Strahlenden Blickes und prächtig ausgeruht, kam Troy ins Büro - das Baby hatte die ganze Nacht durchgeschlafen. Er roch nach Players High Tar and Brusque, dem Chanel Pour l’Homme fürs einfache Volk. Er hängte seine Jacke auf, blickte zu Barnaby hinüber, der aus dem Fenster sah, und sagte: »Was treiben Sie?«
»Ich lerne fürs Priesterseminar, Sergeant. Wonach sieht es denn aus?«
Herrje. Ein ätzender Tag. Ein ätzender Tag, an dem man Stunde um Stunde in ein Gesicht, das an einen versohlten Hintern erinnerte, blicken mußte. Jedenfalls kein Tag, um neue Fotos von Talisa Leanne rauszuziehen, auf denen sie sich ohne elterlichen Beistand an der Lehne von Maureens Stuhl festhielt und stand. Der Gerechtigkeit halber mußte Troy zugeben, daß sein Chef überhaupt nicht gut aussah.
»Sind Sie in Ordnung, Sir?«
»So lala. Habe nicht allzu gut geschlafen.«
»Ist es denn die Möglichkeit?« Ausgeruht wie er nun mal war, brachte Troy seinem Boß kein echtes Mitgefühl entgegen. Er gehörte zu der Sorte Mensch, die - mit Ausnahme von randalierendem Nachwuchs - immer und überall schlafen konnten. Zum wiederholten Mal trat er vor die Vergrößerung und verkündete: »Ich habe nachgedacht.«
Eine Fähigkeit, die Troy nur selten nutzte. Seiner Ansicht nach überhitzte man wie ein altersschwaches Auto, wenn man zuviel nachdachte. Er beobachtete, er hörte zu, er machte Notizen. Er war ungeheuer akkurat und konnte sich gelegentlich auf seine Intuition verlassen. Ausgedehnte Introspektion und durchdachte Theorien bürdete er sich nicht auf.
»Also«, sagte Barnaby und wartete.
»Dieser Tim, sehen Sie doch, wo der gesessen hat.« Der Chief Inspektor brauchte dieser Aufforderung nicht zu folgen. Die einzelnen Positionen kannte er auswendig. »Kniete genau zu Craigies Füßen.«
»Und?«
»Und jetzt sehen Sie mal, wo das Gamelin-Mädchen war. Links von Craigie. Die drei bildeten ein spitzwinkliges Dreieck. Tim mußte nur aufspringen und sich drehen, und schon stand er beiden gegenüber - richtig?« Barnaby stimmte zu. »Ich denke, daß er genau das getan hat. Und hat im Halbdunkel und während all des Durcheinanders, das die alte Kleekuh auf dem Boden auslöste, die falsche Person erstochen.«
»Wollen Sie damit andeuten, daß er versuchte, Sylvia Gamelin zu ermorden? Aus welchem Grund denn?«
»Nach allem, was wir gehört haben, hat er den alten Obi zutiefst verehrt. Dieser Mann war seine Sonne, sein Mond, seine Sterne und seine Rettung. Aber was hat der Junge als Gegenleistung dafür zu bieten? Hundertprozentige Ergebenheit, oder? Nun, die kriegt man auch von einem Hund, stimmt’s? Plötzlich tauchte dieses Mädchen auf, jung, hübsch, bei Sinnen, und sie ist drauf und dran, der Kommune ein stattliches Sümmchen zu überschreiben. Könnte Riley das nicht als Bedrohung empfunden haben? Vielleicht hat er sich eingebildet, sie erkaufe sich damit die Zuneigung des Meisters und verdränge ihn von seinem angestammten Platz?«
Barnaby runzelte die Stirn. Troy fuhr fort: »Mag Ihnen und mir wie eine Überreaktion erscheinen, doch wir dürfen nicht vergessen, er ist nicht ganz wasserdicht. Er ist bestimmt nicht in der Lage, Vernunft walten zu lassen.«
»Ist ein bißchen dünn, aber möglich. In einem Stadium extremer Eifersucht könnte er durchaus panisch reagieren und in der von Ihnen umrissenen Weise handeln.«
Troy errötete und zupfte an seinen Manschetten. Das tat er immer, wenn er sich schämte oder freute. »Das würde zudem die heftige Reaktion auf den Tod erklären, Chief. Und warum er von einem Unfall redete.«
»Mmm. Die ganzen emotionalen Beziehungen haben wir bislang noch gar nicht genauer unter die Lupe genommen, diese geschlossenen Gruppen sind manchmal wie Dampfkochtöpfe, allen voran spirituell ausgerichtete Gemeinschaften, wo offener Widerspruch nicht gern gesehen wird.« Falls Barnaby ungehalten klang, lag das daran, daß er Menschen, die den Anschein erweckten, Gütigkeit bereits mit der Muttermilch eingesogen zu haben, nicht ausstehen konnte. »Bei Führern mit stark ausgeprägtem Charisma ist es keine Seltenheit, ,daß ihm sowohl körperliche als auch emotionale Bewunderung entgegengebracht wird.«
»Sie meinen, er machte die anderen fertig?«
Barnaby zuckte zusammen. »Nicht unbedingt. Ich denke, ich versuche anzudeuten, daß wir - da wir ihm zu Lebzeiten nicht begegnet sind - nicht erfassen können, was für eine Persönlichkeit er war. Wie wissen nur das, was seine Anhänger über ihn sagen. Wie groß sein Einfluß gewesen ist, wissen wir nicht.«
»Das stimmt. Tot hat er nicht viel hergegeben. Ich weiß allerdings immer noch nicht, ob...« Troy trat von dem Schaubild weg und setzte sich an den Schreibtisch. »Meinen Sie, daß er jemanden vielleicht falsch beeinflußt hat?«
»Wäre immerhin möglich.« In Wahrheit wußte Barnaby nicht, was er meinte. Er dachte einfach laut nach. Spielte Ideen durch, verwarf sie, baute andere Theorien auf. Spekulierte über unsichtbare Verbindungen und kam vielleicht vom Weg ab. In jüngeren Jahren hatte ihm dieses Stadium einer Ermittlung in einem Mordfall am meisten zugesetzt. Diese fürchterliche Ungewißheit. Daß alles Auslegungssache war. Man stürzte sich auf eine Unterhaltung hier, ein unterstelltes Motiv da, ein Indiz (das griffig war und bewiesen werden konnte), nur um dann bei genauerer Betrachtung mit ansehen zu müssen, wie sich alle zusammengeschusterten Theorien in Luft auflösten.
Jeder Rückschlag steigerte seine Anspannung. An so einem Punkt spürte er (und das entsprang nicht immer seiner Einbildung), wie man von ihm enttäuscht war. Und er spürte zunehmenden Druck von seiten seiner Vorgesetzten. Nie konnte er jenen ersten Fall vergessen, den er gelöst hatte. Seine Freude darüber war bald dem beunruhigenden Gefühl gewichen, daß das Ergebnis mitnichten seinen Deduktionsfähigkeiten zuzuschreiben war, sondern daß er vor allem Glück gehabt und Zähigkeit bewiesen hatte. Und daß sich so ein Erfolg vielleicht nie mehr wiederholte.
Inzwischen kam er mit der Ambiguität besser zurecht und besaß genug Selbstvertrauen, um nicht in Panik zu geraten. Jetzt vertraute er darauf, daß früher oder später eine neue Erkenntnis, eine hergestellte Verbindung oder ein Verdächtiger auftauchte, der sich unabsichtlich verplapperte. Das bedeutete nicht das Ende der Welt, wie er früher einmal angenommen hatte, sondern veranschaulichte nur, wie wenig er sich von seinen Mitmenschen unterschied.
Im Moment war der ihm übertragene Fall gerade mal zwei Tage alt, und er wartete auf verschiedene Dinge. Vor allem auf den Obduktionsbericht und auf die Informationen aus dem Labor über die Fasern einer groben Schürze und der Geschirrtücher, die gestern aus Windhorse mitgenommen worden waren. Diese Faser machte ihm Kopfschmerzen. Da er weder ihre Herkunft kannte, noch wußte, wie sie dorthin gelangt war, konnte er auch nicht wissen, ob sie wichtig war. Vielleicht half sie ihm nicht weiter, vielleicht bedeutete sie den Durchbruch.
Zusätzlich versuchte einer seiner Kollegen, den echten Christopher Wainwright aufzutreiben. George Bullard sollte sich telefonisch melden und ihn über Jim Carters Medikamente informieren. Es gab bestimmt noch ein paar Typenbeschreibungen im Computer, die auf Arthur Craigie paßten, aber Barnaby vertraute nicht darauf, daß Troy mit seiner Vermutung richtig lag, weil sie auf Gamelins vagem Gefühl und einer Perücke beruhte. Andrew Carters Geschichte wurde ebenfalls überprüft. Fatalerweise war sein Leben so unstet gewesen (falls er die Wahrheit gesagt hatte), daß das kein einfaches Unterfangen war. Barnaby hatte auch eine Kopie des Obduktionsberichts von Jim Carter erhalten und mußte erkennen, daß eine Wiedereröffnung dieses Falls sich als problematisch erweisen würde. Zum Zeitpunkt seines Todes hatten sich alle Kommunenmitglieder an einem anderen Ort aufgehalten. Dennoch durften weder der Brief noch das belauschte Gespräch ignoriert werden. Trixie Channig war nicht im Computer; also mußte ein Foto von ihr vervielfältigt und verteilt werden, was Zeit beanspruchte. Im Gegensatz zu Andrew Carter war Barnaby nicht im geringsten davon überzeugt, daß »etwas Schreckliches« eingetreten war, nur weil das Mädchen mitsamt seinen Habseligkeiten verschwunden war. Während des Verhörs hatte Trixie vor etwas Angst gehabt. Mittlerweile tat es Barnaby leid, sie nicht härter in die Zange genommen zu haben, um rauszukriegen, worum es sich dabei gehandelt hatte.
»Sie sind immer noch gegen Gamelin als potentiellen Mörder, Chief?«
»Ich denke schon.« In Wirklichkeit erschien Barnaby diese Erklärung an den Haaren herbeigezogen. Wieso dem so war, wußte er allerdings nicht zu sagen. Einerseits irritierte ihn, daß ihm der Mann so eindeutig als Sündenbock präsentiert worden war. Auf der anderen Seite lag ihm Gamelins echte Empörung darüber, daß ihn alle als Mörder abstempelten, schwer im Magen. Und dann war da noch das Motiv. Auf den ersten Blick schien es eindeutig, aber bei näherer Betrachtung verflüchtigte sich dieser Eindruck. Barnaby glaubte, daß Guy im Ernstfall seine Tochter dem Mammon vorzog. Er schien ganz und gar davon besessen gewesen zu sein, sich mit ihr auszusöhnen. Da sie aus ihren Gefühlen zu ihrem Lehrer kein Hehl gemacht hatte, hatte ihr Vater an fünf Fingern abzählen können, daß seine Chance auf Wiederversöhnung gleich Null war, falls er Craigie etwas antat. Und sein Tod bot keine Garantie, daß Sylvie das Geld nicht verschenkte. Ganz im Gegenteil, vielleicht hätte dies sie nur noch in ihrer Entscheidung bestärkt. Doch den Hauptgrund für Barnabys Einstellung lieferte der Charakter des Mannes. In seinen Augen war Gamelin ein Mann, der nach dem Motto handelte: Nimm dir, was du willst, und bezahl dafür. Sicherlich konnte der Chief Inspector sich vorstellen, daß Gamelin einen Mord verübte, aber dann eher impulsiv, spontan, rasend vor Zorn, und nicht kaltblütig, durchdacht, geplant. Und bestimmt wäre er hinterher dagestanden und hätte den Mord laut in die Welt hinausgeschrien oder sogar damit geprahlt und sich dann die besten Anwälte geholt, die man für Geld kaufen konnte. Nein - Barnaby war sicher, daß Gamelin nicht der Mörder war. Warum der Tote auf ihn gezeigt hatte, verstand er allerdings nicht.
Audrey Brierley brachte weitere Informationen über die möglichen Alter egos des Toten. Troy schnappte sich die Ausdrucke und überflog sie. Freddie Cranmer? Nicht nur zu jung, sondern auch mit exotischen (und obszönen) Tätowierungen übersät. Der nächste kam schon eher in Frage. Albert Crainleigh. Siebenundfünfzig. Von Kindheit an kriminell, in erster Linie kleine Betrügereien und das Verschieben gestohlener Gegenstände. Später ausgefeiltere Aktionen. Getürkte Bestellanzeigen. Versicherungs- und Hypothekenbetrug. Und dann hatte er eine große Nummer mit dem Verkauf von Anteilen abgezogen. Hatte auf diese Weise eine Menge Kohle gemacht, die nie gefunden wurde. Wurde in Malta geschnappt. Vier von sieben Jahren abgesessen. War 1989 freigelassen worden. Beispielhafter Gefängnisinsasse, aber das waren Betrüger immer.
»Das hier kommt hin, Sir.«
Barnaby hörte zu, während Troy laut vorlas. Als der Sergeant enthusiastisch nickte, hob und senkte sich sein Bürsten-haarschnitt wie der Kamm einer vorwitzigen Sumpfschnepfe.
»Das einzige, was paßt«, faßte der Chief Inspector zusammen, »ist, daß beide Männer im gleichen Alter sind. Einmal abgesehen von Gamelins Beschuldigung, die unter jenen Umständen verständlich war, haben wir keinen Grund, in Craigie einen Betrüger zu vermuten.«
Er bemerkte, wie Troys Kinnmuskeln sich verkrampften. Wenn Troy eine Ahnung hatte, war er wie die Katze vor dem Mauseloch. Daß er nie begriff, wann er aufgeben und heimgehen mußte, war seine Stärke und gleichzeitig seine Schwäche.
»Falls Sie sich entsinnen«, sagte Barnaby, der sich nur daran erinnerte, weil er vergangenen Abend noch einmal die Aussagen durchgegangen war, »sprach Arno Gibbs über die finanzielle Hilfe, die die Kommune gewährte, und über die Spenden an Organisationen wie Christian Aid und so. Das paßt ja nun überhaupt nicht zu Ihrer Theorie.«
»Aber so sind doch alle großen Schurken verfahren, Chief. Denken Sie an die Krays. Almosen, Jugendclubs, Boxtrophäen. Die haben das Geld verteilt.«
»Die Basis unterstützen. Das ermutigt die Rekruten. Aber auf Windhorse haben wir keinen Zarismus, sondern eher so was wie eine Demokratie.«
»Ach ja?« Troy zwinkerte und schnalzte mit der Zunge.
»Eine Organisation, in der alle Mitglieder gleich sind.« Barnaby las die Gedanken seines Untergebenen. »Und die nicht von Frauen geleitet wird.«
»Ist nur gerecht.« Ein verständlicher Fehler, sinnierte Troy, da die meisten von ihnen den Verstand von ausgeleierten Unterhosen hatten. »Was mich nicht daran hindern wird, mir ein paar Fotos anzusehen.« Er gab sich rebellisch.
»Lassen Sie das. Die Leute in dieser Abteilung haben schon genug zu tun.« Es klingelte. Das war Winterton, der Communications-relations-Beamte, der sich um den sogenannten Gamelin-Fall kümmerte. Die Presse setzte ihm telefonisch ziemlich zu, und nun wollte er erfahren, ob Barnaby über ein paar neue Informationskrümel verfügte, die er ihnen zum Fraß vorwerfen konnte.
»Verbraten Sie noch mal das, was Sie denen gestern schon gesagt haben. Nur mit anderen Worten.«
»Danke, Tom. Sie waren mir eine große Hilfe.«
»Gern geschehen.« Barnaby legte auf. Als er aufblickte, war das Büro leer.
Arno ging im Obstgarten spazieren. Es war noch ziemlich früh. Blaue Nebelschwaden lagen über den Beeten, und die frostüberzogenen Äpfel schimmerten im morgendlichen Sonnenschein. Über seinem Kopf funkelte der strahlende Morgenstern. Obwohl er in der Nacht kaum ein Auge zugemacht hatte, war er kein bißchen müde.
Er trug ein mit Erdbeerblättern verziertes Schälchen und ging zu »Stella«, ihrem sich selbst befruchtenden Kirschbaum, der reichlich Früchte trug. Der Baum war mit einer Reihe von Netzen bedeckt, die auf Flohmärkten gekauft und hinterher zusammengeflickt worden waren. Das Ding war nicht wirklich vogelsicher. Gerade als Arno näher kam, traten ein paar Stare laut zwitschernd die Flucht an. Er pflückte die restlichen Kirschen, stellte das Schälchen auf das Gurkenspalier und schnitt mit seinem Taschenmesser die angeknabberten und verschrumpelten Früchte ab. Die anderen stapelte er zu einer kleinen Pyramide und ordnete sie so an, daß die schöne Seite nach außen zeigte. Leider war das Ergebnis alles andere als befriedigend. Die Kirschen hatten nichts mit den üppigen dunkel glänzenden Exemplaren gemein, die man in Supermärkten kaufen konnte.
Normalerweise akzeptierte Arno voller Resignation die ungespritzte Unvollkommenheit, aber heute gedachte er May zu verführen. Am vergangenen Abend hatte sie kaum einen Bissen zu sich genommen, was ihn angesichts des desaströsen Nachmittags kaum verwunderte. Seit dem Abendessen war Arno beunruhigt, weil er (wie alle Liebenden) fürchtete, daß seine Angebetete dahinschwand, falls sie so weitermachte.
Das Schälchen vorsichtig balancierend, überquerte er den Rasen. Erst jetzt bemerkte er, daß die Sonne aufgegangen war, daß das Gras seine Frische von vorhin verloren hatte, daß das taubenetzte Grün unter seinen Sohlen sich weich anfühlte. Als er sich dem Haus näherte und in Sichtweite des Haupttors gelangte, zögerte er und schlich dicht an der Hecke entlang, um dann das letzte Stückchen ungeschützt zurückzulegen.
Ave und Terry hatten mit der Belagerung recht behalten.
Arno hatte ein altes Schloß und eine rostige Eisenkette gefunden und gerade noch rechtzeitig das Tor gesichert. Am frühen 'Abend hatte sich dort draußen eine lautstarke Menschenmenge versammelt. Das alles erinnerte ein wenig an eine Szene aus einem alten Stummfilm, in der aufbegehrende Bauern die Bastille stürmen. Fotografen waren auf die Mauer geklettert, und der Krankenwagen hatte große Mühe gehabt, durchzukommen.
Doch im Moment herrschte Ruhe. Vögel zogen ihre Kreise. Die Würmer zeigten sich noch nicht. Wie sich herausstellte, war Arno nicht der einzige Frühaufsteher. Als er um die Hausecke bog, wurde ein Fenster im Erdgeschoß aufgerissen. Es gehörte zu Mays Zimmer. Kurz darauf schallte ein wunderschöner Akkord durch die reine Luft. Arnos Herz machte einen Satz, setzte einmal aus und schlug dann hocherfreut weiter.
Er versteckte sich im Efeu, stand reglos da, hob und drehte den Kopf, während es ihn zum offenstehenden Fenster drängte wie die Blume zum Licht. Ein goldener Ton ergoß sich in die strahlende Morgenfrische, legte sich um Arnos Herz, band ihn noch enger an sie, an die liebste aller Musikerinnen. Sich zurücklehnend, schloß er die Augen. Unbemerkt fiel Staub aus dem Efeu auf seine Haare und seinen Bart. Die Welt schrumpfte auf die schnellen Bewegungen des Cellobogens zusammen.
Sie spielte ein katalanisches Volkslied. Den majestätisch-melancholischen Trauergesang eines Exilanten. Wie üblich stimmte das Lied Arno traurig, doch die Liedstruktur war so harmonisch, die Melodie so lieblich, daß er, wenn die letzten Töne erklangen, nicht Trauer empfand, sondern schieres Glück.
Sein Blick fiel auf das Schälchen. Die Kirschpyramide war zusammengefallen. Die Früchte schrumpelten schon ein. Nicht einmal die Erdbeerblätter wirkten frisch. Die Unangemessenheit seines Geschenkes im Vergleich zu dem Genuß, der ihm gerade beschieden gewesen war, beschämte Arno zutiefst. Ohne zu zögern kippte er die Kirschen hinter die Blumenbeeteinfassung und brachte das Schälchen in den Töpferschuppen.
Die Cellistin legte ihren Bogen weg und trat ans offene Fenster, um die Sonne zu begrüßen. Gerade heute brauchte sie alle Energie, die sie aufbringen konnte. Ihre heilenden Kräfte - derart übertrieben beschrieb May Warmherzigkeit - wurden stärker gebraucht als je zuvor. Sie hob die Arme, woraufhin die wassergrüne Seide auseinanderfiel, und legte damit ihre wunderbare Körperfülle frei. »Das Göttliche in mir ruft das Göttliche in dir«, tat sie kund und verneigte sich sieben Mal in dem Wissen, daß jede Verbeugung Liebe, kosmische und göttliche Kraft ins Herzchakra fließen ließ. Hinterher nahm sie ein ausgiebiges Bad, machte ein paar Yogaübungen, atmete abwechselnd durch eines der Nasenlöcher aus und ein und begab sich, nachdem sie sich nun gewappnet fühlte, den Tag in Angriff zu nehmen, zum Frühstück in die Küche.
Allem Anschein nach war May ihren Ablutionen länger als gewöhnlich nachgegangen. In der Küche hatten sich - bis auf Tim und Felicity - bereits alle eingefunden.
Heather stand an der Spüle und kümmerte sich um die Herstellung von dynamischem Sonnenwasser. Dazu mußte man mehrere Streifen verschiedenfarbiges Lackmuspapier um mit Wasser gefüllte Plastikflaschen legen und die Streifen mit einem Band befestigen. Danach wurden sie in die pralle Sonne gestellt. Die Energie der Strahlen verlieh dem Wasser eine kraftvolle elektromagnetische Ladung.
Heather gab sich unterwürfig und verrichtete heute Aufgaben, an die sie vor vierundzwanzig Stunden keinen einzigen Gedanken verschwendet hätte. Sie hatte ihr Haar zu einem Zopf zusammengebunden und ihn mehrmals um den Kopf geschlungen. Sie trug ein Kleid in einer Farbe, die nur als Büßergrau bezeichnet werden konnte. Die gewissenhafte und unterwürfige Hausfrau mimend, war sie doch eher das Paradebeispiel einer Aufseherin im Hochsicherheitstrakt eines Gefängnisses.
Ken schwieg und hielt sich ein wenig abseits. Bislang hatte er das, was ihm gereicht wurde (ein Glas Mate und etwas Müsli), mit überschwenglicher Dankbarkeit entgegengenommen und ohne den Versuch zu machen, sich mit irgend jemandem zu unterhalten. Er verhielt sich wie ein Mann, der wußte, welcher Platz ihm gebührte (eine Nische neben dem Kamin), : und sich darüber freute. Selbst wenn er sich hätte bewegen wollen, wäre ihm das nicht möglich gewesen. Sein rechtes Bein, dreimal gebrochen, steckte vom Schritt bis zur Fußsohle in Gips.
Darüber verlor Ken absichtlich kein Wort. Während Heather sich bemüht hatte, ihn halbwegs komfortabel in ein kleines Schlafzimmer im Erdgeschoß zu betten, hatte sie ihm beigepflichtet, daß sie nur darauf hoffen konnten, daß die Kommune ohne ihr Zutun einsah, wie groß sein Opfer war, und dies gegen das Ausmaß und die Qualität seines Betrugs abwog.
Als man ihn unter dem Buddha hervorgezogen hatte, hatte sich Ken - zu seiner eigenen Überraschung und zu der seiner Mitbewohner - erstaunlich ruhig und tapfer verhalten. Darum bemüht, nicht laut aufzuschreien, hatte er Mays Notfallmedizin eingenommen und - als die Schmerzen schlimmer statt besser wurden - die Zähne zusammengebissen, Tränen unterdrückt. Auf der Trage war es ihm sogar gelungen, sich ein Lächeln abzuringen, zu winken und den anderen zu verstehen zu geben, daß sie sich keine Sorgen um ihn machen brauchten. Nichts sollte sich von Kens Aufenthalt auf Windhorse so nachhaltig einprägen wie dieser Abgang.
Arno erhob sich, als May hereinkam, und fragte sie, ob sie etwas essen und eine Tasse frisch aufgebrühten Luakatee trinken mochte. Lächelnd schüttelte sie den Kopf. »Du bist gerade am Frühstücken, mein Lieber. Laß nur, ich bediene mich selbst.« Die zärtliche Anrede trieb ihm die Röte ins Gesicht. Sie steckte den Stecker des klapprigen Restauranttoasters in die Dose. Er war ziemlich alt, dafür aber sehr effizient. Kaum i waren die Toasts knusprig gebräunt, warf er die gestreiften Brotscheiben in die Höhe. War der Toaster voll, kamen insgesamt ein Dutzend Scheiben Brot auf einen Schlag aus den Schlitzen geschossen und purzelten durch die Luft.
May fand, daß es sehr ruhig war. Gewöhnlich wurde bei den Mahlzeiten viel geredet und gelacht. Heute morgen brachte kaum einer ein Wort über die Lippen. Janet hing unbequem auf einem nach hinten gekippten Stuhl und zupfte an ihren in Kordhosen steckenden Knien herum. Christopher und Suhami tranken richtigen Kaffee, saßen beieinander und waren doch nicht zusammen. Er warf ihr immer wieder einen Blick zu und verdrehte den Kopf einmal so sehr, daß sich sein Gesicht um neunzig Grad geneigt vor ihrem befand. Diese Maßnahme, als Aufheiterung gemeint, erzielte leider nicht das gewünschte Ergebnis. Sie schüttelte nur den Kopf und wandte sich ab. Selbst das Klappern des Bestecks wirkt gedämpft, dachte May, und beobachtete, wie Arno sein Messer ganz behutsam auf einen kleinen Teller legte. Ihr fiel sein gerötetes Gesicht auf, und sie hoffte, daß er keine Krankheit ausbrütete. Drei Kranke waren mehr als genug.
Nachdem Heather die Flaschen verschlossen hatte, flüsterte sie leise: »Ich werde sie nach draußen bringen.« Und spazierte auf Zehenspitzen aus der Küche.
Mays Toast sprang aus dem Schlitz. Gleichzeitg begann das Telefon zu läuten. Mit einer Hand nach dem Hörer greifend, auf der anderen den heißen Toast balancierend, rief May: »Beim Jupiter! Ist das heiß.« Der Anrufer war konsterniert.
Die anderen, in Furcht isoliert, spitzten die Ohren. Gab es Neuigkeiten über Trixie? Über die Ermordung des Meisters? War das die Bank oder ein Rechtsanwalt mit Informationen über ein Testament? Alle versuchten, die Lücken zwischen den sporadisch von May hingeworfenen Satzfetzen zu füllen.
»tombs...? Bestimmt nicht. Wir werden unsere eigenen Vorbereitungen treffen. Ich muß schon sagen, ich finde es ziemlich unerhört - ach, Sie heißen Tombs? Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?... ah - ich verstehe. Ja, das ist natürlich schon ein Problem... Das werden wir in der Tat, lassen Sie mich kurz überlegen... Nein, ich bin sicher, daß keiner von uns den Wunsch hat, das zu tun. Die sind überhaupt nicht freundlich. Hören Sie - ich sage Ihnen was - in der Mauer hinter unserem Gemüsegarten befindet sich eine Holztür. Die Erde unter der Tür ist ziemlich runtergetreten, insofern gibt es da so etwas wie “nen Spalt... Oh, das könnten Sie? Wie furchtbar nett. In einer Viertelstunde? Vielen Dank.«
»Worum ging es denn?«
»Miss Tombs, Christophen Vom Dorfpostamt. Der Postbote kann die Post nicht ausliefern, weil unser Tor verschlossen ist. Sie erkundigte sich, ob jemand runtergehen -«
»Nein!« schrie Suhami auf.
»Ganz richtig. Ihr habt gehört, was ich vorgeschlagen habe. Sie wird die Briefe für uns in eine Plastiktüte stecken.«
»Die Post habe ich ganz vergesssen«, meinte Arno. »Wir werden sie sorgfältig prüfen müssen. Von nun an werden die Menschen auch aus ganz anderen Gründen zu uns kommen wollen.«
»Ich werde die Post holen gehen.« Chris trank aus. »Begleitest du mich, Suze?«
»Ich möchte aber nicht.«
»Wir werden uns über die Terrasse rausschleichen. Dort kann uns niemand sehen. Ich muß dir etwas erzählen.« Als sie sich nicht rührte, fügte er hinzu: »Wenn du dich hier drinnen versteckst, überläßt du ihnen den Sieg.«
Suhami stand auf und folgte ihm. Nicht wegen der Anspielung, sondern weil ihr das leichter fiel, als einen Streit vom Zaun zu brechen. Ihre Gliedmaßen waren bleischwer. Trauer und Schuldgefühle zermürbten sie.
Gemeinsam streiften sie durch den Kräutergarten und liefen dann quer über den Rasen. Der warme Kies unter ihren Füßen gab nach. Unkraut und Goldlack sproßen: jene winzigen senfgelben Blümchen, die nach Vanille und Ananas rochen. Der Weg war von Sonne und Wind ausgebleichten Herzmuscheln eingefaßt.
Er nahm ihren Arm, der schwer und indifferent auf seinem eigenen ruhte. Urplötzlich überkam Chris eine Woge der Bestürzung. Er fürchtete nicht so sehr, daß ihr Verhalten dem Schock über den Mord oder den gestrigen Überfall zuzuschreiben war, sondern daß sich ihre Einstellung ihm gegenüber auf immer geändert hatte. Der Gedanke, sie zu verlieren, schnürte ihm die Kehle zu. Er hätte ihr viel früher die Wahrheit sagen müssen. Je länger er sie verschwieg, desto schlimmer wurde es. Er hatte ihr den Hof unter falschem Vorwand gemacht, aus Gründen, die ihm nicht nur entschuldbar erschienen, sondern auch lebenswichtig. Würde sie das verstehen? Er mußte daran denken, wie sie sich bei ihm darüber beklagt hatte, daß sie immer von allen belogen wurde.
Er zögerte, wollte stehenbleiben, konnte sich aber nicht dazu durchringen. Fragte sich, wie er die Wahrheit sagen und ihr gleichzeitig die Notwendigkeit zu lügen begreiflich machen sollte. Am Ende sagte er gar nichts, sondern ging einfach weiter.
Kurz vor dem Mittagessen traf der Obduktionsbericht ein. Barnaby hatte die Blätter aus dem Ordner genommen, ehe Audrey das Büro verlassen hatte. Schnell überflog er das Gedruckte. »Irgendwelche Überraschungen?« fragte Troy und wurde mit einem Blick bedacht, den er als wohlwollend auslegte.
»Craigie hat in letzter Zeit nicht geraucht, früher hingegen schon. Und nicht getrunken. Hat neun Stunden vor seinem Tod zum letzten Mal gegessen. Todesursache ist ein gerade ausgeführter Stoß mit dem Messer, der den rechten Ventrikel durchstieß. Damit ist die These, daß Gamelin von hinten zugestoßen hat, vom Tisch.«
Als Barnaby eine Pause einlegte, verlagerte Troy sein Gewicht, um seine Irritation zu verbergen. Der alte Herr hatte die Angewohnheit, theatralische Pausen einzulegen, wann immer eine besonders krasse Enthüllung bevorstand. Das lag in der Familie. Da mußte man eben Zugeständnisse machen. Nichtsdestotrotz ging es Troy gegen den Strich, daß er immer gescholten wurde, zu Potte zu kommen, wenn er das versuchte. Pflichtschuldig gab er seinem Chef das Stichwort.
»Ist das alles, Sir?«
»Nicht ganz.« Barnaby legte den Bericht auf den Schreibtisch. »Er hatte Knochenkrebs.«
»Krebs!« Was immer Troy auch erwartet haben mochte, das gewiß nicht. Barnaby hätte sich keine zufriedenstellendere Reaktion wünschen können. Troy setzte sich auf den Besucherstuhl. »Wie stand es um ihn - schlimm?«
»Schlimmer ging’s nicht. Sie behaupten, daß er höchstens noch ein paar Monate zu leben hatte. Das erklärt selbstverständlich auch die Perücke.«
»Wie bitte?«
»Falls er sich einer Chemotherapie unterzogen hat, sind ihm wahrscheinlich die Haare ausgefallen.«
»Aber würde er auf solch ein Hilfsmittel zurückgreifen? Sie wissen doch, wie die da oben sind. Würde er sich nicht eher irgendwelchen ominösen Strahlen aus dem Universum aussetzen oder sich Kräuter in die Nase stopfen?«
»Denken Sie daran, er war im Hillingdon an dem Tag, an dem Riley aufgegabelt wurde. Gibbs sagte aus, daß Craigie regelmäßig das Krankenhaus aufsuchte. Ich nehme mal an, daß man den anderen damit seine Besuche erklärte.«
»Sie meinen, er wollte sie nicht aufregen, solange es sich vermeiden ließ?«
»Ganz genau.«
»Dann ist er also doch ein Heiliger.« Enttäuscht zog Troy die Mundwinkel nach unten. Selbst seine ansonsten immer zu Berge stehenden Haarspitzen neigten sich ein klein wenig.
