht korrumpieren zu lassen, stellt unverdienter Reichtum immer noch die größte Barriere bei dem Bestreben dar, eine harmonische Seelenlage zu erlangen.«

»Richtig.« Ken streckte die Hand nach dem Brotkorb aus. »Ist noch Marmelade da?«

»Ich habe sie gerade weggeräumt.« Sie trat an den Schrank. »Du hättest eher was sagen können.«

»Tut mir leid. Möchtest du auch eine Scheibe?«

»Eigentlich sollte ich nichts mehr essen.« Ken schnitt eine weitere Scheibe ab. »Komisch, daß Trixie einfach so weggerannt ist, findest du nicht? Nachdem Gamelin gestorben war, habe ich mich gefragt... nun... ob sie etwas miteinander gehabt haben.«

»Sie kannten einander nicht.«

»Das behauptete sie hinterher, aber May sah die beiden zusammen an dem Nachmittag wegfahren, als er zum ersten Mal hier auftauchte. Bevor er einen von uns kennengelernt hat.«

»Wahrscheinlich nachdem er ein bißchen auf ihr rumgehopst ist.«

»Also wirklich, Ken!« Heather belegte ihr Brot mit einer Birnenscheibe und einer Stange Rhabarber. »Für einen sehr fähigen planetarischen Lichtarbeiter kannst du manchmal ganz schön vulgär sein.«

»Die menschliche Natur. Wer sind wir, daß wir richten dürfen?«

Das Telefon läutete. Es gab drei Apparate, einen im Büro, einen in der Küche und einen auf dem Tisch in der Halle. Heather reagierte nicht auf das Klingeln und sagte: »Wird irgend etwas Geschäftliches sein. May ist im Büro.«

Falls May wirklich im Büro war, weigerte sie sich, den Hörer abzunehmen. Nach einer Weile stand Heather seufzend auf. »Als ob ich nicht schon genug zu tun hätte«, beklagte sie sich.

Ken spitzte die Ohren. Die abgehackten, unzusammenhängenden Antworten seiner Frau erregten seine Neugierde.

»... aber sie ist nicht da. ... im Augenblick nicht... das kann ich wirklich nicht sagen... Oh, das denke ich nicht... Nein, nein - so ein Ort ist das hier nicht. Wir... Nun, um ehrlich zu sein, ich war anwesend... Heather Beavers. Autorin, Heilerin und Priesterin... Priesterin... Wie bitte... ja - das sind meine Qualifikationen... Herrje, das kann ich jetzt nicht sagen. Wir leben hier in einer Kommune, wissen Sie? Diskutieren miteinander über alles... Wirklich? Das ist aber bald... ach ja? Ich könnte fragen - hallo? Hallo?«

Sie schüttelte den Hörer, ehe sie auflegte, und wandte sich an Ken. Ihre Gesichtsmuskeln waren angespannt. Sie wollte sich nicht anmerken lassen, wie stark sie auf das Telefonat reagierte.

»Das war der Daily Pitch.«

»Erdverbundene Gotteslästerer.«

»O ja - natürlich. Sie wollten mit Miss Gamelin sprechen - mit Suhami. Ich sagte, sie sei nicht hier.«

»Recht so. Nur gut, daß ein fürsorglicher Mensch abgenommen hat.«

»Wir müssen sie schützen, Ken. Das ist lebenswichtig.«

»Die kristallenen Scharen herbeirufen.«

»Das Problem ist... après moi le déluge, Schätzchen.«

»Hä?«

»Genau das hat die Frau auch gesagt. Diese Journalistin. Es wird nicht lange dauern, dann sind wir umzingelt.«

»Handlanger der Tories.«

»Absolut.« Heather blickte sich in der leeren Küche um und sprach mit gesenkter Stimme weiter: »Die sind echt krank. Nachdem sie mich irgendwie dazu gebracht hat zuzugeben, daß ich hier war, als der Mord geschah, begann sie über ein Exklusivinterview zu reden. Fang an, die Nullen zu zählen, meine Liebe - so ein Zeugs gab die von sich.«

»Jesus.« Seine Stimme klang dünn.

»Ich weiß.« Heather faltete die Hände in dem vergeblichen Versuch, nicht zu erschaudern.

»Was für eine verabscheuungswürdige Truppe. Da fühlt man sich nie wieder rein... Was meinst du?«

»In diesem Fall stimme ich dir zu«, meinte Heather und musterte betroffen ihre ineinander verwobenen Finger. »Andererseits ... stimmt mich die Sache nachdenklich, Ken. Worum es uns hier geht, du weißt schon.« Sie deutete auf den selbstgebackenen Brotlaib, auf die zu fest eingekochte Marmelade. »Worum geht es uns?« Ihr Ehemann blickte auf und runzelte die Stirn. »Uns geht es darum, das Ego in den Hintergrund zu stellen, richtig? An andere denken, sie an erste Stelle zu setzen. Nun, jetzt haben wir die Chance, eine Schwester in Not zu schützen - wir könnten doch mit den Journalisten sprechen, das schwere Geschütz von ihr weg auf uns lenken, schließlich sind wir eher in der Lage, damit fertig zu werden.«

»Ohhh...« Mit lautem Gestöhne demonstrierte Ken seinen Widerwillen. »Tut mir leid, tut mir leid, tut mir leid. Du hast selbstverständlich recht. Die arme Suze. Wieder einmal ist es dir gelungen, Heath, den richtigen Weg aufzuzeigen.«

»Außerdem würde es unserem Karma sehr gut bekommen.«

Lachend schüttelte ihr Mann den Kopf. »Offenbar ist es doch möglich, von diesem Egotrip runterzukommen. Was meinst du... wie wäre es, nur um uns beiden den Rücken zu stärken, wenn ich bei Hilarion nachfragte?«

»Sie wird jeden Augenblick zurückrufen.«

»Dauert nicht länger als eine Minute.« Sofort setzte sich Ken kerzengerade hin, begann zu schielen, konzentrierte sich auf seine Nasenspitze und nahm Verbindung mit dem Intergalaktischen Weltverstand auf.


