Das Frühstück neigte sich dem Ende zu. Der Meister, der bei Sonnenaufgang aufstand, um zu meditieren und zu beten, war bei dieser Mahlzeit nie anwesend, sondern nahm später, nach der Reinigung und Energieaufladung seiner Chakras, im Solar einen Kräutertee und ein Kümmelbrötchen zu sich. Obwohl er von den anderen geliebt wurde und sie ihm ab und an sogar tiefe Verehrung entgegenbrachten (er wäre allerdings der erste gewesen, der solch überschwenglichen Unsinn getadelt hätte), sorgte seine Abwesenheit zweifelsohne dafür, daß sich die Anspannung der anderen ein Stück weit legte. Die kleine Gruppe an dem langen Refektoriumstisch war gerade im Begriff, sich der Ausgelassenheit hinzugeben.
»Und was habt ihr beide heute nachmittag vor, Heather?« erkundigte sich Arno und wischte mit einer handgewebten Serviette einen Spritzer Joghurt aus seinem Bart. Mit seiner Frage bezog er sich auf die einzig freien Stunden am Tag, die ihnen zwischen ihren Aufgaben und Verpflichtungen blieben.
»Wir gehen hoch zu Morrigan’s Ridge.« Trotz ihrer langen grauen Haare sprach Heather Beavers wie ein atemloses kleines Mädchen. »Dort gibt es einen Monolithen mit den erstaunlichsten Schwingungen. Hoffentlich gelingt es uns, die kosmische Energie freizusetzen.«
»Seid vorsichtig«, riet Arno. »Und nehmt auf alle Fälle ein Amulett mit.«
»Gewiß doch.« Heather und Ken berührten sofort die Eisenkieskristalle, die, an einem Lederband befestigt, wie ein drittes Auge auf ihrer Stirn ruhten.
»Als wir letztes Mal Energie freigesetzt haben, gab sich Hilarion zu erkennen. Mit absolut unglaublicher, energiegeladener Information. Er hat sich einfach... entfaltet. Nicht wahr, Ken?«
»Mmm.« Ken sprach undeutlich, da er sich gerade einen Löffel mit Kleie und Hagebuttenkompott in den Mund geschoben hatte. »Hat unsere nächsten tausend Leben beschrieben und die intergalaktischen Kriegspläne des Mars kurz Umrissen. Um die Jahrtausendwende dürfte es ziemlich hart zugehen.«
»Und du, Janet. Was für Pläne hast du?«
»Da heute so ein wunderschöner Tag ist, dachte ich, ich werde mit dem Bus nach Causton fahren. May benötigt ein paar Sticknadeln. Vielleicht möchtest du mich ja begleiten, Trixie?« Ihr Blick wanderte zu der neben Arno sitzenden jungen Frau, die nicht antwortete. Janet plapperte weiter: »Wir könnten hinterher in den Park gehen und Eis essen.«
Ihr schmales knochiges Gesicht wirkte ausgemergelt und hungrig. Entweder ganz ausdruckslos oder voller widerstreitender Gefühle, schien dieses Antlitz unfähig zu sein, so etwas wie Zweideutigkeit widerspiegeln zu können. Janet hatte blasse, helle Augen mit farblosen Pupillen und das störrischdrahtige Haar eines irischen Wolfshundes. Ihr starkes Verlangen zwang Arno, den Blick zu senken. Weil er selbst Miss Cuttles imposanter Oberweite und liquidem Blick zutiefst ergeben war, fiel ihm diese Form der Zuneigung bei anderen sofort auf, und die arme Janet war ein Paradebeispiel für sklavische Abhängigkeit in ihrer schlimmsten Ausprägung.
Da Janet keine Antwort erhielt, stand sie auf und begann die bauchigen, mit Farbschliereri dekorierten Müslischalen wegzuräumen. Sie waren das klägliche Ergebnis ihres Töpferkurses, den sie kurz nach ihrem Eintritt in die Kommune belegt hatte, um sich nützlich zu machen. Sie verabscheute diese unförmigen Dinger aus tiefstem Herzen und ging stets bewußt unvorsichtig mit ihnen um, in der Hoffnung, daß eine zerbrach, aber die Schalen stellten sich als unzerstörbar heraus. Sogar Christopher, der immer ruckzuck einen von Mays Gänseblümchenkränzen kaputtkriegte, richtete beim Abwasch keinen Schaden an.
»Da heute Suhamis Geburtstag ist, hast du bestimmt noch eine Überraschung parat.« Arno lächelte dem ihm gegenübersitzenden Mann verschmitzt zu. Alle Kommunenmitglieder wußten, wie es um dessen Gefühle bestellt war.
»Nun...« Augenscheinlich fühlte sich der ansonsten liebenswerte und offene Christopher unwohl in seiner Haut. »Anscheinend ist schon eine ganze Menge vorbereitet worden.«
»Du wirst sie sicherlich ausführen wollen? Und vielleicht eine Bootsfahrt auf dem Fluß mit ihr machen?«
Christopher antwortete nicht, was Janet zum Lachen veranlaßte. Sie stieß einen gepreßten, rauhen Laut aus, in dem eine Spur Boshaftigkeit mitschwang, und drehte mit ihren knochigen Fingern Brotkrumen zu kleinen Kügelchen. In ihrer Kindheit hatte man ihr des öfteren versichert, sie habe die Hände einer Pianistin, doch ihr hatte nie etwas daran gelegen, diese Mutmaßung auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen.
»Dann glaubst du also nicht an Romantik, Jan?« Trixie lachte fröhlich und schüttelte ihre blonden Locken. Glänzende pinkfarbene Lippen und dichte lange Wimpern verliehen ihr das Aussehen einer teuren Porzellanpuppe.
Janet erhob sich und kehrte ein paar Müslikrümel zum Tischrand, dessen beide Tischplattenhälften sich im Lauf der Jahre aufgeworfen hatten und nicht mehr richtig zueinander paßten. Ein paar Nüsse verschwanden in der Ritze und fielen auf den Holzboden. Sie entschied, den Tolpatsch zu spielen (ein Ausdruck, mit dem in der Gemeinschaft ein Verhalten beschrieben wurde, welches den Frieden störte) und die Krümel nicht aufzuheben. Trixie kippelte auf ihrem Stuhl nach hinten, blickte skeptisch zu Boden und gab mit geschürzten Lippen' einen mißbilligenden Ton von sich.
Janet brachte die Schalen weg, kehrte mit einer Kehrschaufel und einem Handfeger zurück und kroch unter den Tisch. Ihre Knie schmerzten auf den blanken Holzbohlen. Zehn Füße. Männlich: zwei Socken aus Chemiefasern - vom vielen Waschen mit Knötchen überzogen, verströmten sie den schwachen Duft von Kampferöl - zwei weiße Baumwoll-socken, zwei beigefarbene aus Frottee und sechs grobschlächtige Sandalen. Weiblich: purpurne, geschürzte Fellstiefeletten, mit kabbalistischen Stickmustern verziert. Mickymaus-Turnschuhe über kurzen Socken, die die hübschen und zarten Fesseln kaum bedeckten. Bis unters Knie hochgekrempelte Jeans und vor kurzem rasierte Beine, auf denen blonde Haarstoppeln wie Golddraht glitzerten.
Mit pochendem Herzen betrachtete Janet diese Beine und wandte dann schnell den Blick von den blauweißen Gliedmaßen und delikaten Knochen ab. So zerbrechlich wie der Brustkorb eines Vögelchens. Der Feger rutschte ihr aus der verschwitzten Hand. Sie streckte die Hand aus, berührte flüchtig die nahezu transparente Haut, ehe sie die Mickymaus-Schuhe beiseite schob.
»Hebt alle die Füße.« Ihre Stimme klang mürrisch, obwohl sie versuchte, ganz beiläufig zu klingen.
»Und du, Arno?« fragte Christopher.
»Ich werde mit Tim Weiterarbeiten«, erwiderte Arno, stand auf und sammelte die rechteckigen Salzfäßchen aus Stein und die Hornlöffel ein. »Wir sind gerade dabei, ein neues Strohdach für den Bienenstock anzufertigen.« Jedes Mitglied der Gemeinschaft verfügte über handwerkliche Fähigkeiten.
»Ihr macht euch solche Mühe«, meinte Heather. Die Worte klangen wie schrille kleine Pfiffe. Eine Stimme wie eine Sammlung Orgelpfeifen.
»Ach ja... weißt du...« Arno reagierte beschämt.
»Gestern abend haben wir für ihn eine Astro-Zeremonie abgehalten, nicht wahr, Heather?« sagte Ken.
»Mmm. Wir hielten ihn eine ganze Ewigkeit im Licht.«
»Hinterher überantworteten wir das aurische Zentrum seines Wesens Lady Portia - der blaßgoldenen Meisterin der Klarheit.«
Sie waren so unerschütterlich positiv. Arno bedankte sich bei ihnen, da ihm keine passendere Erwiderung einfiel. Weder die Beavers mit ihrem strahlenden Optimismus noch Lady Portia konnten Tim helfen. Und das war auch gar nicht nötig. Man konnte ihm Liebe entgegenbringen, das genügte. Selbstverständlich war das schon eine ganze Menge, aber es reichte leider nicht, ihn aus der Welt der Schatten zu führen.
Dies genauer auszuführen war - wie Arno sehr wohl wußte - sinnlos. Und es wäre auch unfreundlich, denn Ken und Heather hatten positives Denken zu einer absoluten Kunstform entwickelt. Niederträchtige, dunkle Gedanken waren ihnen fremd. Falls jemand etwas in der Art äußerte, wurde es blitzschnell unter den Teppich gekehrt. Ihre Weigerung, die grauen, vielleicht gar dunklen Seiten des Lebens zu erkennen, führte bei ihnen zu einer fast unerträglichen Selbstgefälligkeit. Ein Problem war noch nicht mal richtig formuliert, schon wurde die passende Antwort geliefert. Postulierung. Vereinfachung. Lösung. Und jede Stufe war eingebettet in Anteilnahme, Warmherzigkeit, Großmut, so einfach war das.
Trixie schob ihren Stuhl zurück und sagte: »Ich bin heilfroh, daß ich heute keinen Küchendienst habe. Statt dessen kann ich mir einen netten Longdring im Black Horse genehmigen. Ich bin sicher, wir alle werden einen brauchen.«
Ken und Heather belächelten diesen spitzbübischen Spleen nachsichtig. Keiner von ihnen war jemals im Dorfpub gewesen. Janet kroch unter dem Tisch hervor, stand auf und massierte ihre Knie.
»Was meinst du damit?« fragte Arno. »Was soll das heißen, daß wir alle einen brauchen werden?«
»Mr. Gamelin. Erzähl mir ja nicht, daß du seinen Besuch vergessen hast.«
»Gewiß nicht.« Arno griff nach der Plastikabwaschschüssel, aus der sich alle ihr Müsli geschöpft hatten. Eine der Kommunenregeln lautete: »Verlaß den Tisch nie mit leeren Händen«, und auch wenn das hin und wieder zur Folge hatte, daß etwas verschwand, ehe jemand die Chance hatte, es in die Hand zu nehmen oder sich zu bedienen, funktionierte diese Regel im großen und ganzen sehr gut. »Wirst du dein Quarksouffle machen, Heather?«
»Ich hielt das für keine so gute Idee. Immerhin ist es möglich, daß er zu spät kommt. Ihr wißt ja, wie Tycoons sind.« Sie sprach mit nachsichtiger Autorität, als sei sie gerade eben von der Börse heimgekehrt.
»Wir dachten an eine Lasagne mit drei unterschiedlichen Bohnensorten«, verriet Ken und strich über seinen Partisanenschnurrbart.
»Die ist wirklich außerordentlich sättigend.«
»Und verbrauchen den Quark mit gedämpften Birnen. Sollte der nicht reichen, rühren wir noch ein paar Löffel von Calypsos Joghurt darunter.«
»Ausgezeichnet.« Arno strahlte übers ganze Gesicht, als meinte er, was er sagte, und dachte insgeheim an den Geburtstagskuchen, den es außerdem noch geben sollte.
»Ich könnte wetten, er schenkt ihr etwas ganz Besonderes zum Geburtstag«, meinte Trixie.
»Auf was diese rücksichtslosen Tycoons wirklich stehen«, behauptete Janet, »ist, über ein großes, blutiges Steak herzufallen.«
»Da hast du dir ja einen Schwiegervater ausgesucht, Christopher.« Ken und sein Kristall funkelten über den Tisch.
»Nun, hier wird er jedenfalls kein Steak serviert bekommen.« Heather erschauderte. »Und woher willst du überhaupt wissen, daß er rücksichtslos ist, Jan?« Janet haßte es, Jan genannt zu werden. Nur Trixie durfte das.