»Wir werden uns in dieser Angelegenheit noch mit dem Krankenhaus in Verbindung setzen, doch ich halte es für ratsam, nicht mehr davon auszugehen, daß die Perücke Teil eines großangelegten Betrugs war.«
Troy setzte eine bedeutungsschwangere Miene auf. Er zuckte mit den Achseln, schürzte die Lippen, nickter Besonnen, aber nicht überzeugt. »Und welchen Einfluß hat dies Ihrer Meinung nach auf den Mord, Chief?«
»Keine Ahnung. Sollte es Craigie gelungen sein, seine Krankheit geheimzuhalten, möglicherweise gar keinen.«
»Der Mörder hat bestimmt nichts davon gewußt. Wer riskiert schon, für Jahre ins Gefängnis zu wandern, wenn er einfach in aller Seelenruhe abwarten kann, bis der Betreffende ins Gras beißt.«
»Das gilt nur, falls Zeit keine Rolle spielte.«
»Richtig. Andererseits... he... was ist damit? Da er wußte, daß seine Tage gezählt waren, und weil er keine Lust hatte, all den Schmerz und die vielen Prozeduren über sich ergehen zu lassen, begeht unser Held Selbstmord.«
»Vom psychologischen Standpunkt aus gesehen, klingt das meiner Ansicht nach ganz einleuchtend. Aber er hätte niemals so gehandelt, weil das für die anderen ein Maximun an Leid und Verwirrung bedeutet hätte. Ich sehe ihn als jemanden, der seine Angelegenheiten in Ordnung bringt und dann eine Überdosis nimmt, nachdem er eine Nachricht an seine Zimmertür geklebt hat. Sie wissen schon - bitte nicht stören. Ruft einen Krankenwagen.«
»Okay. Nehmen wir mal an... ähm... jemand weiß Bescheid, ja? Er mußte es jemandem sagen, um die Zukunft der Kommune nicht zu gefährden, und er - oder sie - kann es nicht ertragen. Kann den Gedanken nicht ertragen, daß der arme alte Obi zunehmend wirrer im Kopf wird. Und beschließt, ihn aus Barmherzigkeit umzubringen. Ein kurzer Stoß mit dem Messer, und schon wandelt ein Seeliger weniger auf der Erde, schon steht einer mehr vor der Himmlischen Pforte.«
»Da habe ich denselben Einwand. Diesen Ausweg würde keiner von denen wählen.« Barnaby tippte auf den Bericht. »Unnötig gefährlich und aufwendig. Die würden ihm was ins Müsli rühren.«
»Wahrscheinlich.« Da jede seiner Theorien abgeschmettert wurde, musterte Troy ziemlich gereizt den Bildschirm. Es geschah einigen Leuten ganz recht, wenn sie es mit einem Holzkopf zu tun hatten, der nur einmal pro Jahr eine vernünftige Idee auftischte.
»Tut mir leid, Gavin.«
»Was?« Troy gab sich verwundert. »Oh - ist schon in Ordnung. Ich habe einfach nur laut nachgedacht, wissen Sie. So wie sie das auch immer tun. Nun«, sagte er und erhob sich, »ich denke, ich werde heute etwas früher zum Mittagessen gehen, es gibt wahrscheinlich Fisch, wie immer am Ende der Woche. Ich werde ihn mal probieren. Soll gut für das Gehirn sein.«
»Die alten Chinesen waren gerissen. Sie stopften ihren Verdächtigen den Mund mit Reis voll. Spuckte der Verdächtige ihn aus, hieß das, seine Speicheldrüse war nicht ausgetrocknet, virgo - er sagte die Wahrheit.«
»Und was, wenn er tatsächlich keinen Reis mochte?«
»Bringen Sie mir ein paar Sandwiches mit.«
Mit einer hellgrünen, vollgepackten Plastiktüte kehrten Chris und Suhami in die Küche zurück und schütteten die Post auf den Tisch. Zwei kleine Päckchen und rund ein Dutzend Briefe.
Janets flinke Finger schoben sie hin und her. Kein Brief für sie. Als ihr Heathers teilnahmsvoller Blick auffiel, stand sie schnell auf und machte sich daran, die Kaffeetassen einzusammeln.
»Himmel«, entfuhr es Arno, als er einen Briefumschlag öffnete, »da meldet sich schon jemand für unser Hydro/Massage-Wochenende an.«
Reich Aphrodite die Hand war überall in Causton und Ux-bridge plakatiert und diskret in einer oder zwei Zeitschriften annonciert worden. Die Kommune hatte ein paar Whirlpoolapparate angeschafft, um die Ausstattung der alten Klauenfußbadewannen zu verbessern. Falls das Wetter es zuließ, sollte der Workshop jedoch im See stattfinden.
»Hier ist einer für dich«, sagte Chris. »Und May.« Er hielt ihnen einen langen, schmalen Briefumschlag aus schwerem cremefarbenem Büttenpapier entgegen, der tadellos adressiert und ausreichend frankiert war.
»Für uns beide?« Hocherfreut, aber auch irritiert nahm Arno den Brief in Empfang. Als Verwalterin erhielt May im Gegensatz zu ihm sehr oft Post. Er könne sich nicht vorstellen, verriet er, warum jemand an sie beide einen Brief sandte.
»Kannst du nicht?« fragte Chris aufgeregt und angespannt. »Der ist von einem Anwalt.«
»Meinst du?«
»Aber klar doch. Deren Briefe sehen immer so aus.«
»Ich denke, Chris könnte recht haben«, murmelte Heather mürrisch.
»Wir müssen sofort May suchen.«
»Mach ihn auf«, drängte Suhami. »Er ist auch an dich adressiert.«
»Dennoch wäre es mir lieber, wenn sie ebenfalls zugegen wäre.«
»May war vorhin bei Mrs. Gamelin«, sagte Heather. »Soll ich sie holen?«
»Ich werde gehen«, schlug Suhami vor.
Mit geschlossenen Augen und einem Milchbärtchen auf der Oberlippe lag Felicity auf ihrem Kissen. May saß neben ihrem Bett. Leise trat Suhami ein und schloß die Tür.
Sie ging zum Bett hinüber und betrachtete ihre Mutter, die sie seit Jahren nicht mehr ohne das, was Felicity ihre »Kriegsbemalung« nannte, zu Gesicht bekommen hatte. Mit Entsetzen bemerkte sie, daß sie sie auf der Straße nicht wiedererkannt hätte.
Felicitys Haar war glatt zurückgekämmt. Da sie auf ihrem Roßschwanz lag, war da nichts, was ihre unglaublich scharfe Kinnlinie und ihre hohlen Wangen umschmeichelte. Selbst im Tiefschlaf sah sie unerhört verzweifelt aus. Alle Gamelins, dachte Suhami. Wir alle... Unerwarteterweise berührte es sie sehr zu sehen, daß die Augenbrauen ihrer Mutter langsam grau wurden.
»Wird sie wieder gesund werden, May?«
»Das hängt sehr stark davon ab, ob sie gesund werden möchte. Im Augenblick können wir ihr nur Ruhe und Erholung bieten. Ich vermute, ihre Seele und ihr Körper haben große Pein erfahren.«
»Ja.« Suhami drehte sich weg. Schließlich gab es nichts, was sie tun konnte. Zuviel Zeit war verstrichen. Sie besaß nicht einmal die Erinnerung an Zuneigung. »Für dich ist ein Brief gekommen.« Ohne noch einmal einen Blick über die Schulter zu werfen, verließ sie das Zimmer. »Alle nehmen an, daß es sich um einen Brief von einem Anwalt handelt.«
Nachdem er ins Büro umgezogen war und hinter dem alten Kopiergerät Platz genommen hatte, sortierte Arno mit Chris’ Unterstützung die Briefe aus. Wie er angenommen hatte, handelte es sich bei den meisten um Anmeldungen für geplante Veranstaltungen. Ein oder zwei Rechnungen waren ebenfalls darunter und auch die Anfrage nach einer Heilsitzung. Als May eintrat, erhob er sich und händigte ihr den Büttenumschlag aus, den sie umgehend aufriß.
»Der Brief ist von einem Mr. Pousty von Pousty & Dingle. Sie möchten uns sprechen.«
»Weswegen?« fragte Arno.
»Das steht nicht drin.« May stellte sich vor das offene Fenster und hielt den Briefbogen ins Sonnenlicht. Nach ein paar Minuten begann ihr Arm zu zittern. Sie zog den Brief zurück, preßte ihn an ihre Wange und atmete tief durch. »Nun, sicherlich gute Neuigkeiten. Wir sollten anrufen, Arno, und einen Termin vereinbaren.«
Arno war nicht in der Lage, mit Mr. Pousty zu sprechen, der gerade in der Nähe von Cairngorms Urlaub machte, aber man ließ ihn wissen, daß Hugo Clinch sich freuen würde, sie an diesem Nachmittag um halb drei zu empfangen.
Mr. Clinch, ein Mann Mitte Dreißig, trug einen hervorragend geschnittenen mittelblauen Anzug, eine etwas hellere Seidenkrawatte und eine graublaue Weste. Sein Hemd strahlte in einem blassen Kanarienvogelgelb, das sich nicht von seinen gelockten Haaren unterschied. Er besaß eine Menge großer, sehr gepflegter Zähne.
Das Büro war hell und geräumig. An einer Wand hing eine Reproduktion von Annigonis »Queen«, und die anderen drei waren mit langen, schmalen Fotos von Cricketspielern bestückt. Ein Sack mit Golfschlägern lehnte an einem Aktenschrank, und auf dem Tisch stand ein in Silber gerahmtes Foto, auf dem Mr. Clinch mit einem Fechtdegen unter dem Arm und einem Rapier in der Hand abgebildet war.
Arno, dem ein paar altmodische Zertifikate lieber gewesen wären, sah, daß May sich setzte, und folgte ihrem Beispiel. Kaum hatte er Platz genommen, ging eine Tür auf, und ins Zimmer stolperte eine Dame mit einem Hut wie ein glasierter Pilz. In Händen hielt sie ein Tablett mit Teegeschirr. Dem Alter nach hätte sie gut und gern Mr. Clinchs Großmutter sein können. Arno sprang auf und eilte ihr zu Hilfe. Dankbar neigte sie den Kopf und entfernte sich wieder. In der Luft blieb ein Hauch von Lavendel zurück.
Nachdem der Tee - Lapsang Souchong - eingeschenkt und das Gebäck - Lincoln-Biskuits - verteilt waren, sprach Mr. Clinch ihnen sein Mitgefühl aus. Nach dieser kurzen Ansprache zog er eine graue Metallkiste heran, auf der seitlich in Weiß der Name »Craigie« geschrieben stand, und lächelte. Endlos lange Zahnreihen blitzten auf. Arno bewunderte die teuren Keramikkronen und fragte sich, wie der Mann es schaffte, den Mund zu schließen.
Das Testament war kurz und schlicht gehalten. Beschrieben wurde das »Manor House« genannte Anwesen in Compton Dando, Buckinghamshire, das im folgenden zu gleichen Teilen Miss May Lavinia Cuttle und Mr. Arno Roderick Gibbs vermacht wurde. Pietätvoll legte der Anwalt eine kurze Pause ein, senkte den Blick taktvoll auf seine grüne Schreibunterlage und blickte schließlich auf. Er rechnete damit, daß sich auf den Mienen seiner Besucher Freude und Trauer spiegelten, wie das unter derlei Umständen immer der Fall war.
Doch Mr. Gibbs war leichenblaß, umklammerte die Armlehnen seines Holzstuhls. Es war unübersehbar, daß er schreckliche Qualen litt. Im Gegensatz dazu nahm Miss Cuttles Antlitz in Sekundenschnelle einen tiefen Rotton an. Sie stieß einen Schrei aus und begann laut zu weinen.
Schockiert über die allzu menschlichen Reaktionen, öffnete Mr. Clinch eine Schreibtischschublade und holte eine Schachtel Kosmetiktücher hervor. Als sein Papierkorb bis zur Hälfte mit verbrauchten Zellstofftüchern gefüllt war und Arnos Wangen langsam wieder einen verhaltenen Roseton annahmen, schenkte der Anwalt Tee nach, den keiner von beiden anrührte. Hilflos händigte er Arno, der in seinen Augen nicht ganz so mitgenommen wie seine Begleiterin war, einen Briefumschlag aus. Auf dem Umschlag hatte der Meister ihre beiden Namen geschrieben. Arno stand auf und fragte: »Müssen wir ihn jetzt lesen?«
»Natürlich nicht. Obgleich darin Dinge angesprochen werden könnten, über die Sie eventuell mit mir sprechen möchten. Dies würde Ihnen einen weiteren Termin bei mir ersparen.«
»Selbst wenn dem so ist, brauchen wir nach meinem Dafürhalten Zeit, um all das zu verdauen. Sicherlich wird Miss Cuttle...« Er warf May, die immer noch aufgelöst war, einen ängstlichen Blick zu. Selbst die grüne Kokarde auf ihrem kleinen roten Dreispitz schien in sich zusammengefallen zu sein.
»Nein, Arno«, sagte sie. »Mr. Clinch hat ganz recht. Es ist vernünftiger, ihn jetzt gleich zu lesen.«
»Dann - falls es Ihnen nichts ausmachen würde?« Arno gab den Brief zurück. Weder sich noch seiner Stimme traute er zu, die Worte des Verstorbenen laut zu lesen. Der Anwalt zog ein einzelnes Blatt heraus und begann vorzulesen.
»>Liebe May, lieber Arno, inzwischen seid Ihr über den Inhalt meines Testaments und die damit verbundene Last in Kenntnis gesetzt worden, die ich Euch aufgebürdet habe. Mein größter Wunsch ist es, daß die Arbeit der Kommune, das Heilen, die Bereitschaft, eine Rückzugsmöglichkeit zu gewähren, und die Lehre des Lichts fortgeführt wird, und ich meine, daß diese Aufgabe bei Euch gut aufgehoben ist. Es tut mir sehr leid, daß ich nicht in der Lage bin, Euch die finanzielle Unterstützung zu hinterlassen, die Euch diese Aufgabe erleichtern würde. Sollte es unmöglich werden, ein so großes und altes Anwesen zu leiten und zu unterhalten, würde ich vorschlagen, es zu verkaufen und mit dem Geld ein kleineres Haus zu kaufen. Das übrige Kapital könntet Ihr vielleicht investieren und Euch somit ein zukünftiges Einkommen sichern. Außerdem übertrage ich Euch in vollem Vertrauen die Sicherheit und das Wohlergehen Tim Rileys. Meine Liebe an Euch beide. Gott schütze Euch. Wir werden uns wiedersehen.< Und dann ist das Schriftstück noch signiert«, schloß Mr. Clinch, »mit Arthur Craigie.«
Schweigen machte sich im Zimmer breit. Beide Legatare spürten, daß es ihnen absolut unmöglich war, eine adäquate Antwort zu finden. Vorgewarnt zog Mr. Clinch eine frische Zellstoffschachtel hervor, um dann rücksichtsvoll aus dem Fenster zu blicken. Als Miss Cuttle aufsprang, war er in Gedanken meilenweit entfernt. Mit dramatischer Geste bekundete sie ihre Zustimmung. Dabei bauschte sich ihr weites Cape auf. Von den vielen Metern in Falten gelegter, bernsteinfarbener Seide geblendet, griff Mr. Clinch nach seinem Tintenfaß und seinem Bilderrahmen, die es seiner Meinung nach vor dem Fall zu schützen galt.
»Wir werden die Wahrheit hüten. Das werden wir doch, nicht wahr, Arno?« fragte sie mit feuchten Augen.
»... oh...« Arno konnte kaum sprechen. All diese Verbindungen ... diese offizielle Verbindung seines Namens mit dem von May machte ihn schwindlig. Um jedweden Zweifel auf der Stelle auszuräumen, brachte er gequält, aber geistesgegenwärtig hervor: »Ja, ja.«
Mr. Clinch versprach, ihnen den Besitz umgehend zu überschreiben, geleitete sie dann durch den Flur zu der Dame mit dem Filzhut, die gerade Goldfische fütterte, und verabschiedete sich von ihnen mit einem letzten umwerfenden Lächeln.
Die Causton High Street hinunterfahrend, fragte May: »Meinst du, wir sollten auf dem Polizeirevier vorbeischauen?«
»Häh?« Arno war noch nicht wieder auf die Erde zurückgekehrt.
»Sie haben uns aufgetragen, sie über alle neuen Entwicklungen zu informieren. Meiner Meinung nach könnte der Inhalt des Testaments auch damit gemeint sein.«
»Nun...« Die Wahrheit war, daß Arno May so lange für sich allein haben wollte wie nur irgend möglich. Nur sie beide, eingezwängt in ihren kleinen, lauten Käfer. May, die hinter dem ^ Steuer ein Liedchen trällerte, und er, der alles, jede Sekunde des Zusammenseins mit ihr wie ein Schwamm aufsaugte.
»Die nächste links, nicht wahr?«
»Ich weiß es nicht.«
Es war die nächste links. Gewissenhaft parkte May ihr Auto auf dem Besucherparkplatz und stieg aus. Arno fragte: »Willst du deine Handtasche im Wagen lassen?«
»Himmel, nein. Vor so einer Unaufmerksamkeit wird man doch immer gewarnt.« May zog ihr besticktes Täschchen heraus und schloß die Tür ab. »Irgendein Polizist wird sie sehen, und dann kriege ich eine Verwarnung.«
»Ist gut möglich, daß er gar nicht da ist - Barnaby«, meinte Arno, als sie durch die große Glastür mit dem Aufdruck »Empfang« schritten. »Könnte sein, daß er unterwegs ist und in einem Fall ermittelt.«
»Dann werden wir ihm eben eine Nachricht hinterlassen«, schlug sie vor. Neben einem Schild, das die Besucher zum Läuten aufforderte, war ein weißer Knopf, auf den May lange drückte. »Ich habe nicht die geringste Lust, mit diesem jungen Mann mit der schrecklichen Aura zu sprechen. Solche Leute ziehen einen tagelang runter.«
Ein Constable näherte sich ihnen und musterte mürrisch Mays behandschuhte Hand. Sie nahm den Finger vom Klingelknopf, meldete ihr Anliegen, woraufhin sie zu dem CID-Block hinübergebracht und in Barnabys Büro geführt wurden. Troy, das fiel Arno angenehm auf, war nicht anwesend. Jede Form von Erfrischung ablehnend, verkündete May die Neuigkeiten. Nachdem sich der Chief Inspector von dem Schock erholt hatte, einer mobilen Ampel zu begegnen, fragte er seine beiden Besucher, ob sie mit dieser frohen Botschaft gerechnet hätten.
»Überhaupt nicht.« May schien entsetzt, ja beinah schockiert zu sein.
Arno sagte: »Auf diese Idee wären wir nie gekommen.«
Barnaby hielt es durchaus für möglich, daß sie die Wahrheit sprachen. Die beiden kamen ihm tatsächlich wie ein ganz und gar undurchtriebenes Pärchen vor. Lächelten nicht verlogen, gaben keine falschen Erklärungen ab, alles Eigenschaften, die der menschlichen Rasse bei der Erledigung der Tagesgeschäfte bestens vertraut sind. May holte den Brief heraus und beobachtete ihn beim Lesen. Nachdem er den Inhalt überflogen hatte, dankte er ihr, schrieb die Telefonnummer auf und gab ihn wieder zurück. Sie erwarteten seinen Kommentar. May, unschuldig und ruhig, mit ausdruckloser Miene, was bei ihr eine Seltenheit war. Arno stolz, doch angesichts der Konfrontation mit der staatlichen Autorität ein wenig verschüchtert.
»Glauben Sie, daß jemand anderer über Mr. Craigies Pläne Bescheid wußte?«
»Ich bin sicher, daß dem nicht so war«, verkündete May. »Wenn er uns nicht informiert hat, wo wir doch die Nutznießer sind, wem sonst sollte er es erzählen?«
»Dann könnte man sozusagen von einer günstigen Wendung sprechen«, deutete Barnaby mit einem Lächeln das Testament.
»Es ist«, meinte May ernst, »eine große Verantwortung.«
»Wir betrachten das Testament nicht als persönliches Geschenk«, fügte Arno erklärend hinzu. »Sondern eher als etwas, das uns im Vertrauen überlassen wurde.«
Barnaby runzelte die Stirn. Dieser Satz erinnerte ihn an etwas. Stimmte ihn nachdenklich. Wo hatte er ihn schon mal gehört? Einen Augenblick dachte er angestrengt nach, gab dann aber auf. Er hatte den Eindruck, daß Arno noch etwas sagen wollte und zog ermutigend die Augenbrauen hoch.
Arno interpretierte die Mimik richtig, schwieg aber beharrlich. In Wirklichkeit hatte er die Absicht gehabt zu fragen, ob es bei der Ermittlung irgendwelche Fortschritte gab. Ob die Polizei ihrem Ziel, der Ergreifung des Mörders, schon näher gekommen war. Aber dann mußte er an Mays Auslegung denken, die davon überzeugt war, daß ihr geliebter Meister durch übernatürliche Vorgänge von der Erde entfernt worden war, und hielt den Mund.
Barnabys Räuspern veranlaßte seine Besucher, den Blick auf ihn zu richten. »Ich habe Neuigkeiten für Sie. Etwas, das sich bei der Obduktion ergeben hat.« Er erläuterte die Natur und das fortgeschrittene Stadium der tödlichen Krankheit. Eigentlich hatte er angenommen, daß diese Nachricht eine tröstende Wirkung haben würde. Falls etwas das schreckliche und brutale Ende durch einen Mord mildern konnte, dann doch gewiß die Entdeckung, daß dieser kurze, gewalttätige Akt dem Opfer ein schmerzensreiches Schicksal erspart hatte.
Nach einer Weile legte May die Hand auf die Stirn und sagte: »Wie typisch, daß er uns darüber nicht in Kenntnis gesetzt hat. Was für ein tapferer Mann.«
»Ja.« Arno nickte zustimmend. Und gelangte zum selben Schluß, zu dem auch Barnaby gekommen war. »Das war wahrscheinlich der Grund, warum er so oft ins Krankenhaus gegangen ist. Und warum er hinterher so erschöpft war.«
»Begreifen Sie nun, Inspector«, fragte May, »wie recht ich gehabt habe? Das erklärt wirklich alles.«
»In welcher Hinsicht, Miss Cuttle?«
»Daß er auf wundersame Weise unsere Welt verlassen hat. Göttliche Intervention, verstehen Sie? Der Lohn für ein gerechtes und gutes Leben. Die Erleuchteten hatten den Wunsch, ihm weiteres Leid zu ersparen.«
Was sollte er darauf erwidern? Barnaby dankte ihnen für ihren Besuch und kam hinter seinem Schreibtisch hervor, um sie zur Tür zu bringen. Miss Cuttle hob ihre Tasche auf, die Barnaby, den Türgriff in der Hand, anstarrte. May hielt mitten in der Bewegung inne und ließ dann die Hand sinken.
»Was, um Himmels willen, ist denn, Inspector?«
Barnaby fragte: »Könnte ich bitte einen Blick darauf werfen?« Er streckte die Hand aus. Spürte instinktiv, noch ehe sie ihm die Tasche aushändigte, daß er einen Treffer gelandet hatte. Wieder an seinem Schreibtisch, legte er die Tasche hin und bemerkte, wie seine Hände leicht zitterten. Die Tasche war üppig bestickt: Rosen, Lilien, kleinere blaue Blumen, die alle durch verschlungene lange Stiele miteinander verbunden waren. Farne bildeten den Hintergrund. Der Stoff war mit langen Griffen aus poliertem Holz zusammengefaßt. Die Form kam Barnaby bekannt vor. Joyce hatte auch so eine Tasche, in der sie ihr Strickzeug aufbewahrte. »Falls es Ihnen nichts ausmacht...?«
Er nahm die Griffe auseinander. Verblüfft sagte May: »Bitte sehr.«
Außen war der Stoff gänzlich bestickt. Ihn interessierte das Innere der Tasche. Sie war wunderschön verarbeitet. Die Enden der farbigen Stickereien waren ordentlich vernäht und abgeschnitten. Der Saum war eingefaßt, aber das bißchen Stoff, das noch zu erkennen war, reichte, um seine Vermutung zu bestätigen. Mit Mays Erlaubnis schnitt er ein Stück davon ab, ehe er ihr die Tasche aushändigte. Inzwischen hatten Arno und May wieder Platz genommen.
»Am Abend von Craigies Ermordung«, fragte der Chief Inspector, »wo ist da die Tasche gewesen? Wissen Sie das noch?«
»Ich hatte sie bei mir.«
Barnabys Magen machte einen Satz. »Die ganze Zeit über?«
»Sicherlich ab dem Zeitpunkt, wo ich die Rückführung antrat. Lassen Sie es mich Ihnen erklären - als ich den Solar betrat, nachdem ich meine Reinigung beendet hatte, legte ich meine Tasche neben die Tür und nahm daraufhin meine übliche Position ein. Kaum hatte ich es mir bequem gemacht, merkte ich, daß ich leicht fröstelte. Nun, während einer Rückführung begibt man sich schnell auf das, was wir das Alphale-vel nennen. Die Temperatur sinkt, die Haut kühlt aus. Wenn man dann friert, wird es ziemlich ungemütlich. Daher bat ich um mein Cape, und Christopher stand auf und holte meine Tasche.«
»Und er brachte sie Ihnen gleich?«
»Ja, er zog das Cape heraus und reichte mir die Tasche. Ich legte sie auf den Boden, na, eigentlich neben mich, legte das Cape um, und dann begannen wir.«
»Kam jemand anderer in Berührung mit der Tasche?«
»Nein.«
»Doch, das muß so gewesen sein.« Barnaby sprach halb zu sich selbst.
»Ich kann Ihnen versichern, daß dem nicht so war.«
»Und was war, als Sie sie neben die Tür legten?«
»Ich war die letzte Person, die den Raum betrat. Keiner kam in ihre Nähe.«
»Hatten Sie sie den ganzen Tag über bei sich?«
»Nun... ab und zu, ja. Wie das eben so ist. Am Vormittag lag sie in meinem Zimmer.«
Das war nicht von Interesse. Das Messer konnte jederzeit hineingelegt worden sein, wenngleich der gesunde Menschenverstand diktierte, daß so etwas in der allerletzten Minute getan wurde, um zu verhindern, daß der Gegenstand entdeckt wurde. Jeder hätte Mays Tasche öffnen können. Und das hatte auch jemand getan. Andrew Carter. War es denn möglich, daß er in dem dunklen Raum keinen Blick auf den Inhalt geworfen « hatte?
»Erinnern Sie sich, was sonst noch in Ihrer Tasche gewesen ist, Miss Cuttle? Einmal abgesehen von dem Cape?«
»Meine Notfallmedizin natürlich. Ohne die mache ich keinen Schritt. Kristalle - ein grüner Aventurin, ein kleiner Pyrit und ein Schneeflockenobsidian. Ein Tierkreiszeichenkalender, ein Pendel - der übliche Krimskrams. Im Augenblick herrscht - wie ich befürchte - etwas Unordnung. Ich mußte mit der Tasche auf einen Reporter eindreschen, um ihn von unserem Grundstück zu vertreiben.«
Barnabys Hochstimmung verflüchtigte sich schnell. Er würde das Stoffstückchen ins Labor schicken, hätte aber jetzt schon schwören können, daß es mit der Faser am Messergriff übereinstimmte, was nichts daran änderte, daß er den Eindruck hatte, daß diese Gewißheit eher zur Verwirrung denn zur Klärung beitrug. Er malte sich aus, wie alle zu der am Boden liegenden Gestalt in extremis stürzten. Wie der Mörder sich die Tasche schnappte, nach dem Messer suchte, zurück zum Podest rannte, Craigie erstach, sich wieder zu den anderen gesellte. Die ganze Sache konnte verrückter nicht sein. Erst jetzt registrierte er, daß Arno sprach.
»Entschuldigung, Mr. Gibbs?«
»Ich sagte, es gab noch eine andere Tasche.«
»Eine andere Tasche?«
»Sicher«, rief May. »Die war mir ganz entfallen. Ich habe Suhami eine gemacht, als Geburtstagsgeschenk. Weil ihr meine so sehr gefallen hat.«
»Und Sie haben denselben Stoff verwendet?«
»Nicht genau denselben. Aber von der gleichen Bahn. Ich hatte noch etwas übrig, müssen Sie wissen.«
»Ich nehme nicht an«, es kostete Barnaby einige Mühe, nicht laut zu werden, »daß einem von Ihnen aufgefallen ist, ob sie sie mit in den Solar gebracht hat?«
»Doch, das hat sie«, meinte Arno. »Hat sie neben ihre Füße gelegt.«
»Auf das Podest?«
»Ja.«
»Aaahhh.«
»Sie wollte sie nicht weglegen«, erklärte May. »Mochte sie so gern. Ist Ihnen das eine Hilfe, Inspector?« Barnaby bestätigte dies nachdrücklich. »Sie haben einen Frosch im Hals«, bemerkte May gutmütig. Die polierten Griffe der Tasche gingen auseinander. »Darf ich Ihnen ein Salbeihustenbonbon anbieten?«
Es war vier Uhr nachmittags. Barnaby wartete darauf, daß Troy von Manor House zurückkehrte, wo er Sylvia Gamelin verhörte. Der Inspector stand vor seiner Vergrößerung und sah sie vor seinem geistigen Auge rechts von Craigies Stuhl stehen, die Tasche zu ihren Füßen, das Messer darin versteckt.
Wußte sie, daß es drin war, oder nicht? May hatte ausgesagt, Suhami habe ihr Geschenk nicht weglegen wollen, aber diese Form von Übertreibung war beileibe keine Seltenheit. Sätze wie »Wenn ich noch einen Bissen zu mir nehme, platze ich« oder »Wir sind ja so von Ihnen angetan« durften nicht wortwörtlich genommen werden. Zweifellos hatte Suhami ihre Tasche tagsüber irgendwann einmal - oder sogar öfter - weggelegt oder sie zumindest aus den Augen gelassen.
Auf der anderen Seite, wenn sie nicht gewußt hatte, daß das Messer darin war... Das Mädchen hatte genau an der richtigen Stelle gestanden, um mit dem Messer zuzustoßen. Nur ein einziger Schritt nach vorn, eine Drehung, und schon stand sie dem Opfer direkt gegenüber. Was, wenn alle anderen weggegangen waren und den altersschwachen Mann mit einer kräftigen jungen Frau allein zurückgelassen hatten? Ja, was dann? Hatte sie überhaupt ein Motiv?
Barnaby schlenderte zu seinem Schreibtisch zurück, blätterte die Unterlagen und Fotos durch und fischte ihre Aussage heraus. Im Grunde genommen kannte er sie auswendig, wie alle anderen auch. Er erinnerte sich an ihr zorniges Geschrei, ihre aufgebrachten, gegen den Vater gerichteten Beschuldigungen. Barnaby war kein Mann, der sich leicht irreführen ließ - schon gar nicht von Tränen -, doch die Echtheit ihres Gefühlsausbruchs zweifelte er nicht an.
Er las weiter. Wie alle anderen war sie schnell bereit gewesen zu erwähnen, daß der Sterbende auf Gamelin gedeutet hatte. Des weiteren hatte ihr viel daran gelegen herauszustellen, daß ihr Vater die Gelegenheit gehabt hatte, Messer und Handschuh an sich zu nehmen. Aber wer hatte ihn allein in der Küche gelassen? Und falls er das Messer genommen und es versteckt hatte, warum hätte er dann das Risiko eingehen und es später in ihre Tasche schieben sollen? Er hätte sich nicht sicher sein können, daß sie sie zur Rückführung mitnehmen würde.
Sollten sie es hier mit zwei Morden zu tun haben - was er für wahrscheinlicher hielt -, wo war die Verbindung zwischen dem Tod von Craigie und dem von Jim Carter? Suhami lebte zwar lange genug auf Manor House, um an der ersten Ermordung beteiligt gewesen zu sein, und sie war vom physischen Standpunkt aus betrachtet auch in der Lage, jemanden eine Treppe hinunterzustoßen, doch selbst wenn sie kein hieb- und stichfestes Alibi hatte, gab es für sein Dafürhalten kein eindeutiges Motiv.