May war nicht ans Telefon gegangen, weil sie sich ins obere Stockwerk begeben hatte, um sich dort einer ihrer Ansicht nach aufwendigen und ganz wunderbaren Aufgabe zu widmen. Sie hatte sich vorgenommen, Felicity Gamelins Seele neu zu erwecken. May hatte ganz von vorn angefangen. Zuerst mußte die gute Frau körperlich wiederhergestellt werden.

Felicitys magere Hand streichelnd und sie ins Licht ziehend, ließ May ihre ganze Energie (die nach den letzten beiden Tagen nicht gerade in Topform war) in die blasse, reglose Figur fließen. Sie arbeitete allein, zumal Felicity keinen eigenen Willen mehr zu besitzen schien. Sie lag einfach nur da, den stieren Blick auf die Decke gerichtet, und sah aus, als würde sie zusammenschrumpfen und sterben.

Eine geschlagene halbe Stunde hatte May mit ihrer wohltönenden Stimme auf sie eingeredet, bis Felicity sich plötzlich umdrehte und sie mit ihren kalten, harten Augen, die in elfenbeinfarbenen Höhlen lagen, betrachtete.

»Ich haßte ihn.«

»Schhh.«

»Ich haßte ihn. Warum freue ich mich nun nicht?«

»Weil das nicht Ihrer wahren Natur entspricht.«

Das war May sofort aufgefallen. Die leicht ramponierte Aura war überraschenderweise im Gleichgewicht. Ziemlich viel Pink und Grün, sogar ein wenig Blau. Ganz anders als bei diesem jungen Polizisten, der nur so von roten Tupfern übersät war. Der arme Junge hatte noch einen weiten Weg vor sich. May legte die Hand auf Felicitys Stirn und stellte sich vor, wie göttliche Liebe durch ihren Arm floß, durch ihre Finger, in Felicitys Körper drang und ihn heilte, ihm Segen brachte.

»Danton nannte ihn den Krösus meiner mittleren Jahre.«

»Ist Danton dein Freund?«

»Nein.« Ihre Stimme klang hart. »Ganz gewiß kein Freund. Nur jemand, den ich früher einmal kannte.«

Diese wenigen Worte schienen sie zu erschöpfen. Sie murmelte noch etwas, bevor sie den Kopf wieder in eine andere Richtung drehte. Es klang wie »Chaos«.

»Unser Meister pflegte zu sagen, daß es in der Unordnung eine Ordnung gibt, und ich bin sicher, daß das stimmt. Ruhen Sie sich einfach aus, meine Liebe, liegen Sie still, und all der Schmutz, all das Unglück wird sich in Luft auflösen, und alles wird klar und strahlend werden. Sie sind vom Weg abgekommen, Felicity, doch wir werden ihn wieder für Sie finden.«

Felicity ließ sich auf die Kissen fallen. Ihre Hand lag in der von May. Sie spürte, wie sie peu ä peu lethargischer wurde. Dieses Gefühl behagte ihr. Ihre Gliedmaßen wurden so schwer, daß sie den Eindruck hatte, durch die Matratze zu fallen. Mays Stimme kam und ging, tief, rhythmisch, beruhigend wie die Gezeiten des Meeres. Felicity schlief ein.


Arno zog für den Beilagensalat Radieschen aus der Erde. Manchmal hielt er inne, um Christopher ermutigend zuzuwinken, der auf der anderen Seite des Gartens die Stangenbohnen befestigte. Die Radieschen waren kleine, schrumplige Dinger und hatten nicht mal entfernt Ähnlichkeit mit den glänzenden roten Kugeln auf dem Saattütchen. Eins war von winzigen Schuppen überzogen und gehörte eigentlich ins Feuer. Er bemühte sich, die anderen auf einem Holzteller, der extra dafür angeschafft worden war, auszulegen, aber egal wie er sie drehte, am Ende schaute immer die bemitleidenswerte Seite nach oben.

Um sich von all den traurigen Ereignissen abzulenken, hatte er versucht, ein neues Haiku zu komponieren, mit dem er wieder nicht zufrieden war. In dem Wissen, daß Perfektion unerreichbar war, erschien ihm dieses letzte (»Stürmisches Wesen, an der Brust deines Sklaven, ruhe in Frieden«) ganz besonders unpassend. Nicht einmal ihr Name kam darin vor.