»Ich habe ihn Vor Jahren mal im Fernsehen gesehen. In einer dieser Diskussionen. Falls ich mich recht entsinne, in einer Sendung zum Thema Geld. Innerhalb der ersten fünf Minuten hat er alle fertiggemacht.«
»Aber, aber«, rief Arno zur Mäßigung. Die Sendung hatte er nicht gesehen. Um negative Schwingungen zu vermeiden, gab es in Manor House keinen Fernsehapparat.
Janet erinnerte sich ganz genau. An jene korpulente, mächtige Gestalt, die sich aufführte, als wollte sie den Bildschirm zum Bersten bringen. An diesen Mann, der vor Aggressivität nur so gestrotzt hatte. War mit leicht nach vorn geneigtem Kopf dagesessen, reglos wie ein Bulle, der jede Minute zum Angriff bläst. »Ich wünschte, er käme nicht.«
»Bleib gelassen.« Ken bewegte seine Hände hoch und runter, diminuendo. »Vergiß nicht, er ist allein, und wir sind zu zehnt. Doch damit nicht genug, wir stehen im Licht des göttlichen Ozeans des Bewußtseins. Und begreifen, daß so etwas wie Zorn nicht existiert.«
»Er wäre nie und nimmer eingeladen worden, müßt ihr wissen«, verriet Arno, da Janet immer noch besorgt dreinblickte, »wenn der Meister es nicht für klug gehalten hätte.«
»Der Meister ist sehr weltfremd.«
»Gamelin weiß nicht, in was für eine diffizile Situation er sich begibt«, meinte Ken kichernd. »Wird ihm eine erstklassige Möglichkeit bieten, sein Karma zu ändern. Sollte er nur zur Hälfte so sein, wie du ihn beschreibst, Janet, wird er die Gelegenheit beim Schopf packen.«
»Was ich nicht kapiere«, sagte Trixie, »ist, wieso Suhami uns erst neulich gestanden hat, wer sie in Wahrheit ist.«
»Kannst du das nicht verstehen?« Janet brach erneut in un-amüsiertes Gelächter aus. »Ich schon.«
»Ist nur gut«, fuhr Trixie fort, »daß Chris sich ihr schon erklärt hat, sonst würde sie vielleicht denken, er sei nur hinter ihrem Geld her.«
Auf diese verwegene Spekulation hin stellte sich urplötzlich Schweigen ein, das Christopher brach, indem er Messer und Gabel einsammelte, schmallippig »Entschuldigung« murmelte und den Raum verließ.
»Ehrlich, Trixie...«
»Das war doch nur ein Scherz. Ich weiß nicht...« Ohne auch nur einen Eierlöffel in die Hand zu nehmen, stürmte sie davon. »Hier hat keiner eine Spur von Humor.«
Da stand Ken auf. Er hatte »ein Bein«, das ihn davon abhielt, all die Tätigkeiten im Haus und Garten zu verrichten, die er liebend gern übernommen hätte. An manchen Tagen (vor allem, wenn Regen angekündigt wurde) war es besonders schlimm. Heute morgen hinkte er nur leicht. Er nahm das Brotschneidebrett hoch und sagte: »Kein Frieden für die Böse-wichter.«
»Die wüßten gar nicht, was sie anfangen sollten, wenn sie Frieden fänden«, lautete Janets Kommentar, was Heather veranlaßte, ihre geduldige Griselda-Miene aufzusetzen.
Janet war Heathers Kreuz und gleichzeitig ihre große Herausforderung. Sie war so intellektuell, benutzte permanent ihre linke Hirnhälfte. Anfangs war es Heather schwergefallen, damit umzugehen. Bis ihr eines Tages Kens geistlicher Führer Hilarion auf Anrufen hin erläutert hatte, daß Janet die physische Verkörperung von Heathers eigener Animosität sei. Wie dankbar war Heather gewesen, dies zu erfahren! Die Erklärung machte nicht nur Sinn, sondern löste zudem ein noch tieferes Gefühl teilnahmsvoller Hingabe aus. Jetzt sagte sie in einem Ton übertriebener Ruhe: »Ich denke, wir machen uns besser an die Arbeit.«
Arno, nun allein mit Janet, betrachtete sie besorgt. Er befürchtete, eine Teilschuld zu tragen an der Blässe ihres Gesichtes und an der Verkrampftheit ihrer Arme und Hände, mit denen sie die Kehrschaufel umklammert hielt. Und er wünschte, das Richtige zu tun. In der Lodge wurde von allen Kommunenmitgliedern erwartet, den anderen Mitbewohnern zu jeder Tages- und Nachtzeit mit Rat zur Seite zu stehen. Arno, von Natur aus sehr wählerisch, was die Offenbarung seiner eigenen Gefühle anbelangte, war stets bestrebt, sich offen und aufgeschlossen zu geben, sollte man ihn brauchen. In diesem Augenblick lag allerdings etwas in der Luft, was ihn zutiefst verunsicherte und er nicht verstand. Nichtsdestotrotz ...
»Machst du dir wegen irgend etwas Sorgen, Janet? Gibt es was, das du mit mir teilen möchtest?«
»Was willst du damit sagen?« Sofort war sie in der Defensive, als setze er sie unter Druck. »Da ist nichts. Überhaupt nichts.« Das Wort »teilen« irritierte sie, weil es ganz selbstverständlich die Bereitschaft implizierte, sich zu offenbaren.
»Entschuldigung.« Mitnichten gekränkt trat Arno den Rückzug an. Sein sommersprossiges Antlitz verriet, wie erleichtert er war, daß Janet sein Angebot ausgeschlagen hatte.
»Wenn man nicht den ganzen Tag vor sich hin lächelt, vermutet gleich jeder, man habe ein Problem.«
»Es war gut gemeint...«
Janet ließ ihn einfach stehen. Ihre quadratischen Schulterblätter waren steif vor Irritation. Arno folgte ihr gemächlich in die weitläufige Eingangshalle, die leer zu sein schien. Er blickte sich um. »Tim...?« Einen Moment später rief er noch mal, ohne eine Antwort zu erhalten. Seit einiger Zeit zog der Junge sich so tief in sich zurück, daß kein Durchdringen zu ihm möglich war. In der Annahme, daß Tim sich versteckte und allein sein wollte, machte Arno keine Anstalten, ihn zu suchen. Wenn der Meister nach seiner Andacht erschien, würde auch Tim auf der Bildfläche auftauchen - und seinem über alles geliebten Wohltäter wie ein Schatten auf Schritt und Tritt folgen und sich wie ein treuer Hund neben seinen Füßen hinkauern, wenn er stehenblieb.
Daher verschob Arno die Fertigstellung des Bienenstockdaches auf einen anderen Tag, ging den langen Flur hinunter, an dessen Ende Gummistiefel, Galoschen und Regenschirme aufbewahrt wurden, suchte seine alte Jacke und seinen Panamahut heraus und machte sich auf den Weg in den Garten, wo er sich nützlich zu machen gedachte.
Nachdem die anderen weggegangen waren und sich Stille im Haupthaus breitmachte, tauchte Tim auf und schlich sich vorsichtig ins Foyer.
Hier, mitten in der Decke, war ein wunderschönes, achteckiges Oberlicht aus Buntglas eingelassen, das - ins Dach integriert - in den Himmel zu reichen schien. An sonnigen Tagen fielen Strahlen bunten Lichtes durchs Glas und malten ein Muster aus dunklem Rosa, Bernstein, kräftigem Maulbeer-blau, Indigo und sanftem Grasgrün auf den Holzboden. Entsprechend dem Lichteinfall waren die Farben blasser oder kräftiger und vermittelten die Illusion eines Eigenlebens, das beständig im Fluß war. Dieser stille und vom Licht verzauberte Bereich übte große Faszination auf Tim aus. Er hatte die Angewohnheit, sich mitten ins farbige Licht zu stellen, sich langsam zu drehen und sich über die kaleidoskopischen Muster zu freuen, die über seine Haut und Kleidung wanderten. Jetzt stand er reglos unter den im gedämpften Licht umherschwirrenden Staubkörnchen. Für ihn waren sie eine Wolke winziger Insekten, harmlose kleine Wesen mit glitzernden Flügeln.
Manchmal träumte er von dem Oberlicht. In diesen Träumen war er immer in Bewegung, trieb ab und zu nach oben, teilte das einfallende, strahlend helle Licht mit dünnen Fingern, schob es hinter sich und stieg höher. Und er flog sehr oft. Wann immer er flog, schwerelos in einer schwerelosen Welt, drehte sich sein Körper, bewegte sich auf und ab, beschrieb Kreise unterm Regenbogen. Einmal hatte ihn eine Schar heller Vögel mit gutmütigen Augen und weichen, kaum bedrohlichen Schnäbeln begleitet. Manchmal, wenn er aus solch einem Oberlichttraum erwachte, überkam ihn ein starkes Gefühl von Trauer und Verlust. Dann sprang er aus dem Bett und flitzte zum Geländer, um sich zu versichern, daß es noch da war.
Nachdem Tim nach Manor House gebracht worden und er nicht davon zu überzeugen gewesen war, etwas zu sich zu nehmen, hatte der Meister, dem die beruhigende Wirkung der tanzenden Farben nicht entgangen war, zwei Kissen auf dem Hallenboden auslegen lassen. Zusammen mit dem Jungen hatte er sich auf die Kissen gesetzt und ihn wie ein kleines Kind gefüttert, ein Löffel nach dem anderen, »einen für dich, einen für mich«. An dieser Prozedur hatte er zwei Wochen lang festgehalten. Inzwischen ging es Tim natürlich wesentlich besser. Er aß mit allen anderen am Tisch, erfüllte seine Rolle in der Kommune, soweit es ihm möglich war, und kämpfte damit, die ihm übertragenen einfachen Aufgaben zu bewältigen.
Seine Angst legte sich hingegen nie. Und wenn - wie in diesem Moment - auf der Empore eine Tür geöffnet wurde und es sich nur um Trixie handelte, die ins Badezimmer ging, setzte Tim schnell wie der Wind zur Flucht an und versteckte sich in einer dunklen Ecke.
Der Meister saß im Solar und hielt eine Schale mit frischem Minze- und Zitronentee in der Hand. Suhami, die ihn zu einer Unterredung gedrängt hatte, schien jetzt, da sie ihm gegenübersaß, keine Eile mehr zu verspüren. Diese Wirkung hatte die Anwesenheit des Meisters des öfteren auf seine Mitmenschen. Welch körperliches oder seelisches Leiden sie auch veranlassen mochte, seinen Rat zu suchen, kaum befanden sie sich in seiner Gegenwart, schien ihr Anliegen an Bedeutung zu verlieren.
Und schließlich, dachte Suhami, während sie sich mit geradem Rücken unglaublich elegant auf dem Kissen niederließ, war es mittlerweile zu spät für Worte. Der Schaden war längst angerichtet. Sie studierte ihreh Lehrer. Seine feingliedrigen Hände, seine angenehmen Züge und mageren Schultern. Es war unmöglich, ihm böse zu sein, dumm, von ihm zu erwarten, daß er verstand. Er war so harmlos, seine Anteilnahme ganz und gar spiritueller Natur. Er hatte sich (wie Janet es einmal formuliert hatte) in das Ideal der Reinheit verliebt und sah deshalb überall nur Gutes. Als Suhami an ihren Vater dachte, der sich demnächst in seiner schrecklichen Wildheit auf den Weg machen würde, wallte ihre Verzweiflung wieder auf.
Guy Gamelin war ungefähr so spirituell wie ein angreifendes Rhinozeros und hatte im Lauf seines Lebens ein vergleichbares Chaos hinterlassen. Der Meister konnte sich eine derart impulsive Person, einen Mann, von Gier zerfressen, der - wenn man sich ihm entgegenstellte - einen in Angst und Schrecken versetzte, garantiert nicht vorstellen, denn der Meister war der festen Überzeugung, daß in jedem Menschen etwas von Gott war und daß man nur Geduld und Liebe aufbringen mußte, um dies zutage zu fördern.
»Ich hätte diesen Besuch nicht vorgeschlagen«, (sie war es gewohnt, daß der Meister ihre Gedanken las), »wenn ich den Zeitpunkt nicht für richtig gehalten hätte.« Da Suhami beharrlich schwieg, fuhr er fort: »Es ist an der Zeit zu genesen, Kind. Laß all diese Bitterkeit fahren. Sie wird dir nur schaden.«
»Das versuche ich.« Wie schon ein dutzendmal in der vergangenen Woche sagte sie: »Ich begreife nur nicht, wieso er hierherkommen muß. Und ich werde meine Meinung in bezug auf das Geld nicht ändern, falls es das ist, was er will.«
»Oh, laß uns nicht noch mal damit anfangen.« Er lächelte. »Ich erkenne eine Sackgasse, wenn ich sie sehe.«
»Falls Sie es nicht annehmen, wird es an die Wohlfahrt gehen.« Schnell setzte sie nach: »Sie wissen nicht, was Geld bei Menschen bewirkt, Meister. Sie sehen einen an, denken anders über einen. Schon -« Ihre Miene veränderte sich, wirkte plötzlich sorgenvoll. Weich und verdunkelt. Ihr Mund zitterte.