Troy kam ins Büro und plapperte sofort drauflos. »Habe ein Stück Stoff aus ihrer Tasche. Hab’s gleich ins Labor gebracht. Ich sagte, es sei sehr dringend. Sie meinten, morgen früh erfahren wir mehr.«
»Das habe ich schon mal gehört.«
Troy knöpfte sein Jackett auf, hängte es sorgfältig auf einen Bügel und zog sein Notizbuch und eine Kopie von Suhamis erster Aussage hervor.
»Bestätigt alles, was die anderen beiden gesagt haben. Hat die Tasche zum Geburtstag geschenkt bekommen. Hat sie die ganze Zeit über dabeigehabt, hat sie nicht mal auf ihr Zimmer gebracht, sondern mit in die Küche genommen, hat sie aber einmal auf dem Eßtisch und einmal auf dem Tisch in der Halle abgelegt.«
»Haben Sie sie gefragt, was sie in der Tasche gehabt hat?«
»Ja. Wollte das Gefühl haben...«, Troy warf einen Blick auf seine Notizen, »daß sie sie von Anfang an richtig benutzt. Etwas Make-up, eine Bürste, eine Packung Taschentücher, ein paar Haarkämme. Damit half sie dem Mörder, denn er hätte das Messer wohl kaum in eine leere Tasche stecken können. Das nächste Mal, als sie sie in die Hand nahm, öffnete sie sie, um einen Blick hineinzuwerfen.«
»Vielleicht stecken da ja zwei unter einer Decke.«
»Ja, das ist auch möglich.«
»Weiß sie noch, wann sie zum letzten Mal einen Blick reingeworfen hat?«
Wieder schaute Troy auf die engbeschriebenen Seiten. »Hat sie erst wieder aufgemacht, nachdem sie die Sachen reingetan hat. Im Solar hat sie das Ding neben ihre Füße gelegt. Hat nicht gesehen, daß jemand sie berührte. Der Rest ist ein Mysterium. Meinen Sie, das grenzt die Sache ein, Chief? Ich meine auf die vier, die in ihrer Nähe waren?«
»Ist verführerisch, das anzunehmen. Aber auch die anderen sind nicht weit entfernt. Bin nicht der Ansicht, daß wir zum jetzigen Zeitpunkt einen von ihnen von der Verdächtigenliste streichen können.«
»Nicht mal die arme alte Kokserin Felicity?«
»Nicht mal die. Haben Sie dem Gamelin-Mädchen erzählt, warum Sie ihr Fragen zu der Tasche stellen?«
»Das brauchte ich nicht. Die ist geistesgegenwärtig, auch wenn sie ganz schön abgedreht rüberkommt.«
»Wie hat sie darauf reagiert?«
»Relativ verstört. >Daß ich unwissentlich die Mordwaffe...< ... bla bla bla...« Troy hob die Arme hoch und kreischte mit hoher Stimme.
Seine Vorstellung war so schlecht, daß Barnaby lachen mußte. Troy, der natürlich annahm, sein Chef lache aus dem gegenteiligen Grund, zog an seinen Manschetten.
In diesem Moment tauchte die Polizistin Brierley mit grobkörnigen Schwarzweißabzügen auf. »Ihre Fotos, Sir.«
»Was für Fotos?«
»Sie haben einen Antrag gestellt.«
Barnaby warf seinem Sergeant einen Blick von der Seite zu. »Tut mir leid, Chief.«
»Was habe ich Ihnen gesagt?«
»Das sind die letzten.« Troy betrachtete die Fotos und fragte die Beamtin, ob sie wohl Kaffee kochen würde.
»Ich habe zu tun.«
»Bitte bringen Sie zwei Tassen, ja, Audrey?«
»Sofort, Sir.«
Sofort, Sir, wiederholte Troy stumm. Warte nur, bis ich Detective Chief Inspector bin. Dich werde ich springen lassen! Dich werde ich, verflucht noch mal, springen lassen! Er begutachtete die Fotos und konnte seinen Blick nicht mehr abwenden.
Barnaby las gerade die Notizen des Sergeants durch, als er spürte, daß Troy auf ihn zukam und vor ihm stehenblieb. Von dem Schweigen seines Untergebenen irritiert, blickte er auf.
Blaß vor lauter Siegesfreude, breitete Troy die Fotos auf dem Schreibtisch aus und richtete sich dann gemächlich auf. Diese Bewegung erinnerte Barnaby an einen erfolgreichen Athleten, der sich runterbeugte, um sich die Medaille umhängen zu lassen. Barnaby würdigte die Fotos keines Blickes. Das war auch nicht nötig: Troys Miene sprach Bände.
»Sie hatten also recht?«
Das war seine große Stunde, das wußte Troy, aber er sagte kein Wort. Balsam für die Seele. Diesen Sieg konnte ihm niemand mehr nehmen. Er hatte einen guten Riecher gehabt, war ins kalte Wasser gesprungen, hatte Zähigkeit bewiesen. Und es hatte sich bezahlt gemacht. Wer wollte da behaupten, daß die Klugen immer als letzte ins Ziel kamen?
Nach einer Weile griff Barnaby nach dem Verbrecherfoto von Albert Cranleigh. Kurzgeschnittene Knastfrisur, stoppeliges Kinn, trotzig zusammengepreßte Lippen. Augen, die im Blitzlicht wie dunkle Glasmurmeln aussahen. Oder war dieser Blick jahrelanger Schikane zuzuschreiben? Ganz anders als der Mann mit dem unterwürfigen Lächeln und den langen silbernen Locken des Zauberers von Golden Windhorse. Und doch waren die beiden eindeutig ein und derselbe Mann.
Die vergangene Nacht hatte Janet in Trixies Bett geschlafen. Sich darin vergraben, sich am Duft des aufdringlichen Parfüms ergötzt. Sich vorgemacht, daß diese vage Mulde im Kissen und die unregelmäßige Linie des Lakens von ihrem verlorenen Liebling, ihrer mignonne stammten.
Zutiefst erschüttert wachte sie aus einem Traum auf. Sie war eine schmale Landstraße entlanggelaufen, bis sie einen alten Kirchhof erreichte. Etwas veranlaßte sie, gegen ihren Willen einzutreten. Nun stolperte sie über kleine, von Gras eingefaßte Grabsteine. Sie bückte sich, las ihr eingemeißeltes Geburtsdatum und entdeckte darunter ein zweites moosbewachsenes Datum. Sie begann, das samtige grüne Gewächs abzukratzen, doch da veränderte der Stein seine Form und Struktur, wurde rot und schlüpfrig und ziemlich weich. Auf einmal bewegte er sich unter ihren Fingern. Erschrocken wich sie zurück.
Janet kletterte steif aus dem Bett und schlüpfte in ihre Kleider, die sie gestern abend über den grünen Samtsessel geworfen hatte. Es fiel ihr nicht leicht, die bestürzenden Traumbilder abzuschütteln. Als sie die marineblaue Hose hochzog, fiel ihr Blick auf ihre dicken Schenkel. Geschwind zog sie den Stoff darüber. Beim Schließen des Hosenladens mußte sie daran denken, wie Trixie sich immer über die Hose lustig gemacht hatte. Moniert hatte, daß sie das allerletzte wäre und Janet, was Mode anbelangte, keinen Durchblick besäße.
Sie band sich die alte Armbanduhr ihrer Großtante mit dem Seidenuhrband um, bevor sie in ihr eigenes Zimmer zurückkehrte, sich kaltes Wasser ins Gesicht spritzte und es mit einem harten Frotteehandtuch trocken tupfte. Sie bürstete ihr verfilztes Haar durch, ohne einen Blick in den Spiegel zu werfen. An Essen war nicht zu denken (seit Trixies Verschwinden hatte sie kaum was zu sich genommen), aber ihr Mund war ungewöhnlich trocken, und es gelüstete sie nach einer Tasse Tee.
In der Küche hing der Geruch von verbranntem Toast. Heather saß am Tisch, aß Müsli und las in The Secret Commonwealth of Elves, Fauns and Fairies. Als sie Gesellschaft bekam, schlug sie das Buch zu und stand auf. Ihre Miene signalisierte tiefe Anteilnahme.
»Aloha, Janet - geh in Frieden.«
»Ich bin erst gerade gekommen.«
»Laß mich dir Tee bringen.«
Sie schlug jenen Tonfall an, den Janet immer als »die zuckersüße Kleinmädchenstimme« bezeichnete. Genauso redeten die Leute, die auf Channel Four die Andachten hielten.
»Ich bin durchaus in der Lage, mir selbst Tee einzuschenken.«
»Aber sicher.« Ohne an Janets Äußerung Anstoß-zu nehmen, wich Heather zurück und bedachte sie mit einem liebevollen Lächeln. »Vielleicht etwas Toast?«
»Nein, danke.« Allein bei der Vorstellung wurde Janet schon übel. Sie fürchtete, krank zu werden.
»Du könntest etwas Butter nehmen - sozusagen als besonderen Leckerbissen.«
»Nein, danke, Heather.«
»Gut.« Heathers fein gestimmte Antenne registrierte einen Anflug von Verzweiflung. Sie rieb die Handflächen aneinander, sammelte all ihre therapeutischen Kräfte, nahm sie dann langsam auseinander in dem Wissen, daß nun ein starker Strom belebender Energie zwischen ihren Händen hin und her sprang. Sie schlich sich hinter Janet und fing an, ihre Hände dicht über den Schultern der anderen Frau zu bewegen. Mit der Tasse in der einen, dem Teebeutel in der anderen Hand fuhr Janet herum und brüllte: »Tu das nicht!«
Heather trat einen Schritt zurück. »Ich wollte dir doch nur helfen.«
»Bei was helfen, gütiger Gott?«
»... nun...«
»Du hast keine Ahnung, nicht wahr?« Heather erwiderte nichts, sondern schwieg würdevoll, teilnahmsvoll. »Bist du jemals auf die Idee gekommen, Heather, daß du möglicherweise überhaupt nicht in der Lage bist, eine richtige Diagnose zu stellen?«
Mit rotem Gesicht murmelte Heather: »Ich sehe doch, daß du unglücklich bist.«
»Dann bin ich eben unglücklich. Warum sollte ich das nicht sein? Oder du - oder irgendwer anders, wo wir schon darüber sprechen. Das ist Teil des Lebens. Was bringt dich auf die Idee, daß Unglücklichsein einfach ausgelöscht werden kann? Oder daß es uns besser ginge, wenn dem so wäre?«
»Das ist lächerlich. Indem man sich scheußlich fühlt, ist es noch niemandem gelungen, daß die betreffende Seele strahlend und holistisch wird.«
»Um Himmels willen, woher willst du das wissen? Du weißt soviel darüber, wie man eine strahlende, holistische Seele kriegt... wie ich weiß, wie man Miss World wird.«
»Ich bin wirklich sehr froh, daß du mir das mitgeteilt hast.«
»O Gott -« Janet schleuderte den Teebeutel in die Schachtel. »Sich mit dir zu unterhalten gleicht einem Faustkampf mit einem Marshmallow.«
»Ich sehe, daß du ziemlich gestreßt bist, Jan.«
»Soll ich dir mal erzählen, was mich streßt, Heather? Mehr noch als alles andere in diesem deprimierenden, lieblosen alten Universum. In diesem Tal der Tränen. Soll ich dir das erzählen?«
»Ich wünschte, du tätest es, meine Liebe.« Heathers Miene hellte sich auf.
»Ich kann es auf den Tod nicht ausstehen, Jan genannt zu werden.«
»Gut. In Ordnung. Jetzt haben wir etwas, worüber wir uns unterhalten können. Denk nur immer daran, daß stets die Regel gilt: Du bist okay, ich bin okay.«
»Nun, Heather, eigentlich finde ich ganz und gar nicht, daß du okay bist. Eigentlich würde ich sogar so weit gehen und dich als zu fett für dein Alter und als Nervensäge beschreiben.«
»Du vermißt Trixie -«
»Oh, halt den Mund. Halt den Mund!«
Janet rannte davon. Durch die Seitentür, über die kaputte Steinplatte, die Terrassenstufen hinunter, quer über den Rasen. Sie lief zum Obstgarten, wo sie sich zwischen die Stiefmütterchen fallen ließ. Unter ihrem Rücken knickten die ersten kleinen grün-rot gestreiften Blümchen um. Die warme Luft und die angenehme Atmosphäre standen in krassem Widerspruch zu ihren Qualen. Die Worte »Frieden, Licht und Liebe« schmerzten wie spitze Dolche.
Sie dachte: Ich kann nicht hierbleiben. Ich muß weiterziehen. Noch mal in einer Kommune zu wohnen kommt nicht in Frage. Ich bin offenbar nicht in der Lage, in einer Gruppe zu leben. Dies hatte sie mehrmals versucht (manchmal hatte Janet das Gefühl, ihr ganzes Leben habe aus nichts anderem als fortwährender Landstreicherei bestanden), und es hätte nie funktioniert. All diese Kommunen wie Windhorse boten »Liebe« und erwarteten dafür im Gegenzug, daß man sich ohne zu murren unterordnete. Die meisten setzten ein spirituelles Leben gleich mit dem permanenten Vortäuschen, netter zu sein, als man in Wahrheit war. Für Janets Dafürhalten hatte es damit allerdings mehr auf sich.
Nacheinander hatte sie sich allen orthodoxen Religionen ausgeliefert in der Hoffnung, der Glaube wirke so ansteckend wie eine tropische Krankheit. Im Lauf der Zeit hatte sie sich als immun herausgestellt. Hin und wieder jedoch war es vorgekommen, daß ein Gedicht oder Musik, die Begegnung mit jemandem, der anscheinend den Durchblick hatte, daß all das, was sie gelesen und gedacht oder absorbiert hatte, ein großes zufriedenstellendes Ganzes ergab. In diesen kostbaren Momenten legte sich für kurze Zeit dieses geheimnisvolle, nicht zu fassende Durcheinander in ihrem Kopf und nahm klar und deutlich Gestalt an. Unglücklicherweise hielt dieser Zustand nie lange vor. Bis zum Einbruch des Abends hatte Janet - wie Penelope mit ihrem Schleier - all die Gewißheiten des Tages abgestreift und war so verwirrt und einsam wie eh und je.
Man hatte ihr klargemacht, daß solch eine Wankelmütigkeit weit davon entfernt war, gesund zu sein (Heather behauptete, die Seele setze bei einer negativen Einstellung Warzen an), aber sie wußte nicht, was sie dagegen unternehmen sollte. Wer immer postuliert hatte, Religion sei die Wissenschaft der Angst, hatte gewußt, wovon er sprach. Sie war sich darüber im klaren, daß man mit Gott nicht verhandeln konnte, wer oder was auch immer Gott war.
Unglücklich hing sie ihren Gedanken nach, bis ihr Blick auf die unter der Tür durchgeschobene Tüte fiel, die heute grün und orange war. Die Post! Janet rappelte sich auf und holte sie.
Die Tüte war ziemlich voll. Sie überflog die Briefe, und sofort fiel ihr der lange blaue Umschlag auf. Ohne ihn umzudrehen, wußte sie, daß er an Trixie adressiert war. Den Rest überfliegend - nichts für sie -, stopfte Janet die Briefe wieder in die Tüte und eilte ins Haus zurück. Die Tüte warf sie auf den Tisch in der Halle und rannte auf ihr Zimmer.
Nachdem Heather Ken geholfen hatte, sein Bein hochzulegen, damit das Blut fließen konnte, schenkte sie allen anderen in der Küche Tee ein. Die Kommune hatte aufgehört, sich im Eßzimmer zu versammeln. Dort wurde nicht mal mehr das Abendessen, früher der Höhepunkt des Tages, eingenommen.
An die tägliche Routine auf Windhorse, die noch vor kurzem von großer Bedeutung gewesen war, hielt sich kaum noch jemand. Die Mitglieder standen morgens auf (oder auch nicht), wann es ihnen behagte, und frühstückten im Stehen. Die Flugblätter waren nicht verschickt worden; keiner hielt sich an die Aufgabenverteilung, die bislang streng eingehalten worden war. Entweder hatten sie keine Lust oder vergaßen oder ignorierten ihre Pflichten. In der Waschküche stapelte sich die Dreckwäsche, die sortiert werden mußte, und das unablässige traurige Gebimmel von Calypsos Glocke erinnerte sie daran, daß selbst die Ziege am Ende ihrer Kraft war. Die Mitte hatte nicht gehalten.’ Es gab keinen Zweifel daran, daß alles in rasendem Tempo auseinanderfiel.
Heather reichte ein großes Glas Honig herum und schilderte Janets Unfreundlichkeit, sorgsam darauf bedacht, nicht den leisesten Hauch von Kritik anklingen zu lassen.
»Ich merkte schon, daß sie sich aufregte... und ich wollte ihr doch nur Beistand leisten - wißt ihr? Sie auf angenehmere Gedanken bringen. Nichts da - sie hat sich einfach von mir abgewandt.« Als sie Kens Honig auflöste und ihm die Tasse brachte, stand in Heathers kleinen Augen das Wasser. Ken nickte ihr dankbar zu und drückte die Hand seiner Frau. Heute morgen war seine Nase ein wenig abgeschwollen und nicht mehr ganz so rot, sondern braungelb. Die kleinen Schnitte heilten gut ab.
»Ich nehme mal an«, sagte May, »sie macht sich Sorgen um Trixie.«
»Gewiß doch«, stimmte Heather zu. »Und das verstehe ich auch. Oder versuche es wenigstens. Das Problem ist, daß ich schon immer langweilig und normal gewesen bin.« Dieser kapriziöse genetische Irrtum entlockte ihr einen Seufzer. Sie und Ken tauschten normale und unerhört langweilige Blicke aus. »Aber als sie mir dann vorwarf, keine Heilerin zu sein -«
»Keine Heilerin?« Das Bein rutschte beinahe von der Metallstütze.
»Ich weiß.« Heather rang sich ein Lächeln ab. »Ich war kurz davor, ihr etwas Gehässiges an den Kopf zu werfen.«
»Ich bin sicher, daß Janet nicht unfreundlich sein wollte«, meinte Arno. »Im Augenblick stehen wir alle unter großer Anspannung. Ich persönlich mache mir große Sorgen um Tim.«
Der Junge hatte sich extrem verändert. Nur Arno durfte sein Zimmer betreten, allen anderen blieb die Tür verschlossen. Tim weigerte sich, die Vorhänge mehr als einen Spaltbreit aufzuziehen. In dem spärlich einfallenden Licht konnte Arno erkennen, wie schlimm es inzwischen um Tims Geisteszustand bestellt war. Der Schlaf und das Weinen ließen seine normalerweise straffe Haut aufquellen. Seine geröteten Wangen waren stets tränenbenetzt und wiesen tiefe Furchen auf, wo die Matratze sich abdrückte. Seine Augenlider waren gelbverkrustet. Der Anblick des Jungen schockierte Arno.
Als Arno versuchte, das verschwitzte Kopfkissen neu zu beziehen, mußte er Tims Finger einen nach dem anderen lösen, um diese Aufgabe zu bewältigen. Mit seinen langen und knochigen Fingern umklammerte der Junge panisch seinen Arm. Geduldig hatte Arno sich auf den Bettrand gesetzt und ihm im Flüsterton gut zugeredet.
»Es ist alles in Ordnung... mach dir keine Sorgen. Du bist in Sicherheit, Tim. Verstehst du mich?« Er machte eine Pause, in der Tim die Augen verdrehte, als fürchte er sich vor jedem Schatten, jeder Zimmerecke. »Niemand ist hier. Niemand wird dir weh tun. Kannst du mir nicht sagen, wovor du dich fürchtest?« Diesmal schwieg er länger und strich mit der Hand über Tims heiße Stirn. »Es würde ihm nicht gefallen, dich so zu sehen.«
Bei diesen leise formulierten Worten stieß Tim eine Reihe verunsicherter, erstickter Laute aus. Besorgt und beunruhigt, weil es ihm nicht gelang, den armen Jungen zu trösten, reagierte er verzweifelt. »Du machst dir doch keine Gedanken um die Zukunft, oder? Gestern habe ich dir zu erklären versucht, daß May und mir nun das Haus gehört. Wir werden uns immer um dich kümmern. Der Meister hat dich unserer Obhut überlassen. Er hat dich geliebt, Tim...«
»Findest du nicht, Arno«, holte Mays Stimme ihn in die Gegenwart zurück, »daß wir uns mit jemandem aus dem Krankenhaus unterhalten sollten?«
Mit offenem Mund warfen sich Ken und Heather konsternierte Blicke zu. Niemals hätten sie erwartet, solch verräterische Worte auf Windhorse zu vernehmen. Jedes allopathische Mittel, angefangen von einem milden Analgetikum bis hin zu lebenserhaltender Chirurgie, erregte ihre Skepsis. Gestern waren sie beide wie vor den Kopf geschlagen gewesen, als sie von der tödlichen Krankheit des Meisters und der Behandlung, der er sich unterzogen hatte, erfahren hatten. Selbst jetzt fiel es ihnen schwer zu glauben, daß er sich von ihnen abgewandt und nicht ihre heilenden Fähigkeiten in Anspruch genommen hatte.
»Ich denke, er wird sich hintergangen fühlen«, meinte Arno und litt darunter, anderer Meinung als seine Angebetete zu sein, »falls wir das tun. Womöglich wird er uns in Zukunft nie mehr vertrauen.«
»Ich verstehe«, meinte May. »Auch ich hasse es, professionelle Hilfe zu holen. Andererseits können wir nicht zulassen, daß er sich ewig dort oben versteckt. Ach - wäre nur der Meister hier.«
»Er wird wieder auf die Erde zurückkommen, May«, rief ihr Ken zu.
Trotz der Festigkeit seiner Stimme schien seine Versicherung in der Luft zu schrumpfen und keinen Trost zu spenden.
In der Zwischenzeit hatte sich Janet über ihren Köpfen auf der gepolsterten Fensterbank zusammengekauert und den blauen Umschlag aus der Tasche gezogen; mit zittrigen Fingern hielt sie ihn hoch. Ein Poststempel aus Slough. Männliche Schrift (wen wunderte das?), die keine besonders starke Hand verriet. Und wieso war sie sich dann so sicher, daß der Absender ein Mann war? Oder entsprang ihre Überzeugung nur ihrer Eifersucht, ihrer Ablehnung?
Vielleicht täuschte sie sich. Vielleicht war der Brief (alle Briefe) von Trixies Mutter oder Schwester. Oder einer Freundin. Aber wer immer sie geschrieben hatte, mußte ihr nahestehen. Nur jemand, der einem nahestand, schrieb so häufig. Sollte diese Person Trixie nahestehen, wußte sie sicherlich, wohin sie gegangen war. Janet begann den Brief aufzureißen, hielt dann aber inne.
Was, wenn diese Person, die regelmäßig Briefe schrieb, darauf verzichtet hatte, eine Adresse anzugeben? In dem Fall wäre sie umsonst in Trixies Privatsphäre vorgedrungen. Letztendlich war das die einzige Motivation, den Brief zu öffnen. Um mit Trixie in Verbindung zu treten und sie zur Rückkehr zu überreden. Sie mußte erfahren, daß sie als Zeugin in einem Mordfall Schwierigkeiten bekam, wenn sie einfach so davonlief. Janet rechnete sogar damit, daß die Polizei schon eine Beschreibung von ihr in Umlauf gebracht' hatte. Als Freundin war es ihre Pflicht, Trixie zu suchen und sie zur Heimkehr zu bewegen, oder nicht? Selbstverständlich würde sie den Brief nicht lesen. Sie riß den Umschlag auf und zog ein einzelnes Blatt Papier heraus.
Geliebte Trixie, Du wirst es kaum glauben - ich selbst kann es kaum fassen - aber Hedda ist weg. Es ist wahr. Ruf mich an oder komm einfach. Ich liebe dich. In Liebe, V.
Janet drückte das Blatt mit der Schrift nach unten auf ihr Knie. Ihr war eiskalt vor Schock. Unerträgliche Einsamkeit übermannte sie.
Darum war Trixie also weggerannt. Um mit diesem Mann - diesem V - zusammenzusein, der sie schlecht behandelt hatte und dies zweifellos auch in Zukunft tun würde. Janet hatte über Frauen gelesen, die stets zu ihren Ehemännern zurückgingen, die sie schlugen. So ein Verhalten war ihr völlig schleierhaft. Niemand hatte jemals Janet geschlagen, und sie hätte schwören können, sie würde weglaufen und keinen Blick zurückwerfen, sollte so etwas jemals geschehen.
Sie dachte an den Tag, als Trixie zum ersten Mal hier aufgetaucht war. Mit beängstigenden blauen Flecken an Kinn und Hals, mit grellroten Fingernagelstriemen auf der Haut. Die Erinnerung ließ Janet am ganzen Körper erschaudern. Etwas später hatte sie sich wieder beruhigt und saß die meiste Zeit stumm und reglos da.
Nach einer Weile heftete sich ihr Blick widerwillig auf das Blatt Papier. Da war eine Adresse. Seventeen Waterhouse. Höchstwahrscheinlich in Slough. Wenn sie nicht dort ist, dachte Janet, bin ich verloren. Und selbst wenn sie dort ist, habe ich auch nicht viel, womit ich etwas anfangen kann. Kein Stadtteil, nichts. Möglicherweise konnte ihr das Postamt behilflich sein.
Janet zwang sich, die kurze Nachricht wieder und wieder durchzulesen, dem Prinzip folgend, daß jedes Wort oder jede Wortreihe laut gesprochen oder genauer betrachtet einen Sinn ergeben könnte, daß die Worte die Macht hatten, ihr weh zu tun. Sie konnte nicht ernsthaft behaupten, daß das hier der Fall war. Obgleich sie noch Eifersucht und Schmerz spürte und ihre Hand leicht zitterte, wurde sie zusehends ruhiger. Ganz allmählich gelang es ihr, die Sache rational zu sehen.
Wieso ging sie ganz selbstverständlich davon aus, daß »V« ein Mann war? Klar, Trixie (oder - vulgärer - Trix) war die »Geliebte« des Schreibers, aber was sagte das schon? Nicht mehr als starke Zuneigung. Kein Grund, ein romantisches Interesse zu unterstellen. Dasselbe galt für die letzte Zeile. Wer setzte heute kein »Ich liebe dich« ans Ende eines Briefes? So verfuhren sogar Bekannte. Dann war da noch die Wiederholung, was womöglich nur bedeutete, daß der Schreiber ein enthusiastischer Charakter war.
Je länger Janet über den Text nachdachte, desto klarer sah sie alles. Bei Hedda, die ohne Zweifel Ausländerin war, handelte es sich bestimmt um ein Au-pair-Mädchen, das gegangen war und mit dem Trixie nicht ausgekommen war. Nun, wo sie weg war, war es in Ordnung, wieder heimzukehren.
Erst nach diesen Überlegungen fiel es Janet wie Schuppen von den Augen, wie dumm sie war. Trixie war vor dem Eintreffen des Briefes verschwunden. Die beiden Dinge hatten also nichts miteinander zu tun.
Gerade als sie das Papier zusammenknüllen wollte, kam ihr eine andere Idee. In einer Hinsicht hatte sich nichts geändert. V konnte wissen, wo Trixie sich aufhielt, auch wenn er sie nicht beherbergte. Als nächstes würde sie das Postamt in Slough an-rufen und nach der genauen Adresse fragen.
Janet stand auf. Nachdem sie eine Entscheidung gefällt hatte, ging es ihr gleich besser. Zu ihrer Überraschung verspürte sie Hunger. Sie nahm eine Orange aus ihrer Obstschale und verließ das Zimmer, um zu telefonieren.
»Wo ist der Indy?«
»Ich sitze drauf.«
»Gott, bist du gemein!«
In der Ecke von Barnabys Küche klapperte und schleuderte und hüpfte die Waschmaschine. Jedes Mal, wenn Cully daheim war, war das Ding ohne Unterbrechung, den ganzen Tag lang, in Betrieb. Der Geruch von gebratenem Speck und Kaffee vermischte sich mit dem Duft von Sommerjasmin, von dem ein großes Büschel über dem offenstehenden Fenster hing. Die Nacht war lau gewesen, und die Luft war schwer. Kein Lüftchen regte sich.
»Es ist ja nicht so, als ob du die Zeitung lesen würdest. Du denkst nur über deinen Fall nach. Ist es nicht so, Ma?«
»Ja.« Joyce drehte den Speck mit einem Messer um.
»Und... wer ist es?«
»Wer ist was?«
»Der Mann mit dem schwarzen Hut.«
»Keine Ahnung.«
»Puh. Drei volle Tage, und du weißt es nicht.«
»Nimm dich in acht«, riet ihre Mutter. »Er ist groß, aber schnell.«
»Das hört sich recht verrückt an, dieses Windhorse. Tanzen sie da nackt unter dem Vollmond? Ich könnte wetten, daß sie es alle miteinander treiben. Im Kloster tun sie das.«
»Eine Kommune ist kein Kloster.«
»Was für einen Unterschied macht das? Was tragen sie? Weite Kittel und selbstgestrickte Unterhosen?«
»Mehr oder weniger.«
»Ich bezweifle, daß man weniger tragen kann«, verkündete Joyce.
Der Toaster spuckte das geröstete Brot aus. Joyce stand auf, und Cully raffte die weichen Falten ihres Morgenmantels zusammen (der heute aus blaßgraumarmorierter Seide war). Der Mantel war viel zu lang. Sie hatte ihn in einem Secondhand-shop in Windsor gefunden und sich auf der Stelle in ihn verliebt, weil sie sich - wie sie behauptete - darin wie Anna Karenina vorkam. Joyce prophezeite, daß sie irgendwann über den Saum stolpern und sich verletzen würde. Cully zog die Toastscheiben heraus und beäugte die Bratpfanne.
»Schalt ab! Schalt ab!« Sie griff nach dem Messer, nahm den Speck heraus und schnappte sich einen Teller.
»Ich will ihn knusprig.«
»Er ist längst knusprig.« Mit zwei Tüchern von der Haushaltsrolle tupfte sie die Speckscheiben ab. »Noch knuspriger, dann zerbröseln sie.«
»Was machst du denn jetzt schon wieder?«
»Ich bewahre ihn vor einem Herzinfarkt.« Cully stellte den Teller vor Barnaby und reichte ihm den Toast. Der Speck war perfekt. Dann setzte sie sich auf ihren Stuhl und sagte: »Erzähl mir mehr über deine Verdächtigen.«
»Wieso denn?«
»Durchaus möglich, daß ich eines Tages so eine Ökotussi spielen muß.«
»Ah.« Natürlich die Schauspielerei. Am Ende lief es immer darauf hinaus. »Nun, es gibt da jemanden, der Geister herbeirufen kann und dessen Gattin die Venus besucht, wenn sie nicht gerade Feen abkommandiert, die beim Abwasch helfen sollen -«
»Ich wünschte, die würden mir jemanden schicken«, meinte Joyce.
»Und dann lebt da eine Frau, die Auras deutet. Ach ja, um meine macht sie sich große Sorgen, auch wenn das hier keiner tut. Rät mir, meine schlechte Laune abzureagieren.«
»Wie können die Leute nur an einen solchen Mist glauben?«
»Tunnelvision«, erläuterte Cully. »Stimmt das nicht?«
»Ist mir alles ein großes Rätsel«, verriet Barnaby, der keine Veranlassung sah, in der Welt etwas anderes zu sehen, als das, was sie war. Würde er sie als etwas anderes sehen, könnte er seiner Arbeit nicht gerecht werden.