Heute hatte er sie kaum zu Gesicht bekommen. Andererseits begriff er, daß Felicity mehr auf sie angewiesen war als er. Jeder konnte sehen, wie krank sie war. Doch auch Arno war es schwer ums Herz. Vor dem Zubettgehen und gleich nach dem Aufstehen hatte er gebetet, ohne auf Trost zu hoffen und schon gar nicht, um dem Herrn zu huldigen. Eigentlich betete er eher aus Gewohnheit und weil er es seiner Mutter versprochen hatte. Vergiß nie, hatte sie ihm eingebleut, daß Jesus dich liebt. Persönlich hatte er das nie so empfunden, und selbst wenn dem so gewesen wäre, hätte er wenig Trost daraus gezogen, denn wer wollte schon von jemandem geliebt werden, der jeden liebte? Und dann auch nur, weil es seine Aufgabe war.

Diese Gedankenkette ließ ihn wieder an den Tod des Meisters denken, den er kurzzeitig verdrängt hatte. Wie schrecklich das gewesen war. Und wie sehr sich alle innerhalb dieser kurzen Zeit verändert hatten. In Worte faßte das niemand. Keiner blickte dem anderen ins Gesicht und sagte: »Du hast dich ziemlich verändert.« Aber das hatten sie. Wie, das konnte Arno nicht genau beschreiben. Die Mitglieder der Kommune kamen ihm jetzt kleiner vor... geschrumpft. Ihre Menschlichkeit erschien diffuser, ihre Güte war weniger greifbar, ihre Vitalität schwand. Vielleicht sagte das Gedicht dies aus. »Der Tod eines jeden...«

Arno zwickte sich. Sein Zen-Bewußtsein schien in den letzten achtundvierzig Stunden stark nachgelassen zu haben. Er lebte nicht den Augenblick, sondern in der jüngeren, furchtein-flößenden Vergangenheit. Das Bild seines sterbenden Meisters war in seine Netzhaut eingebrannt. Das konstante Kommen und Gehen der Polizei versetzte ihn in Unruhe. Gestern hatten sie das Haus durchsucht. Heute waren sie wieder aufgetaucht und hatten alle möglichen Geschirrhandtücher mitgenommen. Vor allem Tims Wohlergehen bereitete ihm große Sorgen. Wenn der Junge sich ängstigte, wer wußte da schon, was er sagte? Jener Chief Inspector hatte ihn überraschenderweise nur kurz und vorsichtig vernommen, aber er gehörte garantiert nicht zu der Sorte, die einen zweiten Versuch scheute.

Nicht zum ersten Mal erhaschte Arno einen Blick auf Heather. Innerhalb der letzten Stunde war sie wenigstens dreimal die Zufahrt auf und ab gelaufen. Zuerst meinte Arno, das sei Teil ihrer täglichen körperlichen Ertüchtigung, bis ihm auffiel, wie sie auf die Straße trat und die High Street rauf- und runterblickte. Eine Entwicklung im Mordfall. Wenn dem so war, dann war es seine Pflicht, sich wieder ins Haus zu begeben. Dazu hatte er allerdings nicht die geringste Lust. Hier draußen in der Sonne wirkten die Dinge etwas weniger bedrohlich. Davon ausgehend, daß man ihn schon rief, falls er gebraucht wurde, widmete sich Arno wieder seinem Gemüse und verpaßte die Ankunft des Wagens, der mit quietschenden Reifen durch das Manor-House-Tor fuhr.

Gefaßt erwarteten Ken und Heather die Ankunft des Daily Pitch. Sie rechneten auch mit Fotografen, und als Vertreter des Golden Windhorse sahen sie es als ihre Aufgabe an, sich um sie zu kümmern.

Glücklicherweise hatte Hilarion ihr Projekt abgesegnet. Der große Chohan hatte sie nicht nur eindeutig unterstützt, sondern großzügigerweise auch Erklärungen geliefert. Auf der anderen Zeite mußte Zadekiel wissen, daß das Wort »Geld« fest im pinkfarbenen, atomischen Zellularlicht manifester Neutralität eingebettet war. Einfach ausgedrückt, Geld konnte einem guten oder schlechten Zweck dienen. Fraglos durfte man darauf vertrauen, daß er und Tethys als panirdische und kosmische Wesen diese spezielle Verpflichtung kreativ bewältigten.

Nachdem dieses Detail erst mal aus dem Weg geräumt war, hatten die Beavers die Lage unter Einbeziehung der potentiellen Standpunkte ihrer Mitbewohner ausführlich durchgesprochen. Am Ende waren sie mit Bedauern zu dem Ergebnis gelangt, daß ihre Bereitschaft, sich den Reportern zu stellen, wenn auch nur, um die anderen zu schonen, von ihren Mitbewohnern falsch interpretiert werden könnte. Nachdem ihnen das klar war, ergab sich der nächste Schritt (von der Tugend zum Pragmatismus) wie von selbst. Sie beschlossen, ihr Opfer zugunsten von Suhami geheimzuhalten. Stand nicht in der Bibel geschrieben, daß die linke Hand nicht weiß, was die rechte tut? Eine neue Auslegung dieses Zitats brachte Ken und Heather auf die Idee, daß es klüger war, sich irgendwo anders ein Stelldichein mit dem Teufel zu geben.

So kam es. daß Heather sich an die alte Backsteinwand lehnte, die in der Nachmittagsonne wie frischgebrannte Erde aussah. Stirnrunzelnd drehte sie den Kopf nach rechts, in die Richtung, aus der ein aus London kommender Wagen nahen mußte. Aber der Citroen CV, auf dessen Windschutzscheibe ein PRESSE-Schild klebte, kam von links durch das Tor gerauscht und war schon halb die Auffahrt hochgerollt, ehe sie begriff, was Sache war.