»Schon?«
»Sie... haben es niemandem erzählt? Von dem Treuhandvermögen?«
»Selbstverständlich nicht, zumal es ja dein Wunsch gewesen ist. Aber meinst du nicht, daß deine Eltern -«
»Meine Mutter kommt nicht. Er hat geschrieben, daß sie krank ist.«
»Das könnte wahr sein.«
»Nein.« Entschlossen schüttelte sie den Kopf. »Sie hatte keine Lust zu kommen. Hatte nicht mal den Anstand, so zu tun als ob.«
»Ein Besuch auf dieser Grundlage dürfte sinnlos sein. Sei tapfer, Suhami - greif nicht nach vorschnellen Lösungen. Und verlange auch nicht, daß andere dich trösten und stärken. Das ist weder dir noch den anderen gegenüber fair. Alles, was du brauchst, ist hier...« Er legte die Finger auf sein Herz. »Wie oft muß ich das noch betonen?«
»Für Sie ist das einfach.«
»Einfach ist es nie.«
Damit hatte er recht. Nur ein einziges Mal hatte sie während der Meditation annähernd verstanden, was »alles, was du brauchst« wirklich bedeutete. Nach einer guten Stunde Stillsitzen hatte sie eine tiefe, intensive Stille erfahren, gefolgt von einer außerordentlichen Bündelung von Spannung, die ihr wie ein starker energetischer Impuls vorgekommen war. Darauf war ein Augenblick erleuchteter Stille von einer solchen Vollendung gefolgt, daß sie den Eindruck gehabt hatte, all ihr Menschsein, all das Durcheinander aus Schmerz und Hoffnung und Verlust, alles, was ihre Person ausmachte, falle von ihr ab - würde verschlungen von einem inneren Licht. Ein Augenblinzeln, und verschwunden war dieses Gefühl. Ihr Erlebnis hatte sie nur dem Meister gegenüber erwähnt, der sie schlicht davor gewarnt hatte, sich in Zukunft krampfhaft um derlei Erlebnisse zu bemühen. Selbstverständlich war sie nicht in der Lage gewesen, dem einen oder anderen Versuch zu widerstehen, doch diesen bestimmten Zustand hatte sie nie wieder erlangt.
Vor einem Jahr hatte sie nicht mal gewußt, daß er lebte. Noch heute erinnerte sie sich mit Schrecken daran, wie zufällig ihre Begegnung gewesen war. Wäre sie nach links statt nach rechts abgebogen...
In Begleitung eines halben Dutzend Freunde war sie in einer Weinbar unweit des Red Lion Square gewesen. Während der Happy Hour - jener frühabendlichen Unterbrechung, in der die Einsamen, Entfremdeten und Enterbten sich mit Hilfe von Alkohol zum halben Preis in die Vergessenheit katapultieren können. Sturzbetrunken hatten sie ihre Brotstengel in einen Auberginendip getunkt und waren schließlich zum Gehen genötigt geworden. Sie hatten sich geweigert, woraufhin ihnen - auch nichts Neues - mit der Polizei gedroht worden war. Untergehakt und mit lautstarkem Gebrüll waren sie losgezogen und hatten ihre Mitmenschen in der Theobald Road vom Bürgersteig vertrieben.
Es war Perry gewesen, dem das an einen schäbigen Türeingang geheftete Poster aufgefallen war. Die Worte LIEBE, LICHT & FRIEDEN standen über dem großen Foto eines Mannes mittleren Alters mit langem weißem Haar. Völlig grundlos kam ihnen dieses Plakat ungeheuer komisch vor. Johlend und verächtlich lachend stürmten sie die ausgetretenen, verfleckten Stufen hoch durch eine Schwingtür.
Sie kamen in einen kleinen, schwach besuchten Raum, vor dessen Rückwand ein Podest aufgestellt war. Das Publikum bestand hauptsächlich aus älteren Frauen. Ein paar ernst dreinblickende Männer mit Rucksäcken oder Einkaufstaschen waren ebenfalls zugegen. Einer trug eine mit durchsichtiger Plastikfolie überzogene Kappe. Wiederholt schürzte er besonnen die Lippen und schüttelte dabei den Kopf, als müßte er den anderen Zuhörern klarmachen, daß er nicht so leicht zu beeindrucken war. Angesichts der Störung drehten die anderen Gäste den Kopf, formulierten leise ihr Unbehagen und bissen die Zähne zusammen.
Die Neuankömmlinge warfen sich auf die aufgereihten Klappstühle und legten die Füße hoch. Fünf Minuten verhielten sie sich unglaublich ruhig, bis Perry zuerst warnend die Augen verdrehte und dann laut losprustete. Die anderen schrien und kicherten und stopften sich wie unerzogene Kinder die Fäuste in den Mund. Als Antwort auf die zurechtweisenden Blicke der anderen Zuhörer schnitten sie Fratzen, und Perry rief: »Er ist es gewesen, der da, mit der Mütze in der Plastiktüte.«
Zehn Minuten später standen sie tödlich gelangweilt auf, machten sich über den Mann auf dem Podest lustig und stießen auf dem Weg nach draußen Stühle um. Vor der Schwingtür drehte sich eine von ihnen - Sylvie - um und warf einen Blick nach hinten. Nur einen halben Schritt vom Chaos entfernt (so deutete sie es später), veranlaßte sie irgend etwas zu dieser Bewegung. Sie machte kehrt und nahm leise auf einem Holzstuhl Platz, ohne auf das ungehobelte Gebrüll von der Treppe zu achten.
Die Rede, warmherzig und lindernd wie Honig, beeindruckte sie tief. Hinterher wunderte sie sich, daß sie sich kaum an jenen Abend erinnern konnte, der ihr Leben so nachhaltig verändert hatte. Der einzige Satz, an den sie sich entsinnen konnte, lautete: »Wir alle stehen in unserem eigenen Licht.« Ohne damals eine Ahnung davon gehabt zu haben, was die Worte wirklich bedeuteten, waren sie ihr an jenem Abend (und das war auch heute noch der Fall) unglaublich profund und tröstend vorgekommen. Noch im Verlauf jener ersten Momente war sie sich über ihr Bedürfnis im klaren gewesen, diesen Schritt aus ihrem alten zweifelhaften Selbst zu wagen. Sich zu öffnen und das Gespenst einer lieblosen, schrecklichen Vergangenheit abzuschütteln. Jene haßerfüllten, volltrunkenen Tage und liebeshungrigen Nächte.
Nach dem Vortrag zog der Sprecher einen Mantel über sein langes blaues Gewand. Ein kleiner bärtiger Mann war ihm dabei behilflich. Danach trank er einen Schluck Wasser und ließ im Stehen seinen Blick über die leeren Stuhlreihen schweifen, bis er bei dem Mädchen hängenblieb. Er lächelte, woraufhin sie sich erhob, auf ihn zuging und sich dem Sog purer, uneigennütziger Güte ausgesetzt fühlte (was sie damals garantiert nicht so beschrieben hätte). In dieser zierlichen Gestalt meinte sie eine grenzenlose Sorge um ihr eigenes Wohlergehen zu spüren. Diese für sie absolut neue Situation bereitete ihr unerträgliche Schmerzen, und sie weinte.
Der Meister beobachtete sie beim Näherkommen. Er sah ein großes, dünnes Mädchen in einem anzüglichen Outfit. Die silbrigglänzende Andeutung von einem Rock, ein knapp geschnittenes Oberteil. Die gebleichten Haare trug sie wild nach oben gekämmt, die Augen waren mit Kajal verschmiert, die Lippen knallrot ausgemalt. Sie roch nach Gin, einem aufdringlichen Parfüm und bitteren Träumen. Je näher sie kam, desto lauter wurde ihr Schluchzen, und als sie das Podest erreichte, schrie sie und machte ihrer Trauer unverhüllt Luft. »Ahhh... ahhh.« Sich auf hohen Pfennigabsätzen wiegend, und mit über den kaum bekleideten Brüsten verschränkten Armen stand sie da und heulte.
All das lag so lange zurück, daß es ihr schwerfiel, sich an die Intensität ihrer damaligen Verzweiflung zu erinnern. Sie streckte die Hand nach dem Glas ihres Gegenübers aus.
»Möchten Sie noch etwas Tee, Meister?«
»Nein. Vielen Dank.«
Zwischen seinen Augenbrauen war eine tiefe Falte zu erkennen. Er sah müde aus. Schlimmer noch - Suhami bemerkte die faltige Haut unter seinen Augen - er sah alt aus. Der Gedanke, die Zeit könne ihm etwas anhaben, war ihr unerträglich. Denn war er nicht die Quelle aller Weisheit, der nie versiegende, segensreiche Brunnen? Er war hier, um sie zu lieben und zu schützen. Falls ihm etwas zustieß...
Auf dem Weg zur Tür dämmerte es Suhami, daß das Wissen um die Sterblichkeit eines anderen und diese Sterblichkeit tatsächlich zu verstehen, zwei völlig unterschiedliche Dinge waren. Tief in ihrem Innern war sie davon überzeugt gewesen, daß er immer für sie alle dasein würde. Sie mußte an Tim denken. Was würde er ohne seinen geliebten Beschützer und Kameraden anfangen? Was würden die anderen tun? Furcht übermannte sie, zwang sie zur Rückkehr. Sie preßte seine Hand an ihre Wange.
»Was, um Himmels willen, ist denn?«
»Ich will nicht, daß Sie sterben.«
Sie nahm an, er würde lächeln und sie mit einem Scherz von ihrer Verzweiflung befreien. Statt dessen sagte er: »Aber das müssen wir. Wir alle.«
»Fürchten Sie sich nicht?«
»Nein. Nicht jetzt.« Damit entzog er ihr seine Hand. »Früher... schon. Aber jetzt nicht.«
Ich habe Angst, dachte Suhami. Und verließ ihn zutiefst verstört.
Aus einem offenen Fenster im Erdgeschoß des Hauses drang ein Schwall fulminanter Töne. Mit gegrätschten Beinen und fest auf der Seegrasmatte ruhenden Füßen spielte May auf ihrem Cello eine Sonate von Boccherini. Energisch strich der Bogen vor und zurück. Ihre dicken Augenbrauen waren gekräuselt, die Augen fest geschlossen. In einem Anfall leidenschaftlicher Hingabe warf sie den Kopf so weit nach hinten, daß durchsichtige Schweißperlen durch die laue Luft flogen und einer ihrer geflochtenen Zöpfe, der wie ein rostrotes Ufo über ihrem Ohr festgesteckt war, sich löste und im Dreivierteltakt fröhlich hin und her schwang.
Sie trug ein loses Gewand, von Hand maronenfarben eingefärbt und mit aufgedruckten Pyramiden und Trauerzügen verziert. Dieses Kleidungsstück war nicht gerade ein leuchtendes Beispiel für die im Druckraum angefertigten Arbeiten. Bei der Verwendung der Klischees war ein Fehler unterlaufen, so daß der Trauerzug - Kamele, Leichnam und Trauernde - an einer Stelle eine Kehrtwendung machte und mit dem hinteren Zugabschnitt zusammenstieß.
Oberhalb des Ausschnitts dieses voluminösen Kleides präsentierte sich Mays wunderschönes Profil. Symmetrisch geschnitten, edel, ernsthaft, unmißverständlich in seiner Hingabe, Glück und Gesundheit zu verbreiten, zog es die Aufmerksamkeit anderer auf sich, zumal May ihr Gesicht mit derselben überschwenglichen Hingabe schminkte, die sie der Ausschmückung ihres Zimmers, ihrer Person, jedes in ihrem Besitz befindlichen Gegenstandes angedeihen ließ. Die von ihr verwendete Farbpalette war so breit, wie ihr Strich großzügig war. Wangen erblühten in satter Koralle, volle Lippen in leuchtendem Granatapfelrot. Augenlider leuchteten in grellem Grün, das in Himmel- und Pflaumenblau überging und ab und an silbern abgetupft wurde. Es kam durchaus vor, daß ihr Teerosenteint gar nicht zur Geltung kam: Hin und wieder vergaß sie - abgelenkt von ihrem ganz und gar unweltlichen Ansinnen -, daß sie schon Make-up aufgelegt hatte, und trug eine zweite Lage auf, das sie hinterher großzügig mit Coty American Tan abpuderte.