»All diese Kulte laufen doch auf dasselbe hinaus. Man muß nur jeden und alles, was dem eigenen Glauben widerspricht, ausschalten. Solange man dazu fähig ist, funktioniert es. Ich wette, die besitzen weder Radio noch Fernsehen.« Barnaby gab zu, daß dem so war. »Ist aber gefährlich, so isoliert zu leben. Bricht irgendwann die wahre Welt über einen herein, ist man am Boden zerstört. Friede unserer just verstorbenen Klostervorsteherin.«
»Oh, hör auf, hier eine Aufführung zu geben«, meinte Joyce, immer noch erzürnt wegen des Specks. Mit ihrer Kaffeetasse in der Hand setzte sie sich an den Küchentisch. »Dann hat also eines dieser spirituellen Wesen einen Mord begangen.«
»Vielleicht zwei.«
»Ach?« Sie gab zuviel Zucker in den Kaffee, rührte ihn aber nicht um. »Du spielst doch nicht etwa auf den Mann an, der die Treppe hinuntergepurzelt ist?«
Barnaby hörte auf zu essen. »Was weißt du denn darüber?«
»Ann hat mir davon erzählt. Wir haben uns auf einen Kaffee getroffen, kurz nach dem Unfall. Jedermann war überzeugt, daß er eines gewaltsamen Todes gestorben ist. Und die Dorfbewohner waren außerordentlich unzufrieden mit dem Ergebnis der gerichtlichen Untersuchung.«
»Wieso, zum Teufel, hast du mir nicht -«
»Ich habe dir noch am selben Abend davon berichtet.«
»Ich kann mich nicht erin -«
»Ich erzähle dir immer, was ich tagsüber erlebe. Du hörst einfach nicht zu.«
Unbehagliches Schweigen breitete sich aus. Cully grinste ihren Vater an und sagte: »Dieser große weiße Häuptling - der, der erstochen wurde? War er einer von diesen charismatischen Typen?«
»Definitiv.« Barnaby atmete tief durch in dem Wunsch, seine Irritation abzuschütteln. »Silberne Mähne, zungenfertig. Scheint jeden verzaubert zu haben.«
»Die Römer hingen der Überzeugung an, daß ein guter Rhetoriker von Natur aus auch ein guter Mensch ist.«
»Hah.« Er verschluckte sich und stellte die Teetasse ab. »Bei Craigie haben sie sich da allerdings getäuscht. Er war ein Betrüger, seit Jahren.« Kurz fragte sich der Chief Inspector, wie es die Kommunenmitglieder aufnehmen würden, wenn sie von der Vergangenheit ihres geliebten Gurus erfuhren. Die vom Glauben Geblendeten würden ihre Blindheit zweifelsohne nicht mal angesichts der unwiderlegbaren Beweise ablegen. Gott wußte, daß es im Lauf der Geschichte für solch ein Verhalten viele Beispiele gegeben hatte.
»Muß mich auf den Weg machen. Ich hole Gavin ab. Maureen bringt die Kleine ins Krankenhaus und braucht daher den Wagen. Keine Frage, daß ich mir heute den lieben langen Tag jede Menge langweiliger Schilderungen von Talisa Leannes Entwicklung anhören darf.«
»Talisa Leanne.« Cully brach in höhnisches Gelächter aus.
»Du warst genauso«, sagte Joyce mit einem Lächeln.
»Ich?«
»Hast Schnappschüsse von Cully mit dir rumgetragen und sie Fremden gezeigt.«
»Unsinn.« Seiner Tochter einen Blick zuwerfend, zwinkerte er. Als wäre das ihr Stichwort gewesen, schlüpfte Cully in die Rolle einer glamourösen, kamerahungrigen Schauspielerin. Mit offenem Mund und heftig mit den Lidern klappernd, stützte sie das Kinn auf den Handrücken.
»Ein klobiges kleines Ding ist sie gewesen.« Er ging zur Tür.
Ein Stück Toast flog an seiner Schulter vorbei, knallte gegen den Türrahmen.
Als er im Flur seine Jacke anzog, rief sie ihm hinterher: »Vergiß nicht den heutigen Abend, Dad.«
Aus diesen Worten meinte Barnaby eine Nähe herauszuhören, die er seit langem in den Unterhaltungen mit ihr vermißte. Und ihm wurde mulmig zumute. Vater und Tochter wußten, was da ablief. Im Lauf der Jahre hatte sich Cully allmählich - was ihr bestimmt nicht leichtgefallen war - daran gewöhnt, daß ihr Vater im Gegensatz zu den Vätern ihrer Freunde und Freundinnen, die bei Geburtstagsfeiern und Schulaufführungen, Sportveranstaltungen und während der Ferien anwesend waren, nur selten auftauchte. Ihre Tränen, seine Schuldgefühle, wenn er mit ihrer Enttäuschung konfrontiert wurde, die Wut darüber, daß man ihm Schuldgefühle einpflanzte, all dies hatte Joyce dazu gebracht, in der Familie die Rolle des Vermittlers zu übernehmen. Die Rolle laugte sie aus, führte zu extrem wortreichen Zornausbrüchen. (Alle Barnabys wären erstklassige Kandidaten gewesen bei einer Preisverleihung für Selbstdarstellung.) Sie liebten einander, doch leicht war das Zusammenleben noch nie gewesen.
Nach den Wagenschlüsseln greifend und »Bye« über die Schulter rufend, bildete Barnaby sich ein, das Echo jahrelangen Gejammers zu hören: »Aber du hast es versprochen...«
»Was ist denn heute in dich gefahren?« Joyce setzte sich ihrer Tochter gegenüber, die sich hinter dem Independent versteckte. »Tu nicht so, als ob du lesen würdest, wenn ich mit dir rede, Cully...« Sie schnappte nach der Zeitung und riß sie herunter.
»Was soll das?« fragte Cully und glättete die Zeitungsseiten.
»Wann hat er dir je was versprochen?« Joyce hielt kurz inne. »Komm schon.« Schmollend schob Cully ihre göttliche Unterlippe vor. »Nie, genau darum geht es ja. >Falls mir nichts dazwischenkommt, werde ich dasein.< Auf mehr Zugeständnisse hat er sich nie eingelassen.«
Die Wiederholung dieser vagen Aussage ließ Mutter und Tochter an jene besonders unglückliche Episode denken, die sich an Cullys viertem Geburtstag abgespielt hatte.
Sieben kleine Kinder, ein Kuchen in der Form der Arche Noah mit schokoladenüberzogenen Marzipantierchen, viele Spiele, schöne Geschenke, und die ganze Zeit über wanderte der Blick des kleinen Mädchens zur Eingangstür. Wartend. Sie verpaßte ihre eigene Geburtstagsfeier. Schließlich, als die Gäste sich mit Luftballons in den Händen verabschiedeten, winkten und aus den Fenstern der elterlichen Autos riefen, kam Tom nach Hause. Viel zu spät - das Mädchen war untröstlich. An ihrem fünften und sechsten Geburtstag war er daheim, aber wie das bei Kindern so der Fall ist, erinnerte sie sich nur an den vierten.
»Versuch nicht, ihn in die Enge zu treiben, Liebling. Er fühlt sich schon scheußlich genug, wenn er nicht dasein kann, da brauchst du ihm nicht auch noch zuzusetzen.«
»Er fühlt sich nicht halb so beschissen wie ich.«
»Ach, sei fair.« Joyce merkte, wie sie wütend wurde, bemühte sich aber, ihren aufsteigenden Zorn zu mildern. Sie mußten den Rest des Tages gemeinsam durchstehen. »Zu deinen letzten drei Geburtstagen hast du uns nicht eingeladen. Letztes Jahr haben wir versucht, dich anzurufen, aber du warst nach Marokko gereist.«
»Dieses Mal ist es etwas Besonderes, meine ich. Immerhin feiere ich auch meine Verlobung.« Sie ließ die Zeitung auf den Boden fallen. »Immer bist du auf seiner Seite.«
»Aber klar doch. Nein, das stimmt nicht. Heb die Zeitung auf.« Cully griff nach einem Apfel und dem Obstmesser. »Cully... dieser Fall ist knifflig. Ich habe nicht den Eindruck, daß die Ermittlung gut läuft. Mach ihm bitte nicht das Leben schwer.«
Da warf Cully ihrer Mutter einen Blick zu, der von jener Launenhaftigkeit zeugte, die ihre Bewunderer verzauberte, alle anderen jedoch in den Wahnsinn trieb, und setzte ein warmherziges, strahlendes Lächeln auf.
»Es tut mir leid... tut mir leid...« Sie kam um den Tisch herum, drückte ihrer Mutter einen Kuß auf die Wange und schlang die Arme um ihren Hals. Joyce versuchte, ihrer Tochter ebenfalls einen Kuß zu geben, aber Cully hatte sich schon gelöst und war im Begriff aufzustehen.
»Arme Ma.« Sie schüttelte den Kopf. Joyce hatte das Gefühl, daß sie sich über sie lustig machte. »Immer zwischen den Fronten. Wie üblich.« Und wandte sich ab. »Ich werde ein Bad nehmen.«
»Was für Pläne hast du für heute morgen?« Obgleich sie wußte, daß der Augenblick der Verbundenheit unwiderruflich dahin war, unternahm Joyce den Versuch, ihn zu strecken.
»Werde einen Blick auf Deirdres Baby werfen.« Die schlanken braunen Füßchen mit den pinkfarben lackierten Nägeln trippelten die Stufen hoch. »Hinterher treffe ich mich mit Nico in der Uxbridge-U-Bahn-Station. Um vier werden wir kommen und dir behilflich sein.«
Joyce malte sich diese Hilfe im Geist aus. »Du bringst besser ein paar Sachen von Sainsbury mit. Bislang können wir nur Estragoneier und ein paar zermahlene Kardamomkapseln servieren«, schrie sie gegen das einlaufende Badewasser an.
»Okay.«
Der Geruch des nach Nelken riechenden Badezusatzes strömte nach unten, als Cully etwas Floris Malmaison ins Wasser gab. Joyce nahm die Zeitung und begann den Tisch abzuräumen. Den übriggebliebenen Toast für die Vögel zerbröselnd, sah sie vor ihrem geistigen Auge erneut, wie Cully graziös über den gekachelten Boden geschwebt war. Wie sie ihren schweren Hausmantel zusammengerafft, die Arme um ihren Nacken geschlungen, den Kopf elegant gedreht hatte. Sie dachte an den Kuß, an den tanzenden Rückzug. Joyce kam es so vor, als sei das alles in einer fließenden Bewegung geschehen, vom Anfang bis zum Ende. Im Lauf der Jahre hatten Tom und sie sich widerwillig eingestehen müssen, daß sie nie wußten, ob ihre Tochter gerade schauspielerte oder einfach nur sie selbst war. Das war ziemlich beunruhigend. Einen Augenblick tat ihr Nicholas leid, bis ihr einfiel, daß er noch schlimmer war.
Barnaby saß über seinen Schreibtisch gebeugt. Der Ventilator kühlte eine seiner Gesichtshälften, die andere war schweißüberzogen. Überall im Büro waren Tageszeitungen ausgebreitet und beschwert worden, damit sie nicht von der künstlichen Brise weggetragen wurden. Nur die Boulevardpresse brachte die Geschichte noch auf der Titelseite, und allein der Daily Pitch hatte sie abermals zur Titelstory gemacht. Kamen die Mörder des Yogi von der Venus? Das Foto einer ungekämmten Heather prangte auf der Titelseite.
Barnabys Tür stand sperrangelweit offen und gab den Blick auf geschäftiges, aber geordnetes Treiben frei. Auf Formulare und noch mehr Formulare, Fotos und Berichte. Auf grüne Bildschirme mit noch mehr Informationen. Und dann waren da noch die Telefone, die fortwährend klingelten.
Viele Anrufer boten »lebenswichtige Informationen« über das Verbrechen auf Golden Windhorse an. Es brauchte schon mehr als den Umstand, daß der Mord ganz in der Nähe und auf einem hermetisch abgeriegelten Anwesen stattgefunden hatte, um die großartige britische Öffentlichkeit davon abzuhalten, ihren Senf zu dem Vorfall abzugeben. Ein anonymer Anrufer hatte sich um fünf Uhr morgens gemeldet, um einen Traum zu schildern, in dem ihm der Geist Arthur Craigies in Ketten erschienen war und verkündet hatte, daß seine Seele keine Ruhe fände, ehe alle in Großbritannien lebenden Farbigen in ihre Heimatländer zurückgekehrt waren. Der Mann hatte noch hinzugefügt: »Damit sind Länder mit tropischem Klima gemeint«, ehe er auflegte.
Ein Großteil der Information war offizieller Natur und brachte die Polizei ein gutes Stück weiter. George Bullard rief an, um zu sagen, daß Jim Carter vermutlich Metranidozole verschrieben bekommen hatte und es in diesem Fall tatsächlich unvorsichtig gewesen wäre, gleichzeitig Alkohol zu sich zu nehmen. Mit Erlaubnis von Arno Gibbs hatte Mr. Clinch sich bereit erklärt, den Inhalt von Craigies Testament zu verkünden. Der echte Christopher Wainwright war im White City Television Centre aufgetrieben worden und hatte Andrew Carters Schilderung ihrer gemeinsamen Schulzeit in Stowe, daß sie sich in der Jermyn Street getroffen und zusammen bei Simpson''s zu Mittag gegessen hatten, verifiziert. Nur an einem Punkt wichen die beiden Versionen voneinander ab: Wain-wright behauptete immer noch, seine Brieftasche an besagtem Tag verloren zu haben. Er hatte gesagt: »Andy hat das Essen bezahlt«, und hatte dabei ziemlich erfreut geklungen.
Noleen, Andrew Carters Nachbarin in Earl’s Court, hatte bestätigt, an jenem Morgen, als sein Onkel gestorben war, zusammen mit Andrew gefrühstückt zu haben. Barnaby hatte nicht ernsthaft geglaubt, daß der Junge etwas mit dem Tod seines Onkels zu tun gehabt hatte, andererseits war es nicht gerade ungewöhnlich, daß ein Schuldiger der Polizei eine glaubwürdige Geschichte auftischte, um die eigenen Spuren zu verwischen. Bislang war es Barnaby nicht vergönnt gewesen, Andrews Aktivitäten auf Blackpool’s Golden Mile zu überprüfen, aber irgend jemand kümmerte sich vor Ort darum.
Ob es eine Verbindung zwischen den beiden Fällen gab, war im Augenblick noch unklar. Nichtsdestotrotz war es verführerisch, von dieser Möglichkeit auszugehen. Wollte man sich ausschließlich an die Tatsachen halten, durfte man mit Sicherheit davon ausgehen, daß Carter eine Entdeckung gemacht hatte (»Andy - etwas Schreckliches ist geschehen...«) und er kurze Zeit danach die Treppe hinuntergestürzt war. Und daß Craigie zwei Monate später ermordet worden war. Ob der Meister bei dem ersten Tod seine Hände im Spiel gehabt hatte, war im nachhinein nicht eindeutig zu beweisen - Miss Cuttle konnte nicht mit Sicherheit sagen, wessen Stimme sie gehört hatte. Einmal angenommen, daß es nicht Craigie gewesen war, hatte er dann etwas herausgefunden und war infolgedessen getötet worden?
Sollte dem so gewesen sein, gab der Gamelin-Treuhand-fonds kein stichhaltiges Motiv ab, zumal Sylvie bei ihrem Verhör dem Chief Inspector gesagt hatte, sie habe diesen Vorschlag dem Meister erst eine Woche vor ihrem Geburtstag unterbreitet. Keiner von beiden hatte gegenüber den anderen ein Wort über dieses Thema verloren. Einmal abgesehen von Guy, aber der hatte erst am Mordabend davon erfahren. Barnaby warf einen Blick auf seinen Notizblock. Beim Nachdenken hatte er die Angewohnheit, herumzukritzeln und zu malen. Gewöhnlich Pflanzen. Farne, Blumen, auffällig ausgearbeitete Blätter. Gerade hatte er die spitzen Blätter und die gewölbten, geäderten Blütenblätter der Inssibirica, der Orchidee des armen Mannes, gezeichnet.
»Treuhandfonds« wollte ihm nicht aus dem Kopf gehen.
Ihm kam es fast so vor, als heische dieses Wort nach Aufmerksamkeit. Jedenfalls machte es ihm gehörig Kopfzerbrechen. Barnaby nahm an, alles zu wissen, was es zu diesem Thema zu wissen gab. Er wußte, um was für eine Summe es sich handelte, wußte von Suhamis Entschlossenheit, das Geld wegzugeben, von dem Willen ihres Vaters, nicht so zu verfahren, von Craigies (laut Gamelin) vorgespielter Weigerung, das Geschenk anzunehmen. Der Chief Inspector zog einen dicken geraden Strich, riß die Seite ab und warf sie in den Mülleimer, doch das Wort ließ ihn nicht in Ruhe. Darum...
Womöglich beschäftigte ihn gar nicht das Treuhandvermögen. Vielleicht ging es ja um etwas ganz anderes. Er spann den Gedanken weiter. Ging es um Vertrauen in jemanden oder den Glauben an etwas? Um den Mangel an Vertrauen, um Betrug? Betrug war nun mal das Handwerk des Betrügers. War Craigie von einem Anhänger ermordet worden, der ihm auf die Schliche gekommen war und sich von ihm getäuscht gefühlt hatte? Oder von dem aufgebrachten Opfer eines früheren Betrugs? Von jemandem, der vor Jahren übers Ohr gehauen worden war und der geduldig gewartet hatte, bis er aus dem Gefängnis entlassen worden war? Mit Zähigkeit und Durchhaltevermögen konnte jeder Mensch aufgespürt werden. In diesem Fall hätte Craigie doch sicher gewußt, um wen es sich handelte, und sich vorgesehen, oder?
Troy brachte den Laborbericht. Wie gewöhnlich trug er enge Hosen, ein perfekt gebügeltes, weißes Hemd, das trotz der Hitze bis zum Hals zugeknöpft war, und eine schmale gemusterte Krawatte. Barnaby traf seinen Sergeant nur selten in der Freizeit und konnte daher nicht sagen, ob dessen Kleidungsstil immer so formell war, aber auf dem Revier krempelte er niemals die Ärmel hoch oder trug ein Freizeithemd. Ihm war Audreys Spekulation zu Ohren gekommen, die besagte, dies läge daran, daß Troy keine Haare auf der Brust hatte.
Barnaby unterstellte diesem Erscheinungsbild komplexere Ursachen. Und er ging davon aus, daß die ordentlichen Berichte und der stets aufgeräumte Schreibtisch in dieselbe Kategorie fielen. Nachdem Troy das Büro betreten, sein Jackett aufgehängt und Kaffee bestellt hatte, richtete er seine Drahtablagekörbe so aus, daß die Ränder parallel zum Schreibtischrand standen, und bündelte lose Blätter zu einem ordentlichen Stapel. Manchmal rieb er mit seinem Taschentuch sogar einen unsichtbaren Flecken weg.
Es erforderte wohl kaum einen geschulten Analytiker, um aus Troys Verhalten das Bedürfnis nach absoluter Kontrolle herauszulesen. Das Bedürfnis nach konstanter Ordnung, um das Chaos in Schach zu halten. Möglicherweise war es ein wenig oberflächlich, so ein Verhalten dahingehend zu interpretieren, daß es einen auf jeden und alles gerichteten Groll tief im Innern des Betreffenden symbolisierte. Na, wenn das nicht ein Anflug von der auf Windhorse praktizierten Psychologie war, was dann? Himmel, dachte Barnaby, als nächstes werde ich ihm wohlmeinende Ratschläge erteilen. In Erwartung, der Laborbericht stütze seine Vermutung, daß die Fasern von Suhamis Handtasche mit denen auf der Mordwaffe identisch waren, streckte er die Hand aus.
Troy händigte ihm den Umschlag aus und schaltete den tragbaren Fernsehapparat ein, um sich die Elfuhrnachrichten anzusehen. Gesendet wurde ein Interview mit einer Miss Myrtle Tombs, der Postbotin von Compton Dando, die man so geschickt vor dem Herrenhaus aufgebaut hatte, daß der Eindruck entstand, sie stehe direkt in der Zufahrt. Sie hatte weder etwas über den Gamelin-Fall noch über die Bewohner des Hauses zu sagen, doch das tat sie besonders ausführlich und mit Hingabe. Troy schaltete das Gerät gerade noch rechtzeitig ab, um zu hören, wie sein Chef den Atem anhielt.
Mit offenem Mund und leerem Blick stierte Barnaby auf den Laborbericht. Troy stellte sich neben ihn, zog den Bericht aus der schlaffen Hand seines Vorgesetzten, setzte sich und überflog ihn.
»Das darf doch nicht wahr sein.« Er schüttelte den Kopf. »Die haben Mist gebaut.«
»Sehr unwahrscheinlich. Das nennt sich Wissenschaft.«
»Werden Sie das noch mal überprüfen?«
»Sicher.«
»Falls sie sich nicht geirrt haben, was bedeutet es dann für uns?«
»Keine Ahnung.« Wie ein Irrer drückte Barnaby auf die Knöpfe. Man hätte meinen können, er werte das Untersuchungsergebnis als persönliche Beleidigung. »Dann sind wir echt angeschmiert.«
Felicity war aufgestanden, hatte sich angekleidet und saß nun vor dem offenen Fenster ihres Zimmers. Sie trug den Inhalt des Schweinslederkoffers: ein zweiteiliges, mit Mohn- und Wiesenblumen bedrucktes Seidenkostüm von Caroline Charles. Dazu gehörten passende, grasgrüne Wildlederstöckelschuhe von Manolo Blahnik, die vorn spitz zuliefen und die May umgehend in eine Schublade legte. Statt dessen bot sie Felicity ein Paar bequeme Slipper an. Ehe sie ihr die Schuhe anzog, hatte sie Felicitys Füße mit parfümiertem Öl massiert. Die kupferfarbene Haut erinnerte an zerknittertes Pergamentpapier; ihre Knöchel hatten denselben Umfang wie Mays Handgelenke.
»Wir müssen Sie aufpäppeln«, hatte May lächelnd angedroht. »Mit einer Menge frischem Gemüse Und selbstgebackenem Brot.«
»Oh, ich darf kein Brot essen.« Felicity beeilte sich, eine Entschuldigung nachzuschieben. »Das ist sehr freundlich von Ihnen, aber ich muß Größe 36 halten.«
»Aus welchem Grund?«
»... nun...« Der Grund war, daß alle von Felicitys Bekannten und Freundinnen Größe 36 hatten. Kaum legten sie etwas Gewicht zu, besuchten sie eine Beauty-Farm und machten eine Diät, bis sie wieder in ihre Klamotten paßten. Aber weil die blühende und kerngesunde May siebenundsiebzig Kilo wog, erschien Felicity diese Erklärung sowohl niederträchtig als auch belanglos. »Keine Ahnung.«
»Sie haben eine sehr lange Reise vor sich, Felicity. Dafür werden Sie jede Hilfe brauchen können, die wir zu geben imstande sind, aber Sie müssen schon auch Ihren Teil dazu beitragen. Momentan sind Sie sehr schwach und können nur wenig tun, aber das wenige muß getan werden. Das ist Ihr Beitrag, wissen Sie?«
»Ja, May.« Die Vorstellung, auch einen Beitrag zu leisten, beunruhigte Felicity. Sie fürchtete, daß ihre Seele, brüchig wie Eis, angesichts dieser Anstrengung Schaden nehmen könnte. In der Klinik, wo sie in einem weich gepolsterten Traum gelebt hatte, war ihr Beitrag rein finanziell gewesen. Vielleicht meinte May genau das. Auf die nervöse Frage, ob dem so war, erhielt sie eine abschlägige Antwort. Felicity nahm all ihren Mut zusammen und fragte, was von ihr erwartet wurde.
»Fürs erste essen Sie ein wenig und ruhen sich aus. Später, wenn Sie zu Kräften gekommen sind, sehen wir weiter.«
Felicity streckte die Hand aus. In diesem Augenblick wurde sie von einer besonders lebhaften Erinnerung heimgesucht. Nach ihrer ersten Entziehungskur war sie zu Guy heimgekehrt und hatte ebenfalls die Hand ausgestreckt, woraufhin er sie als emotionalen Vampir bezeichnet und sich von ihr abgewandt hatte. May hingegen nahm Felicitys Hand zwischen ihre leicht parfümierten Handflächen, küßte sie und drückte sie an ihre Wange. Felicity spürte, wie das gefrorene Blut in ihren Adern auftaute.
»Sie haben hoffentlich nicht noch mehr von diesem gräßlichen Zeug, das Sie die Nase hochziehen?«
»Nein, May.«
»Das ist gut. Der Körper ist der Tempel, der Ihre unsterbliche Seele birgt. Vergessen Sie das nie. Und mißbrauchen Sie ihn nicht. Nun«, sie ließ vorsichtig die Hand los, »muß ich gehen ; und Janet bei der Zubereitung des Mittagessens helfen. Es wird eine wohlschmeckende Suppe geben, von der Sie unbedingt etwas probieren müssen.«
Entgegen ihrem Versprechen, noch einmal das Mittagessen zuzubereiten, war Janet nicht in der Küche. May begann das Gemüse vorzubereiten, schnitt Artischocken und Lauch klein und dünstete alles in Erdnußöl an. Sie warf einen Blick auf das Gewürzregal und fragte sich, welche Geschmacksrichtung Felicity wohl am ehesten zusagte. Die Suppe machte einen ziemlich blassen Eindruck. May überlegte, ob sie Safran zugeben sollte. Bruder Athelstans Kräuterbuch versicherte, daß es »jeden Mann munter machte«, merkte aber auch noch an, daß der norwegische Mystiker Nils Skatredt im Jahre 1462 eine Überdosis Safran zu sich genommen und mit einem Lachen auf den Lippen verstorben war. May stellte das kleine Döschen ins Regal zurück und griff nach einer Dose Lorbeerblätter.
Als die Suppe vor sich hin köchelte, begab sie sich auf die Suche nach Janet. Zuerst schaute sie in ihrem Zimmer nach. Janet war nicht da. Dafür lehnte ein Brief an einer Ausgabe von Pascals Pensées. May riß den Umschlag auf, begab sich danach gleich zum nächsten Telefon, um diesmal die Polizei - die sich sehr darüber echauffiert hatte, zu spät über Trixies Verschwinden informiert worden zu sein - rechtzeitig zu benachrichtigen.
»Sie schreibt, Chief Inspector, daß sie eine ziemlich genaue Vorstellung von Trixies Aufenthaltsort habe und sie - falls sie bis heute abend nicht zurückkehrt - uns anrufen und wissen lassen wird, was passiert... Überhaupt nicht. Es war mir ein Vergnügen. Wie geht es Ihnen? Und diesem armen jungen { Mann mit -«
Da ihr Gesprächspartner leider schon aufgelegt hatte, machte May sich auf die Suche nach den anderen, um auch sie zu informieren.
Von einer korpulenten Frau mit zwei riesigen Einkaufstüten eingezwängt, saß Janet am glühendheißen Fenster des Doppeldeckerbusses. Eine der Tüten lag halb auf Janets Knien. Die Frau machte leider keine Anstalten, sie wegzunehmen oder sich dafür zu entschuldigen. Beim Aufstehen fiel Janet auf, daß eine matschige Tomate Saft und kleine Kerne auf ihrem Rock hinterlassen hatte.
Heute trug sie anstelle ihrer Stretchhosen ein Sommerkleid mit tiefem Ausschnitt, langem, weitem Rock und grellblauem und braunem Schlierenmuster. Der tiefe Ausschnitt brachte eine faltige Mulde am Halsansatz zur Geltung. Um sie zu kaschieren, hatte Janet eine Halskette mit großen, transparenten Perlen, die an alte Hustenbonbons erinnerten, umgelegt. Unablässig zupfte sie nervös an der aufgesetzten Tasche des Kleides herum. Darin befanden sich die Instruktionen, wie man zu Seventeen Waterhome gelangte. (Das war tatsächlich die ganze Adresse gewesen. Laut Auskunft des Postbeamten handelte es sich um einen Wohnblock.) In der Tasche lag auch noch ein selbstgemachtes Lavendelsäckchen, das Heather ihr auf der Treppe in die Hand gedrückt hatte mit den Worten: »Es ist nichts Besonderes, Jan, aber es kommt von Herzen.«
An der Haltestelle stieg Janet aus, bog gemäß ihren Anweisungen nach rechts ab und dann noch mal nach rechts. An der roten Fußgängerampel fiel ihr Blick auf ein wunderschönes georgianisches Erkerfenster, das selbst schon ein Juwel war und zu einem Schmuckladen gehörte. Sie ging hinüber, um einen Blick in das Schaufenster zu werfen.
Die Auslage war spärlich, wie das immer der Fall ist, wenn die Preise der feilgebotenen Waren unbezahlbar sind. Nur etwas in Falten gelegter, elfenbeinfarbener Samt, ein Paar atemberaubende Ohrringe aus getriebener Bronze und ein Tuch, das wie achtlos hingeworfen dalag und in üppigem, strahlendem Grün und Türkis leuchtete. Daran hing ein kleines weißes Schildchen, dessen unbeschriebene Seite nach oben zeigte. Fast unbewußt betrat Janet den Laden, um sich das Tuch genauer anzusehen.
Das Objekt ihrer Begierde war ein Quadrat aus reiner Seide von erstklassiger Qualität und unglaublich glatter Oberflächenstruktur. Mit einer Seitenlänge von gerade mal achtzehn Zentimetern war es relativ klein. Genau von der Größe, daß man es - wie die Leute zu sagen pflegten - durch einen Ehering ziehen konnte. Janet malte sich aus, wie das Tuch auf Trixies Haupt aussehen und ihrem perfekten Teint einen hübschen Farbton verleihen würde. Das Tuch kostete einhundertzwanzig Pfund.
Beim Ausfüllen des Schecks überlegte Janet, wieviel Geld sie laut dem letzten Kontoauszug noch besaß. Die Verkäuferin packte das Tuch in eine schöne flache, schwarzweiß gestreifte Schachtel mit rotem Seidenpapier und band eine rote Schleife darum. Der Name des Geschäfts, XERXES, war in Gold auf den Schachteldeckel gedruckt.
Draußen auf der Straße freute sich Janet über den Kauf und stellte sich Trixies Gesicht vor, während sie das Band löste... den Deckel anhob... das Seidenpapier lüftete und schließlich das schöne Tuch zum Vorschein kam. Einen Moment lang fühlte sich Janet unglaublich glücklich. Doch dann regten sich wieder Zweifel.
Hatte Trixie jemals solche Farben getragen? Trixie mochte Pastelltöne: rosa, hellblau, beige. Und habe ich sie, fragte sich Janet nun, schon mal ein Tuch tragen gesehen? Sie besaß Tücher; sie lagen in ihrem Unterwäschefach, aber sie hatte sie nur sehr selten rausgeholt und getragen. Ach - wie angewurzelt blieb sie auf dem gepflasterten Gehweg stehen. Ein Mann rannte sie fast um und fluchte. Wie dumm hatte sie gehandelt. Dumm, unüberlegt. Idiotisch.
Was Trixie wirklich brauchte, was sie immer brauchte, war Geld. Geld hatte sie nie genug. Sie würde einen Blick auf dieses wunderschöne, überflüssige Geschenk werfen und denken: Gott - was hätte ich mit dem Geld alles anstellen können. Immerhin war sie in der Lage, den Preis des Geschenks ziemlich genau zu bestimmen; das konnte sie immer.
Janet blieb zögernd stehen, während Menschen an ihr vorbeigingen, Autohupen ertönten, Auspuffabgase in ihre Lungen strömten. Sollte sie das Tuch zurückbringen? Würde das Geschäft sich darauf einlassen, ihr das Geld zurückzugeben? Handelte sie so, bedeutete das, daß sie mit leeren Händen auftauchte, und ihr lag sehr viel daran, ihrer Freundin eine Freude zu machen. Ich hätte, dachte Janet mit später Reue, etwas kaufen sollen, was wirklich nützlich ist. Etwas zu essen. Oder etwas zu trinken.
Auf der anderen Seite war ein Marks and Spencer. Mit derselben Unüberlegtheit und Spontanität, mit der sie Xerxes betreten hatte, schloß sie sich einer Gruppe Fußgänger an, die die Straße überquerte, und fand sich einen Augenblick später in der Lebensmittelabteilung wieder.
Es war lange her, daß sie bei Marks and Spencer eingekauft hatte. Insofern waren die gefüllten Regale wie eine Offenbarung für sie. Sie beugte sich über die Gefrierkühltruhe, hielt die heißen Wangen in die aufsteigende Kälte und griff nach einer von funkelnden Eiskristallen überzogenen Schachtel. American Fudge Pie. Dazu wählte sie einen Topf Zitroneneiscreme. Danach begab sie sich zu den Fertiggerichten, wählte knusprige Pekingente, Won-Ton-Krabben, Filetsteak mit grünen Pfefferkörnern und Lachs in Blätterteig aus. In den Einkaufswagen legte sie echten Kaffee, double cream, einen runden, in Weinblätter gehüllten Kräuterkäse und Marmelade von wilden Erdbeeren. Eine große Schachtel belgische Schokoladentäfelchen. Natürlich Brot (flaches italienisches Ciabatta), ungesalzene Butter, Spargel. An der Obsttheke suchte sie zwei Mangos heraus, eine herrlich duftende Melone und eine Staude Muscat-Trauben. Dabei fiel ihr Blick auf den Blumenkohl: schneeweiße, dichtstehende Röschen, umgeben von knackigen grünen Blättern. Als sie an Arnos armselige Exemplare dachte, mußte sie einfach einen nehmen. Und sie brauchte Champagner.