Heftig gestikulierend rannte Heather los. Schnell und unbeholfen, in gegen die Fußsohlen und auf den Kies klatschenden Latschen, verfluchte sie ihre mangelnde Aufmerksamkeit.

Das Auto war schon geparkt, und zwei Personen stiegen aus. Falls sie klingelten... Eine stand auf der Veranda, die andere spähte mit beschatteten Augen durch ein geschlossenes Fenster. Artemis, die Flinke, um Hilfe bittend, lief Heather keuchend weiter.

Die weibliche Hälfte des Duos beobachtete ihr Näherkommen und bemühte sich redlich, bei diesem Anblick nicht in schallendes Gelächter auszubrechen. Fälschlicherweise zu Limonengrün überredet (Ken behauptete, das passe hervorragend zu ihren Augen), hatte Heather ihr Haar aufgesteckt, um ihren Nacken zu betonen. Darüber hinaus hatte sie Augenlider und Brauen angemalt, um die hierophante Natur ihrer Berufung zu unterstreichen. Sie trug einen nuklearen Rezeptor. Die Pyramide hüpfte beim Rennen auf ihrem stattlichen Busen auf und ab.

»Terry... hey...« Die junge Frau trug ein Jeanskostüm mit sehr kurzem Rock, cremefarbene Strumpfhosen und spitze, hochhackige Schuhe. Sie hatte eine schwarze Lackledertasche von der Größe eines Aktenkoffers dabei. »Mach davon ein paar Fotos.«

»Großer Gott«, entfuhr es Terry. (Kurzärmliges Karohemd, Jeans und Turnschuhe.) »Die Weight-Watchers-Katastrophe des Jahres.« Die Pentax glitt in seine Hände. Er machte eine Aufnahme nach der anderen, während Heather mit den Armen über dem Kopf wedelte. Die beiden Pressemenschen standen wartend nebeneinander.

»Tag. Sind Sie Mrs. Beavers?« Sie beugte sich auf ihren hohen Absätzen ein wenig vor. »Heather?«

Mit einem Nicken lehnte sich Heather an das Verandageländer. Ihre Hochsteckfrisur war dahin, ihre Wangen glühten blutrot. Terry machte noch ein paar Schnappschüsse. Eines der Fotos, aus einem wahrscheinlich grausamen Winkel aufgenommen, ließ sie wie ein Walroß aussehen.

Er sagte: »Klasse, Darling. Gehört dir, nicht wahr?« und zog ab, ohne eine Antwort abzuwarten, setzte Schritt um Schritt zurück und knipste unaufhörlich.

»Ich bin Ave Rokeby.«

Sie hat eine recht nette Stimme, fand Heather. Warm, freundlich und interessiert. Mit einer Spur Humor. Ganz und gar nicht wie der durchschnittliche aggressive Reporter. Nun streckte sie die Hand aus. Die wiederum war gar nicht nett. Lange, knochige Finger mit roten Nägeln, die an Vogelkrallen erinnerten. Oder an eine Hexe. Gerade als Heather sie schütteln wollte, bemerkte sie, daß sie eine auf der Straße aufgelesene Kartoffelchipstüte in der Hand hielt. Beide Frauen lachten, während Heather die Tüte in die andere Hand nahm.

»Ist schon ein kleines Problem...«, sagte Heather, nachdem sie Luft geschöpft hatte. »Vandalismus.«

(Vandalismus? Eine Kartoffelchipstüte?)

»Compton Dando ist eine spirituelle Wüste. Niemand ist sich wirklich seiner Seele bewußt.«

(Und was gibt es sonst noch Neues?)

»Natürlich treten wir zur interplanetarischen Reinigung mit Außerirdischen in Verbindung...«

(Sie tun was?)

»Hilarion prophezeit, daß die Erde so lange dieselbe tödliche Tagesordnung beibehält, bis wir unsere egoistische Natur ablegen.«

»Hilarion? Ist das Ihr Mann?«

»Oh... oh.« Heather kicherte, bis ihr Fleisch bebte. »Hilarion ist seit mehreren hundert Jahren tot.«

(Jesus.)

»Aber Sie sprechen noch mit ihm?«

»Ken spricht mit ihm. Er ist ein Klarhörender. Ein Channeller für die Großen. Er hat alle Shakespeare-Theaterstücke geschrieben, müssen Sie wissen.«

(Habe ich im Büro eine Telefonnummer hinterlassen?)

Ave stützte sich auf die Veranda und holte einen Kassettenrecorder und ein Mikrophon aus ihrer Tasche, das wie ein großer grauer Schwamm aussah. »Ich würde gern etwas über den Hintergrund erfahren. Wenn Sie mir kurz erzählen würden, wie viele Menschen hier wohnen, woran Sie so glauben. Beispielsweise an UFOs oder derlei Dinge.«

Kaum hatte Heather begonnen, über die multistellare Herrlichkeit der bevorstehenden Venuserkundung zu plaudern, da fragte Ave sie schon, was Guy Gamelin hierhergebracht hatte und ob sie den Lesern des Pitch etwas über die Gewohnheiten des Ermordeten berichten konnte.