Nach dem letzten Bogenstrich legte sie die Hand auf die Saiten, um die Vibration zu dämpfen. Gibt es ein anderes Instrument, überlegte sie, eine andere Kreatur, die so elegant grunzen konnte? Kurz legte sie die Wange auf das glänzende Holz und hinterließ darauf einen pfirsichbraunen Puderabdruck, ehe sie das Cello an ihren Stuhl lehnte und in ihrem aufbauschenden Stoffmeer aus Kattun zum Fenster hinüberschwebte.
Dort harrte sie aus, fixierte die Zeder und bemühte sich darum, an jener vom Glück durchdrungenen Stille festzuhalten, die sie beim Musizieren befiel. Doch kaum hatte sie von diesem Zustand Notiz genommen, verwandelte sich Glück in Freude und Zufriedenheit in einen beklagenswerten Mangel an Muße. Mit einem leisen Seufzer zwang sich May - aus Gründen der Entspannung -, an ihren letzten Farbenworkshop unter dem Titel »Ein Regenbogen liegt auf Ihrer Schulter« zu denken, der überbucht gewesen und bei den Teilnehmern sehr gut angekommen war. Leider bescherte die Überlistung der eigenen Natur ihr nur einen Teilerfolg. Bilder von gutgelaunten Teilnehmern, die alle aquamarin dachten, verblaßten, obgleich sie daran festzuhalten suchte, und ein Schatten von Angst trat an ihre Stelle. Sie mußte sich eingestehen, daß sie sich heute nicht auf ihre bevorstehende Rückführung freute, was oftmals eine äußerst anregende Erfahrung war.
May legte gesteigerten Wert auf positives Denken. Für Menschen, die - wie sie es nannte - »herumjammerten«, brachte sie nicht sonderlich viel Geduld auf. Sich über dieses oder jenes beklagten, sich weigerten, das Problem am Schopf zu packen oder es zu lösen. Aus solch einem Verhalten ließ sich in ihren Augen nur ein Mangel an Rückgrat ableiten. Jetzt verfuhr sie schon genauso. Und ganz ohne Grund, denn ihr mangelte es gewiß nicht an Menschen, an die sie sich wenden, mit denen sie sich unterhalten konnte. Unglücklicherweise war einer von ihnen (wer, das konnte sie nicht mit Gewißheit sagen) der Grund ihrer Sorge. Am liebsten hätte sie sich in dieser Frage an den Meister gewandt, auch wenn man im Normalfall nicht mit alltäglichen Problemen zu ihm ging. Daß sie in diesem speziellen Fall von ihm keine Hilfe erwarten konnte, machte sie richtig unglücklich. Ihr kam es so vor, als wäre eine zuverlässige Wärme- und Lichtquelle unfreundlicherweise abgedreht worden. Das Gefühl, nicht nur beraubt, sondern auch abgewiesen worden zu sein, entbehrte - darüber war sie sich im klaren - jeder Grundlage. Die Schwierigkeit lag darin, daß ihr geliebter Guru - unwissentlich und unabsichtlich, wie sie sehr wohl wußte - ihr Unbehagen mitverschuldet hatte.
Folgendes hatte sich zugetragen: Zwei Tage nach Jims Tod war May auf dem Weg zur Waschküche an der Kammer des Meisters vorbeigekommen. Trotz offenstehender Tür hatte sie nichts sehen können, da sein wunderschöner Passepartout-Wandschirm mit den Tierkreiszeichen ihr die Sicht versperrt hatte. Gesenkte Stimmen unterhielten sich, verstummten, ertönten aufs neue und veranlaßten May zu der Annahme, daß im Raum eine Sitzung im Gange war, daß spirituelles Wachstum gefördert, Chakras gereinigt wurden. Dann allerdings rief eine Stimme unvermittelt: »O Gott - warum hast du ihn nicht in Ruhe gelassen? Wenn sie nun eine Obduktion -« Mit einem beherzten Zischen wurde der Redner unterbrochen.
Die sich daran anschließende Stille kam May, die wie angewurzelt stehengeblieben war, eigenartig beklemmend vor. Hatte etwas Ersticktes, etwas von »unter den Teppich kehren« an sich. Sie hörte keine Schritte, schloß jedoch aus dem Rascheln eines Gewandes, daß jemand hinter dem Wandschirm hervorzutreten gedachte. Gerade noch rechtzeitig sprang sie zur Seite und preßte sich an die Korridorwand, ehe die Tür fest geschlossen wurde.
Vor lauter Überraschung und Angst zitternd, harrte May dort aus. Die Stimme des Meisters war so emotionsgeladen gewesen, daß sie sie kaum erkannt hatte. Ob er Zorn oder Furcht verspürt hatte, wußte sie nicht zu sagen. Vielleicht keins von beiden. Oder beides gleichzeitig. Sie versuchte sich einzureden, daß sie etwas falsch verstanden hatte oder die Worte aus dem Zusammenhang gerissen (viel hatte sie ja nicht gehört) eine ganz andere Bedeutung bekommen konnten. Aber worauf sollten das Wort »Obduktion« sich beziehen, wenn nicht auf Jims Tod? Diese Schlußfolgerung war sicher naheliegend.
In der Waschküche, beim Einfüllen ökologisch unbedenklicher, enzymfreier blaßgrüner Waschkügelchen, verfluchte May stumm den boshaften Luftgeist, der an diesem Morgen ihre Schritte gelenkt hatte. Im Einklang mit den anderen Kommunenmitgliedern hing sie der Überzeugung an, die Gestaltung und der Ablauf ihres Tages würde nicht von ihr selbst, sondern von den Sternen bestimmt, und sie konnte gewiß nicht behaupten, sie wäre nicht gewarnt worden. Phobos, Mond des Mars, hatte schon die ganze Woche seinen Einfluß auf sie ausgeübt.
Als sie die feuchten Berge farbenprächtiger Wäsche aus der Maschine nahm, bemerkte May die auffällige Diskrepanz zwischen der frischgewaschenen, fleckenlosen Perfektion und ihren eigenen dunklen Gedanken.
Einen Monat nach jenem Vorfall ereignete sich eine andere, beinah ebenso irritierende Begebenheit. Mitten in der Nacht wurde sie von einem leisen Knarzen in Jims Zimmer aufgeweckt, das neben ihrem lag. Kurz darauf knarzte es noch zweimal, als würde eine Reihe von Schubladen geöffnet und geschlossen. May hatte belauscht, wie sich jemand tags zuvor mehrmals dort zu schaffen gemacht hatte, sich dabei aber nichts gedacht. Ihrer Meinung nach hatte der Betreffende die traurige Aufgabe übernommen, Jims Sachen durchzugehen und auszusortieren. Dieses nächtliche Treiben hingegen war etwas ganz anderes. Sofort an Einbrecher denkend, hatte sie tapfer ihren dicksten Wälzer geschnappt (Neue Karten von Atlantis und deren intergalaktische Logoi), sich mit angehaltenem Atem den Flur runtergeschlichen, vorsichtig die Hand auf den Griff der Tür gelegt und versucht, diese zu öffnen. Sie war fest verschlossen gewesen.
Obwohl sie sich der Tür ganz leise genähert hatte, hörte May hektische Bewegungen. Trotz ihrer Furcht harrte sie aus, die Neuen Karten über dem Kopf haltend. Entgegen ihrer Erwartung ging die Tür nicht auf. Unentschieden, was sie als nächstes unternehmen sollte, spitzte sie die Ohren, hörte ein metallisches Knirschen, das sie an das Schiebefenster denken ließ. Sie eilte in ihr Zimmer zurück, doch bis sie das Buch weggelegt hatte und an ihr Fenster getreten war, war es schon zu spät. Das Fenster nebenan stand weit offen, und sie meinte einen Schatten, eine dunkle Bewegung am Ende der Terrasse auszumachen.
Dies veranlaßte sie, ihren Entschluß, sofort Alarm zu schlagen, nochmals zu überdenken. Wer immer das gewesen war, er war nicht in Richtung Straße und Außenwelt geflohen. Zu fliehen hätte niemanden vor größere Probleme gestellt, denn wie viele große elisabethanische Häuser lag auch Manor House nur unweit der Dorfhauptstraße. Vor ein paar Monaten hatten auf dem Grundstück Vandalen ihr Unwesen getrieben (Müll in den Teich geworfen, Glühbirnen kaputtgeschlagen), woraufhin die Lodge eine Halogenlampe angeschafft hatte, die sich nach Dunkelheit automatisch einschaltete, wenn sich eine Person oder ein Fahrzeug auf oder neben der Zufahrt bewegte. Diese Lampe ging nicht an.
Doppelt verunsichert ließ May sich auf ihrem Fensterplatz nieder und blickte in die wohlriechende Nacht hinaus. Die unterschiedlichen Gartendüfte und die am Himmel stehenden Sterne vermochten nicht, ihre Stimmung zu ändern. In diesem besonderen Augenblick litt sie unter extremer Einsamkeit. Nicht unter jener dunklen Verlassenheit, die sich gewöhnlich gegen vier Uhr morgens einstellt und wo man vom Zeitpunkt und den Umständen des eigenen Todes niedergedrückt wird. Ihre Einsamkeit war weniger gewichtig, aber genauso beängstigend. Sie hatte entdecken müssen, daß in ihrem Eden - auf Golden Windhorse empfand sie ein Glück, das keine andere Bezeichnung zuließ - eine Schlange hauste. Mit zwei Gesichtern, verschlagenem Herzen, doppelzüngig.
Um wen es sich dabei handelte, konnte sie noch nicht sagen, aber sie glaubte - nein, sie wußte -, daß die Person, die aus Jims Zimmer geflohen war, das Haus hinterher wieder betreten hatte. Ihr fielen wieder die aufgeschnappten Worte ein. Sie kam zu der Überzeugung, daß die beiden Dinge miteinander in Verbindung standen, rügte sich aber prompt für diese dramatische Auslegung. Groß war die Versuchung, beides ad acta zu legen. Wie gewohnt weiterzumachen in der Hoffnung, daß es keine weiteren eigenartigen Vorfälle geben würde. Mit der Zeit verblaßte die Erinnerung gewiß. Möglicherweise war der Satz »Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten« hier nicht ganz unpassend. Andererseits widersprach solch ein Verhalten dem Ethos der Kommune. Sinn und Zweck dieses Lebensstils war es schließlich, daß sich jedermann fortwährend um die Angelegenheiten der anderen kümmerte. Das war ihre Definition von Anteilnahme.
Und so kam es, daß Mays Gedanken immer wieder zu dem geheimnisvollen Schleicher und zu der mysteriösen Stimme zurückkehrten. Verdrießlich und in Gedanken versunken, hatte sie ihren Rock gebügelt. Mit einem Mal wirkten die Kamele mehr denn je wie das lebendige Abbild einer Karawane.
Wäre es ihr nur möglich gewesen, der Stimme, die mit dem Meister gesprochen hatte, ein Geschlecht zuzuordnen, dann hätte sie sich einfach einer Person des anderen Geschlechts anvertrauen können.
Einigermaßen ungehalten sprang May auf. Der Gedanke, daß etwas nicht stimmte und nicht in Ordnung gebracht werden konnte, war ihr schier unerträglich. Nervös ging sie auf und ab und rief stumm, aber voller Inbrunst Kwan-Yih an, die blasse Pfirsich-Meisterin, unter deren Führung und erhabener Schirmherrschaft sie seit einer Zauberzeremonie stand, die einen Korb mit Früchten, ein sauberes weißes Leinentuch und einen Scheck in beträchtlicher Höhe beinhaltet hatte. Im Gegensatz zu sonst gab sich Kwan-Yih, die bislang nie gezögert hatte, Ratschläge zu erteilen und perlmuttfarbene Strahlen zu senden, die Frische und Trost versprachen, heute nicht zu erkennen.
Arno harkte die dicken Bohnen und kämpfte mit einer paradoxen Frage. Es handelte sich um eine sehr schwierige paradoxe Frage, die ihm ursprünglich vom Zenmeister Bac An gestellt worden war. »Wie hört es sich an«, hatte der große Zauberer gefragt, »wenn eine Hand klatscht?«
Logisches Denken, das wußte Arno, brachte ihn in diesem Fall nicht weiter. Erleuchtung gemäß der Losung Bring dir selbst Satori bei, worüber es in der Bibliothek zahlreiche Bände unter der Rubrik Theo/Psych/Myth: Orientalische Untersektion 4:17 gab, war einem erst nach Monaten, vielleicht Jahren anstrengender Meditation und Reflexion vergönnt. Und das war noch längst nicht alles. Ein Anhänger muß jeden einzelnen Augenblick eines Tages im Auge behalten, stets in vollem Bewußtsein leben und sich voll und ganz bei jeder noch so gewöhnlichen Angelegenheit physisch, mental und spirituell ein-bringen. Arno hatte viele kleine Tricks entwickelt, um sich -wenn seine Aufmerksamkeit nachließ, was fast permanent der Fall war - wieder in die Gegenwart zurückzukatapultieren. Jetzt kniff er sich in den Arm, um nicht länger in den Tag hineinzuträumen und sich besser auf seine Arbeit zu konzentrieren. Er schnappte den Griff, spürte das warme, glatte Holz, starrte intensiv auf die rostige Klinge und musterte kritisch die winzigen weißen Vogelnierenblümchen. Selbst die Staubblätter mit den dunklen Spitzen wurden gewissenhaft studiert.