Während sie all die Sachen auf das Rollband legte, dämmerte ihr, daß es sinnvoller gewesen wäre, einen Korb mitzunehmen. Sie hatte eine Menge Sachen ausgewählt, von denen einige ganz schön schwer waren. Da die Möglichkeit bestand, größere und festere Einkaufstüten zu kaufen als diejenigen, die der Laden umsonst ausgab, nahm sie ein paar davon und legte sie ebenfalls aufs Rollband. Die Rechnung für ihre Einkäufe belief sich auf vierundfünfzig Pfund und siebzehn Pence.
Aus dem klimatisierten Geschäft zu treten kam einem Schock gleich. Auf dem glühenden Asphalt stellte Janet ihre Tragetaschen ab und bemühte sich, den enervierenden Verkehr nicht zu beachten. Sie warf einen Blick auf ihre Straßenkarte, um sich neu zu orientieren, wandte sich schließlich an eine Frau mit einem Sportwagen und zeigte ihr die Adresse.
»Geradeaus, und dann müssen Sie in die Caley Street einbiegen.« Sie beäugte Janets Tüten. »Ist ’ne ganz ordentliche Strecke.«
»Ach - wirklich?«
»Gute zwanzig Minuten. Ich würde einen Bus nehmen.« Mit dem Kinn zeigte sie auf eine Warteschlange in der Nähe. »Siebenundfünfzig.«
Im Bus Nr. 57 fand Janet keinen Sitzplatz, konnte ihre Tragetaschen aber wenigstens gleich neben dem Ausgang abstellen. Die schwarzweiße Schachtel in der einen Hand haltend, umklammerte sie mit der anderen den Haltegriff über ihrem Kopf. An der vierten Haltestelle stieg die Hälfte der Fahrgäste aus. Der Schaffner rief: »Sie müssen hier raus«, und reichte ihr die Taschen.
Janet stieg die Stufen hinunter, schaute sich einigermaßen bestürzt um, drehte den Kopf und fragte: »Sind Sie sicher, daß ich hier richtig bin?« Bedauerlicherweise war der Bus schon abgefahren.
Sie stand vor einem großen, mit Müll übersäten Areal, um das sich sechs riesige schlackefarbene Hochhaustürme gruppierten. Ein Junge rollte auf einem Skateboard an ihr vorbei. Sie hielt ihn am Arm fest und fragte: »Waterhouse?«
Er rief: »Können Sie nicht lesen?«, und zeigte mit dem Daumen über die Schulter.
Ein Holzschild mit orangefarbenen und weißen Buchstaben, deren Farbe abblätterte, und gestrichelten Linien, die für überdachte Gehwege standen, verrieten ihr den Lageplan des Areals. Offenbar war Waterhouse der hinterste Wohnblock. Sie hob ihre Taschen hoch und lief los.
Nach ein paar Minuten war vom geschäftigen Straßenverkehr kaum mehr was zu hören. Betroffen registrierte sie, wie sich die Atmosphäre veränderte. Bedrückend. Seltsam leer war die Gegend. Die Leere kam ihr komisch vor, zumal sie sich von mehreren hundert Menschen - nur ein paar Schritte entfernt und hoch oben in den Wolken - umgeben fühlte, von denen sie keinen sah. Janet blickte nach oben. Kein Zeichen menschlichen Lebens. Trotz des schönen Wetters saß niemand auf dem Balkon, was vielleicht daran lag, daß überall Wäsche hing und somit kein Platz mehr war. Niemand schaute aus dem Fenster. Janet erinnerte sich, daß sich die anderen Fußgänger schlagartig in Luft aufgelöst hatten. Die ganze Situation mutete gespenstisch an.
Sie kam an zwei Metallmülleimern vorbei, die größer waren als sie, gräßlich stanken und von summenden Fliegen umzingelt waren. Neben ihnen befand sich ein Durchgang. Leise, verunsichert und darauf bedacht, keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, schritt sie hindurch. Die Wände waren mit Graffitis übersät. Ziemlich phantasielos wiesen sie die Fußgänger an, wohin sie gehen und was sie - einmal dort angekommen - tun sollten. Verschwitzt und nervös, aber glücklich erreichte Janet das andere Ende.
Wieder ins Freie tretend, bekam sie erneut einen Schock. Dort draußen wartete eine Gruppe Motorradfahrer auf sie. Die vorderste Maschine war ein großes, schwarzglänzendes Ding, eher eine Waffe als einem Transportmittel vergleichbar. Alle Motorräder waren mit hohen Stangen ausgerüstet, an denen Fahnen flatterten.
Janet hielt inne. Ihr Herz machte einen Satz. Die Jungs musterten sie hartherzig. Einer stimmte ein Wolfsgeheul an, woraufhin die anderen aus vollem Hals ihre Zustimmung brüllten. Aus schierer Verzweiflung spielte Janet mit dem Gedanken, sie zu fragen, wo Waterhouse lag, beschloß aber, einfach weiterzugehen. Schließlich war es ja nicht so, als ob einer von ihnen ihr den Weg versperrte. Nach ein paar Schritten ertönte ohrenbetäubender Lärm. Vor Schreck ließ Janet die schwarzweiße Schachtel fallen. Die Jungs bogen sich vor Lachen auf ihren Sitzen.
Endlich am Ziel, trat sie unter ein Betonvordach und stellte ihre Tüten ab. Dahinter befanden sich vier schäbige, numerierte Türen. Wenn es vier Wohnungen pro Stockwerk gab, hieß das, daß V in der fünften Etage lag. Sie drückte auf den Fahrstuhlknopf, wartete und drückte noch ein paar Mal. Mit ihrer Geduld am Ende, hörte sie plötzlich rechts ein Geräusch. Ein junges Mädchen in hautengen Jeans und spitzen weißen Stöckelschuhen schleppte ein Baby in einem Kinderwagen die Treppe hinunter. Ein Kleinkind lief ihr weinend hinterher und hatte Angst, zurückgelassen zu werden. Das Mädchen sprach Janet an.
»Sie werden noch an Weihnachten hier stehen.«
»Wie bitte?«
»Funktioniert nicht, oder?« Sie zog den kleinen Jungen hinter sich her, verdrehte ihm den Arm und hob ihn die letzten beiden Stufen hinunter. »Komm endlich...« Sie klang vollkommen entnervt. »Beweg dich, verdammt noch mal...«
Sie entfernte sich. Janet rief: »Wissen Sie, ob die Leute aus Nr. 17 daheim sind?« Der kleine Junge heulte laut auf. Das Mädchen antwortete ihr nicht.
Janet ging zum Treppenabsatz und warf einen Blick nach oben. Acht Stufen, ein Absatz, dann wieder acht Stufen. Kein Problem. Schließlich hatte sie es ja nicht eilig. Gott sei Dank war sie nicht vom Zentrum zu Fuß hierhergelaufen. Sich einigermaßen frisch fühlend, begann sie, die Stufen hinaufzusteigen.
Auf dem ersten Absatz mußte sie eine Pause einlegen, um ihre Einkäufe neu zu ordnen. Die Champagnerflasche schlug ihr seitlich gegen das Knie. Sie drehte die Tüte um, atmete tief durch und kämpfte sich die nächsten beiden Stockwerke hoch.
Auf halber Strecke verfing sich die Sohle ihrer Sandalette unter einem Seitenvorsprung. Beinahe hätte sie den Halt verloren und wäre hingefallen. Danach war sie auf der Hut, hob die Füße höher als nötig, beanspruchte ihre Wadenmuskeln stärker als zuvor.
Keuchend legte sie eine weitere Pause ein. Ihre Schulterblätter schmerzten. Janet fiel auf, wie sich auf der schwarzweißen Geschenkhülle ein feuchter Fleck ausbreitete. Sie nahm die Schachtel, die auf der Eiscreme gelegen hatte, aus der Tüte. Nicht in der Verfassung, ihre Einkäufe erneut neu zu verteilen, quetschte Janet die Schachtel unter den Arm und stieg weiter die Treppen hoch.
Bei der nächsten Verschnaufpause litt sie unter solchem Seitenstechen, daß sie den Rückenschmerzen gar keine Beachtung mehr schenkte. Ihre Schultern waren steif, ihre Beine zitterten wie Espenlaub. Der Oberarm, der die Schachtel an ihren Körper preßte, pulsierte. Schweiß tropfte ihr in die Augen.
Gerade, als sie die Tüten erneut abstellen wollte, fiel ihr Blick auf den Boden, auf dem zermatschte Chips, fettiges Papier, eine von Fliegen übersäte Hühnerbrust, ein Kothaufen lagen. Irgendwie gelang es ihr, sich weitere acht Stufen hochzuschleppen. Sie setzte sich auf die letzte Stufe, legte den dröhnenden Kopf auf die Knie, kämpfte tapfer gegen die Tränen an.
So saß sie lange in dem Wissen da, daß sie nicht weiter konnte, jedenfalls nicht mit den Tragetaschen. Vielleicht konnte sie die lästigen Dinger eine Weile lang in einer Nische verstecken. Nach der Begrüßung würde sie Trixie von den mitgebrachten Köstlichkeiten erzählen und zusammen mit ihr nach unten gehen, um sie zu holen. Ein Gedanke führte zum anderen, und schlagartig wurde ihr klar, daß sie mit hundertprozentiger Sicherheit davon ausgegangen war, Trixie anzutreffen - mit oder ohne diesem geheimnisvollen »V«. Sie stellte sich vor, wie sie zu dritt lachend zusammensaßen, die Won-Ton-Krabben aßen und blubbernden Champagner aus schlanken, langstieligen Gläsern tranken. Voller Vorfreude schaute sie sich nach einem Versteck um.
Die Eingangstüren der vier Wohnungen zu ihrer Linken gingen auf einen schmalen, offenen Gang hinaus, der von einer ein Meter hohen Backsteinbrüstung eingefaßt war. Janet legte die Schachtel auf die Brüstung, während sie die Tragetaschen in die Ecke stopfte. Plötzlich streckte ein deutscher Schäferhund seinen Kopf aus einem nur wenige Zentimeter entfernten Fenster, knurrte feindselig und fletschte die Zähne. Panisch sprang Janet beiseite und schubste die Schachtel hinunter.
Aufschreiend streckte sie die Hände aus. Ihre Finger berührten noch kurz das Geschenkband, doch dann war die Schachtel weg, fiel langsam, beinah schwerelos nach unten und drehte sich dabei um die eigene Achse. Ihr Schrei veranlaßte die Motorradfahrer, denen sie vorhin begegnet war, die Köpfe zu heben. Sie beobachtete, wie sie sich in Bewegung setzten, sich der Stelle näherten, wo die Schachtel vermutlich aufschlug. Mit ihren bunten Kappen, ihren quadratischen Körpern und den dünnen Beinen glichen sie einem Schwarm angreifender Insekten.
Janet wandte sich ab und stieg die nächsten Stufen hoch. Daß sie sich nun am Treppengeländer festhalten konnte, freute sie. Ehe sie die vierte Etage erreichte, waren all ihre Einkaufstüten verschwunden. Im fünften Stockwerk angekommen, starteten die Jungs ihre Motorräder, fuhren zwischen den aufgestellten Betonpfosten herum und spritzten Erde in die Luft. An ihren Stangen mit den unechten Fuchsschwänzen und Flaggen, auf denen Tod und Verwüstung propagiert wurden, flatterte unter anderem auch Janets teures Seidentuch.
Trixie ließ sich auf das schmale Bett fallen und preßte sich an das knochige Rückgrat ihres Geliebten. Sie hatten miteinander geschlafen, sich ausgeruht, wieder miteinander geschlafen und sich danach abermals ausgeruht. Sie empfand freudige Erregung, er Dankbarkeit und Glück, fürchtete aber"immer noch, daß alles nur ein Traum war. Daß seine Frau zurückkehrte.
Sie hatte Trixie und ihn schon einmal vor sechs Monaten erwischt. Hatte Victor im Badezimmer eingeschlossen, Trixie vermöbelt und sie hinterher blutend und von blauen Flecken überzogen zur Haustür rausgescheucht. Eins müßte man der guten Hedda lassen: Sie war eine kräftige Frau.
Trixie war zu ihrer Schwester nach Hornchurch geflüchtet und hatte dort in einem Buchladen ein Poster von Golden Windhorse gesehen. Ihrer Anstellung als Boutiqueverkäuferin weinte sie nicht nach, Victor hingegen schon. Wiederholt rief sie bei ihm zu Hause an und legte auf, wenn Hedda daheim war, bis sie ihn eines Tages allein erwischte. Nachdem sie ihm die Adresse ihres Unterschlupfes genannt hatte, erklärte er sich bereit, ein Postfach zu mieten. Fortan schrieben sie sich Briefe, telefonierten manchmal aufgeregt. Aus Feigheit wagte sie es nicht, sich ihm zu nähern, und stellte im Lauf der Zeit fest, wie ähnlich er ihr in dieser Hinsicht war.
Jetzt drückte sie ihm einen Kuß auf sein kleines zierliches Ohr und sah, wie sein weicher Mund lächelte, als spüre er ihre Gegenwart im Schlaf. Die Luft im Zimmer war abgestanden. Ein paar Aluminiumbehälter vom Mumtaz Takeway standen auf dem Tisch und einige leere Dosen Ruddles Bitter. Vergangenen Abend hatten sie Heddas Abgang gefeiert. Sie war zu einem Profi-Wrestler nach Stamford Hill gezogen. Da all ihre Sachen weg waren, meinte sie es bestimmt ernst, was nichts an Vs Nervosität änderte.
Trixie machte sich keine Sorgen mehr. Glücklich war sie in die Wohnung getaumelt, hatte ihren Geliebten geküßt, selbstbewußt gelacht. Nach ihrem dritten Bier verkündete sie: »Was würdest du sagen, wenn ich dir erzählte, daß ich jemanden umgebracht habe?« Victor lachte. »Du, hübsches Kätzchen?« Und zog sie auf seinen Schoß. Trixie ließ sich von ihm streicheln, lachte insgeheim über seine Ungläubigkeit und schwor sich, Hedda davon zu erzählen, falls sie zurückkam. Sie wird an meinem Gesicht ablesen können, daß ich die Wahrheit sage, dachte sie, und uns fortan in Ruhe lassen.
Als auf dem offenen Gang Schritte ertönten, schlug Victor die Augen auf und wurde unruhig. Trixie, deren Herz etwas schneller schlug, sagte: »Ist schon in Ordnung... sei still...«
Sie schlang die Arme um ihn und kuschelte sich zu ihm unter die Federdecke. Die beiden Liebenden bewegten sich nicht. Die Leichtigkeit der Schritte verriet ihnen, daß dort draußen nicht Hedda lauerte. Vielleicht jemand vom Amt. Ein Schnüffler, der ihnen Schwierigkeiten machen wollte. Der Briefkastendeckel klapperte. Trixie unterdrückte einen Lacher, stopfte sich einen Lakenzipfel in den Mund. Victor flüsterte: »Schhhh...« Reglos und schwer atmend harrten sie im Bett aus. Wieder flüsterte Victor: »Was werden wir tun?«
»Nichts. Mach dir keine Sorgen. Die Person draußen wird schon wieder verschwinden.«
Und nach einer ganzen Weile und einer Menge Geklopfe war dem auch so.
Die abendliche Gruppenmeditation auf der Terrasse erwies sich als Fehlschlag. Alle hatten sich auf Kissen, die auf den von Thymian eingefaßten Pflastersteinen lagen, niedergelassen und sich isoliert verdrießlichen Gedanken gewidmet. Nach der gemeinsamen Meditation führten sie niedergeschlagen eine Diskussion über die Beisetzung des Meisters. Einhellige Meinung war, sie solle sobald als möglich stattfinden. Suhami bekannte, wie unangenehm ihr die Vorstellung war, daß seine körperliche Hülle in einem Metallsarg unter dunkler Erde vergraben lag. Ihrer Meinung nach sollte er auf einem hohen Katafalk, vielleicht sogar am Strand, unter einer warmen Sonne zur letzten Ruhe gebettet werden. Die Kommunenmitglieder hatten sich auf eine Verbrennung anstatt einer traditionellen Beerdigung geeinigt.
»Das entspräche auch seiner eigenen Vorstellung«, meinte May. »Schließlich war er ein Geist der Luft und des Lichts. SoZusagen Blowing in the wind.«
»War eine tolle Platte«, sagte Ken.
Er und Heather warfen ihren jetzigen Regenten einen schüchternen Blick von der Seite zu. Nachdem May und Arno ihnen gestern die frohe Botschaft überbracht hatten, hatten sie - wie alle anderen auch - ihre Überraschung und Zufriedenheit kundgetan, doch das Paar war sich längst nicht sicher, ob man ihnen jemals wieder vertrauen oder gut über sie sprechen würde. Ihr Lächeln verriet, wie bang ihnen ums Herz war. Im Haus läutete das Telefon. Heather rief: »Ich gehe, ich gehe!«
Damit war die Zusammenkunft aufgelöst. May verschwand, um für Felicity einen Kräuterschlaftrunk zuzubereiten. Suhami ging Calypso melken. Chris wollte sich ihr anschließen, wurde sanft zurückgewiesen, wagte einen neuen Versuch und ging schließlich ins Haus - mit zornroter, verdrießlicher Miene. Heather kehrte zurück, erklärte, der Anrufer habe sich in der Nummer geirrt, und fragte Arno, ob er ihr behilflich sein würde, Ken für seinen Spaziergang fertig zu machen. Auf ärztliches Drängen hin (es war wichtig, das gesunde Bein zu bewegen) humpelte er alle paar Stunden diskret auf und ab. Nun regte Heather an, eine kleine Runde durchs Dorf zu wagen. Glücklicherweise wurde das Tor nicht länger von Journalisten belagert.
Arno blickte ihnen hinterher. Ken beschwerte sich lautstark, daß die Strecke viel zu lang wäre. Einen Moment später trottete Arno in die Küche, um den Abwasch zu erledigen. Er war sich darüber im klaren, daß er sich eigentlich über das Verhalten der Beavers echauffieren müßte, aber sein eigener Seelenzustand war so labil, daß die Gegenwart anderer und deren Schwächen ihm gleichgültig waren.
Seine Veränderung hatte gestern eingesetzt. Kurz nach der bemerkenswerten Diskussion über das Testament des Meisters hatte der ansonsten äußerst zaghafte Arno so etwas wie ein unausgesprochenes Vertrauen gespürt. Er war erwählt! Gewiß nicht wegen seiner bemerkenswerten Fähigkeiten, was geistige Führung anbelangte (Arno hatte noch nie zu der Sorte Menschen gehört, die sich der Selbstüberschätzung hingaben), und dennoch hatte der Meister ihn für fähig gehalten. Gestern nacht hatte er vor dem Zubettgehen (er war sofort eingeschlafen) um Kraft und Stärke gebeten, um seine neue Verantwortung couragiert annehmen und ihr gerecht werden zu können.
Glücklich und gelassen wachte er auf, nur um gleich wieder neuen und beunruhigenden Gedanken nachzuhängen, die ihn zu Tode ängstigten. Geschwind sprang er aus dem Bett, als sorge Geschwindigkeit dafür, daß die schweren Gedanken in den Laken zurückblieben. Er kleidete sich an und stürzte sich umgehend auf seine Tätigkeiten und Pflichten. Heute erledigte er nicht nur die ihm übertragenen Aufgaben, sondern auch die Hälfte aller anderen, die auf der Liste eingetragen waren.
Leider mußte er feststellen, daß körperliche Aktivität nicht die richtige Antwort auf seine Befindlichkeiten war. Wie beschäftigt sein Körper auch sein mochte, seine Gedanken überschlugen sich, spülten immer wieder dieses eine und zutiefst beunruhigende Gefühl an die Oberfläche seines Bewußtseins. Seine leidenschaftliche Zuneigung zu May hatte ihn endgültig überwältigt, und da der Meister mit seinem letzten Willen sie und ihn noch enger zusammengebracht hatte, stand Arno kurz davor, sich ihr zu offenbaren.
Im Verlauf des Tages hatten sich dazu mehrere Gelegenheiten geboten, von denen ihm keine passend erschienen war. An einem bestimmten Punkt hatte er an Mays Vorliebe für alles Indigofarbene denken müssen, sich kurzentschlossen in den Garten begeben und jede blaue Blume, die er finden konnte, gepflückt. Mit einem Arm voller Lupinen, Rittersporne und Glockenblumen war er ins Haus zurückgekehrt, hatte dann aber allein bei dem Gedanken, sie ihr zu schenken oder seine Liebe zu gestehen, Angst bekommen und gekniffen.
Eins der Probleme - nun, eigentlich das Hauptproblem -war, daß Arno sich nicht länger einreden konnte, seine Gefühle für sie wären rein, nobel und spiritueller Natur. Inzwischen war ihm ein Licht aufgegangen: Es würde ihm in Zukunft nicht genügen, in platonischer Ergebenheit gemeinsam mit ihr den prosaischen Alltag zu verleben. Sie aus respektvoller Distanz zu verehren. Auf einmal wollte er mehr.
»Oh«, rief Arno laut in der Küche aus. »Ich bin kaum besser als ein wildes Tier.«
Gegen diesen Ausbruch von Zügellosigkeit hatte er sich zur Wehr gesetzt. Seine Duschbäder waren kälter geworden, seine Haut rosa von den rücksichtslosen Abreibungen mit dem Luffaschwamm. In Bruder Athelstans Kräuterbuch hatte er im Kapitel mit der Überschrift »Das Ablegen schlechter Stimmungen« nachgeschlagen und den Rat befolgt, Ysop zu sammeln, ihn im Backofen zu trocknen, zu zerbröseln und in Mandelöl zu rühren, die Paste auf den Bauch zu reiben, die Beine auf ein Kniekissen zu betten und zu ruhen. Pflichtschuldig hatte er die Prozedur vollzogen und sich hinterher tatsächlich besser gefühlt. Allerdings war seine Haut blau angelaufen.
Er war mit sich ins Gericht gegangen, was sich als schwierig herausstellte, hatte sich redlich bemüht, positiven Gedanken nachzuhängen, was ihm wiederum außerordentlich leichtgefallen war. Auch hatte er die vom Meister vielbeschworene innere Quelle allen Wissens strapaziert, ohne Ergebnis. Irgendwann war Arno an den Punkt gelangt, sein in Wallung versetztes Blut als gegeben hinzunehmen. Allein das Wissen, daß er anständig bleiben und seine Gefühle für sich behalten würde, spendete ihm Trost. Und anständig war er geblieben. Bis heute.
Erst heute war ihm ein Licht aufgegangen. Er hatte einsehen müssen, daß er keinen Frieden finden würde, wenn er seine Liebe nicht eingestand. Und daß sie ihm auf ewig verwehrt bleiben würde, sollte er versagen. Trotz des Meisters Verfügung spürte Arno, daß er in diesem Fall May in Zukunft nicht mehr mit seiner Gegenwart belästigen durfte. Den ganzen Tag über hatte er wie ein ängstlicher Soldat vor einer schicksalsschweren Schlacht nach positiven Vorzeichen Ausschau gehalten. Nach dem Mittagessen war ihm eins vergönnt gewesen. Beim Ausleeren der Tasse hatte der Teesatz im Spülbecken die Gestalt eines Herzens angenommen und Arno in Hochstimmung versetzt. Offenbar war der Zeitpunkt richtig gewählt. Er mußte die Sache endlich hinter sich bringen, und wie lange brauchte es schon, die drei Worte auszusprechen? Keine fünf Sekunden. Vielleicht etwas länger - immerhin hatte er sich entschlossen, ihr darüber hinaus noch ein paar Zärtlichkeiten zu sagen.
Bei dem Gedanken an diese Zärtlichkeiten stellten sich die Härchen in Arnos Nacken vor freudiger Erwartung auf. Möglicherweise war es eine gute Idee, ein Kärtchen mit seinem letzten Haiku zwischen die Blumen zu legen. Er zog es aus seiner Tasche.
May, Herzkönigin Bitter, ein Leben ohne dich Sei zusammen. Mit mir.
Die zweite Zeile, die eine Silbe zuviel hatte, machte ihm noch Kopfzerbrechen, andererseits hatte sie Überzeugungskraft und das richtige Tempo. Daran gab es keinen Zweifel.
Nach dem Abwasch und dem Abtrocknen stellte Arno die Gläser weg und fand dabei den Brandy. Versteckt hinter den Haferflocken, den Bohnen und den Trockenpflaumen. Gedankenlos nahm Arno die relativ volle und große Flasche herunter. Er schenkte ein kleines Schnapsglas voll und trank es in einem Zug leer.
Der Brandy brannte in seiner Kehle und veranlaßte ihn zu husten, doch danach fühlte er sich gleich wesentlich besser. Tatsächlich so viel besser, daß er sich auf der Stelle ein zweites Schnäpschen genehmigte. Dieses Glas ging ihm runter wie Öl. In seiner Brust breitete sich wohlige Wärme aus. Arno merkte, wie der Alkohol genau das bewirkte, was ein starkes Getränk bewirken sollte. Hemmungen abschüttelnd, überkam ihn jene Selbstsicherheit, die er brauchte, um seinen tapferen, draufgängerischen Auftritt zu bewältigen. Er beschloß, sich einen weiteren Brandy zur Brust zu nehmen, und ließ-sich auf einen Stuhl fallen.
Just in dieser Sekunde wurde er von ungebetenen Erinnerungen heimgesucht. Vor langer Zeit hatte er in einem Amateurtheater ein Stück gesehen. Es spielte in Rußland, und soweit Arno sich entsann, kamen darin zwei Charaktere vor, von denen alle anderen dachten, sie wären ineinander verliebt. Die Frau packte gerade, um wegzufahren, er stand neben der Tür. Sie nahm an, er würde sich ihr erklären, und er dachte das ebenfalls, aber er tat es nicht, und so ging sie weg, um als Gouvernante zu arbeiten. Die Verschwendung und das Pathos der ganzen Situation hatten Arno sehr angerührt. Nun wertete er die Erinnerung an das Schauspiel als Warnung und Aufforderung zugleich.
Damit ihn die Trauer nicht übermannte, gönnte er sich noch ein Gläschen Schnaps. Taumelte langsam zum Fenster hinüber, öffnete es und hielt den Kopf in die wohlriechende, seidenweiche Luft. Wie angenehm! Doch er konnte nicht leugnen, daß es ihn nach einer mutigeren Tat dürstete. Genau da hörte er das Cello.
Sie spielte die Chakras, die - wie sie ihm einmal versichert hatte - der siebennotigen Tonleiter entsprachen. Woher er wußte, daß sie nicht einfach eine gewöhnliche Tonleiter spielte, konnte er nicht sagen. Lag es an dem besonders vollen Timbre, an der tieferen Resonanz in der Pause? Konnte man womöglich Farben hören? Sich am Rahmen festhaltend, stand er am Fenster und spitzte die Ohren, um keine einzige Note zu verpassen.
Er hatte das Gefühl, in Freude und Selbstvertrauen zu ertrinken. Als wäre ihm die große Kraft, die es brauchte, um sie und sich selbst zu stützen - jetzt und in der Zukunft -, gerade eben zum Geschenk gemacht worden. Diese Kraft zog ihn nicht runter, sondern gab ihm Auftrieb. Er flog. Urplötzlich war er davon überzeugt, daß sie ihm gehören würde - das wußte er nun! Ihre ganze überschwengliche, unfaßbare Extravaganz. Als die Noten ertönten, erschuf Arno - in einem Anfall von Mannstollheit - die von ihm angebetete Musikerin neu und sah sie nicht mehr in einem englischen Landhaus sitzen, sondern auf einer von Gold eingefaßten Wolke mit einem glänzenden Helm quer durch den Himmel reiten. Ja, das war es!
Seine große Chance, die Gelegenheit, auf die er so lange gewartet hatte. Sein großer Tag.
Von diesem Bild angespornt, riß Arno die Blumen aus der Vase, blickte sich suchend nach einem Einschlagpapier um. Da nichts in der richtigen Größe, der richtigen Beschaffenheit, der richtigen Qualität vorhanden war, gab er sich mit einem Geschirrspültuch zufrieden. Er legte sich eine Strategie zurecht. Zuerst würde er ihr die Blumen überreichen, sich eine Zeitlang über die Schönheit ihrer Seele auslassen, über ihre erstaunliche physische Attraktivität und darüber, wie angenehm es war, mit ihr zu plaudern, sich dabei wie ein Mann von Welt verbeugen und sich dann zurückziehen. Durfte eigentlich nicht allzu schwierig sein. Jeder konnte ein bißchen Süßholz raspeln. Er legte das Kärtchen mit dem Haiku zwischen den Rittersporn und war gerade im Begriff, zur Tür zu gehen, als die Musik mitten in der Tonleiter (irgendwo zwischen dem Herz und dem Solarplexus) verstummte.
Wie angewurzelt blieb Arno stehen und konzentrierte sich voll und ganz auf die sich ausbreitende Stille. Was war denn los? War sie krank? Ein Angstschauer lief ihm über den Rücken, bis er sich wieder gefaßt hatte. May war niemals krank. Diese rubenesken Gliedmaßen, diese strahlenden Augen und diese bemerkenswerte Oberweite waren nicht nur gesund, sondern unzerstörbar.
Höchstwahrscheinlich legte sie nur eine Pause ein, um eine neue Seite aufzuziehen. Oder den rechten Arm auszuruhen. Mitten in der Tonleiter? Während er zögerte, überlegte, seinen Blumenstrauß umklammerte, drang ein anderes fremdes Geräusch an seine Ohren. Ein bittersüßer, reiner Ton, unterbrochen von kurzem, gurgelndem Stöhnen. Zuerst interpretierte er es als Gesang. Andererseits war der Vortrag wenig musikalisch, erinnerte ihn vielmehr an mittelalterliche französische Balladen, die meistens von einer Flöte begleitet dargeboten wurden. Schließlich verschaffte eine unglaubliche traurige Kadenz ihm Klarheit. Sie sang nicht, sie weinte.
Überwältigt von Anteilnahme und Sorge, lief Arno den Korridor hinunter. Über ihr Instrument gebeugt, saß May auf dem Hocker und hielt den Bogen in die Luft, als beabsichtige sie, gleich weiterzuspielen. Ihre Wangen waren benetzt. Ihr Profil kündete von Trauer. Arno blieb auf der Türschwelle stehen. Ihr Anblick brach ihm das Herz. Er brachte kein Wort über die Lippen, nichts, nicht mal einen einzigen tröstenden Satz, geschweige denn seine ritterliche Liebeserklärung.
Zuerst bemerkte sie ihn vor lauter Trauer gar nicht. Zögerlich wagte sich Arno mit seinem Blumenstrauß in der Hand ins Zimmer. Sie drehte sich um und sagte einfach: »Oh, Arno - ich vermisse ihn so sehr.«
Das genügte. Befreit und kühn näherte sich Arno ihr. Rief: »Liebste May«, umarmte sie und rückte mit der Sprache heraus.
Ab da wurde die Sache ein wenig kompliziert. May erhob sich. Auf ihrem Antlitz spiegelte sich eher Verwirrung denn Sorge oder Ablehnung. Arno, der sich an ihren breiten, in Seide gehüllten Schultern festhielt, rutschte ab. Darauf folgte eine kurze turbulente Rangelei mit in Falten gelegtem, rutschigem Stoff, kräftigen kurzen Beinen, losen, tiefblauen Blütenblättern, glänzendem Rosenholz, gefolgt von einem Aufschrei elementarer Heftigkeit. Ob dieser von Freude oder Zorn ausgelöst wurde, konnte im nachhinein unmöglich geklärt werden.
Es war kurz vor sieben. Mit hinter dem Kopf gefalteten Händen saß Barnaby an seinem Schreibtisch, überdachte die vielen verschiedenen Details des Falles und hing überhitzten, abgestandenen Gedanken nach. Ein Labyrinth aus Gesichtern, Stimmen, Schaubildern und Fotos. Welches Puzzleteilchen würde Licht ins Dunkel bringen? Durchaus möglich, daß dieses Puzzleteilchen noch gar nicht gefunden worden war. Wo soll ich das in dem Fall noch hernehmen, fragte er sich?
Daß ein Großteil der Informationen verworfen werden konnte, bezweifelte er nicht. Im Moment war er hingegen noch nicht bereit, diesen Schritt zu wagen. Er ließ seine verspannten Schultern kreisen, hob und senkte sie, um die Blutzirkulation anzuregen. Troy warf einen Blick auf die Armbanduhr.