»Leben hier zum Beispiel eine Menge junger Mädchen?« Heathers Blick verriet Entsetzen. »Dann vielleicht Jungs?« Noch mehr Entsetzen. Das Mikrophon wurde wieder in die Handtasche verfrachtet. »Na gut, die Einzelheiten füge ich später ein.« Ave erhob sich und öffnete die Eingangstür. »Ja, wir sind hier auf dem Land. Wenn man in London seine Wohnungstür nur zwei Minuten offenstehen läßt, wird man ausgeraubt. Terry...« Ihre Stimme wurde lauter. »Wir gehen rein.«

»Gut.«

»Würden Sie bitte... falls es Ihnen nichts ausmacht... nicht so brüllen...«

Heathers Herz, das gerade wieder im normalen Rhythmus schlug, machte einen Satz. Sie fragte sich, wo Ken abgeblieben war, und schaute sich nervös um. Das vage Wissen um die Wahrscheinlichkeitsrechnung sagte ihr, daß in einem Haus, in dem acht Menschen lebten, früher oder später einer von ihnen auftauchte oder zumindest einen Blick aus dem Fenster warf.

»Ave...« Sie zupfte an dem Jeansärmel. »Miss Rokeby...«

»Ave ist okay.«

Terry drängelte sich an Heather vorbei, und einen Augenblick später standen alle drei in der Halle. Ave sagte: »Gott -hier riecht es wie in einem alten Konvent«, und begann umherzuwandern. Die Metallstifte ihrer Absätze bohrten sich in die alten Holzdielen.

»Hallo, hallo.« Terry stand an dem runden Tisch mit den Flugblättern und den Holzschalen. Die »Schuldig«-Karte ignorierend, hob er die hoch, auf der »Liebesangebot« stand. »Muß man hier seinen Namen eintragen, wenn man eine Nummer schieben will, ja?« Er kicherte und widmete seine Aufmerksamkeit den verschiedenen Flugblättern. Umar-mungs- und Lachworkshop. Wie Sie Ihr spirituelles Wissen nähren.

»Wer produziert dieses Zeug?« Er wedelte mit Kens Romanze mit dem Klistier.

»Unterschiedliche Personen.« Mit stolzgeschwellter Brust fuhr Heather fort: »Wir alle hier sind Autoren. Für das da ist mein Mann verantwortlich. Es ist sehr gut geschrieben. Der Health Shop in Causton hat alle Exemplare in der ersten Woche verkauft.

»Ist das wahr?« sagte Terry und warf das Flugblatt weg.

»Könnte ich Sie bitten«, sagte Heather und sortierte die durcheinandergebrachten Flugblätter, »das nicht zu...« Aber da war er schon weg und fotografierte die Treppe und die Galerie. »Ave?«

»Ja?« Sie öffnete eine der Schubladen, zog Vorhänge zurück.

»Nun, wir haben beschlossen... Ken und ich... daß wir uns lieber draußen mit Ihnen unterhalten möchten. Vielleicht unten im Dorf. Es gibt ein nettes kleines Pub -«

»Vergessen Sie’s.«

»Wie bitte?« Im hereinströmenden Sonnenlicht fiel Heather zum ersten Mal auf, wie schlaff die Haut der Frau war, wie trocken ihr Haar. Schlagartig wirkte sie gar nicht mehr so jung.

»Wir werden hier miteinander sprechen, weil es hier passiert ist. Okay? Und Terry wird ein paar Fotos von dem Raum machen wollen, wo der Mord geschah.«

»Das dürfen Sie nicht!« Entsetzt blickte sich Heather wieder und wieder um, als könne allein der Vorschlag ihre erzürnten Mitbewohner auf den Plan rufen. »Der Solar ist ein heiliger Ort, an dem ausschließlich gebetet und meditiert wird.«

»Sie hätten mich fast überzeugt«, sagte Ave, und zusammen mit Terry brach sie in schallendes Gelächter aus.

»Ganz normale menschliche Neugier, Schätzchen«, meinte Terry. »Ein schneller Schnappschuß kann nicht schaden.« Beim Sprechen tänzelte er herum. Ständig in Bewegung, richtete er auf alles seine Kamera. Suchte den richtigen Blickwinkel, stellte das Objektiv ein. Surr, klick. Surr, klick. Die schweren Balken, der Steinbuddha, das wunderschöne Oberlicht wurden fotografiert. Heather war fasziniert und gleichzeitig angewidert von der Unpersönlichkeit des Apparats. Ein grauenvolles Ding - wie aus einem Science-fiction-Film. Ein schwarzsilbernes, einäugiges Metallhirn zwischen zwei behaarten Klauen, das alles aufzeichnete. Sehr bedrohlich. Eine Bewegung im Korridor ließ sie zusammenzucken.

Aber es war nur Ken. Humpelnd kam er näher, den linken Arm auf die Brust gelegt - die Handfläche ruhte auf seiner Schulter. In der Rechten hielt er eine Blume. Er war in Stoffbahnen aus schmuddligem Baumwollstoff gehüllt, trug eine grüne Schärpe und sein Stirnband mit dem braunen Tigerauge-Kristall. Sein Schnurrbart war frisch gestutzt.

»Gütiger Gott - der Meister des Universums«, murmelte Terry und machte eine Aufnahme nach der anderen.