All das tat Arno, ohne die geringste Zufriedenheit zu verspüren. Descartes’ These, die besagte, der Mensch sei Herr über und Besitzer der Natur, half ihm keinen Deut weiter. Weder verstand er den Garten, noch liebte er ihn. Irgendwie schien der Garten ihm Fallen zu stellen, war voller Brombeersträucher, an denen man hängenblieb, und verschwiegener, unter dichtem Gras versteckter Feuchtplätze. Und er war voller Insekten: Schnaken- und Maikäferlarven, Blutegel und Würmer. Alle labten sich an Arnos Gemüse, das - um die Wahrheit zu sagen - nicht gerade großartig gedieh. Ahnungslos, was die Beschaffenheit von Böden betraf, hatte er Möhren in Lehmboden ausgesät, Bohnen in feuchter Erde und Kartoffeln immer wieder an der gleichen Stelle.
Natürlich war er sich bewußt, daß landwirtschaftliche Ignoranz ausgemerzt werden konnte, und hatte sich irgendwann einmal ein Buch zu diesem Thema angeschafft. Es war ziemlich dick und strotzte nur so vor schwarzweißen Zeichnungen, die unglaublich perfekt Arnos klägliche, mickrige und schrumpelige Ernte illustrierten. Schon nach kurzer Zeit hatte der Inhalt Arno zu Tode gelangweilt, und bald war der dicke Wälzer auf Nimmerwiedersehen im Schuppen hinter Saatgut verschwunden.
Es versteht sich von selbst, daß Arno Einspruch erhob, als man ihm die Position des Gärtners übertrug, und dem Berufungskomitee versicherte, er verfüge über keinerlei Talent in dieser Richtung. Doch genau dies - wurde ihm geduldig erklärt - war der Grund für seine Ernennung. Seine eigenen Wünsche standen weder an zweiter noch an letzter Stelle, sondern wurden erst gar nicht in Betracht gezogen. Kein Hätscheln des Egos (dieses gemeine, hinterhältige Biest). Keine Wahl, nichts. In Würde zu wachsen war gleichbedeutend mit dem Zurückstellen eigener Interessen, und da gab es keinen leichten Weg, keine Abkürzung. Seufzend zupfte Arno das Kreuzkraut aus.
Nach einer Weile schwand sein Mißmut, zumal über die Wiesen, den Teich und den von Rhododendren gesäumten Weg eine einschmeichelnde Tonfolge schallte. Arno legte die Schaufel weg und widmete seine ungeteilte Aufmerksamkeit der Musik, die die Königin seines Herzens spielte. Am meisten befürchtete Arno, infolge der Ausmerzung seines Egos auch noch seine Liebe zu May zu verlieren und seines zukünftigen Glücks beraubt zu werden.
Wesentlich später hatte er sich eingestehen müssen, daß er seine tiefe Leidenschaft niemals offenbaren würde. Dies war nicht immer so gewesen. Nach seinem Eintritt in die Kommune war er gewillt gewesen, sein durch und durch gewöhnliches Anliegen zu bekunden, ohne damals Mays gütigen Charakter und ihre bemerkenswerten musikalischen Fähigkeiten in vollem Umfang erkannt zu haben. In jenen Tagen war es ihm nur darum gegangen, ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Seine wiederholten Annäherungsversuche waren allerdings so vorsichtig gewesen, daß niemand - und May schon gar nicht - sie bemerkt hatte. Und das, obgleich sie über die Gabe der Vorsehung verfügte.
Ziemlich schnell begriff er, daß er mit seinen Ambitionen weit übers Ziel hinausgeschossen und seine Angebetete eines jener bemerkenswerten Geschöpfe war, deren Aufgabe es nicht war, einem einzelnen Menschen, sondern der gesamten Menschheit Trost zu spenden. Beinah zufrieden zog Arno sich zurück und beschloß, ihr ein Leben lang zu Diensten zu stehen.
Im Grunde genommen war es eher dem Zufall zuzuschreiben, daß er sie überhaupt kennengelernt hatte, wie auch seine Ankunft in Golden Windhorse mehr oder minder dem Zufall zu verdanken war. Er war mutterseelenallein auf dieser Welt. Seine Mutter, mit der er zusammenlebte, seit sein Vater vor gut dreißig Jahren abgehauen war, war vor kurzem gestorben. Unverdienterweise war sie langsam und unter Schmerzen gestorben. Sie war eines der sanftmütigsten Wesen gewesen, das er je gekannt hatte. Verbittert, verzweifelt und einsam blieb er zurück. Nach der Beerdigung hatte er sich wie ein verwundetes Tier in das kleine Reihenhaus in Eltham zurückgezogen. Er aß gerade so viel, daß er nicht verhungerte, wusch sich gerade noch so oft, daß er einigermaßen zivilisiert aussah, wenn er mal einkaufen ging. Mit Ausnahme des Verkäufers sah er wochenlang keine Menschenseele, zumal er seine Stelle bei der Water Board Authority aufgegeben hatte, um seine Mutter gegen Ende ihrer Krankheit zu pflegen.
Einen Großteil seiner Tage verbrachte er zusammengerollt auf dem Bett, mit tränennassen Wangen, ein Bündel aus dunklem, alles verzehrendem Schmerz. Salzwasser lief ihm in die Ohren, seine Nase war verstopft, seine Kehle heiser. Die Freunde seiner Mutter - und sie hatte nicht wenige gehabt - pflegten ans Fenster zu klopfen und ihn zum Essen einzuladen, wenn sie ihm mal auf der Straße begegneten. Manchmal fand er kleine Kartons mit Dosensuppen und Milchpulver auf seiner Türschwelle. Wochen verstrichen, in denen er nur selten aufstand. Die Jalousien waren permanent heruntergelassen. Tage gingen in Nächte über. Allein ein schmaler Streifen Licht über dem Fensterbrett kündete vom Lauf der Zeit. Irgendwann briet er ein paar Speckstreifen - wie er annahm - zum Frühstück, nur um festzustellen, daß es drei Uhr früh war.
Dann, eines Nachmittags, begann er wieder zu lesen. Er machte sich Kaffee, und anstatt wie gewöhnlich ins Bett zurückzukehren, setzte er sich an den Küchentisch, öffnete eine Schachtel Kekse, die ihm ein Unbekannter geschenkt hatte, und schlug Little Dorrit auf. Er und seine Mutter hatten viktorianische Romanciers geliebt, doch sie hatte Trollope den Vorzug gegeben.
Später an jenem Tag, nach dem Einkauf, hatte er ein Antiquariat besucht und eine Zeitlang in der Philosophieabteilung herumgestöbert. Rückblickend gesehen meinte er, auf der Suche nach einer Erklärung für die lange Krankheit seiner Mutter gewesen zu sein. Dies war ihm natürlich nicht vergönnt gewesen. Er hatte ein halbes Dutzend Bücher mit nach Hause genommen. Ein paar waren so abstrus gewesen, daß er überhaupt nichts kapiert hatte, andere so umwerfend dumm, daß er gelacht hätte, wäre er dazu in der Lage gewesen.
Kurze Zeit später besuchte er verschiedene spirituelle Treffen, bei denen er - seine Mutter offenbarte sich ihm leider nicht - ein gewisses Maß an Trost fand, paradoxerweise, indem er andere beim Leiden beobachtete. Ein paar der Anwesenden hatten kleine Kinder verloren, und der Anblick ihrer zornigen Mienen und des Spielzeugs, das sie ab und an mitbrachten,'um die Schatten ihrer geliebten Kleinen zu rufen, half Arno, den eigenen Verlust zu relativieren. Wenigstens war seine Mutter fast achtzig Jahre alt geworden und - durfte man ihren Worten Glauben schenken - lebensmüde gewesen.
Nach und nach verwandelte sich Arnos stechender Schmerz in dumpfes, erträgliches Leid. An seiner Einsamkeit änderte das nichts; die oberflächlichen Unterhaltungen, die sein Schicksal waren, brachten keine Linderung. Er gierte nach einer tieferen, intimeren Freundschaft, ohne daß er eine Ahnung hatte, wie man so etwas wie menschliche Nähe herstellte. Sein einziges Hobby (Lesen) verbot ihm, den allgegenwärtigen Rat zu befolgen, sich einer Gruppe mit gleichem Interesse anzuschließen. Nichtsdestotrotz hatte er das Gefühl, jene vage und zögerliche Freundlichkeit, die er der Welt inzwischen entgegenbrachte, nähren zu müssen. So kam es, daß er sich für einen Literaturkurs an der nächstbesten technischen Hochschule einschrieb.
Auf dem Heimweg - er hatte sich gerade angemeldet - machte er einen kurzen Stop bei Nutty Notions, um Honig zu kaufen. Sein Blick fiel auf eine Karte am Anschlagbrett, auf der ein okkultes Wochenendseminar mit dem Titel »Nachrichten von Ihren Lieben« angeboten wurde. Ob der wohltuende Klang des Wortes »Lieben« oder die reizvolle Möglichkeit, seinem freudlosen Heim für ein Wochenende entfliehen zu können, den Ausschlag für seine Entscheidung gab, wußte Arno nicht zu sagen. Der Kurs war relativ teuer (von den Angeboten im Fenster des Reisebüros wußte er, daß er für dieselbe Summe eine Woche nach Spanien reisen könnte), aber er hoffte, daß das Seminar ihm die Möglichkeit bescherte, neue Menschen kennenzulernen.
Wie es sich herausstellte, bekam der erstklassige Channeller (ein Hopi-Indianer) eine ganz gewöhnliche Grippe, aber »Der Mensch - die kosmische Zwiebel!« erwies sich als eine nicht gänzlich uninteressante Alternative für den aufrichtigen Sucher.
Die Eröffnungsrede wurde von Ian Craigie, dem Gründer der Kommune, gehalten. Die Vorstellung, tief im Innern eine Art vielschichtiges, von Gott beseeltes Wesen zu sein, beeindruckte und amüsierte Arno. Er genoß die Gesellschaft der anderen Gäste und war entzückt über die Vielfalt der angebotenen Heilkurse: Farbtherapie, Harmonische Einstellung, Zerreiß dein negatives Skript, Die Reinigung und Pflege deines astralen Körpers. Im Preis für das Wochenende war eine erste Konsultation inbegriffen, und Arno war schon kurz davor gewesen, sich auf die Harmonische Einstellung einzulassen, als die Tür dessen, was er nun als Solar kannte, aufging und Miss May Cuttle in einem regenbogenfarbenen Taftgebilde heraustrat.
Niemals würde er vergessen, wie er sie das erste Mal gesehen hatte. So hochgewachsen, mit glänzendem rostbraunem, über die Schulter fallendem Haar. Ihre Gesichtszüge waren von atemberaubender Symmetrie. Die Spitze ihrer großen, leicht gekrümmten Nase hob sich deutlich gegen die gepuderte, olivfarbene Oberlippe ab, die ein ganz feiner, seidiger Bart zierte. Sie hatte flache, breite Wangenknochen, und ihre Augen mit den durchsichtig wirkenden Pupillen, die Bernsteinkreisen glichen, standen leicht schräg.
Nach dem Abendessen spielte sie Cello. Verzaubert vom leichten Bogenstrich und der blumigen, gefühlvollen Musik, die zu den hohen Deckenbalken aufstieg, dämmerte es Arno, daß er sie nicht nur liebte, sondern daß dem auf eigenartige und unerklärliche Weise schon immer so gewesen war. Er fand heraus, was ihr Thema war (Heilung durch Farbe), schrieb sich für einen Workshop ein und ergötzte sich an ihrem enthusiastischen, menschlichen und großzügigen Wesen. In Windeseile wußte sie über seine Aura, Bekleidung, Schlafgepflogenheiten, Ernährung und seine Einstellung zum Kosmos Bescheid. Arno besuchte drei weitere Seminare, verkaufte sein Haus und zog für immer nach Manor House.
All dies lag achtzehn Monate zurück, und das Glück, das er bei seinem ersten Besuch empfunden hatte, hatte sich als steigerungsfähig erwiesen. Nach und nach streifte er seine Einsamkeit - ein rundes, undurchdringliches kleines Päckchen -wie eine alte Haut ab, hing ihr noch eine Weile halbherzig nach, um sie eines schönen Tages endgültig abzuschütteln.