»Ich nehme mal an, daß die Leute auf Windhorse ihr Abendlied anstimmen«, sagte er. »Oder tanzen. Oder welchen komischen Dingen sie ansonsten nachgehen.«
»Seien Sie nicht so, Troy. Womöglich werden auch Sie eines Tages wiedergeboren.«
»Wenn Sie mich fragen, hätten die meisten Leute, die wiedergeboren werden, nicht mal beim ersten Mal auf die Welt kommen dürfen.«
Barnaby lachte, woraufhin Troy ihm einen verunsicherten Blick zuwarf. Manchmal reagierte sein Chef so. Verzog angesichts der klügsten Scherze keine Miene, fiel aber vor Lachen fast vom Stuhl, wenn man es ernst meinte. »Es wird Zeit, Sir.«
»Vielleicht kommt ja noch was rein.«
»Dachte, Sie hätten gesagt, heute sei Cullys Geburtstag.« Barnaby konnte die unverhohlene Wollust, die jedes Mal in Troys Tonfall mitschwang, wann immer er Cullys Namen erwähnte, nicht leiden. »Wird es keine Party geben?«
»Eine kleine. Wir feiern heute auch noch ihre Verlobung.«
»Ach ja. Und was macht er?«
»Ist Schauspieler.«
»Dann wird er bald im Fernsehen zu sehen sein«, sagte Troy.
Ohne etwas zu erwidern, stierte Barnaby auf den Stapel mit den Aussagen. Die von Gamelin lag obenauf. Verbarg sich auf dieser abgetippten Seite oder auf einer der anderen eine Zeile, die neu interpretiert werden konnte? Eine Information, die man in einem anderen Licht betrachten mußte?
Voller Sympathie musterte Troy seinen Chef. »Ich setze mein Geld auf diesen Meister Rakowsky. Jemand, der umsonst juristischen Beistand gewährt, kann nichts Gutes im Schilde führen. Die meisten Anwälte verlangen fünfzig Pfund nur fürs Handschütteln.« Er kicherte. »Und wo wir schon von Anwälten sprechen - haben Sie sich noch mal Gedanken über Miss Cuttle und diesen Gibbs gemacht? Ich meine - da haben wir doch ein Motiv. Elisabethanisches Herrenhaus, viel Grund und Boden, ganz zu schweigen von dieser Ziege. Ich weiß, vordergründig kommen sie einem wie unschuldige Idealisten vor -«
»Idealisten sind nie unschuldig«, sagte Barnaby, ohne aufzublicken. »Sie verursachen die Hälfte aller Probleme, mit denen die Welt momentan zu kämpfen hat. Sehen Sie sich das hier an.« Troy nahm Guy Gamelins Aussage in die Hand, las sie durch und warf Barnaby einen nichtssagenden Blick zu. »Erzählt uns was über den Mord, was wir bislang noch nicht gewußt haben.«
Troy runzelte die Stirn. »Nein, tut sie nicht.«
»Doch, tut sie. Lesen Sie noch mal.«
Troy las die Aussage noch zweimal durch. »Ohhh...« Er zuckte mit den Achseln. »Und - was für einen Unterschied macht das?«
»Möglicherweise«, Barnaby forderte die Aussage zurück, »bringt es uns dazu, die ganze Sache von einem anderen Blickwinkel aus zu betrachten. Das ist nie schlecht, wenn man nicht weiterkommt.«
»Richtig.« Troy wandte sich schnell ab, um einem Vortrag über Unvoreingenommenheit zu entgehen. »Müssen Sie jetzt nicht los?«
»Hmm.« Barnaby erhob sich, ohne den Blick von dem Blatt Papier zu nehmen. »Ich denke, morgen werden wir uns noch mal mit dem verrückten Jungen unterhalten müssen. Versuchen Sie rauszufinden, warum er felsenfest davon überzeugt ist, daß Craigies Tod ein Unfall war. Und wieso er solche Angst hat. Gibbs hat definitiv versucht, eine Begegnung zwischen ihm und uns zu vereiteln. Nächstes Mal muß ein anderes Kommunenmitglied dabeisein. Vielleicht haben wir dann mehr Glück.«
»Wann fängt sie an - die Feier?«
»Um halb sieben.«
»Dann schaffen Sie’s gerade noch.«
Barnaby machte »Hmm«, trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte und schaltete seinen Monitor ein. Troy verstand die Welt nicht mehr. Wie konnte er nur am einundzwanzigsten Geburtstag seiner Tochter im Büro rumhängen?
»Ich werde dableiben.« Ein überraschter Blick. »Die Abfütterung und das Baden des Babys habe ich ohnehin schon verpaßt, wozu also die Eile?«
»Das ist sehr nett von Ihnen, Gavin«, meinte Barnaby und dachte an die arme alte Maureen. »Aber mehr werden wir heute abend wahrscheinlich nicht rausfinden. Außerdem bin ich ja daheim erreichbar. Trotzdem - ich bin Ihnen sehr dankbar.«
»So bis gegen neun?«
»Gut. Bis dann bin ich bestimmt wieder zurück.«
»Aber sicher, Chief«, sagte Troy und dachte an die arme alte Cully.
Als Barnaby weg war, hing er gehorsam eine halbe Stunde lang im Büro herum, stattete dem Hauptbüro ein paar Besuche ab, unterhielt sich mit dem diensthabenden Personal, nahm ein paar unwichtige Telefonate entgegen. Gelangweilt beschloß er, in der Kantine zu Abend zu essen und hinterließ die Nachricht, daß - falls seine Frau anrief - man ihr sagen sollte, er sei nicht da, und, für den Fall, daß etwas reinkam, was mit der Windhorse-Sache zu tun hatte, man ihn umgehend rufen sollte.
Nicht der Hunger trieb ihn in die Kantine. In der Abendschicht arbeitete eine neue Assistentin. Verheiratet und, wollte man den Gerüchten Glauben schenken, nicht wirklich abgeneigt, was Neues auszuprobieren. Er stellte Spaghetti, Pommes und einen Becher dünnen Tee auf sein Tablett und trug es zur Registrierkasse. Mit Vergnügen bemerkte er die falschen Augenwimpern, den engen Overall, den pinkfarbenen Schmollmund. Ihre Lippen glänzten, als fahre sie oft mit der Zunge darüber. Vielleicht voller Vorfreude? Er bekam fünfzig Pence heraus. Als sie ihm die Münze reichte, klimperte sie mit den Wimpern und sagte: »Das sollten Sie für blinde Hunde spenden.«
»Blinde Hunde?« Troy entdeckte die Dose und ließ die Münze reinfallen. In seinen Augen war die Spende eine Investition. »Arme Viecher. Es ist ja nicht so, als ob man es ihnen erklären könnte, nicht wahr?« Sie verzog keine Miene. Auch gut. Schließlich war er nicht hinter ihrem Humor her.
Später kam sie zum Geschirrabräumen an seinem Tisch vorbei. Troy klopfte auf den neben ihm stehenden Stuhl, und als sie sich setzte, gestand er ihr, wie sehr es ihm gefallen würde, die Lederpolsterung zu sein. So ging es eine Weile zwischen ihnen hin und her. Sie kicherte ungemein sexy. Ihr ganzes Verhalten war überaus angenehm, um nicht zu sagen vielversprechend. Mit Bedauern sah Troy, daß sie, nachdem man in der Küche nach ihr gerufen hatte, aufstand. Er bestellte ein Stück Pfefferminzkuchen mit Vanillesoße, bezahlte und trödelte an der Kasse herum. Nach dem Verzehr der Süßspeise und einer weiteren Tasse Tee (beim Bezahlen harrte er wieder die längste Zeit an der Kasse aus), zündete er eine Zigarette an, inhalierte langsam, blies den Rauch aus und sah zu, wie er kräuselnd zur Decke stieg. Alles sehr zeitintensiv, und später tat es ihm natürlich unendlich leid. Aber woher hätte er denn wissen sollen, daß seine Trödelei jemandem das Leben kostete.
Punkt halb sieben traf Barnaby daheim ein. Wie sich herausstellte, hatte sich die Doppelfeier (Geburtstag und Verlobung) in ein Fest verwandelt, bei dem nun ein dritter Anlaß gewürdigt wurde: Nicholas, der sein letztes Jahr auf der Central School of Speech and Drama absolvierte, hatte die begehrte Gielgud-Medaille verliehen bekommen.
Er hatte den Ödipus gespielt, war ganz in Weiß gekleidet und vor Selbstgerechtigkeit strotzend die Bühne auf und abgeschritten, hatte entschlossen die Korruption ausgerottet, um am Ende des Stückes - nun in Rot gehüllt - erkennen zu müssen, daß er selbst ebenfalls korrupt war. Seine Darbietung hatte unerhört angeberisch gewirkt. Sein Leiden war derart stilisiert und extravagant gewesen, daß es sich beinah ins Gegenteil verkehrt und komisch gewirkt hätte, doch im Kern war es authentisch geblieben. Nun war er für diese Leistung ausgezeichnet worden. Nicholas, der schlagartig - quasi wie die Jungfrau zum Kind - zu einem Agenten gekommen war, war jetzt im Besitz der lebenswichtigen Equity Card und mit einer bemerkenswerten jungen Dame verlobt. Wen wunderte es da, daß er sich als König der Welt fühlte?
Er und Cully unterbrachen einander fortwährend, lachten über alles und nichts. Hie und da warf Barnabys Tochter ihre dunkle, mit eingeflochtenen Blüten verzierte Mähne nach hinten. Sie trug einen langen scharlachroten Baumwollrock, dessen Saum mit vielfarbigen Bändern verziert war, und eine weiße mexikanische Rüschenbluse mit so weiten Ärmeln, daß der Stoff eines Ärmels für eine neue Bluse gereicht hätte.
»Ich kann euch gar nicht sagen«, verkündete Nicholas beim Verzehr der Estragoneier, »wie unerhört angenehm es war, mit Phoebe Catchpole zu arbeiten.«
»Sie war nicht schlecht«, kommentierte Cully gnädig.
»Um ehrlich zu sein«, bemerkte Joyce an, »ich hielt sie für sehr gut.«
»Doch ihre Größe, Darling«, fuhr Nicholas fort. »Das war gerade so, als habe man es mit einem Rhinozeros zu tun. Bei >Oh - verloren und verdammt< -, wißt ihr, kurz vor ihrem letzten Abgang, lehnte sie sich an mich. Ich fürchtete schon, durch die Holzdielen gedrückt zu werden. Die einzige erwachsene Studentin in meinem Jahrgang, und man gibt ihr die Rolle der Iokaste. Sie ist alt genug, um meine Mutter zu sein.«
Dieser Kommentar brachte alle zum Lachen. Diesmal war es Nicholas, der seine langen haselnußbraunen Haare über die Schultern warf. Das junge Paar scherzte und erblühte und strahlte sich über den gedeckten Tisch hinweg an. Nichts als Jugend, Schönheit und feuriges Talent. Die beiden halten sich zweifellos, sinnierte Joyce kritisch, für Viv und Larry de nos jours. Auch gut - das Leben würde sie schon noch zurechtstutzen. Das Leben, das Theater, die Menschen. Joyce empfand gleichzeitig Trauer, Irritation und Neid. Beim Einsammeln der Teller sagte sie: »Ich kann einfach nicht verstehen, warum die Psychiater das sexuelle Verlangen des Sohnes nach seiner Mutter Ödipuskomplex nennen. Im Grunde genommen geht es in diesem Stück doch genau darum, daß er nicht weiß, daß sie seine Mutter ist.«
»Findest du nicht, daß Teiresias anrührend war?« Cully pickte das letzte bißchen Gelee auf. »Vor allem während der letzten Rede.«
»Ach, komm schon«, entgegnete Nicholas geschwind. »Er hat eine Stimme wie ein Maiskuchen.«
Die größte Tugend ist Großmut. Als Joyce das Geschirr raustrug, dachte sie, daß Nicholas lernen mußte, seine Zunge zu hüten, falls er weiterkommen wollte. Noch in der Küche konnte sie hören, wie die beiden die irrsinnigsten Pläne schmiedeten.
»Es ist großartig, daß es einen weiblichen Boten gegeben hat«, meinte Cully. »Bei dem ganzen blutigen Durcheinander auf der Bühne sind das immer großartige Rollen.«
»Überbrachten sie schlechte Nachrichten«, rief Joyce, »"wurden sie nach draußen geführt und geköpft.«
»Großer Gott«, sagte Nicholas. »Wie kommt man nur zu so einem Job?«
»Wie zu allen anderen auch«, erwiderte Cully schlagfertig. »Man hängt im Groucho’s rum.«
Mehr Gelächter. Cullys kam tief aus der Kehle, hatte genau den richtigen Ton, die richtige Lautstärke. Das Läuten kleiner Silberglocken. Nicholas Lachen war warm, dunkel, maskulin, wie aus einem Rasierwerbeclip.
Joyce richtete Sainsbury’s Enchiladas, Basmatireis und eine große Schüssel Eichenlaubsalat her. Auf dem Tisch standen schon zwei entkorkte Flaschen eines schweren portugiesischen Rotweins. Zum Nachtisch sollte es Chocolate-Butter-Pecan-Eiscreme geben. Sie rief: »Ich könnte Hilfe gebrauchen.«
»Ich weiß immer noch nicht, wie ich mich entscheiden soll«, sagte Nicholas und brachte somit das Gespräch wieder auf seine Zukunft. Ihm waren eine feste Besetzung in Stratford und mehrere Parts am Octogon angeboten worden. »Ich denke, verschiedene Rollen sind immer besser.«
»Klar doch.« Cully kam aus dem Staunen nicht heraus. »Was willst du werden? Schauspieler - oder irgendein Straßenkomödiant, der mit großen Augen zu Ian McKellans bestrumpften Beinen aufsieht?«
»Ich nahm an, er sei am National?«
»Oder du könntest in einer Produktion enden, die im Sande verläuft.«
Nicholas bekam einen Schreck. »Im Sande verläuft?«
Die Platten mit dampfenden Köstlichkeiten auf einem Tablett anrichtend, merkte Joyce, daß Tom neben ihr stand, und trug ihm auf, es ins Eßzimmer zu bringen. »Bemüh dich doch bitte, an dem Gespräch teilzunehmen, Liebling.«
»Wie bitte?«
»Sag was.«
»Ich höre zu.«
»Nein, tust du nicht.«
»Die würden es doch gar nicht mitkriegen, wenn wir hier in der Küche essen würden.«
»Führe mich nicht in Versuchung«, sagte Joyce in dem Wissen, daß er sich irrte. Schauspieler merken immer, wenn das Publikum verschwindet. Sie nahm den Wein, und Cully schenkte ein, während sie Nicholas versicherte, wie glücklich Bolton sich schätzen durfte, ihn zu haben. Nicholas sagte: »Bitte, keine Anhimmelei.«
»Richtig, ihr beiden.« Barnabys Stimme war laut und fest. Der Tadel entging Nicholas nicht. Cully setzte eine Büßermiene auf und lächelte. Gläser wurden hochgehoben. »Auf euren zukünftigen Erfolg. Auf die Plakatwände und alles andere auch. Werde glücklich, Liebling.«
Alle tranken einen Schluck. Dann kam Cully um den Tisch herum, küßte den Scheitel ihrer Mutter, die Wange ihres Vaters. Für einen Augenblick versperrte ihr herabfallendes Haar ihm die Sicht, und da spürte er mit voller Wucht, daß er sie verlor, obgleich er sich schon vor langer Zeit damit abgefunden hatte.
»Danke, Dad, Ma.« Sie saß schon wieder auf ihrem Platz.
Nicholas griff nach ihrer Hand, schob seine schlanken Finger zwischen ihre, führte ihre Hand an seine Lippen und gestand: »Ich möchte nicht zu lange von London Weggehen.«
»Herrje, Nicholas, sagte Joyce leicht genervt. »Gerade vor fünf Minuten hast du die Schauspielschule verlassen. Du mußt Erfahrungen sammeln.«
»Was mir wirklich Spaß machen würde«, meinte Nicholas, »was mir wirklich was bringen würde, denke ich jedenfalls, wäre, wenn ich mich für eine Zeitlang vom gesprochenen Theater zurückzöge. Mich in Pantomime weiterbilden würde. Vielleicht sollte ich in einem Zirkus arbeiten. Das wäre phantastisch.«
»Um dich als Pantomime weiterzubilden, mußt du nach Spanien gehen«, gab Cully zu bedenken. »Oder nach Frankreich.«
»Einer der Verdächtigen in meinem jetzigen Fall arbeitete in einem spanischen Zirkus«, sagte Barnaby. »Als Löwenbändiger.«
»Und - hatte er Erfolg?« wollte Nicholas wissen.
»An dem Abend, an dem wir uns verlobten, haben wir uns einen Pantomimen angesehen«, erzählte Joyce. »Weißt du noch, Tom? Im Saville. «
»Natürlich weiß ich das noch.« Diese spezielle Erinnerung, die - wenigstens eine Zeitlang - jeden Gedanken an seine Arbeit auslöschte, war ihm willkommen. »Haben zuvor im Mon Plaisir zu Abend gegessen.«
»Und war sie gut?« fragte Nicholas. »Die Company?«
»Das war nur ein Mann. Marcel Marceau.«
»Er hat den Ruf, brillant zu sein«, meinte Cully.
»Das war er auch«, bestätigte Barnaby. »Füllte die Bühne mit Menschen. Sprach mit ihnen, tanzte mit ihnen. Man hätte schwören können, daß sie tatsächlich da waren. Es gab diese Szene, wo er gegen den Wind anlief, und man konnte praktisch sehen, wie er von ihm weggetragen wurde.«
»Toll«, sagte Cully. Sie und Nicholas hatten aufgehört zu essen.
»Meiner Meinung nach war die beste Szene die«, warf Joyce ein, »mit der er den Abend beendete. Er hatte einen Stapel Masken - natürlich nur in der Einbildung - und setzte sie nacheinander auf. Sein eigenes Gesicht ist sehr schön und unglaublich beweglich, wie Gummi. Alle Masken waren unterschiedlich. Er hielt sie schnell hoch, und jedes Mal veränderte sich sein Gesichtsausdruck komplett. Am Ende hatte er einen schrecklich tragischen Ausdruck. Und konnte die Maske nicht wieder ablegen. Er zog und zerrte und riß schließlich die Ränder ab. Dabei wurde er immer wilder, hektischer. Das Ding ging einfach nicht runter. Und obwohl die Maske sich abnehmen ließ, konnte man trotzdem noch erkennen, was dahinter war. Das war wirklich faszinierend. Seine Panik zu sehen, als er begriff, daß er für den Rest seines Lebens so aussehen würde.«
Nach dieser dramatischen Schilderung herrschte vollkommene Stille. Wie verzaubert saßen Cully und Nicholas auf ihren Stühlen. Barnaby ritzte mit seiner Gabel Rillen ins Tischtuch. Nach einer Weile fand Nicholas seine Sprache wieder. »Gott - was gäbe ich darum, wenn ich das hätte sehen dürfen.«
»Er gibt immer mal wieder eine Vorstellung. Und wir sprechen andauernd davon, uns noch eine seiner Vorstellungen anzuschauen, schaffen es dann aber nie. Ist es nicht so, Tom?«
Keine Antwort. Cully wedelte ein paarmal mit den Händen vor den Augen ihres Vaters. Auf Nicholas Kichern hin riet sie ihm: »Tu das nicht. In diesem Haus ist es ein schweres Verbrechen, sich über die Polizei lustig zu machen.«
»Jetzt mal im Ernst, Tom«, erkundigte sich Joyce, »bist du in Ordnung?« Er war blaß, wirkte in sich gekehrt, starrte vor sich hin, als wisse er nicht, wer sie war. Alle drei bekamen einen großen Schreck.
»Doch.« Endlich schaute er auf, registrierte ihre Besorgnis. »Ich bin... tut mir leid. Es geht mir gut. Selbstverständlich geht es mir gut.« Er lächelte sie an. »Entschuldigt. Es geht mir wirklich gut. Ja.«
»Es geht dir nicht gut«, wiedersprach Joyce. »Du tust nur so.«
»Wir sollten noch mal ins Mon Plaisir gehen. Zu unserer Silberhochzeit. Alle zusammen.«
»Ich werde die Eiscreme holen.« Joyce verschwand in der Küche und rief über ihre Schulter: »Die wird dich beruhigen.«
Zu der Sekunde, als sie einen Blick durch die Durchreiche warf, klingelte das Telefon. Eine kurze Bewegung, und sein Stuhl war leer.
Während der Wagen durch die dunkle Nacht rollte, unterhielten sich die beiden Männer miteinander, sortierten die Fakten. Gleich nachdem Troy ihn daheim angerufen hatte, hatte Barnaby gewußt, was Sache war. Den Einblick, den der Chief Inspector beim Abendessen erhalten hatte, untermauerte seine Theorie nur noch.
»Eigenartig«, sagte Troy nun. Er setzte den Blinker und verringerte das Tempo.
Das Tor des Anwesens stand sperrangelweit offen. Einmal abgesehen von einem einzelnen Licht im Erdgeschoß, war das Haus dunkel. Als der Streifenwagen die Auffahrt hochfuhr, verwandelte die Halogenwarnleuchte das Haus in eine mondbeschienene, in Dunkelheit gebettete Hülle.
Nachdem sie aus dem Wagen gestiegen waren, klopfte Barnaby laut an die Eingangstür und klingelte gleichzeitig. Da er keine Antwort erhielt, drückte er den Türgriff herunter und trat unaufgefordert ein. Troy folgte ihm und zog dabei eine Augenbraue hoch: Sie hielten sich nicht an die Vorschriften.
Barnaby rief: »Hallo!« Stille erstickte das Wort. Das Haus schien leer zu sein.
»Gefällt mir gar nicht.« Er ging zur Treppe hinüber und rief erneut. »Hier wohnen acht Leute, wo stecken die nur alle?«
»Kommt mir wie ein Schiff auf hoher See vor, Chief, das ohne Besatzung dahintreibt.«
»Die können doch nicht alle mit dem Kleinbus weggefahren sein. Und der VW ist noch da.«
»Hören Sie!« Troy warf den Kopf zurück und blickte zum Oberlicht empor. Barnaby folgte seinem Beispiel.
»Was? Ich kann nichts hören.«
»Eine Art... Scharren...«
Ja, nun konnte er es hören. Direkt über ihnen. Als würde ein schwerer Gegenstand verrückt. Kurz darauf polterte es laut, und jemand schrie wie am Spieß.
»Auf dem Dach!« Troy rannte nach draußen. Barnaby folgte ihm ein wenig gemächlicher. Die beiden Männer entfernten sich so weit vom Haus, bis sie das Dach richtig im Blick hatten. Vergebliche Liebesmüh - oben schien sich keine Menschenseele aufzuhalten.
»Er muß auf der anderen Seite sein. Hinter den Schornsteinen. Ich werde außen rumgehen -«
»Nein - warten Sie.« Barnaby packte den Sergeant am Arm. »Sehen Sie doch - dort oben... in den Schatten.«
Zwei dunkle Gestalten, ineinander verschlungen, ringend, kämpfend, ganz dicht am Abgrund. Eine löste sich, krabbelte die Dachschräge hoch. Die andere verfolgte sie. Barnaby sah, wie etwas aufblitzte, wie Licht reflektiert wurde.
»Gütiger Gott - er hält ein verdammtes Radkreuz in der Hand -«
»Wie gelangen wir nach oben?«
»Es gibt ein Oberlicht, dann wird es höchstwahrscheinlich auch eine Treppe geben. Nehmen Sie die Galerie. Ich werde es von unten versuchen.«
»Wie wäre es mit einer Leiter?« Beide Männer hatten sich schon in Bewegung gesetzt.
»Dauert zu lange... Ich weiß nicht mal... wo ich suchen sollte...« Barnaby hielt sich an der Verandabrüstung fest. »Gehen... Sie... weiter...«
»Okay.«
Mitten in der Halle hörte Troy ein seltsames Geräusch über seinem Kopf. Ein merkwürdiges Knirschen und Knarzen, als drücke jemand mit Gewalt eine große Zellophankugel zusammen. Er blickte nach oben, und Barnaby sah, wie sich seine Miene veränderte, wie sich Schock und Unglauben auf seinem Antlitz breitmachten. Der Sergeant wich gerade noch rechtzeitig zurück. Eine Wolke aus opalisierendem Staub und funkelnden Glassplittern regnete herunter. Im Herzen dieses Glitzerregens zeichnete sich die schmale Gestalt eines blonden Mannes ab, der sich um die eigene Achse drehte, mit den Armen fuchtelte und laut schrie.
Alle saßen in der Küche. Heather hatte in der großen braunen Emaillekanne starken Tee aufgebrüht. Nicht jedermann hatte Lust auf Tee. Der am Abtropfregal lehnende Troy schüttelte den Kopf. Auch der Chief Inspector und May schlugen das Angebot aus. Nachdem sie Andrews Gesicht gereinigt hatte, tupfte sie nun eine Kampfertinktur auf seine von Schnitten übersäten Wangen und seine blutenden Lippen. Er schlürfte Tee, stöhnte ab und zu auf und warf Suhami finstere Blicke zu, als wolle er sie damit veranlassen, Anteilnahme an seinem Zustand zu zeigen.
May, Suhami und Arno waren nur wenige Sekunden nach Tims Sturz herbeigeeilt. Nachdem Suhami den Orion entdeckt hatte, hatte sie praktisch auf der Veranda geparkt und war umgehend ins Haus gerannt.
»Tim...« rufend, war sie durch die Halle geeilt, hatte sich neben ihn gekniet und vor Schreck die Hände aufs Gesicht gelegt.
»Es gibt nichts, was Sie tun könnten, Miss.« Troy hatte versucht, sie zum Aufstehen zu überreden. »Der Chief Inspector ruft gerade einen Krankenwagen. Fassen Sie das nicht an«, schob er hartherzig nach, als sie die Hand nach dem Radkreuz ausstreckte.
»Aber - wie ist das passiert?« Sie schaute zu dem klaffenden Loch im Oberlicht auf. »Ist er gefallen? Was hatte er dort oben zu suchen?«
In diesem Moment war Andrew aufgetaucht, hatte sich am Galeriegeländer entlanggezogen. Blutend, mit zerrissenem Hemd, kaputter Jeans. Er hatte etwas gemurmelt. Je näher er kam, desto verständlicher wurden seine Worte.
»Mich töten... hat versucht, mich zu töten...«
Eine halbe Stunde später wiederholte Barnaby diesen Satz in Form einer Frage. Er mußte dreimal nachfragen, ehe er eine Antwort erhielt.
»Wieso? Weil er rausgekriegt hat, wer ich wirklich bin.« Wegen der geschwollenen Lippen kamen die Worte undeutlich heraus. Neugierig und verwirrt begannen die anderen Anwesenden zu murmeln.
May wischte ihre Hände an einem Mousselintuch ab und fragte: »Was meinst du damit?«
»Ich heiße nicht Christopher. Ich bin Andrew Carter. Jim Carter war mein Onkel.« Die Neugierde verwandelte sich in ' Bestürzung. Nun folgten die Kommunenmitglieder Barnabys Beispiel und bombardierten ihn mit Fragen. Es dauerte ein 'paar Minuten, bis sie sich wieder beruhigt hatten. Ken war der letzte, der den Mund hielt, und zwar erst, nachdem er Andrew noch gefragt hatte, welchen Sinn es machte, sich für jemand anderen auszugeben.
Andrew erzählte von dem Brief, den Tabletten seines Onkels und daß er bei der Anhörung dabeigewesen war. »Ich wußte, jemand war mir auf der Spur«, richtete er sich an Barnaby. »Ich wußte nur nicht, wer. Das Foto, das ich Ihnen mal gezeigt habe, hatte ich unter ein paar Hemden versteckt. Irgendwann merkte ich, daß es verschoben worden war. Kurz danach hat man mich angegriffen. Beim Verlassen des Hauses warf jemand vom Dach aus einen Metallklumpen auf mich. Ich habe die anderen belogen und ihnen nicht gesagt, wo der Klumpen tatsächlich aufgeschlagen ist. Nicht auf der Platte, wo May gestanden hatte, sondern auf der dahinter.«
»Davon haben Sie mir nichts erzählt.«
»Doch, habe ich, Chief Inspector!« rief May. »Beim ersten Verhör habe ich genau diesen Vorfall erwähnt.«
»Ich glaube nicht -«
»Ich entsinne mich ganz deutlich. Mein Unfall. Als der Meteor vom Himmel fiel.«
»Ahhh. Ja.«
»Sie haben mich angewiesen, nicht abzuschweifen. Und ich wollte mich nicht stur geben. Hatte den Eindruck, es gäbe in so einem Fall eine bestimmte Vorgehensweise, die es zu befolgen gilt. In Ihrem Büro sind Sie mir ein zweites Mal über den Mund gefahren.«
Na, darauf gibt es keine passende Antwort, nicht wahr, Schätzchen? Troy ergötzte sich an der Verwirrtheit seines Chefs, gestand sich aber ein, daß er keinen Deut anders reagiert hätte.
»Aus welchem Grund haben Sie den Mund gehalten?« Der Chief Inspector betonte das »Sie« und wandte sich erneut an Andrew.
»Ich bildete mir ein, die Gegenseite würde annehmen, ich wisse nicht Bescheid, wenn ich so tat, als kenne ich den Grund für den Angriff nicht. Fatalerweise wähnte ich mich in Sicherheit.«
»Hört sich meiner Meinung nach ganz schön verworren an. Uns hätten Sie trotzdem die Wahrheit sagen können.«
»Sie wären doch nur hier aufgetaucht, hätten Fragen gestellt und alles verraten.«
»Können Sie Beweise vorlegen, daß die ganze Sache nicht doch ein Unfall gewesen ist?«
»Ich bin gleich danach aufs Dach gestiegen. Unmöglich, daß so ein großer Metallbrocken allein vom Dach fällt. Schließlich hatte er nicht dicht am Rand gelegen. Und zwischen den Schornsteinen eingeklemmt, habe ich ein Radkreuz gefunden.«
»Das, das heute nacht verwendet wurde?«
Andrew nickte. Er war müde, fertig. »Ich habe es mitgenommen und in Calypsos Stall versteckt. Gestern hat es noch dort gelegen. Als ich heute nachsah, war es weg. Mit einem Mal dämmerte mir, daß derjenige, der es genommen hat, auch derjenige war, der mich damals angegriffen hat. Tim, wie sich herausstellte.«
Die anderen tauschten verzweifelte Blicke aus. May sagte: »Du hättest uns das nicht verheimlichen dürfen, Christopher. Das war falsch.«
»Wir müssen in Zukunft darauf achten, ihn >Andrew< zu nennen«, rief Heather.
Ken fügte hinzu: »Morgen werde ich für ihn einen neuen Namen suchen.«
»Es war ja nicht so, daß ich eine große Bedrohung darstellte. Ich habe mich umgesehen, Fragen gestellt, Jims Zimmer mehrmals durchsucht und nichts gefunden.«
»Dann bist du das in jener Nacht gewesen?«
»Ja, tut mir leid, falls ich dich erschreckt habe, May. Im Wegrennen hörte ich, wie dein Fenster aufging.«
»Ich bin sehr froh, daß dieses Rätsel nun gelöst ist. Und mein anderes Rätsel, Chief Inspector... der Unterhaltungs-schnipsel, den ich belauscht habe - Andrews Verdacht, daß sein Onkel getötet wurde, verleiht den Worten gewiß größere Bedeutung, oder?«
»Was für eine Unterhaltung war das?« Die Erschöpftheit schien von Andrew abzufallen. »Wer war das? Und was wurde gesagt?«
»Wer sich da unterhalten hat, ist unklar, Mr. Carter«, führte Barnaby aus. »Allem Anschein nach machten sich die beiden Gesprächspartner offenbar Sorgen wegen einer möglichen Obduktion.«
»Ich wußte es -«
»Ich kann mir nicht vorstellen, weshalb jemand den Wunsch haben sollte, Jim weh zu tun«, meinte Suhami. »Er war völlig harmlos.«
»Ich habe dir gesagt«, betonte Andrew, »daß er rausgefunden hat, was hier vorgeht.«
»Hier geht nichts vor«, widersprach Ken. »Hier herrschen Liebe, Licht und Frieden.«
»Und es wird geheilt«, schob Heather nach.
»Momentan möchte ich mich weniger auf Spekulationen einlassen«, rief Barnaby die anderen zur Räson, »sondern würde lieber versuchen, das, was sich heute abend ereignet hat, Punkt für Punkt klarzustellen. Was hat den Kampf ausgelöst? Was hatten Sie auf dem Dach zu suchen?«
»Ich war in meinem Zimmer. Ken und Heather waren ins Dorf gegangen -«
»Nur kurz«, unterbrach Heather ihn defensiv, »um Kens Bein zu bewegen.«
»Suze hat May und Arno ins Krankenhaus gefahren. Er hat einen Unfall gehabt.«
Heiliger Strohsack, dachte Troy. Würde dieser Haufen mal einen Tag ohne Unfall auskommen, glaubten sie sicher gleich, der Weltuntergang stünde bevor.