»Wo bist du gewesen?« Heather floh zu ihrem Gatten. »Mich hier allein zu lassen!« Dann, als ihr sein unzufriedener Gesichtsausdruck auffiel: »Das ist nicht meine Schuld. Sie haben sich einfach reingedrängt.«

»Kein Grund zur Sorge.« Ken schob sie gelassen von sich weg. »Von nun an werde ich mich um alles kümmern.« Er ging auf Ave zu und verbeugte sich. Dabei geriet sein Kristall in Bewegung und schlug gegen seine Stirn. »Wir werden nur außerhalb des Hauses über die Angelegenheiten sprechen, die direkt mit der Sache zu tun haben. Also... wenn Sie nun bitte...« Er trat an die Tür und öffnete sie.

Ave kehrte zur Kommode zurück und entdeckte ein paar alte Ausgaben vom Middle Way und einen kaputten Lampenschirm. Terry kniete sich vor den Buddha, um einen besseren Blickwinkel auf die aufgeblähten Nasenlöcher der in sich ruhenden und gelassen wirkenden Statue zu haben. Bei dieser Aktion rutschte seine Jeans hoch und gab den Blick auf die Nylonsocken frei, die allem Anschein nach den Kern seiner Lebenseinstellung symbolisierten. Auf der einen Socke stand in vielen Sprachen das Wort »Hau« und auf der anderen »dich voll«.

Mit einem Räuspern sagte Ken: »Entschuldigung -«

»Ich habe nichts unversucht gelassen«, rief Heather. »Warum hören Sie denn nicht auf mich?«

Die ganze Anspannung und das Gerenne schnürten ihr die Brust zu. Sie hatte die Situation nicht mehr unter Kontrolle und inzwischen den Eindruck, daß dem von Anfang an nicht so gewesen war. Sie spürte auch, wie sich die Atmosphäre veränderte. Energische Entschlossenheit sprang zwischen den beiden Besuchern hin und her. Sie berieten sich nur selten miteinander und schienen die Gedanken des anderen doch ganz genau zu kennen.

»Wo ist nun dieser Solar?« Als er keine Antwort erhielt, sagte Terry: »Los, los.« Das Quengeln eines Cockney-Straßenjungen. Gereizt und aggressiv balancierte er auf den Fußballen wie ein Boxer, der versucht, einen Schlag zu plazieren. »Haben Sie uns eingeladen oder nicht?«

»Sie eingeladen}«

Die Worte kamen von oben. Für einen Augenblick verloren Terry und Ave die Orientierung. Schließlich erblickten sie oben auf der Treppe eine beeindruckende Frau in einem fließenden, vielfarbigen Gewand, auf dem ein funkelnder Halbmond prangte. Der aufgeplusterte, haselnußbraune Haarschopf ließ sie noch imposanter erscheinen.

Terry murmelte: »Heilige Scheiße.« Und stellte seine Blende ein. Für einen Sekundenbruchteil meinte er neben diesem reflektierenden Strahlen eine zweite Person erkennen zu können. Ein schlankes Mädchen in einem grüngoldenen Sari, das sich wie eine Zofe einen Schritt hinter der Herrscherin hielt. Als der Blitz ausgelöst wurde, wandte sie sich geschwind ab, bedeckte das Gesicht mit einem Stück Seide.

Na, was soll das? fragte sich Ave.

»Erklären Sie sich.« Eine wohltönende und volle Stimme. Man meinte, den Eröffnungsakkorden eines bekannten Oratoriums zu lauschen.

»Das ist unsere glorreiche freie Presse«, flüsterte Suhami May ins Ohr. »Sie bedient sich gerade des ihr verbrieften Rechts, überall ihre Nase reinzustecken.«

»Das hier ist Privatbesitz.« Mit dem Gehabe eines Generalbevollmächtigten schritt May die Treppe hinunter. Ihre in pflaumenfarbenen, mit Brillanten bestickten Slippern steckenden Füße blitzten kurz unter dem Gewandsaum hervor, um gleich darauf wieder zu verschwinden. »Wer sind Sie?«

»Wer sind Sie}« erwiderte Ave wie eine Gestalt aus Alice im Wunderland. Ungeduldige Finger schwebten über dem Startknopf ihres Diktiergeräts.

»Das ist nicht von Bedeutung.« Klick, surr. Klick, surr. »Hören Sie umgehend damit auf!«

Einen Moment lang kam Terry der Aufforderung nach. Kritisch musterte er die weniger exotische der beiden Frauen und kam zu dem Schluß, daß sie trotz des roten Punkts genausowenig Inderin war wie er. Die braune Haut war einfach nur gebräunte weiße Haut, und das Gesicht kam ihm bekannt vor. Wo hatte er sie schon mal gesehen? Er hob die Pentax. Sie nahm eine Büßerschale aus der zweiten Schublade und warf sie ihm an den Kopf.

»Sind Sie noch ganz dicht, Lady?« brüllte er. »Ich versuche nur ein paar Fotos zu schießen.«

»Mein liebes Kind...« Konsterniert und beunruhigt wandte sich May um. »So geht es nicht. So geht es wirklich nicht. Was hätte Er dazu gesagt?« Suhami brach in Tränen aus.