Von den damaligen Mitgliedern der Kommune waren heute nur noch May und der Meister übrig. Die anderen hatten sich - wie das bei Rezipienten oftmals der Fall ist - anderen Gruppen angeschlossen oder sich zurückgezogen. Neue Mitglieder waren an ihre Stelle getreten. Mittlerweile prosperierte die Lodge so sehr, daß die Habenseite ihnen erlaubte, Bedürftigen finanziell unter die Arme zu greifen. In einigen Monaten konnten sie sogar eine kleine Summe nach Eritrea oder - je nachdem, wo gerade Not herrschte - an einen anderen Ort überweisen.
Arno knurrte irritiert und zwickte sich erneut in den Arm. Wieder war es passiert. Er war in Gedanken abgeschweift. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, ob es ein Fehler gewesen war, Zen als Disziplin zu wählen. Die praktische, pragmatische und bodenständige Natur des Zen hatte ihm von Anfang an imponiert, erwies sich aber als unglaublich schwierig in der alltäglichen Durchführung. Genauso erging es ihm mit Koän. Die Zähne zusammenbeißend, stürzte er sich auf die bevorstehende Aufgabe und befolgte den Vorschlag des Meisters, den Augenblick positiv und laut zu verbalisieren.
»Wie wunderbar, wie erstaunlich!« rief er und setzte die Metallharke ein. »Ich harke Rettiche und jetzt die dicken Bohnen. Welch Freude!«
Was für ein Unsinn. Nicht lange, und er stellte sich schon wieder May vor. Sehnte sich nach ihrer Gesellschaft. Dienen, bewundern. Die Seiten ihrer Notenblätter Umschlagen. Zitronentee auf ihrem kleinen Spirituskocher zubereiten. Oder sich einfach in ihrer charmanten Gegenwart suhlen, unter dem lichten, glänzenden Schutz ihrer strahlenden Augen.
Jeden Tag, mitten am Morgen, widmete sich Ken in seiner Rolle als Zadkiel, dem planetarischen Lichtarbeiter, ernsthaftem Channelling. Nachdem er die Lotusstellung eingenommen, die Nasenflügel temperamentvoll aufgebläht und die Augen demütig geschlossen hatte, versuchten er und sein extrem fein eingestelltes Bewußtsein, den äußeren Schirm des Seins zu durchdringen und in die innere Matrix der Realität vorzustoßen. Bei diesen Gelegenheiten trug Zadkiel seinen nuklearen Rezeptor. Dabei handelte es sich um ein kleines, vergoldetes Medaillon mit winzigen eingravierten Pyramiden, das alle toxischen Energien (Mikrowellenherde, saurer Regen, karzinogene Strahlung, Janets negative Art etc.) einfing und danach die DNS-Schwingungen des Trägers manipulierte, bis all das Gift unschädlich gemacht und harmonisiert war.
Heather (oder Tethys, wie ihr Astralname lautete) saß laut und nasal schnaufend neben ihrem Gatten und kümmerte sich um ihre eigenen kosmischen Angelegenheiten, die von ganz banalem Auftanken neuer Energien mit Hilfe des großen Devas vom Kristallenen Gitter bis hin zu einer Reise auf die Venus reichten, wo sie ihre Freundschaft mit anderen aszendierenden Seelen erneuerte, die - wie sie selbst - den Untergang von Atlantis überlebt hatten.
Manchmal zeigte Hilarion, Kens Kontakt auf der anderen Seite, sich sofort, aber es kam auch vor, daß er ihn die längste Zeit neckte, schwebend um ihn kreiste und in Großbuchstaben schicksalhaft auf bevorstehende Enthüllungen anspielte. Heute meldete er sich schon zu Wort, ehe Ken einen Atemstoß reiner Luft aus dem Reich des Aufsteigenden Meisters inhaliert hatte.
»Ich bin hier, Erdling. Nimmst du die Konzentrierte Flamme in Gegenwart des Heiligen Feuers entgegen?«
»Grüße, geliebter Hilarion. Ich akzeptiere die Autorität der Flamme und verspreche, das Kosmische Anliegen zu perfektionieren, zu schützen und zu verschönern und alles daranzusetzen, den Menschen den Geist der Liebe nahezubringen.«
»Das ist gut. Du weißt, daß die in den Höheren Reichen, die Strahlenden und Unbezwingbaren, den Wunsch hegen, bei der Vereitelung von Gottes Perfektion in der Welt der Formen zu assistieren. Gesegnet seien seine Ernsthaften Bemühungen.«
»Bitte übermittle meine vom Herzen kommende Dankbarkeit an diese übermächtigen überragenden Autoritäten, großer Hilarion.«
Dergestalt ging es noch eine ganze Weile lang weiter. Ken erhielt Instruktionen, wie er die »sich spiralförmig drehenden Energiewirbel unseres wunderschönen Planeten« mit Bedacht ausrichtete und magnetisch reinigte. Hilarions Stimme ähnelte Kens, und er verspürte das Bedürfnis zu kichern. Als dieses unterdrückte Kichern zum ersten Mal über Kens Lippen kam, war er ziemlich überrascht gewesen, da er nicht erwartet hatte, daß der Herr des Karmas über so etwas wie irdischen Humor verfügte. Der Inhalt dieser Sitzungen variierte, und es war beileibe keine Untertreibung, wenn man sie als ziemlich langweilig beschrieb. In erster Linie ging es darum, wie man unharmonische Akkumulationen in die interplanetarische Matrix des violetten Lichts warf.
Ken genoß jene seltenen Gelegenheiten, bei denen der alte Zauberer einen wahrlich ungewöhnlichen Vorschlag (beispielsweise zu einem imaginären Tor) machte, der Zadkiel und Tethys ein neues Verständnis für den glorreichen Kosmischen Herzschlag vermittelte. Erst vergangene Woche hatte er ihnen garantiert, daß sie (sollten sie sich im richtigen und entsprechenden Geisteszustand dafür entscheiden) jede englische Eisenbahnlinie bis zu ihrem Anfang zurückverfolgen durften und somit den eindeutigen Beweis erhielten, daß Jesus - der Kosmische Christ - ihr Land in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts besucht hatte.
»Ich habe eine Prophezeiung zu machen, Zadkiel.« Ken setzte sich auf, und Heather, die inzwischen auf dem Rückweg war, folgte seinem Beispiel. »In dieser Nacht wird die Göttin Astarte zufälligerweise menschliche Gestalt annehmen, um sich unter die Bewohner der unteren Ebenen zu mischen und lunare Weisheit zu verbreiten.«
»Herrje«, kam es Heather überzeugend über die Lippen.
»Ich schlage vor, daß ihr euch einen Lichtkreis denkt, der euer ganzes Wesen einrahmt, und euch bereithaltet. Und ruft auch die zahllosen Legionen Elohims zur Unterstützung herbei. Visualisiert euch innerhalb des elektronischen Musters. Sorgt dafür, daß der Rhythmus der Anrufung nicht unterbrochen wird. Und bietet ihr keine Erfrischungen an.«
»Bestimmt nicht, großer Hilarion.« Als ob sie so dumm wären. »Hast du eine Ahnung, wann genau -«
Aber da war er schon weg. Verschwunden in den Äonen der Galaxie seiner Wahl. Wieder eins mit den funkelnden Sternen und dem solaren Feuer göttlicher Alchemie. Ganz kurz brannten die Worte »Ich bin« lichterloh am Himmel, aber dann waren auch sie nicht mehr zu sehen, und Ken seufzte laut, als er seine ätherische Persönlichkeit abstreifte und in die dornenübersäte, alte und alltägliche Welt zurückkehrte. Sein Blick fiel auf Heather.
»Wie ist es für dich gewesen?«
»Ohhh... Die Einheit des Lebens als Licht in der Schwesternschaft der Engel. Eine ganz neue avatarische Botschaft: Das Ego des Gottes gleicht dem der Vestalin. Ein bißchen eigenartig, um dir die Wahrheit zu sagen. Aber Hilarion...«, Heather versuchte, nicht mürrisch zu klingen, »hat dir eine Vorhersage gewährt...« Ken errötete, zuckte mit den Achseln und inspizierte die Sohle seines hochgestellten linken Fußes. »Meinst du, wir sollten den anderen Bescheid sagen?«
»Sicherlich«, antwortete Ken. »Es wäre unfair, das nicht zu tun. Stell dir vor, wie überrascht sie ansonsten wären. Außerdem müssen wir an den Meister denken. Er ist alt und gebrechlich. Eine unangekündigte Überraschung von diesem Ausmaß könnte zuviel für ihn sein.«
Suhami melkte Calypso, preßte dabei ihre Wange an die beige und schokoladenbraune Flanke der Ziege und zog vorsichtig an den dunklen, faltigen Zitzen. Die Milch spritzte in einen Plastikeimer.
Wenn Calypso nicht draußen angepflockt war, hauste sie in einem sauberen weißen Nebengebäude mit einer zweigeteilten Scheunentür. Dort waren Äpfel in Reih und Glied auf Holzlattenregalen ausgelegt. Die schrumpligen Früchte und Calypsos Stroh, das täglich gewechselt wurde, rochen sehr gesund.
Suhami liebte diesen Ort. Die Stille. Die goldene Wärme der Morgensonne, die von den schneeweißen Wänden reflektierte. Er erinnerte sie an den Solar, in dem sie sich zur Meditation versammelten - hier herrschte die gleiche aufgeladene, wohltuende Helligkeit.
Der Vergleich ließ sie schmunzeln. An einem alten Kuhstall voller Ziegenmist war nichts Spirituelles. Doch der Meister hatte gesagt, Gott könne sich überall offenbaren, wenn man sein Herz öffnete und sich in Bescheidenheit übte, also wieso nicht hier?
»Wieso nicht, Cally - hmm?« Suhami schüttelte die letzten Milchtropfen ab und streichelte das warme, gesprenkelte Ziegeneuter. Calypso drehte den Kopf, zog die gummiartige Lippe hoch und musterte ihr Milchmädchen. Die Pupillen ihrer Augen bestanden aus horizontalen gelben Schlitzen, und sie hatte einen dünnen Bart, mädchenhaft und fedrig. Ihr Gesichtsausdruck änderte sich nie. Immer wirkte sie nachdenklich und selbstzufrieden, als hüte sie ein überaus wichtiges Geheimnis. Die kaum wahrnehmbare Bewegung eines Hinterhufs veranlaßte Suhami, schnell den Eimer in Sicherheit zu bringen. Calypsos Glocke tönte leise. Nichts bereitete ihr mehr Spaß, als den Milcheimer umzustoßen.
Jede Minute mußte Christopher auftauchen, um sie zum Grasen rauszubringen. Wie üblich wurde sie dann über den weitläufigen Rasen geführt. Ihrer Graserei war es zu verdanken, daß er einem samtigen Flor glich. Man hatte sich für dieses Verfahren entschieden, nachdem ein benzinbetriebener Rasenmäher als ökologisch bedenklich eingestuft worden war. Nur Ken, der allergisch auf die Milch reagierte, hatte sich der Abstimmung enthalten.
Suhami legte Calypso das Lederhalsband an, gab ihr einen Apfel und legte einen zweiten in die hübsche, neben dem Melkschemel liegende Gobelintasche. Die Tasche war ein Geburtstagsgeschenk von May. Die aufgestickten Sonnenblumen und purpurnen Schwertlilien prangten auf einem erdfarbenen Untergrund und waren mit rotbraunen Blättern verziert. Das Muster glich dem Entwurf von Mays eigener Tasche, die Suhami schon seit langem bewunderte. Nur die Sonnenblumen waren anders. Einen Ton blasser, denn das Geschäft in Cau-ston hatte keine ringelblumengelbe Wolle mehr vorrätig gehabt und statt dessen einen weniger tiefen Farbton angeboten. Die Vorstellung, wie May heimlich in ihrem Zimmer dieses Geschenk angefertigt und es immer wieder vor ihr versteckt hatte, allein aus dem Grund, einen anderen Menschen glücklich zu machen, berührte Suhami sehr. Seit sie nach Manor House gezogen war, war Suhami die überwältigende Güte der Lehren des Meisters zuteil geworden, und zudem hatte sie viel Freundlichkeit erfahren. So oft hatte man ihr vorsichtige Anteilnahme entgegengebracht, Unterredungen angeboten, bei denen tatsächlich jemand zuhörte, Trost gespendet, die gemeinsame Bewältigung von Aufgaben angeboten. Jetzt, da sie wußten, wer sie in Wirklichkeit war, würde sich all das ändern. Gewiß - sie würden versuchen, wie gewöhnlich weiterzumachen. Sie wie immer zu behandeln, aber das war schlicht unmöglich. Nach und nach würde das Geld einen Keil zwischen sie und die anderen treiben. So war es bislang immer gewesen.