»Ich nahm einen Drink und lag auf dem Bett und las. Tim hatte ich schon länger nicht mehr zu Gesicht bekommen. Keiner von uns, mit Ausnahme von Arno. Ich denke, ich hatte ungefähr eine halbe Stunde gelesen, als ich hörte, wie jemand meinen Namen rief -«
»Welchen Namen?« wollte der Chief Inspector wissen.
»Meinen echten Namen, Andrew. Das war ja das Komische. Dann hörte ich, wie seine Zimmertür aufging. Deshalb bin ich auf die Galerie getreten. Klingt jetzt ziemlich doof, aber zu jenem Zeitpunkt schöpfte ich keinen Verdacht. Es war ja nur der arme alte Tim - wissen Sie? Er kam auf mich zu - mit verfilzten Haaren, bohrendem Blick - und mit dem Radkreuz in der Hand. Er... schwenkte es. Ließ es über dem Kopf kreisen. War ziemlich furchteinflößend. Ich wich zurück - mein Zimmer liegt am Ende der Galerie, und schließlich stand ich mit dem Rücken zur Tür, die zum Dach hochführt. Jetzt hatte ich nur zwei Möglichkeiten: entweder nach oben oder über das Galeriegeländer...« Suhami stieß einen kurzen Angstschrei aus.
»Natürlich saß ich auf dem Dach in der Falle. Einen Fluchtweg gibt es dort oben nicht. Zuerst versteckte ich mich hinter den Schornsteinen. Er schlug wie ein Irrer um sich - wann immer er auf etwas traf, flogen Backsteinsplitter durch die Luft. Wenn er wenigstens nicht mehr im Besitz des Radkreuzes wäre - rechnete ich mir aus -, wären wir ebenbürtig. Als die Halogenlampe anging, wurde er kurz abgelenkt, und ich wagte einen Versuch. Umklammerte das Radkreuz und ließ es nicht wieder los. Er allerdings auch nicht. Er fing an, mit den Füßen auszuschlagen. Er war ein Stück größer als ich... hatte lange Beine... jedenfalls taten seine Tritte höllisch weh. Also ließ ich los und versteckte mich wieder, kauerte mich neben dem Schornstein direkt beim Oberlicht. Er kam an mir vorbei. Blieb ganz dicht vor mir stehen, schaute sich um, versuchte mich ausfindig zu machen. Ich griff nach seinen Knöcheln. Glaubte, ihn zu Boden ziehen zu können. Aber er fiel nach hinten... durch das Glas...«
Die letzten Worte waren kaum zu hören. Die Erinnerung an seine Angst ließ sein schmales, hübsches Gesicht blaß werden. Von einer Sekunde auf die andere war es von Trauer gezeichnet. Andrew drehte ihnen den Rücken zu, als isoliere das Geständnis ihn von den anderen, als brenne es ihm ein Kainsmal auf die Stirn. Das sich daraufhin einstellende Schweigen war ungewöhnlich beklemmend. Nicht mal die Beavers wagten es, dem ein Ende zu machen. Schließlich ergriff Barnaby das Wort.
»Sie hängen also der Überzeugung an, daß Riley die Person war, die das Foto gefunden und Sie am Donnerstag angegriffen hat?« Andrew senkte den Blick. »Und für den Tod Ihres Onkels verantwortlich war?«
»Meiner Meinung nach hatte er damit was zu tun, ja. Auf der anderen Seite würde ich vermuten, daß er zu so einem Trick wie der Sache mit dem Whisky verstandesmäßig nicht in der Lage war.«
»Ich kann das alles gar nicht fassen«, gestand May. »Es ist einfach zu grauenvoll.«
Mit feuchten Augen nickten die Beavers zustimmend.
Barnaby richtete seine Aufmerksamkeit auf Arno, der sich bislang nicht geäußert hatte. Er saß ein wenig abseits, den linken Fuß - eingepackt in einen dicken weißen Verband - auf einen Metallständer gelegt. Er hatte den Alkohol noch längst nicht verdaut und außerdem noch eine Handvoll Schmerztabletten und eine Tetanusimpfung verabreicht bekommen. Ihn beschäftigte Mays ambivalente Reaktion auf seine Avancen. Gleichzeitig hatte er das Gefühl, als habe jemand seinen Kopf in Baumwolle gebettet. Er war sich fast sicher, nicht wirklich abgewiesen worden zu sein. Andererseits war es schwierig, sich wegen des Durcheinanders in dieser Hinsicht hundertprozentige Klarheit zu verschaffen.
Trotz des von Medikamenten und Alkohol vernebelten Verstandes und den Träumen, denen er nachhing, spürte er, daß jemand etwas von ihm wollte, und bemühte sich, einigermaßen klar zu werden. Der Chief Inspector starrte ihn - so deutete Arno Barnabys Blick - anklagend und fragend an. Schlagartig fühlte er sich beschissen. Alles war genau so gekommen, wie er es seit langem befürchtet hatte.
»Tut mir leid...« Nun schauten alle zu ihm hinüber, sogar May. O Gott - selbst May. »Ich fürchte, ich habe nicht zugehört.«
Barnaby wiederholte seine Aufforderung. »Ist es nicht an der Zeit, daß Sie mit der Wahrheit rausrücken, Mr. Gibbs?«
»Wieso sagen Sie das zu mir?« Arnos Gesicht nahm die Farbe seiner Bandage an.
»Ich denke, Sie kennen die Antwort.« Barnaby legte eine Pause ein; als Arno beharrlich schwieg, fuhr er fort: »Ich frage Sie, weil Sie sich ganz offensichtlich Sorgen um den Jungen gemacht haben. Weil Sie versucht haben, mich davon abzuhalten, mit ihm zu sprechen, und Sie mir im Verlauf des eigentlichen Verhörs permanent dazwischengefunkt haben.« Da Arno auch jetzt noch nicht zum Sprechen zu bewegen war, übte er stärkeren Druck aus. »Nur zu, Mr. Gibbs. Jetzt kann ihm keiner mehr weh tun.«
»Nein.« Arno hob den Blick. »Das ist wahr.« Zögernd begann er mit seiner Erklärung und schaute dabei Andrew an.
»Der Tod deines Onkels war, wie ich meine, ein Unfall, wenngleich ich fürchte, ein Richter könnte das anders sehen. An jenem bewußten Tag wollten wir zu dritt in die Stadt fahren, wie ich das bei der Anhörung ausgesagt habe. Tim und ich stellten frische Blumen in den Solar, während wir auf den Meister warteten, der Tims Mantel holen wollte. Plötzlich hörten wir laute Stimmen. Ich rannte los, um nachzusehen, was da los war. Der Meister kam aus Tims Zimmer, gefolgt von Jim. Sie stritten miteinander. Was mich erstaunte, zumal ich Jim bis dahin noch nie so erlebt hatte. Auf dem Treppenabsatz blieben sie stehen. Jim versperrte dem Meister den Weg und rief: >Ich werde dir das nicht erlauben. Ich werde allen verraten, was ich weiß - allen.< Er packte den Meister an den Schultern, als habe er vor, ihn zu schütteln. Als nächstes - das passierte so schnell, daß ich gar nicht reagieren konnte - hörte ich... tja, wie soll ich es beschreiben... lautes Gebrüll, und Tim lief die Galerie runter, packte Jim und schob ihn weg. Dabei fiel er rückwärts die Stufen hinunter und brach sich das Genick.« Beim Sprechen hatte Arno nach und nach den Blick wieder zu Boden gesenkt. Jetzt jedoch zwang er sich, Andrew Carter anzublicken. »Er hat nicht gelitten. Daß das kein großer Trost ist, weiß ich.«
»Du hast recht. Das ist es nicht.«
»Nachdem klar war, daß wir nichts mehr für ihn tun konnten - und wäre dem so gewesen, hätten wir alles in unserer Macht Stehende getan -, dachten wir beide nur noch daran, Tim vor der Polizei zu schützen. Wir wußten, daß die Polizei etwas unternehmen mußte, auch wenn der Junge nicht die Absicht gehabt hatte, jemandem Schaden zuzufügen. Der Meister rechnete damit, daß Tim des Totschlags beschuldigt und als... falls das die richtige Bezeichnung ist... >nicht zurechnungs-fähig< befunden werden würde. Auf jeden Fall hätte er ins Gefängnis gemußt, man hätte ihn womöglich sogar mit anderen zusammen in eine Zelle gesperrt, mit solchen Typen, die ihm früher weh getan haben. Oder man hätte ihn in eine Anstalt überwiesen. Ihn mit Medikamenten vollgepumpt, um ihn ruhigzustellen ... da hätte er dann Monate oder vielleicht sogar Jahre mit Wahnsinnigen zugebracht. Er war doch erst dreiundzwanzig!« rief Arno leidenschaftlich, »und hier war er so glücklich. Wir bildeten uns ein, daß etwas in der Art nie wieder passieren würde, wenn wir uns permanent um ihn kümmerten. Jetzt weiß ich«, richtete er sich an Barnaby, »vor allem nach dem heutigen Abend, daß ich mich getäuscht habe.«
»Und wie Sie sich getäuscht haben, Mr. Gibbs.« Barnaby bemühte sich, die Stimme nicht zu heben. Er war wütend auf Gibbs und noch wütender auf sich selbst. Beim Verhör von Tim hatte er peinlichst darauf geachtet, den Namen des Meisters nicht zu erwähnen, um den Jungen nicht in die Enge zu treiben. Jetzt - zu spät - wurde ihm klar, daß der verunsicherte Junge mit dem »Unfall« nicht Craigies Tod, sondern den ersten Todesfall auf Manor House gemeint hatte. »Sie wissen hoffentlich, daß Meineid als kriminelle Handlung geahndet wird.«
»... Ja...«, flüsterte Arno. Er stand kurz davor, in Tränen auszubrechen. Mit zitternden Fingern suchte er nach einem Taschentuch.
Kalt musterte Barnaby den verstörten Mann. In dem Wissen, daß er Gibbs nicht anzeigen würde, hielt er es nicht für einen Fehler, ihn ein, zwei Tage schwitzen zu lassen. Oder eventuell sogar ein oder zwei Wochen.
»Fahren Sie fort. Was geschah als nächstes?«
»Wir brachten Tim in den Garten. Er war verängstigt, weinte. Und wir überlegten, was zu tun war. Nach einer Weile kamen wir zu dem Entschluß, es wäre am einfachsten und vernünftigsten, einfach nach Causton zu fahren, wie geplant unsere Einkäufe zu erledigen, dann nach Hause zu kommen und so zu tun, als wüßten wir von nichts. Daß May - Miss Cuttle - vor uns zurückkehrte, hat uns beiden sehr zugesetzt. Der Meister führte Tim zum Kleinbus, und ich wollte den beiden gerade folgen, als ich auf einmal in Panik geriet. War felsenfest davon überzeugt, daß niemand uns Glauben schenken würde. Ganz und gar unwahrscheinlich, daß jemand grundlos die Treppe runterfällt, die er schon hundert Mal benutzt hat. Und da kam mir eine Idee - was, wenn er getrunken hatte? In unserem Medizinschränkchen gab es eine kleine Flasche Whisky, die ich holte. Davon goß ich Jim etwas in den Mund... ich mußte seine Lippen schließen und seinen Hals massieren, damit das Getränk die Kehle hinunterfloß.« Arno erschauderte. »Es war gräßlich. Am Ende schob ich noch den Läufer auf der Treppe hoch, damit es so aussah, als ob er gestolpert sei. Auf dem Rückweg weihte ich den Meister ein. Er regte sich sehr auf. Wiederholte immer wieder, daß ich das nicht hätte tun dürfen. Erst ein paar Tage später, als er merkte, wie unglücklich ich war, erläuterte er mir den Grund für seine Aufregung. Er sagte mir, daß die Medikamente, die Jim gegen seine Infektion nahm, ihm verboten, auch nur einen Tropfen Alkohol zu sich zu nehmen. Nun fürchtete er, daß - falls eine Obduktion vorgenommen wurde -«
An dieser Stelle stockte May hörbar der Atem. Sie warf Barnaby, der ihr sofort zu verstehen gab, nichts zu sagen, einen vielsagenden Blick zu.
»- sie uns auf die Schliche kommen und wissen würden, daß etwas nicht stimmte. Einige Tage später wurde die Obduktion gemacht und nichts gefunden, und ich war unglaublich erleichtert. Für mich war das ein Zeichen, daß ich vielleicht doch nicht ganz falsch gehandelt hatte.«
»Inspector«, sagte May, »bestimmt begreifen Sie, daß Arno selbstlos gehandelt hat. Er hat das Falsche getan, ja, aber aus Gründen, die richtig waren. Er hat aus Liebe zu einem menschlichen Wesen gehandelt.«
Diese unerwartete, großzügige und völlige unverdiente Unterstützung bewegte Arno zutiefst. Vor lauter Dankbarkeit konnte er kaum atmen.
Heather nutzte die Pause, um frischen Tee zu kochen, während Ken seinen Gips verrückte und es sich im Rollstuhl bequemer einrichtete. In seinen Augen war Arnos leichter Verband keine Konkurrenz im Vergleich zu seiner heroischen Tat, und er war beileibe nicht gewillt, ihm das Feld zu überlassen.
May stellte die Salbe weg und überlegte, ob sie nach Felicity sehen sollte. Das Schlafmittel war leicht gewesen, und vielleicht war sie inzwischen wieder wach und sorgte sich. Suhami sammelte die Tassen derer ein, die Tee nachgeschenkt haben wollten. Vorsichtig legte sie Andrew die Hand auf die Schulter, lächelte ihm zu und stellte eine volle Tasse'vor ihn. An seiner Seite zu bleiben, dazu war sie allerdings nicht zu bewegen. Insgeheim hatte er gehofft, sein Aussehen würde sie derart erschrecken, daß ihre Zuneigung zu ihm erneut erhört wurde. In diesem Fall hätte der Vorfall auf dem Dach, der schreckliche Unfall, wenigstens einen Sinn gehabt.
Diesmal nahm Troy die angebotene Tasse Tee dankbar entgegen, sein Chef hingegen schlug das Angebot erneut aus.
»Jims Tod mag ein Unfall gewesen sein«, sagte Heather, nachdem alle bedient worden waren, »aber der Angriff auf Chris -Entschuldigung, Andrew - wahrscheinlich nicht. Ich nehme an, Tim ist auf den Geschmack gekommen. Das kommt doch vor, nicht wahr?«
»Wie gemein von dir, so was zu sagen!« erwiderte Suhami erzürnt. »Er ist gerade gestorben, gütiger Gott. Das wenigste, was wir tun können, ist, nett über ihn zu sprechen.«
Heather errötete. Daß ihre Reputation als ewige Quelle anteilnehmender Fürsorge einen Kratzer bekam, behagte ihr nicht. »Ich finde nicht, daß du in der Position bist, mich anzugreifen, Suhami. Wärst du nicht gewesen, wäre der Meister heute noch am Leben.«
Suhami schnappte nach Luft und erblaßte. Andrew meldete sich erbost zu Wort- »Sie war von Anfang an gegen den Besuch ihres Vaters. Es war der Meister, der darauf bestanden hat.«
»Ich denke, Sie wissen«, mischte sich Barnaby ein, »daß - soweit es den Mord an Craigie betrifft - Mr. Gamelins Besuch nicht von Bedeutung war.«
Verblüffung unterschiedlichen Ausmaßes spiegelte sich auf den Gesichtern seiner Zuhörer. Nur May, die davon ausging, daß die Polizei sich endlich ihrer Art zu denken angeschlossen hatte, nickte ernst. Mit ineinander verschränkten Fingern neigte sich Suhami vor.
»Wollen Sie sagen... denken Sie etwa, er war nicht für den Tod verantwortlich?«
»Daran besteht nicht der geringste Zweifel, Miss Gamelin. Er war definitiv nicht verantwortlich, sondern hielt sich unglücklicherweise zur falschen Zeit am falschen Ort auf.«
»War dann Tim auch sein Mörder?« fragte Heather. »Ist er wahnsinnig geworden?«
»Ganz und gar unmöglich«, entgegnete Arno. »Er war dem Meister vollkommen ergeben. Ihr habt doch mitbekommen, wie sehr er gelitten hat.«
»Solche Leute können sich verändern«, gab Ken zu bedenken. »Und wenden sich dann gegen die, die sie lieben. Wie Hunde.«
»Er war kein Hund!« rief May.
»Vielleicht war es Trixie?« warf Andrew ein. »Könnte das der Grund sein, warum sie weggelaufen ist?«
»Was für ein Motiv sollte Trixie haben?« fragte Ken und richtete sich dann an Barnaby. »Sie hätten mich darüber aufklären müssen, daß Sie nicht von Gamelins Schuld überzeugt waren. Dann hätte ich Hilarión für Sie gechannelt.«
»Wollen Sie behaupten, Inspector, daß mein Treuhandfonds kein Motiv gewesen ist?«
»Daß die ganze Sache ein Unfall war?«
»O nein, Mrs. Beavers, der Mord an Arthur Craigie wurde ganz bewußt, aber aus opportunistischen Gründen verübt. Damit meine ich, daß er geplant war bis zu einem gewissen Punkt und dann, als die Dinge eine andere Wendung nahmen, impulsiv und spontan ausgeführt wurde.«
Er stand auf und vermittelte - ohne ein Wort darüber zu verlieren - den anderen den Eindruck, er müsse sich die Beine vertreten, doch in Wirklichkeit konnte er nicht länger stillsitzen. Troy beobachtete ihn. Die Vorgehensweise seines Chefs stellte er nicht in Frage, spürte jedoch eine gewisse Anspannung. Der Chief Inspector bewegte sich auf dünnem Eis. Ahnungen, Rückschlüsse, Vermutungen, ein gewisses Maß an Hintergrundinformationen, aber kein einziger Beweis. Hielt die fragliche Partei den Mund...
»Eine der wichtigsten Komponenten«, begann der Chief Inspector, »bei einem Mordfall - mit Ausnahme eines zufälligen Opfers - ist der Charakter des Opfers. Was für eine Mann oder Frau war die Person? Was trieb sie an? Die Antwort findet man nur, indem man die Leute befragt, die die Person kannten. In diesem Fall vertraten alle eine einhellige Meinung. Mit einer Ausnahme: Guy Gamelin weigerte sich, das Bild eines fast heiligen Mannes zu zeichnen, dem ausschließlich das Wohlergehen seiner Mitmenschen am Herzen lag. Und selbst er räumte ein, daß Craigie ihn im Verlauf des Gesprächs relativ stark beeindruckt hatte. Kurz gesagt, der Meister wurde von allen geliebt. - Was an Mr. Craigie wirklich interessant war, war die Tatsache, daß ich nichts über ihn herausfinden konnte, soviel Mühe ich mir auch gab. Falls ich es richtig verstanden habe, hat er sich vor ein paar Jahren in einen großen Seher verwandelt. Nun, das ist mehr als eigenartig. In diesen von Computern beherrschten Zeiten ist es nicht gerade einfach, nirgendwo registriert zu sein. Hat man irgendwann einmal Steuern oder Sozialversicherungen bezahlt, einen Wagen, ein Haus oder ein Bankkonto besessen, ist das irgendwo vermerkt. Nicht so bei Arthur Craigie.«
»Er hatte ein Bankkonto«, verteidigte ihn Ken. »In Causton.«
»Windhorse hatte ein Bankkonto, Mr. Beavers. Das ist nicht dasselbe. Um die eigene Spur so gründlich zu verwischen«, fuhr Barnaby fort, »muß man mit Bedacht Vorgehen und sich gut auskennen.«
»Ich verstehe nicht, in welche Richtung Ihre Ausführungen gehen, Chief Inspector«, sagte Ken.
»Einen Menschen anzuschwärzen, der sich nicht verteidigen kann, ist nicht nett«, meinte Heather und schaute sich überrascht um, als Suhami auflachte.
»Einer der Gründe, wieso es uns so schwerfiel, ihn ausfindig zu machen, ist der, daß Craigie ein Pseudonym war. Eins von vielen, seit er vor zwei Jahren aus dem Gefängnis entlassen wurde, wo er fünf von sieben Jahren Haft wegen Betrugs abgesessen hatte. Um ehrlich zu sein, Miss Gamelin, ihr Vater lag nicht falsch mit seiner Einschätzung von Craigie, als er ihn als Betrüger bezeichnete.«
»Das ist ja das allerletzte!« Am ganzen Leib zitternd, sprang May auf. So wütend hatten die anderen sie noch nie erlebt. »Sein Astralkörper strahlte. War in blaues Licht getaucht. So was kann niemand vortäuschen.«
»Ich bin sicher, Sie irren sich, Inspector«, sagte Suhami. Auch sie schien sehr bewegt zu sein und kurz vor einem Tränenausbruch zu stehen. »Sie haben wahrscheinlich alles mögliche überprüft, aber irgendwo muß es eine Verwechslung gegeben haben. Sie täuschen sich garantiert.«
»Denkt mal nach«, meldete Ken sich zu Wort. »Ich nehme an, daß jemand, der bei einer Sache wie Betrug erfolgreich ist, sehr überzeugend sein muß. Sonst funktioniert es nicht.«
Heather nickte. Offenbar hatten die beiden schlagartig vergessen, wo ihr Platz war. Arno vergaß, wie benommen Alkohol und Tabletten ihn machten, und schüttelte heftig den Kopf, als er mitbekam, wie die Beavers das sinkende Schiff verließen. Das Kopfschütteln bereute er auf der Stelle, weil er sich einen Augenblick lang so fühlte, als ob ihm der Kopf abgefallen wäre.
»Möchten Sie damit sagen, daß jemand aus seiner Vergangenheit hier eingebrochen ist«, fragte Heather, »und ihn angegriffen hat?«
»Das ist doch kompletter Unsinn«, entgegnete Andrew. »Die einzigen Menschen, die bei seinem Tod anwesend waren, sind wir gewesen.«
»In der Tat«, pflichtete Barnaby bei. »Wenngleich ich meine, daß Mrs. Beavers nicht ganz falschliegt, wenn sie denkt, daß jemand aus seiner Vergangenheit anwesend war. Und seine Vergangenheit ist auch für seinen Tod verantwortlich. Andererseits hänge ich der Überzeugung an, daß Craigie nicht sterben mußte, weil er ein Betrüger war, sondern weil er kein Betrüger war.«
»Ich wußte es!« rief May triumphierend. »Die Aura lügt nie.«
»Nun begreife ich gar nichts mehr«, gestand Andrew. »Sie haben uns doch gerade verklickert, er sei ein Betrüger gewesen.«
»Lassen Sie mich das erklären. Nachdem ich von seiner Vergangenheit erfahren hatte, wertete ich den Kauf von Manor House als Hauptbestandteil eines großangelegten Schwindels. Das Geld für den Kauf stammte, wie ich annahm, von dem anderen Betrug. Aber als ich mir die Unterlagen zu Windhorse ansah, stellte ich nicht nur fest, daß die finanziellen Angelegenheiten einwandfrei geregelt waren, sondern daß hier eine altruistische Lebensweise praktiziert wurde. Bedürftigen wurde finanziell unter die Arme gegriffen, manchmal sogar denen, die es nicht ganz so dringend nötig hatten. Die Menschen, die hierherkamen, um sich heilen zu lassen oder sich einer Therapie zu unterziehen, mußten nicht eine festgelegte Summe bezahlen, sondern durften so viel geben, wie sie ihrem eigenen Ermessen nach erübrigen konnten. Jeden Monat wurde eine Summe unterschiedlicher Höhe an wohltätige Organisationen überwiesen. Und dennoch... irgendwas lief hier ab. Wir haben Jim Carters Brief, der das beweist. Heute abend, durch Mr. Gibbs Aussage, wissen wir, was er gesagt hat: >Ich werde dir das nicht erlauben. Ich werde allen verraten, was ich weiß.< Der Brief, den Mr. Carter kurz vor seinem Tod geschrieben hat, drückt - wenn Sie mich fragen - große Besorgnis aus. Jetzt, wo wir wissen, wie er gestorben ist, interpretiere ich ihn anders. Die ausgesprochene Bedrohung - und ich werte die beiden Sätze als Bedrohung - bleibt jedoch. Was wußte Jim Carter, was beabsichtigte Craigie zu unternehmen? Was ist so wichtig und ruft solch eine heftige Reaktion hervor? - Die Schlußfolgerung, die sich aus der ersten Hälfte der Frage ableitet, liegt auf der Hand. Jim Carter wußte über die Vergangenheit Bescheid. Die zweite Hälfte der Frage ist nicht so leicht zu beantworten. Ich hoffte, es würde sich als hilfreich erweisen, wenn ich mehr über Carter herausfände. Zusammen mit dem Sergeant habe ich mich in seinem Zimmer umgesehen, und obgleich seine Kleider und Habseligkeiten nicht mehr vorhanden waren, habe ich zwei Dinge herausgefunden, die meiner Einschätzung nach von Interesse sind.«
Er legte eine Pause ein. Troy, der ganz hinten an der Wand stand, nickte kaum wahrnehmbar und zollte damit der Persönlichkeit seines Bosses und dessen narrativen Fähigkeiten unbewußt Respekt. Niemand bewegte sich. Keiner blinzelte.
Die Menschen im Raum hatten nur Augen und Ohren für Barnaby.
»Ein Gegenstand, der meine Neugierde weckte,'war eine leere Schuhschachtel, in der früher einmal sehr teure italienische Slipper aufbewahrt worden waren. Sehr ungewöhnlich für einen Mann, der sich ansonsten so wenig den weltlichen Dingen widmete. Eine kleine Abweichung von der Norm und - wie ich meine - höchst interessant. Dann waren da noch die Bücher. Auf den ersten Blick genau von der Sorte, wie man es erwartet hatte. Alle antiquarisch - nichts Besonderes, nicht jeder kann sich neue Bücher leisten. Die ausgezeichneten Preise waren dezimal. Nun hat uns aber Jims Neffe berichtet, sein Onkel habe sein ganzes Leben lang spirituelle Literatur gelesen, und doch war keines der Bücher vor 1971 angeschafft worden. Unsere Fachleute haben sogar herausgefunden, daß keins der Bücher vor 1990 gekauft wurde. Alle Bücher, insgesamt fast sechshundert Bände, stammen aus mehreren Second-hand-Buchläden in Slough und Uxbridge.«
»Die Bücher meines Onkels wurden möglicherweise woanders aufbewahrt«, warf Andrew ein. »Vielleicht unten in der Bibliothek.«
»Aber Sie haben uns erklärt, daß Sie die Bücher in seinem Zimmer erkannt haben, Mr. Carter. Und wie sehr ihr Anblick Ihnen zugesetzt hat.«
»Möchten Sie damit andeuten, sie wurden gekauft, um diese Wirkung zu erzielen?« fragte Ken.
»Ganz genau«, sagte Barnaby, der der Schauspielgruppe seiner Frau oft genug geholfen hatte, einen Spannungsbogen zu erzeugen, um zu wissen, wovon er sprach. »Wirklich eigenartig an diesen umfangreichen Ankäufen ist, daß sie in zwei Fällen von Carter und nicht von Craigie abgeholt und bezahlt worden sind.«
»Von Jim?« May verstand die Welt nicht mehr. »Hei warum sollte er denn so etwas tun?«
»Möglicherweise kann sein Neffe uns das sagen?«
»Ich hab keine Ahnung.« Andrew zuckte mit den Schultern, gestikulierte verständnislos. »Es sei denn, man hätte ihn überredet, seine Bücher der Allgemeinheit zur Verfügung zu stellen.«
»Oh, ich denke nicht, daß Ihr Onkel so leicht zu überreden war. Wenn Sie mich fragen, dann war es genau anders herum.«
»Ich weiß nicht, was Sie meinen, Chief Inspector, aber ich weiß ganz genau, daß ich hier nicht sitzen und zuhören werde, wie Sie ihn mit Schmutz bewerfen.« Er rutschte vom Tisch und war schon auf halbem Weg zur Tür, als Barnaby weitersprach.
»Warum haben Sie Ihr Haar gefärbt, Mr. Carter?«
»Das haben wir doch alles schon in Ihrem Büro durchgekaut. Ich wollte verhindern, daß mich jemand mit meinem Onkel in Verbindung bringt.«
»Die Ähnlichkeit war gering. Mir ist sie überhaupt nicht aufgefallen.«
»Ich dachte, es gäbe sie - in Ordnung? Und beschloß, mich vorzusehen. Großer Gott - vor drei Tagen bin ich knapp dem Tode entgangen, und heute hat mich ein Wahnsinniger mit einem Radkreuz angefallen. Man möchte annehmen, daß man mir Verständnis und Anteilnahme entgegenbringt. Doch weit gefehlt.«
»Ganz blond auf dem Foto, nicht wahr? Fast weiß - sehr eindrucksvoll. Jeder, der Sie als Kind kannte, wie beispielsweise Craigie, hätte Sie nach all den Jahren mühelos erkannt.«
»Als Kind...« Andrew blickte sich um, lud die anderen ein, seine Empörung zu teilen.
»Wie alt waren Sie? Acht, neun? Als sie zusammen arbeiteten?« Jetzt schüttelte Andrew den Kopf - wie ein Mensch, der mit etwas konfrontiert wird, das er absolut nicht fassen kann. »Ich würde sagen, das war der Hauptgrund, warum Sie dagegen waren, daß die Polizei nach dem Tod Ihres Onkels gerufen wurde. Nicht weil die Menschen hier etwas spitzkriegen konnten, sondern aus Angst vor dem, was wir in Erfahrung bringen könnten.«
»Das ist absoluter Quatsch.«
»Ich stimme Andrew Zu«, sagte May. »Beim ersten Treffen, das ich besuchte, stand Jim auf dem Podest und sprach darüber, wie die Begegnung mit dem Meister sein Leben verändert hat. Aus diesem Grund habe ich mich der Kommune angeschlossen. So sehr hat mich seine Schilderung bewegt.«
»Diesen Trick, Miss Cuttle, kriegen Sie auf jedem Jahrmarkt vorgeführt. Ein Betrüger verkauft irgendeinen Mist, und ein anderer in der Menge ruft, daß dieser Mist sein Leben verändert hat. Sagen Sie mir - fanden Sie das Leben auf Windhorse kurz nach Ihrem Eintreffen nicht etwas teuer?«
Der abrupte Themenwechsel schien May zu irritieren. »Ich fürchte, ich muß dem zustimmen. Man ist an mich herangetreten und hat mich gebeten, eine höhere Gebühr für meine Kurse zu verlangen, als mir persönlich recht war. Arno... du bist kurz nach mir hierhergezogen, ich weiß nicht, wie du...?«
»Ja. Ich entsinne mich, im Schaufenster eines Reisebüros eine Notiz entdeckt zu haben, kurz nachdem ich mein erstes Wochenende gebucht hatte. Für die gleiche Summe hätte ich gut und gerne eine Woche nach Spanien reisen können. Damit möchte ich nicht sagen, daß das Wochenende nicht jeden Penny wert gewesen ist.« Er warf May einen Blick von der Seite zu, errötete und wackelte nervös mit den Zehen, zumindest mit den fünfen, die er noch bewegen konnte.
»Das war doch nur so, bis sich Windhorse einigermaßen etabliert hatte?« fragte Heather. »Ein Jahr später, als wir hier auftauchten, waren die Preise schon vernünftig.«
»Ansonsten hätten wir gar nicht bleiben können«, erläuterte Ken.
»Ich glaube nicht, daß es um die Etablierung von Windhorse ging. Ich denke, daß ursprünglich geplant war, den Leuten soviel Geld wie nur irgend möglich aus der Tasche zu ziehen«, meinte Barnaby.
»Und was ist dann schiefgelaufen?« fragte Ken und schob hastig nach, »oder besser gesagt, richtig gelaufen?'«
»Meine Meinung ist - und das ist keine Seltenheit, obgleich es eigenartig anmutet, wenn der Kriminelle schon lange seinem Handwerk nachgeht -, daß Craigie eine Veränderung durchmachte. Das könnte an der Literatur gelegen haben, die er las, an seinen Meditationen, an der Begegnung mit den vielen Menschen, die sich ernsthaft darum bemühten, ein spirituelles Leben zu führen. Ich spreche nicht von einem abrupten Sinneswandel, sondern eher von einer langsamen Verwandlung, was der Echtheit dieser Verwandlung allerdings nicht widerspricht. Mit anderen Worten, der Mann wurde zu dem, was er zu sein vorgab.«
»Ich wußte es«, seufzte May erleichtert. »Er hätte sonst nicht so lehren können, wie er es tat -«
»Oder sich so um uns kümmern können«, warf Suhami ein.