»Hören Sie«, sagte Ave und legte ihre Handtasche und das Mikrophon in einer Art und Weise auf den Boden, die verriet, daß sie später beides noch brauchen würde. »Mir liegt nichts daran, Öl ins Feuer zu gießen und all das scheinheilige Getue anzufeuern, aber wir sind eingeladen worden, stimmt’s, Terry? Insofern wäre es mir recht, wenn wir aufhören würden, so zu tun, als handele es sich hier um die Plünderung einer heiligen Stätte.« ' »Sie müssen sich irren«, behauptete May.

»Fragen Sie Mrs. Beavers«, beharrte Ave.

Alle Augen richteten sich auf Ken und Heather. Mittlerweile hatten die Beavers gänzlich die Fassung verloren. Verlegenheit, Anspannung und Verzweiflung rangen in ihren Mienen um die Vorherrschaft. Unablässig verdrehten sie die Augen und gaben mit ihren Grimassen dem jeweils anderen zu verstehen, wer die Lage erklären sollte. Schließlich ergriff Heather das Wort.

»Es handelt sich um ein Mißverständnis. Diese Person hat angerufen, und ich habe alles falsch verstanden. Sie vermittelte mir den Eindruck, daß vor einiger Zeit ein Interview vereinbart worden sei und sie nur noch eine Wegbeschreibung bräuchte, um zu uns zu finden.«

»Sie sind hier ganz falsch, meine Liebe«, meinte Ave. »Sie gehören nach Westminster.«

»Heather hat recht«, meldete sich Ken zu Wort. »Ich stand die ganze Zeit über neben dem Telefon.«

»Ich habe ihnen ein Exklusivinterview angeboten.« Ave richtete sich direkt an May. »Sie haben mich gebeten, in fünf Minuten zurückzurufen. Und als ich das tat, sagten Sie, es sei in Ordnung hierherzukommen. Offenbar haben Sie sich mit einem Astraltypen unterhalten, und er hat sein Okay gegeben.«

»Ist das wahr, Heather?«

Längere Zeit herrschte Schweigen, das schließlich von Ave beendet wurde. »Sollte es Probleme geben, möchte ich Sie darauf hinweisen, daß eingehende Anrufe aufgezeichnet werden.«

»Natürlich ist es wahr!« platzte Suhami heraus und musterte die Beavers voller Verachtung. »Die haben uns verkauft. Du brauchst sie dir doch nur ansehen.«

»Sprich nicht so mit mir!« rief Heather. »Du hast ja keine Probleme. Warst dein ganzes Leben lang in ein Bett aus Geld gebettet. Hätte ich auch eine halbe Million, über die ich mir den Kopf zerbrechen müßte -«

Sie brach ab und legte - zutiefst erschrocken über diesen Ausrutscher - die Hand auf den Mund. Ken, der so beschämt und schuldbewußt dreinblickte, als sei seine Frau ein schlechterzogenes Haustier, das er nicht im Griff hatte, tätschelte sie unbeholfen.

Bei Terry, der die ganze Tirade mit unverhohlener Schadenfreude verfolgt hatte, fiel der Groschen. Auf einmal wußte er, warum ihm das junge Mädchen so bekannt vorkam. Er trat einen Schritt zurück und versuchte ihren Kopf und ihre Schultern ins Visier zu kriegen, solange sie noch abgelenkt war. Um sie richtig fotografieren zu können, mußte er höher stehen. Die Treppe brachte nichts - von dort aus erwischte er sie nur von hinten. Suchend schaute er sich um, entdeckte die richtige Stelle und kletterte hinauf. Ave hatte nun ebenfalls begriffen, um wen es sich bei dem Mädchen handelte. Ohne groß nachzudenken, griff sie nach dem Mikro.

»Was hatte Ihr Vater hier zu suchen, Sylvia? Denken Sie, daß er etwas mit dem Mord zu tun hatte? Hatten Sie eine Affäre mit dem Opfer?«

»Aahh...« Schmerz schwang in der Stimme des Mädchens mit. »Sie sind gemein... Reicht es nicht, ihn zu verlieren? Den liebsten Menschen...«

»Dann ist er also Ihr Liebhaber gewesen ?«

»Verschwinden Sie... um Himmels willen, hauen Sie ab!«

»Wenn ich gehe, werden Ihnen nur andere auf den Pelz rücken. Sie werden nicht mehr vor die Haustür treten können, ohne von Blitzen geblendet, ohne mit Fragen, die viel fieser sind als die, die ich Ihnen stelle, bombardiert zu werden. Wenn Sie dem Pitch ein Exklusivinterview geben, werden die sie in Ruhe lassen.«

Terry, der auf den Sockel des Buddhas gestiegen war, hatte auf diesen Vorschlag gewartet. Aus Erfahrung wußte er, daß er zog. Er zog immer. Selbst intelligente Menschen fielen darauf rein. Hauptsächlich aus Verzweiflung. Wähl lieber den Schrecken, den du schon kennengelernt hast. Was für ein Mist, daß Saris keinen tiefen Ausschnitt hatten. Das Mädchen hatte klasse Titten.

May gab sich große Mühe, ihre karmische Blaupause neu zu malen. Da sie spürte, daß die Besucher in gewisser Weise teuflisch waren, hatte sie ihren Schutzengel gerufen und sah ihn nun, die breiten Schwingen schlagend, direkt unter dem Oberlicht. Sie stellte sich vor, daß ihre Knochen und ihr Gewebe vom Pulsschlag seines himmlischen Lichts durchflutet wurden. In dieser Stunde brauchte sie seine ungeteilte Aufmerksamkeit, seine Hilfe. Wie schnell und problemlos diese Leute hier aufgetaucht waren! Zweifellos angelockt von dem großen Riß im Schutzschild des Hauses, der durch den Tod des Meisters entstanden war. Nun sprach die Frau wieder.