Ein ironisches Lächeln machte sich auf Suhamis Lippen breit, als sie daran dachte, wie aufgeregt und hoffnungsvoll sie bei der Vorstellung, sich einen neuen Namen wählen und ihr altes Ich in London zurücklassen zu dürfen, gewesen war. Ein naiver und kindischer Gedanke, denn wie sollte man mit Hilfe solch einer einfältigen Methode zwanzig schreckliche Jahre abschütteln und ein anderer Mensch werden können? Und doch hatte es ihr geholfen. Als »Sheila Gray« war sie ein leeres Blatt gewesen, auf dem neue Freunde ihre Zuneigung artikulieren konnten. Dann hatten ihr wachsendes Interesse an Vedanta und ihre voller Entschiedenheit durchgeführten praktischen Übungen und ein tieferes Verlangen nach weiterer Veränderung zur Wahl ihres jetzigen Namens geführt. Nun waren ihre Tage von stummer Dankbarkeit geprägt, die sie als Zufriedenheit wertete, denn so gut war es ihr noch nie gegangen.
Eine Weile nach ihr hatte sich Christopher der Kommune angeschlossen. Ziemlich schnell hatten die beiden Freundschaft geschlossen. Er pflegte sie zu necken - ganz und gar nicht unfreundlich (er war nie unfreundlich) -, die Hände auf sein Herz zu legen, um ihr seine Liebe zu gestehen, und zu schwören, daß er sterben würde, falls sie ihn nicht haben wollte. Und das vor allen anderen. Waren sie allein, benahm er sich völlig anders. Dann sprach er über seine Vergangenheit, seine Hoffnungen für die Zukunft, darüber, daß er von der Kamera weg wollte, um zu schreiben und Regie zu führen. Manchmal küßte er sie; es waren schwere, süße Küsse, ganz anders als das feuchte Gesabber, das sie von früher her kannte.
Wann immer sie an Christophers unausweichlichen Rückzug aus der Kommune dachte, rief sie sich des Meisters Maxime in Erinnerung, daß alles, was sie zu ihrem eigenen Wohlbefinden brauchte, nicht draußen im Äther oder in der Psyche eines anderen Menschen zu finden war, sondern in ihrem eigenen Herzen. Ihrer Einschätzung nach führte dies zu einem harten und einsamen Dasein, zumal sie sich in ihrem Leben schon oft genug einsam gefühlt hatte. Während sie über all das nachdachte, ertönten draußen Schritte. Suhamis Finger zitterten auf dem Holzstuhl.
Christopher beugte sich über die Scheunentür und fragte: »Wie geht es meinem Mädchen?«
»Sie hat wieder Apfel gefuttert.«
Wie immer verwirrte und erfreute sie sein Anblick. Das weiche schwarze Haar, die blasse glatte Haut, die leicht schrägstehenden graugrünen Augen. Sie wartete, bis er »Und wie geht es meinem anderen Mädchen?« sagte, was er sich im Lauf der Zeit angewöhnt hatte. Unerwarteterweise schob er einfach die Scheunentür auf, ging zu Calypso hinüber, schnappte die Leine und sagte: »Komm schon, du altes fettes haariges Wesen.« Er hatte sie nicht mal richtig angelächelt, und falls Suhami sich nicht beeilte, waren die beiden gleich über alle Berge.
Suhami fragte: »Möchtest du mir nicht zum Geburtstag gratulieren?«
»Tut mir leid. Selbstverständlich will ich das, Liebes.« Er wickelte die Leine um sein Handgelenk. »Alles Gute zum Geburtstag.«
»Und seit einer Woche hast du mir nicht mehr deine unsterbliche Liebe erklärt. Das reicht nicht.«
Während sie sich bemühte, ihre Worte scherzhaft und ihre Stimme ganz gewöhnlich klingen zu lassen, hörte Suhami das Echo Hunderter ähnlicher Fragen in Hunderten von ähnlichen Szenen. Möchtest du nicht für einen Moment reinkommen? Werde ich dich Wiedersehen? Willst du über Nacht bleiben? Wirst du mich anrufen? Mußt du schon gehen? Liebst du mich... liebst du mich... liebst du mich? Und sie dachte: O Gott - ich habe mich überhaupt nicht geändert. Und das muß ich. Muß ich. So kann ich nicht weitermachen.
»Ich weiß, du sagst es nur aus Spaß...« Ihr fiel auf, wie flehend sie klang, und sie haßte sich dafür.
»Das ist nie Spaß gewesen.« Seine Stimme klang harsch, als er an Calypsos Leine zog. »Ich sagte, komm jetzt...«
»Nie...« Suhami stand auf; ihr war schwindlig. Sie starrte ihn ungläubig an. »Du hast das nie im Spaß gesagt? Was war es dann?«
»Ist das wichtig?«
»Christopher!« Von Gefühlen übermannt, rannte sie zu ihm, stellte sich ihm in den Weg. »Was meinst du damit? Du mußt mir sagen, was du damit meinst.«
»Es hat keinen Sinn.«
»Die Dinge, die du gesagt hast...« Nahezu erhaben berührte sie sein Kinn, drehte sein Gesicht in ihre Richtung, zwang ihn, sie anzusehen. »Ist das wahr gewesen?«
»Du hättest mir sagen müssen, wer du bist.«
»Aber ich bin das hier.« Flehend streckte sie die Hände aus. »Dieselbe Person, die ich gestern war...«
»Du begreifst nicht. Ich habe mich in jemanden verliebt, und nun stellt sich heraus, daß sie jemand anderer ist. Ich mache dir keine Vorwürfe, Suze - Sylvie -«
»Nenn mich nicht so!«
»Ich bin fix und fertig. Du kennst meine Situation. Ich besitze nichts. Nun, jedenfalls nichts im Vergleich zu den Gamelins -«
»O Gott!« rief Suhami und wich zurück, als habe er ihr einen Schlag verpaßt. »Werde ich mein ganzes Leben lang damit fertig werden müssen? Gamelin, Gamelin, Gamelin... Ich hasse diesen Namen. Ich würde ihn mit einem Messer auskratzen, wenn es möglich wäre - ich würde ihn ausbrennen. Weißt du, was dieser Name für mich bedeutet? Kälte, Ablehnung, Mangel an Liebe. Du hast meine Eltern nie kennengelernt, aber ich sage dir, daß sie häßlich sind. Interessieren sich nur für Geld. Wie man es verdient, wie man es ausgibt. Sie essen und atmen und träumen davon und leben es. Ihr Haus ist gräßlich. Mein Vater ist ein monströser Mann, meine Mutter eine überstylte Marionette, die mit Pillen und Alkohol am Leben gehalten wird. Ja, ich heiße Sylvia Gamelin, und das ist mein verdammtes Verderben...« Dann brach sie in Tränen aus.
Einen Augenblick lang schien Christopher keine Erwiderung einzufallen. Dann trat er einen Schritt vor und schloß sie in die Arme. Später, als er ihre Tränen trocknete, sagte er: »Du darfst nie, nie wieder so weinen.«
Guy und Felicity Gamelin standen im Türeingang ihres oft fotografierten Stadthauses unweit des Eaton Square. Die grellrote Tür stand offen und gab den Blick auf das georgianische Oberlicht frei. Dekorative Lorbeerbäumchen gediehen in Kübeln auf schwarzweißen Kacheln.
Guy und Felicity verabschiedeten sich. Oder besser gesagt, Felicity ärgerte sich laut über ihr Spiegelbild in der gewundenen Masse aus mexikanischem Glas, die als Spiegel in der Halle diente, während Guy Furneaux verfluchte, der momentan in der Chester Row im Stau feststeckte. Keiner der beiden richtete ein Wort an den anderen. Alles Wichtige war längst gesagt - oder gebrüllt, gekreischt und geschrien worden. Inzwischen war Felicity auf der Hut, Guy indifferent. Früher hatte er sich bei einer jener seltenen Gelegenheiten, wo er überhaupt einen Gedanken an sie verschwendete, einmal gefragt, wieso sie sich die Mühe gab, Morgen für Morgen Luftküßchen zu verteilen und zu winken, ohne dabei auf die Idee zu kommen, daß sein Verschwinden der einzige befriedigende Augenblick an einem ansonsten heimtückischen und riskanten Tag war.
Felicity schüttelte ihre apricotfarbene Mähne mit den silbernen Spitzen und stellte sich ihr Haar kurz zu einem von Goldfäden und Perlen durchwirkten Botticelli-Chignon hochgesteckt vor. Guys Schmähungen wurden fiebriger. Er hatte die Seele einer randvollen Abfallgrube und schenkte den haßerfüllten, phantasievollen Schimpfworten, die ihm über die Lippen kamen, keinerlei Beachtung. Endlich tauchte der Wagen auf. Furneaux, mit grauer Mütze und grauem Anzug, gab sich wie üblich stocktaub, parkte und stieg aus, um die Beifahrertür zu öffnen. Sofort bildete sich eine Wagenschlange. Höhnisch lächelnd lehnte sich Guy an die dick gepolsterte Tür des Rolls-Royce. In einer Stadt, wo Respekt an den Aktienindex gekoppelt war, kam er nicht auf den Gedanken, daß sich die Schlange vielleicht nicht ganz so stark von der Opulenz seiner irdischen Habseligkeiten beeindrucken ließ. Dieser kleine Sieg, der erste dieses Tages (denn er hatte längst aufgegeben, seine Frau als gleichberechtigten Feind zu sehen), heiterte Guy beträchtlich auf, als er auf das elfenbeinfarbene Leder rutschte und die erste verbotene Dom Perignons anzündete.
Endlich allein, schwebte Felicity in den Salon. Diese Zeit, diese ersten Minuten, nachdem ihr Mann das gemeinsame Domizil verlassen hatte, bestimmten die Gestaltung und den Fluß der bevorstehenden Stunden. Und - sie mußte an seinen kleinen Koffer denken - auch den Abend. Sie betete um einen guten Tag. Nicht um Glück, niemals um Glück. Nur um die ungestörte Bewältigung ihrer von Konventionen bestimmten Verpflichtungen. Wo Worte wie »Wie geht es Ihnen, Mrs. Gamelin?« und »Wie schön, Sie wiederzusehen« niemals ernst gemeint waren und deshalb glücklicherweise nach keiner ernstgemeinten Antwort verlangten. Sie hatte alle möglichen Tricks auf Lager, todsichere Methoden, die sie auf den richtigen Weg brachten. Oder sie zumindest davor bewahrten, den falschen einzuschlagen.
Wohltätigkeitsdiners, private Vorführungen, Modeschauen, die Verkostung exotischer Gerichte und erstklassiger Weine. Einladungen gab es immer. Kommen Sie, wie Sie sind, und vergessen Sie Ihr Scheckbuch nicht. Heute stand die Versteigerung russischer Ikonen und der Verkauf von Einjährigen in Newmarket im Terminkalender. Anderenfalls würde sie eine tratschsüchtige Bekannte anrufen und ihr Fragen über Leute stellen, die sie nicht im geringsten interessierten. Sie würde sich zwingen, mit heller Stimme zu sprechen, die kleinste Spur von Mißmut auszumerzen, wie eine dieser überschäumenden Schauspielerinnen/Hausfrauen in der Waschpulverwerbung.
Ihre Bewegungen wurden fahrig, ein gefährliches Zeichen. Beschäftigung, hatte man ihr in der Klinik geraten, war überaus wichtig. Ihrer Ansicht nach war damit körperliche Ertüchtigung gemeint, denn ihr Kopf ratterte immer. Nach ihrer Heimkehr hatten viele Leute Ratschläge angeboten, die oftmals mit den Worten »Was auch immer geschehen mag, dorthin möchten Sie bestimmt nicht mehr zurück« endeten. Zu widersprechen erschien Felicity unhöflich. Sie konnte sich sehr gut die Überraschung der anderen vorstellen, hätte sie ihnen die Wahrheit gesagt, die da lautete, daß ihr die hermetisch abgeriegelte Wärme und Bequemlichkeit auf Sedgewick Place größere Zufriedenheit beschert hatte als alles andere in ihrem Erwachsenendasein.
Zuerst hatte man ihr Drogen verabreicht und sie dann graduell an eine subtilere Form der Abhängigkeit gewöhnt. Jeder Tag war ein einziger langer Höhepunkt gewesen. Zuerst wurden Blumen gebracht, gefolgt von exquisit arrangierten Tabletts mit köstlichem Essen. Lächelnde Menschen badeten sie, kämmten mit langen Strichen ihr Haar. Ärzte hörten sich ihre Sorgen an, und die Grausamkeiten der Außenwelt klopften vergeblich an die Klinikwände. Nichts war real. Sie kam sich wie eine gefangengenommene Prinzessin in einem hohen und geheimnisvollen Turm vor. Die phänomenalen Kosten hatten nicht einmal die Oberfläche ihres Vermögens angekratzt.