»Und dann ist da noch Tim gewesen«, gab Arno zu bedenken. »Er reagierte ganz emotional auf Menschen. Er begriff, wie sie wirklich waren. In dieser Hinsicht war er wie ein Kind, und Kinder lassen sich nicht an der Nase herumführen.«
Auf diese Bemerkung ging Barnaby nicht weiter ein. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt zu betonen, wie leicht Kinder sich zum Narren halten ließen. Er fuhr fort: »Irgendwann wurde Craigie krank. Und begriff später, daß er niemals wieder gesund würde. Diese Erkenntnis führte zu - wie ich vermute - der Erwähnung von »etwas Schrecklichem«, wie Carter sich im Brief an seinen Neffen ausgedrückt hat. Das Wort Treuhandvermögen wollte mir von Anfang an einfach nicht mehr aus dem Kopf gehen. Wieso dem so war, wußte ich lange Zeit nicht zu sagen. Ich wußte alles, was es über Miss Gamelins Erbe zu wissen gab und in welcher Beziehung es zu diesem Fall stand. Schließlich erinnerte ich mich an Ihr erstes Verhör, Mr. Gibbs, und da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Hier ging es nicht um einen, sondern um zwei Treuhandfonds.«
»Wirklich?« Arno runzelte die Stirn. »Ich verstehe nicht... es sei denn, Sie meinen die Wohltätigkeit -«
»Genau«, sagte der Chief Inspector. »Craigie hatte den Wunsch, das Haus und die Organisation dergestalt zu hinterlassen, daß nicht ein einzelnes Individuum die Kontrolle darüber hatte. Das erzürnte Carter, der - dessen bin ich mir ziemlich sicher, auch wenn sein Neffe mir das Gegenteil versichert hat - Geld aus seinem Hausverkauf in das Unternehmen gesteckt hatte. Knapp zweihunderttausend Pfund. Daher bin ich skeptisch, ob die von Mr. Gibbs mit angehörte Auseinandersetzung die erste war.«
»Aber er ist nicht so verfahren«, gab Arno zu bedenken. »Er hat keinen karitativen Status beantragt.«
»Dazu bestand kein Grund mehr«, behauptete der Chief Inspector, »nach Carters Unfall.«
»Jetzt ist es also doch ein Unfall?« Andrew war puterrot angelaufen. »Sie sind genauso inkompetent wie diese Fuzzis bei der Anhörung.«
»Es ist keine gute Idee, Mr. Carter, das Gesetz in die eigenen Hände zu nehmen.«
»Nun, man kann auch nicht gerade behaupten, daß es in Ihren gut aufgehoben ist, oder? Woher wollen Sie denn wissen, worum es bei dem Streit ging? Das weiß nicht mal Arno, der die beiden Männer gehört hat und hier wohnt. Und ich muß sagen, daß Sie dem Umstand, daß Riley meinen Onkel ermordet und zwei Mordanschläge auf mich verübt hat, keine große Aufmerksamkeit schenken. Sie scheinen vergessen zu haben, daß heute abend beinahe die Umstände meiner Ermordung untersucht worden wären. Und die wäre dann, wären Sie nicht zufälligerweise rechtzeitig eingetroffen, auch wieder vertuscht worden.«
»Das ist nicht fair«, entgegnete May. »Tim hat nur zu verhindern versucht, daß dein Onkel den Meister angreift.«
»Dafür haben wir ausschließlich Arnos Wort.«
»Sein Wort«, bekräftigte May empört, »genügt mir.«
»Das schwarze Schaf. Als das haben Sie sich ziemlich entwaffnend in meinem Büro bezeichnet, Mr. Carter.« Uninteressiertes Achselzucken. »Ihr ehemaliger Kumpel aus Stowe hat nicht nur seine Brieftasche verloren, sondern war zu der Zeit da er Visa und American Express über seinen Verlust informiert hatte, schon fünftausend in den Miesen. Einer der Artikel, der mit seinen Kreditkarten bezahlt wurden, war eine Antilopenjacke.
»Nun, das hier ist sie jedenfalls nicht. Die habe ich schon vor Monaten bei Aquascutum gekauft.«
»Das zu belegen dürfte nicht schwierig sein.«
»Sollten Sie tatsächlich Lust haben, Ihre kostbare Zeit zu verschwenden, bitte sehr.«
»Was meinten Sie damit, Inspector?« Suhami warf Andrew Carter fragende, skeptische Blicke zu. »Sie sprachen davon, das Gesetz in die eigenen Hände zu nehmen.«
»Ich spreche von Mord, Miss Gamelin.« Ohne etwas zu beschönigen, lag in dem Blick, den er dem Mädchen im grünen Sari zuwarf, ein Anflug von Mitleid.
»Mord?« Ihr Gesicht erstarrte, und sie flüsterte: »Das kann nicht wahr sein.« Sie begann zu zittern. Ohne zu überlegen, sprang Heather auf und drückte Suhami an ihren wogenden Busen.
»Selbstverständlich ist das nicht wahr«, sagte Andrew mürrisch. »Ich habe mich ihm nicht genähert. Nur weil Sie Gamelin nicht für den Mörder halten, brauchen Sie den Mord doch nicht mir anhängen. Was für ein Motiv sollte ich schon haben?«
»Da sind mehrere Faktoren im Spiel, aber nach meinem Dafürhalten ist Rache das Hauptmotiv. Eines der wenigen Dinge, die Sie mir in meinem Büro wahrheitsgetreu gestanden haben, ist Ihre tiefe und anhaltende Zuneigung zu Ihrem Onkel. Da Sie mit ihm Kontakt gehalten haben, wußten Sie sicherlich, was hier Sache war und daß etwas schieflief. Was hat Sie so sicher gemacht, daß Craigie Ihren Onkel ermordet hat? Haben Sie angenommen, daß die beiden Diebe sich zerstritten haben?«
»Es gab keine Diebe, die sich zerstreiten konnten. Jedenfalls nicht, soweit es Jim betraf. In einem seiner Briefe schilderte er mir, daß der Mann, der diese Organisation leitete, eine religiöse Manie entwickelt habe. Nun, wir alle wissen, was aus solchen Menschen werden kann. Die Hälfte aller Psychopathen behauptet, Gott habe ihnen aufgetragen, Prostituierte zu ermorden, kleine Jungs oder einbeinige Rentner übers Ohr zu hauen.« An dieser Stelle brach er ab, um sich eine Zigarette anzuzünden. Heather begann zu husten und mit den Händen zu wedeln.
»In einem Punkt haben Sie allerdings recht. Jim hielt den Mann für einen Betrüger. Und es ist allein den wiederholten Anstrengungen meines Onkels zu verdanken, daß hier die Preise und Gebühren fielen.«
»Sie verfügen über eine Menge Phantasie, mein Sohn«, bescheinigte ihm Barnaby. »Das muß man Ihnen lassen.«
»Das Hauptmotiv haben Sie genannt.« Ken hustete demonstrativ. »Wie steht es mit den anderen?«
»Geld - wie das so oft der Fall ist. Allem voran ein Anrecht auf dieses Anwesen, das Mr. Carter als rechtmäßiger Erbe seines Onkels bestimmt für sich beansprucht.« Er legte eine Pause ein, damit Andrew Carter etwas erwidern konnte, was dieser aber nicht tat. »Und dann selbstverständlich der berühmt-berüchtigte Treuhandfonds. Den Miss Gamelin loswerden wollte. Carter befand sich in einer kniffligen Situation. Kaum war er hier eingetroffen, begann er schon, ihr den Hof zu machen. Nichtsdestotrotz ist es bislang nicht zu einer Verlobung gekommen, ganz zu schweigen davon, daß man schon die Kirchenglocken läuten hört. Mag sein, daß sie unter Craigies Einfluß ein abgeschiedenes, möglicherweise sogar zölibatäres Leben favorisierte. Also ein weiterer Grund, warum sein Tod Ihre eigenen Pläne begünstigt hätte.«
»Da gab es keine >Pläne<. Ich habe mich verliebt.« Sein zorniger Blick tanzte zwischen Barnaby und Troy hin und her. »Merken Sie nicht, wie sehr Sie ihr zusetzen? Mit all diesen gemeinen Lügen.«
Suhami beobachtete Andrew beim Sprechen. Nicht einen Hauch von Reue konnte sie entdecken. Aber wenn ohnehin alles Lüge gewesen war, was hatte er dann zu bereuen? Ihre eigene Reaktion auf diese Enthüllungen verwunderte sie. Nach dem ersten Schock, nach dem ersten Schmerz, der Sprachlosigkeit empfand sie rein gar nichts. Eine große, alles umfassende Leere schien von ihr Besitz zu ergreifen. Ob Christopher sich tatsächlich in sie verliebt hatte, war für sie nicht länger von Belang. Sie versuchte sich an frühere Gefühle zu entsinnen, erinnerte sich an den Augenblick im Schuppen, wo sie vor Freude wie von Sinnen gewesen war. Die ganze Szene kam ihr jetzt gar nicht mehr so erfreulich vor. Zum ersten Mal in ihrem Leben war etwas schiefgelaufen, richtig schiefgelaufen, und sie lag nicht zerstört am Boden. Ihr eigenes Verhalten kam ihr höchst rätselhaft vor, aber beruhigte sie auch.
»Vergeben Sie mir, Inspector, daß ich das sage«, murmelte Arno, »aber was Sie da andeuten, ist unmöglich. Wie Andrew schon erläutert hat und was wir alle bestätigen können - zu keiner Zeit hielt er sich in der Nähe des Podestes auf. Wollen Sie etwa behaupten, er hatte einen Komplizen?«
»Einen unwissenden Komplizen. Nicht bei der Ausführung des Mordes, aber natürlich mußte er das Messer beschaffen und es in den Solar bringen. Er trug Kleidung, die es ihm nicht ermöglichte, die Mordwaffe am Körper zu verstecken. Die Kleidungsstücke wählte er ganz bewußt, um sich sozusagen ein Alibi zu verschaffen.«
»Wie soll jemand ein Messer in den Solar bringen, ohne es zu wissen?« wunderte sich Ken.
»In einer Tasche«, antwortete Barnaby. »Am Messergriff fanden wir eine Faser, die das bestätigt. Wo auf dem Podest standen Sie, Mr. Carter?«
Andrew antwortete ihm nicht. Statt dessen sagte Suhami: »Er stand neben mir.«
»Nachdem Sie Miss Cuttles Cape geholt haben, kehrten Sie nicht wieder an Ihren Platz zurück?«
»Während ihren Rückführungen reagiert May des öfteren sehr heftig. Ich nahm an, es wäre hilfreich, wenn ich in ihrer Nähe bleiben würde.«
»Haben Sie das früher auch schon mal gemacht?«
»Nein, trotzdem, ich finde nicht, daß die Tatsache, daß ich an jenem Tag so gehandelt habe, genügt, um Ihre Theorie zu stützen. Hat man die Absicht, jemanden zu töten, sucht man die Nähe des Opfers und hält sich nicht von ihm fern.«
»Mein Lieber - Sie hatten doch gar keine Wahl. Weil Sie das Messer in die falsche Tasche gelegt haben. Erst als Sie das Cape rausnahmen, bemerkten Sie Ihren Fehler.«
»In meine Tasche!« Mays kraftvolle Stimme hallte durchs ganze Haus.
»Er dachte, sie gehöre Miss Gamelin. Die beiden Taschen sind sich sehr ähnlich.«
In diesem Augenblick stöhnte Suhami auf. Wieder drückte Heather das Mädchen an ihre Brust.
»Er hat in der letzten Minute so entschieden und sie vielleicht sogar getragen, damit sie keinen Blick mehr reinwerfen konnte.«
»Ja, das stimmt«, rief Ken aufgeregt. »Er hat sie für sie getragen. Ich erinnere mich ganz genau.«
»Ja, das will ich wohl glauben«, höhnte Andrew.
»Er spekulierte auf das Durcheinander, das dann ja tatsächlich stattfand, aber selbstverständlich hatte er gehofft, sich in diesem Moment in Craigies Nähe aufzuhalten. Wie ich schon zuvor andeutete, ein Teil war geplant, der andere wurde spontan ausgeführt.«
»Mir leuchtet nicht ein, wie er im letzten Moment das Messer in die Tasche gelegt haben soll, Inspector«, bekundete Arno. »Er hat es nicht bei sich gehabt, und es lag auch nicht auf dem Tisch.«
»Ja, dieses Detail hat mir auch Kopfzerbrechen bereitet. Dann mußte ich aber an Guy Gamelins Beschwerde denken. Man hatte ihm nicht gestattet, neben Sylvie zu sitzen, weil eines der Kommunenmitglieder diesen Platz schon eingenommen hatte. Ich gehe davon aus, daß auf Mr. Carters Stuhl ein Kissen gelegen hat. Das Messer war im Verlauf des Tages dort versteckt worden. Und der Gummihandschuh ebenfalls.«
»Dummerweise habe ich den linken genommen«, meinte Andrew aufgebracht. »Wo ich doch Rechtshänder bin.«
»Nur ein weiteres Mittel, um von der Wahrheit abzulenken. Ich gehe davon aus, daß Sie die Innenseite nach außen gekehrt haben und den Handschuh später noch mal umgedreht haben. Sie konnten ja nicht wissen, daß Gamelin Linkshänder war, was sich später noch als Pluspunkt erwies. Gamelin versuchte, das Ding hinter dem Vorhang zu verstecken. Und ist dabei beobachtet worden. Wäre das nicht der Fall gewesen, wäre es Ihnen trotzdem gelungen, unser Augenmerk darauf zu lenken. Vielleicht über Miss Gamelin, die von Anfang an von der Schuld ihres Vaters überzeugt war.«
»Alles nur Vermutungen. Sie kommen nicht weiter, Inspector - Sie können den Fall nicht lösen und haben deshalb diese phantastische Geschichte erfunden. Und wenn Sie nun behaupten möchten, daß ich ihn auf dem Weg zum Lichtschalter umgebracht habe, täuschen Sie sich gewaltig. Ich habe mich überhaupt nicht in seiner Nähe aufgehalten. Und ich gehörte auch nicht zu der Gruppe, auf die Craigie vor seinem Ableben zeigte.«
»Das spielt keine Rolle«, meinte Barnaby. »Denn Arthur Craigie hat gar nicht auf eine Person gezeigt.«
»Doch, hat er. Auf Gamelin. Das kann Ihnen jeder hier bestätigen.«
»Sicherlich mag es danach ausgesehen haben, nach dem, was sich zuvor an diesem Abend ereignet hatte. Wie mir aufgefallen ist, unterschied sich Gamelin in einer Hinsicht von allen anderen. Er war der einzige, der stand.«
»Und?«
»Dadurch versperrte er die Sicht.«
»Wie meinen Sie das, Inspector?« fragte Arno.
»Ich vermute, Craigie zeigte in die Richtung, aus der das Messer geworfen worden war!«
Auf einmal sprachen alle durcheinander. Das Wort »geworfen« wurde mehrmals hintereinander erstaunt ausgerufen. Heather ließ Suhami los und rannte aufgeregt zu Ken zurück. Andrew brach in Gelächter aus.
»Ach - das ist brillant. In einem dunklen Raum? Aus einer Entfernung von drei, vier Metern?«
»Nicht dunkel - schummerig. Und er trug ein strahlend weißes Gewand.«
»Unmöglich.«
»Nicht für jemanden, der sich mit Messerwerfen seinen Lebensunterhalt verdient hat.« Das Geplapper verstummte auf einen Schlag. »Das haben Sie uns nicht erzählt, Mr. Carter, nicht wahr?«
»Es gibt viele Dinge, über die ich in Ihrer Gegenwart nicht gesprochen habe.«
»Was Sie nicht sagen«, warf Troy ein.
»Es war ein Fehler, daß Sie von Ihrer Zeit in Blackpool gesprochen haben. Wir haben uns mit Ihren Arbeitgebern in Verbindung gesetzt, die uns darüber aufgeklärt haben, daß Sie sich nicht nur als Löwenbändiger, sondern auch als Feuerschlucker und Messerwerfer verdingt haben.«
»Jahrmarktstypen sagen alles mögliche.« Barnaby schwieg eine Weile. Schließlich meldete sich Andrew Carter erneut zu Wort.
»Das ist es? Das sind die Beweise, die Sie gegen mich vorzubringen haben? Na, da kann ich nur sagen, sollte diese Geschichte wie durch ein Wunder jemals vor einem Gericht verhandelt werden, wird die Jury hysterisch lachend von den Bänken kippen.«
Wunder, dachte Troy, da hat er recht. Konzentriert und vollkommen überzeugt hatte er zugehört, wie der Chief versucht hatte, Andrew Carter die Tat nachzuweisen, aber nun, da die bemerkenswerte Geschichte erzählt worden war, welche Beweise hielten sie in Händen? Mit welchen Beweisen konnten sie überhaupt aufwarten? Mit einer Faser, die am Messergriff entdeckt worden war. Der Rest - nichts als Mutmaßung. Keine Fingerabdrücke auf der Mordwaffe. Einen kurzen Moment, in dem jeder in eine andere Richtung geschaut hatte. Carter mußte nur bei seinem Standpunkt bleiben, und ein kompetenter Anwalt würde dafür sorgen, daß er schneller wieder frei war, als man den Fall abweisen konnte. Und das wußte er - dieser gerissene Gauner. Sein Achselzucken, sein Kopfschütteln, sein Lächeln machten das deutlich. Der würde nicht kleinbei geben. Oder Fehler machen. Selbst wenn es ihnen gelang, nachzuweisen, daß er früher mal kriminell gewesen war - brachte sie das weiter? Das bewies nur, daß er keine blütenreine Weste hatte. Troy warf dem Chief einen Blick von der Seite zu. Barnaby stierte mit nichtssagender Miene auf den Steinboden. Schließlich blickte er auf und sprach.
»Wie ist es Ihnen gelungen, den Jungen aus seinem Zimmer zu locken?«
Herrje, jetzt ist er echt verzweifelt. Nachdem die erste Geschichte nicht gezogen hat, versucht er es auf diese Tour, die auch nichts bringen wird. Riley hatte Carter angegriffen und beinahe getötet. Carter würde auf Notwehr plädieren. Sie kriegten ihn nicht mal für Totschlag dran. Auch wenn Troys Miene nichts von seiner Skepsis verriet, war ihm schwer ums Herz. Was hatte der Chief gestern noch gesagt - den reißenden Strom hoch, ohne Paddel? Verdammt richtig! Für einen Sekundenbruchteil empfand Troy so etwas wie Mitleid für Barnaby. Oder gar Zuneigung. Diese Regung war seiner Natur so fremd, daß es ihn ungemein erleichterte, als das Gefühl sich genauso abrupt verflüchtigte, wie es aufgetaucht war.
Die Anspannung im Raum hatte sich gelegt, was in erster Linie Andrews gespielt ehrlichem Gelächter zuzuschreiben war. May brach das unbequeme Schweigen, indem sie Arno fragte, wie es seinem Fuß ginge. Suhami kehrte allen den Rücken zu. Heather sammelte die benutzten Tassen ein und stellte sie in die Spüle. Nur Troy bekam mit, wie sich die Tür leise öffnete.
Barnaby wiederholte seine Frage. »Wie ist es Ihnen gelungen, den Jungen aus seinem Zimmer zu locken}«
»Er imitierte Arnos Stimme.«
Felicity trug ihr Caroline-Charles-Kostüm und geborgte Pelzhandschuhe. Sie war leichenblaß, ihre Stimme hingegen deutlich und klar. Die Anspannung im Zimmer baute sich wieder auf.
»Kommen Sie und setzen Sie sich, Mrs. Gamelin.« Wiederbelebt zog Barnaby einen Stuhl unter dem Tisch hervor. Zögerlich und ängstlich dreinblickend, trat sie näher. Nachdem sie Platz genommen hatte, setzte sich Barnaby mit einer Pobacke auf den Tischrand und versperrte ihr mit seinem breiten Rücken den Blick auf Andrew Carter.
»Schildern Sie mir, was sich zugetragen hat.«
»Ich wachte auf und mußte dringend zur Toilette. Ich zog einen Bademantel an und war gerade dabei, die Tür zu öffnen, als ich... ihn... sah.«
»Andrew Carter?«
»Christopher.«
»Und wo?«
»Er kniete vor dem Schlüsselloch von Tims Zimmertür. Seine Lippen waren ganz dicht am Schlüsselloch. Er sagte: >Hier ist Arno. Ich bringe dir dein Abendessen<. Seine Stimme klang ganz anders. Das war richtig unheimlich. Er hatte kein Tablett und auch sonst nichts dabei, nur dieses gräßliche Radkreuz, das er an die Wand gelehnt hatte. Als Tim die Tür öffnete, packte ihn Christopher und zerrte ihn auf den Flur hinaus und... und fing an, auf ihn einzudreschen. Ich hätte Hilfe holen sollen... ich weiß. Aber ich hatte Angst. So kehrte ich in mein Zimmer zurück. Ich habe nicht mal die Polizei angerufen. Es tut mir ja so leid... so leid...«
»Wir sind zu jenem Zeitpunkt ohnehin schon unterwegs gewesen, Mrs. Gamelin.«
»Ach - ist das wahr?«
»Ja, das ist wahr.«
»Dann fühle ich mich nicht mehr so... Ich hörte, wie Glas zersprang. Ist er in Ordnung? Geht es Tim gut?«
Alle schwiegen betreten. Heather ging zu Felicity hinüber und sagte: »Soll ich Ihnen eine Tasse Malzkaffee bringen? Mit viel Honig?«
Troy fragte sich, ob das dieses schreckliche Gebräu war, das ihm in der Mordnacht angeboten worden war. Falls ja, dann gab es Felicity eher den Rest, als daß es sie wiederbelebte. Und das kam ganz und gar nicht in Frage, weil sie bei der Gerichtsverhandlung auf ihre Aussage angewiesen waren. Was Glück! Daß sie die Wahrheit sprach, hatte ihm Carters verraten, auch wenn der Kerl versucht hatte, sich nichts anmerken zu lassen. Jetzt mußten sie nur vorsichtig weitermachen, ihn verhaften, und dann war die Sache endlich abgeschlossen. Der Chief war aufgestanden und gerade im Begriff, etwas zu sagen. May kam ihm zuvor.
»Was Sie vorhin über den Tod des Meisters gesagt haben, gibt mir zu denken. Ich frage mich, ob ich mich bei meiner ersten Aussage nicht deutlich genug ausgedrückt habe.«
»In welcher Hinsicht, Miss Cuttle?«
»Nun, ich habe natürlich alles gesehen, wissen Sie?« Barnaby hatte das Gefühl, die Erde öffne sich unter seinen Füßen und verschlinge ihn. Das kann doch wohl nicht wahr sein, redete er sich ein, das muß doch irgendwann ein Ende haben.
»Steht alles in meiner Aussage.« Das war die einzige Aussage, der er keine große Bedeutung beigemessen hatte. Er hatte May unterstellt, nur übernatürlichen Schwachsinn von sich zu geben. »Ein silberner Pfeil? Der über mich hinwegflog?«
O Gott! Ach du heilige Scheiße! Er wußte nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Weinen natürlich. Was sonst? Wo seine Ignoranz ein weiteres Leben gekostet hatte. Auf einmal schämte sich der Chief Inspector. Er mußte an Joyces hartnäckige Anschuldigung denken, daß er nie zuhörte, und daran, wie er versucht hatte, Troy davon abzuhalten, der Betrügertheorie nachzugehen. Anscheinend hielt er sich selbst für unfehlbar. Zum Glück hatte der Sergeant nicht auf ihn gehört und war der Sache nachgegangen. Hätte er nicht eigenmächtig gehandelt...
Meine Arterien verkalken, dachte Barnaby. Und das gefällt mir nicht. Erst jetzt merkte er, daß May mit ihm sprach.
»Zu jenem Zeitpunkt hatte ich den Eindruck«, sagte May, »daß Sie einfach nicht in der Lage waren, noch mehr esoterisches Wissen zu verkraften. Mag durchaus sein, daß ich mich geirrt habe.«
Ja, das hast du, du dumme alte Ziege, schoß es Troy durch den Kopf, als er sah, daß der Chief am Boden zerstört war. Was nichts daran änderte, daß der Sergeant nur zum Teil Verständnis für seinen Boß aufbrachte. Da Barnaby ihm immer wieder unter die Nase gerieben hatte, er solle Aufgeschlossenheit beweisen, empfand er so etwas wie Schadenfreude. Darüber hinaus schmälerte diese Entdeckung teilweise Troys Schuld. Würde Barnaby irgendwann die fünfzehnminütige Diskrepanz auffallen, die zwischen dem aus Blackpool eingegangenen Anruf und dem Anruf des Sergeants lag, hätte er sich nur mit einem »Woher hätte ich das denn wissen sollen?« herausreden können. Gewiß kein stichhaltiges Argument. Nun hatte auch der Boß einen Dämpfer verpaßt bekommen. Hätte er May Cuttles Aussage größere Aufmerksamkeit geschenkt, wäre der Junge verschont geblieben, und sie hätten sich eine Menge Zeit und Geld gespart.
Der Fall war erledigt. Troy knöpfte sein Jackett zu und trat einen Schritt nach vorn, rechnete insgeheim aber mit Schwierigkeiten. Die gab es nicht. Fünf Minuten später saßen die drei Männer im Wagen und fuhren zum Revier.
Troy saß am Steuer. Barnaby saß hinten neben einem verdrießlich dreinblickenden Andrew Carter. Vehement hatte er Felicitys Geschichte abgestritten, ihr Halluzinationen unterstellt. Konnte doch ein Blinder sehen, daß jahrelanger Alkohol- und Drogenkonsum ihr Gehirn zerfressen hatte.
»Nun, wir werden das Radkreuz auf Fingerabdrücke untersuchen.«
»Ja, tun Sie das nur. Ich habe Ihnen gesagt, daß ich es in der Hand gehalten habe, als wir auf dem Dach gewesen sind. Und ein paar Tage davor habe ich es in mein Zimmer gebracht.«
»Sollte das alles sein, was Sie sich zuschulden kommen ließen, werden sie es auch rausfinden.«
Beim Sprechen studierte Barnaby Andrews Gesicht. Der junge Mann grinste selbstgefällig in sich hinein. Lehnte sich lässig nach hinten, legte ein Bein über das andere. Als er an seinem Turnschuh rumzupfte, rutschte sein Jackenärmel nach oben. Etwas an seinem Handgelenk funkelte.
»Woher haben Sie das?«
»Ein Geschenk. Von der jungen Dame, die beinahe meine Verlobte geworden wäre.«
»Dann hat sie ja gerade noch mal Glück gehabt.«
»Ich auch. Die ist tierisch neurotisch. Quatscht dauernd über ihr Seelenleben. Kann ich rauchen?«
»Jetzt nicht. Sagen Sie mir - um meine Neugierde zu befriedigen - wußten Sie schon vor Ihrem Eintreffen auf Windhorse, daß sie dort lebte?«
Carter antwortete nicht gleich, sondern überlegte erst, welche Konsequenzen eine wahrheitsgetreue Aussage haben könnte. Dann meinte er: »Ja. Mein Onkel hat es mir geschrieben. Er hat sie erkannt.«
»Zweifellos mit Hilfe eines Eintrags in einer buddhistischen Schrift.«
»Es ist kein Verbrechen, sich eine reiche Frau zu suchen. Wäre dem so, würde die Hälfte der männlichen Bevölkerung morgen in den Knast wandern.«
»Waren Sie jemals im Gefängnis?«
»Natürlich nicht.«
»Sie haben mal was in dieser Richtung fallenlassen.«
»Das muß ein Versprecher gewesen sein.«
In den Wochen vor der Gerichtsverhandlung kamen weitere Informationen über die beiden Carters ans Licht. Angesichts der Fakten waren Andrew Carters Proteste unhaltbar. Er beschloß, sich im Fall von Arthur Craigie schuldig zu bekennen, nachdem er seine Uhr verkauft und mit dem Geld einen Anwalt genommen hatte.
Nach und nach rückte er mit der Wahrheit heraus. Er gab zu, daß sein Onkel (nachdem er im Fernsehen einen Dokumentarbericht über einen amerikanischen Guru gesehen hatte, der mit einer Karawane von Rolls-Royces geflohen war, die er mit dem Geld seiner Anhänger gekauft hatte) seinen alten Partner im Albany-Gefängnis aufgesucht und ihm folgende Idee verkauft hatte: Sie sollten sich zusammentun und auch so eine Nummer durchziehen. Genau das hatten sie dann auch getan. Während der Verhandlung wurde ausführlich auf den von Carter eingebrachten finanziellen Beitrag eingegangen und auf die Frage, was damit nach dessen Tod geschehen sollte. Andrew Carters Mittellosigkeit wurde ebenfalls thematisiert, denn das Geld, das aus dem Verkauf des Hauses stammte, hätte eigentlich ihm als nächstem Angehörigen als Erbe zugestanden.
Ein dünner und ausgemergelter Andrew Carter schilderte auf anrührende Weise, wie er in der Mordnacht gezwungenerweise seine wahre Identität preisgegeben und darum gebettelt hatte, wenigstens einen Teil seines Geldes, das rechtlich und moralisch ihm gehörte, zu bekommen. Sein Flehen hatte allerdings zu nichts geführt. Craigie, so erzählte er dem Gericht, hätte ihm nur ins Gesicht gelacht.
Carters Anwalt, der brillante Gérard Malloy-Malloy, ging in einem umwerfenden Abschlußplädoyer ausführlich auf den Charakter des verstorbenen Betrügers ein. Minutiös und akribisch genau trug er die ganze Liste herzloser Gaunereien und Betrügereien vor. Am Ende wunderten sich seine Zuhörer nicht mehr über Craigies Ermordung, sondern nur noch darüber, warum das nicht schon früher geschehen war.
Mit seiner Weigerung, sich für den Mord an Timothy Riley schuldig zu bekennen, kam Carter durch. Da Felicity seit Jahren instabil war, Drogen genommen und an besagtem Abend einen Schlaftrunk verabreicht bekommen hatte, ehe sie Carter anscheinend dabei beobachtet hatte, wie er Riley aus dem Zimmer lockte, wurde sie als unzuverlässige Zeugin betrachtet. In Windeseile gelang es dem Anwalt, sie zum Weinen zu bringen und bei ihr Zweifel an der eigenen Aussage zu säen. Die vielen Fingerabdrücke belegten nur, daß beide Männer das Radkreuz in der Hand gehalten hatten.
Für Rileys gefährlich aggressives und gewalttätiges Verhalten wurden Beweise erbracht. Er hatte den Tod des Onkels des Beschuldigten herbeigeführt und des weiteren versucht, den Beschuldigten selbst zu töten, der sein Lebensaltern seiner schnellen Reaktionsfähigkeit zu verdanken hatte. (An dieser Stelle wurde der Metallbrocken gezeigt.)
Niemand außer Andrew Carter kannte den wahren Grund für Tims Tod. Troy hatte ein paar Vermutungen geäußert, von denen nicht eine aufgegriffen wurde. Beweisen ließ sich nur, daß Tim während Mays Rückführung unfreiwillig von seinem geliebten Meister getrennt worden war und sich gleich danach wieder auf seinen Platz begeben hatte. Er hatte gesehen, was passiert war, hatte sich umgedreht und den Mörder erkannt. Und war infolgedessen ebenfalls erkannt worden.
Carter wurde zu acht Jahren Gefängnis verurteilt, wovon er sechseinhalb Jahre absaß. Da er klug genug gewesen war, den Rest der Summe aus dem Armbanduhrverkauf einem irren, aber gewitzten Investmentbroker zu übertragen, verfügte er - nachdem er auf Bewährung entlassen wurde - über ein stattliches Vermögen. Ein paar Wochen später verließ er, das Geld in einem Bauchgürtel versteckt, das Land.
Ein paar Monate reiste er quer durch Europa, lebte auf großem Fuß, warf mit Geld um sich und spielte, bis eine undurchsichtige Sache in Marseille (ein markierter Kartensatz bei einem Pokerspiel) ihn zwang weiterzuziehen. Er floh nach Amerika, nach San Diego. Der Sonnenstaat Kalifornien hatte seit jeher große Anziehungskraft auf ihn ausgeübt. Dort mietete er einen Wagen, um die Küste hochzufahren. Unglücklicherweise wurde er kurz vor Sausalito von einer Horde als Mafiosi verkleideter New-Age-Schamanen überfallen, schwer mißhandelt und ausgeraubt.