»Ich versichere Ihnen, daß Sie in Ruhe gelassen werden, wenn Sie uns ein Exklusivinterview geben.«

• »Solch eine Zusammenarbeit widerspricht unseren Prinzipien.«

»Wir werden zahlen. Und nicht zu knapp.«

»Genau das meinte ich gerade.«

»Diese Kommune braucht bestimmt Geld, wie alle anderen Menschen auch, oder?«

»Die Kommune!« Fassungslos starrte Ken sie an. »Aber ich dachte -« Heather stieß ihm den Ellbogen so fest in die Rippen, daß er fast hingefallen wäre.

»Wir werden den Scheck auf Golden Windhorse ausstellen, dann können Sie sich deswegen - ohne uns - die Köpfe einschlagen.«

»So sind wir nicht«, entgegnete May würdevoll.

»Alle sind so, wenn erst mal ein Bündel Geld auf dem Tisch liegt.«

An dieser Stelle wollte Terry, nachdem er seinen Reebok in die diskrete Umhangfalte gestemmt hatte, die das Glied des Buddhas bedeckte, eine Großaufnahme vom Gamelin-Profil machen. Als er abdrückte, schrie May auf.

»Seht mal, wo er steht! Das ist unmöglich...« Terry machte eine Aufnahme nach der anderen und schoß ein erstklassiges Foto von ihrem hübschen, angstverzerrten Gesicht. »Das ist eine heilige Statue. Gehen Sie runter... gehen Sie runter.«

Mit einem Schlag reagierte die ganze Gruppe verärgert, war aber unfähig, aktiv zu werden. Die unfaßbare Blasphemie seines Handelns schockierte sie so sehr, daß sie sich kaum bewegen konnten. Suhami blickte sich suchend um. Unerträgliche Pein lag in ihrem Blick.

Die Pause dauerte nur kurz an. Urplötzlich sauste ein Schwall fließender Baumwolle an ihnen vorbei. Nachdem Ken eine Möglichkeit gefunden hatte, wenigstens einen kleinen Teil seiner Schuld abzutragen, schmiß er sich mit voller Wucht gegen den Buddhasockel und warf die Blumengaben um, woraufhin ihm kaltes Wasser und Lupinen ins Gesicht spritzten. Tief durchatmend, kraxelte er den schlüpfrigen Stein hoch. Keuchend arbeitete er sich hoch. Als Terrys Fuß in Reichweite kam, griff er nach den Schnürsenkeln der Reeboks und zog.

Beide Arme um den Statuenhals schlingend, rückte Terry von Ken ab und begann wild auszuschlagen. Ken bekam ein paar schmerzhafte Fußtritte auf die Schulter ab. Selbst aus der Ferne konnte man nun Terrys Sockenaufschrift lesen, die dem Eigenleben der Füße unnötigen Nachdruck verlieh. Nach dem dritten Tritt gelang es Ken, die Schnürsenkel zu lösen, und schnappte nach Terrys Knöcheln.

Kurz und fast graziös holte er ein letztes Mal aus, krachte dann aber mit dem Gesicht nach unten auf den Sockel. Sich flink wieder aufrappelnd, riß er an mit Baumwollstoff bezogenen Beinen, Schenkeln und Pobacken. Aus der Ferne betrachtete, erinnerte das Gerangel der beiden Männer an eine Schlammschlacht ohne Schlamm. Das Ganze hatte ein Ende, als Ken Terrys Schritt fand und hineingriff.

Nach einem kurzen Aufschrei drehte der Fotograf Kopf und Schultern um und brüllte Ken phantasielose Obszönitäten ins Gesicht. Bei seiner hektischen Bewegung geriet die Statue in Bewegung. Lautes Knarzen, als würde ein großer Stein aus einer Wand gezogen, war zu hören.

Die atemlosen, staunenden Zuschauer hielten auf einen Schlag die Luft an, als sie beobachten mußten, wie die ewig ‘lächelnde Statue erzitterte. Kurz darauf neigte sie sich nach vorn, ganz langsam, während ein Großteil der Steinmasse noch sicher ausbalanciert war. Es bestand immer noch die Chance, daß sie nicht umkippte, aber nur, wenn das zappelnde menschliche Halsband abgenommen wurde.

Ave stieß einen markerschütternden Schrei aus. »Terry - laß los!«

Terry keuchte laut. Seine siegessichere Miene verriet den Triumph, den er spürte, während er immer noch an der Statue hing. Dann allerdings machte er den Fehler, den Kopf vorzustrecken, um nachzusehen, wie sich sein Gegenüber hielt. Diese unkluge Verlagerung des Körpergewichts bewirkte, daß die Statue sich noch weiter vorneigte, diesmal so weit, daß es kein Zurück mehr gab.

Mit einem ohrenbetäubenden Krachen schlug sie auf dem Boden auf. Terry, der sich mitten im Umkippen drehte, landete nur wenige Zentimeter neben dem schweren Steinschädel. Soviel Glück war Ken nicht beschieden.


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