Sie bezeichneten es als Nervenzusammenbruch. Eine nette Umschreibung für die unterschiedlichsten antisozialen Handlungen - angefangen von einem Weinkrampf bei Harrods bis hin zu einem Anfall von Selbsthaß, bei dem man sich sein Gesicht zerkratzte. Sie hatte beides getan, am selben Tag. Eine beängstigende Eskalation von Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Doch all das gehörte der Vergangenheit an. Alles Schnee von gestern, Felicity.
Sie sprach ihren Namen häufig laut aus. Das half ihr, jenes häufig auftretende Gefühl von Ungewißheit, die Angst, kaum mehr eine richtige Person zu sein, in Schach zu halten. Mit gespielter Entschlossenheit begab sie sich ins Erdgeschoß. Der Saum des schweren cremefarbenen Morgenmantels schlug gegen ihre Fesseln.
In der riesigen, nach italienischem Vorbild designten Hightech-Küche hing der Duft von pain au chocolat in der Luft. Verboten, wenn sie Größe 38 beibehalten wollte. Guy hatte vier verschlungen. An einem Mann sahen ein paar Kilo zuviel gut aus.
Als sie sich kennengelernt hatten, war er schlank und hungrig gewesen, hatte sich wie ein Köter mit leerem Magen rumgetrieben. Sie hatte sich nur verbeugen, ihre weiche weiße Hand ausstrecken, die Worte »McFadden und Latymer« hauchen und lächeln müssen. In jenen Tagen hatte die Art und Weise, wie er den Kopf drehte, etwas Behendes an sich gehabt, und seine leicht nach unten gezogenen Mundwinkel hatten »alles oder nichts« gelobt. Er hatte sie an einen hübschen Frosch erinnert. An den jungen Edward G. Robinson.
Felicity griff nach einem noch warmen Stückchen, rammte es in ihren Mund, schob mit den Fingern die Krümel nach und verletzte dabei ihre Lippen. Sie kaute und kaute und schluckte und kaute, saugte wie wild den Butter-, Schokoladen- und Vanillegeschmack heraus, spuckte danach den Brei in den Müllzerkleinerer und entsorgte ihn, ehe sie sich eine Zigarette anzündete und durch das Kellergitter zu den traurig beschnittenen Topfplatanen hochblickte. In Gedanken malte sie sich große, gerade, kräftige Bäume mit saftigen Blättern aus, die sich majestätisch über Londons Dreck und Siff erhoben. Ihre ärmlichen Bäumchen hatten nur ein paar Zweige, die aus mit Farbe bestrichenen Wunden sprossen. Jemand lief am Fenster vorbei und schaute nach unten. Felicity wich zurück und eilte die Treppe hoch ins nächste Stockwerk.
Ihr Schlafzimmer befand sich in der dritten Etage. Nachdem sie die Tür abgeschlossen hatte, sank sie keuchend auf Guys Bett, als wäre sie verfolgt worden. Sie schliefen immer noch im gleichen Raum; ob seine Motivation Sturheit oder Boshaftigkeit war, wußte sie nie ganz genau zu sagen. Auf jeden Fall handelte es sich um eine unangenehme Erfahrung. Guy war ein rastloser Typ. Ruhte sein Gesicht auf dem Kissen, drückte es grundsätzlich eine extreme Gefühlslage aus. Hin und wieder grinste er im Schlaf, und Felicity war überzeugt davon, daß er über sie lachte. Auf seinem Nachttisch stand eine Fotografie ihrer gemeinsamen Tochter in einem Schildpattrahmen. Felicity warf nie einen Blick darauf. Sie kannte es in- und auswendig. Oder hätte es in- und auswendig gekannt, hätte sie ein Herz gehabt. Diese melodramatische Erkenntnis veranlaßte sie, vor Selbstmitleid zu weinen und schnell die Augen zu schließen.
Unsinnigerweise griff sie nach dem Bilderrahmen und tauchte weiter in ruinöse Selbstreflexion ab. Während sie in die haselnußbraunen Augen schaute, schienen die Konturen des Gesichts zu verwischen und sich in ineinanderfließende Kindheitsbilder zu verwandeln. Sylvies erste tolpatschige Bemühungen beim Ballettunterricht, ihre verzweifelten Tränen, als sie zur Schule geschickt wurde, ihr beängstigender Zorn, als Kezzie, ihr über alles geliebtes Pony, starb. Felicity knallte das Foto hin; das Glas zerbarst. Jesus, ich brauche einen Drink, schoß es ihr durch den Kopf.
Einen Drink und ein paar Tabletten, die ihr Wohlbefinden förderten. Die braunen Bomben. Sie müßten ihr helfen. Nur für Notfälle, hatte man ihr in der Klinik gesagt, aber wenn unendliche Einsamkeit und Verzweiflung um neun Uhr an einem wunderschönen sonnigen Morgen im tiefsten Belgravia kein Notfall war, was - verflucht noch mal - dann? Und ein Bad. Das dürfte helfen, ihre Stimmung zu ändern. Felicity machte sich an den zarten goldenen Hähnen zu schaffen, aus denen parfümiertes Wasser sprudelte.
An ihrer Zigarette ziehend, schaute sie in den Spiegel und bemerkte ihre eingefallenen Wangen. Ein Netz feinster Fältchen breitete sich neben den Augenwinkeln aus. Soviel zu dem Embryo-Serum, für das zahllose ungeborene Lämmer auf die Möglichkeit verzichtet haben, jemals über eine grüne Wiese zu springen. Sie drückte die Zigarette in dem honigfarbenen Gel aus. Einhundertfünfzig Pfund, und wofür? Für ein Netz feiner Linien. Mit dem Zeigefinger fuhr sie über die Fältchen, bohrte urplötzlich die Nägel mit aller Gewalt in die zarte Haut, auf der Halbmonde zurückblieben. Danach schnappte sie sich das Beruhigungsmittel und kehrte ins Schlafzimmer zurück.
Eine halbe Flasche Champagner aus dem Schildkröten- und elfenbeinfarbenen Armoire nehmend, die Guy in einen Kühlschrank für seinen Schlummertrunk umgewandelt hatte, legte sie die Beruhigungstabletten auf die Zunge und spülte sie mit Champagner runter, der über ihr Gesicht und ihren Hals sprudelte. Im Badezimmer lief das parfümierte Wasser über, überschwemmte den Teppich, kroch langsam zur Tür.
Nachdem Felicity zwei weitere Flaschen gekippt hatte, machte sie es sich mit angezogenen Knien auf einem niedrigen Brokatsessel bequem. Ihr Mund war staubtrocken. Sie versuchte zu vermeiden, den Stoff zu berühren, der ihr wie eine geheimnisvolle Landschaft vorkam: durchbrochenes Gitterwerk, sich voneinander lösende Liebende, die in blutrote Seen rannten, Wolken wie blaugeäderte Fäuste. All das wirkte ihrer Meinung nach auf beklemmende Weise lebendig und vermittelte ihr eine düstere Vorahnung.
Die nahende Flut, das Schwappen des Wassers gegen den Badewannenrand, erregte endlich ihre Aufmerksamkeit. Sie versuchte aufzustehen. Ihre Gliedmaßen waren schwer, ihr Kopf schmerzte. Mit blinzelnden Augen betrachtete sie das Wasser, das immer in Bewegung war. Angst und Verlorenheit brachten sie zum Weinen.
Draußen auf der Straße ertönte das Dröhnen eines Preßluftbohrers. Drrrrrrrr....r.r.r......Felicity steckte die Finger in die Ohren, doch der Lärm hämmerte ungehindert auf ihren Kopf ein. Drrrrrr......
Sie schleppte sich zum Fenster, riß es auf und schrie mit brechender Stimme: »Hört auf, ihr Mistkerle... Hört auf!«
Das Bohren wurde ohne ihr Zutun eingestellt. Gerade als sie sich zurückziehen wollte, fragte eine Stimme unter ihr: »Mrs. Gamelin?«
Felicity beugte sich weiter hinaus. Auf den schwarzweißen Kacheln stand ein ihr vollkommen fremder junger Mann, dessen Miene begehrlichen Respekt verriet. Sie stürmte nach unten - offenbar an das Gekreische von vorhin erinnert, sprang der Mann zurück. Hinter ihm parkte ein Lieferwagen mit dem aufgemalten Schriftzug »Au Printemps: Luxury Dry Cleaning + Invisible Repairs«. Er zog ein Blatt Papier hervor.
»Vom Empfangspult von Mr. Gamelin, Mrs. Gamelin.«
Sein pompöses Getue veranlaßte Felicity zu höhnischem Gelächter. Dennoch nahm sie das Papier in Empfang, auf dem unterschiedliche Kleidungsstücke aufgelistet waren, und las die einzelnen Posten laut vor. »Ein marineblauer Nadelstreifenanzug, ein grauer Nadelstreifenanzug, ein cremefarbenes Dinnerjackett. Zur Abholung.« Und eine Unterschrift: »Gina Lombardi«.
»Warten Sie.« Sie ließ ihn am Eingang in dem Wissen stehen, daß er in dem Moment, wo sie die Treppe hochging, in die Halle trat. In Guys Ankleidezimmer suchte sie - wie es von ihr zweifellos erwartet wurde - die entsprechenden Kleidungsstücke heraus und bemerkte eine Lippenstiftspur auf dem Frackrevers. Ein ganz und gar überflüssiger Hinweis. Wenn es nach Felicity ging, konnte Gina ihn nicht nur besteigen, sondern auch gleich verschlingen.
Sie spazierte zum Geländer und blickte nach unten. Der Mann vom Au Printemps inspizierte gerade seine verpickelte Haut im mexikanischen Spiegel. Felicity rief: »Fangen Sie«, warf die Klamotten runter und beobachtete, wie sie sich im Fallen aufplusterten.
Der junge Mann errötete. Begab sich wortlos in die Halle, kniete sich hin und legte demonstrativ jedes einzelne Kleidungsstück ordentlich zusammen. Felicity schämte sich ihrer grobschlächtigen Art. Bei ihrer Erziehung hatte man großen Wert darauf gelegt, daß sie Untergebene höflich behandelte, zu denen - wie ihre Eltern ihr beigebracht hatten - außer der Königin, dem Thronfolger und - sonntags - Gott jeder zählte.
Er sagte kein Wort. Kontrollierte die Taschen, zog das Innenfutter raus und stopfte es wieder rein. Ihr Verhalten setzte ihm nicht wirklich zu. Jedermann wußte, daß die Reichen und richtig Alten redeten, wie ihnen der Schnabel gewachsen war, und taten, was sie wollten. Und das aus demselben Grund. Beide Gruppen hatten nichts zu verlieren. Die hier war jenseits von Gut und Böse. Champagner konnte er schon von weitem riechen. Da hatte er Hazel ja was zu erzählen, wenn er zurückkam. Im Büro behauptete sie immer, er sei ein waschechter kleiner Nigel Dempster. Und während er halbherzig auf einen weiteren Schwall Obszönitäten wartete, berührten seine Finger einen blaßgrünen Umschlag. Er zog ihn heraus und legte ihn vorsichtig auf den Tisch in der Halle. Sie gab ein fragendes Geräusch von sich.
»Wir sind angehalten, alle Taschen zu überprüfen, Madam.«
»Das sehe ich«, sagte Felicity, immer noch übers Geländer gebeugt. »Ist das eine schwierige Aufgabe?«
Nachdem er die Tür zugeschlagen hatte und verschwunden war, ging sie nach unten und nahm den Briefumschlag. Unachtsamkeit sah Guy gar nicht ähnlich. Sowohl daheim als auch im Büro hatte er einen Reißwolf. Gewiß, die letzten Tage war er ein wenig zerstreut gewesen, aber trotzdem...
Der Umschlag war aus recyceltem Papier. Sie drehte ihn um. Er war an sie beide adressiert. Eigenartigerweise rief diese perfide Heimlichkeit bei ihr eine wesentlich heftigere Reaktion hervor als sexuelle Untreue oder sozialer Verrat. Mit zittrigen Fingern zog sie das Blatt heraus, Was für eine verdammte Frechheit! Ihr Brief, ihr Brief. Sie las die Nachricht mehrmals, zuerst bebend vor Zorn, allerdings nicht wirklich in der Lage, den Inhalt zu verdauen. Als die Information eingesickert war, saß sie lange Zeit wie in Trance da. Schließlich lief sie ins Wohnzimmer, nahm den Telefonhörer und drückte auf die Tasten.
»Danton - Sie müssen vorbeikommen - sofort... Nein - Jetzt! Ganz schnell. Etwas Unglaubliches ist geschehen.«
Das lauteste Geräusch im Corniche-Kabriolett, das langsam um Ludgate Circus kroch, war das unregelmäßige Klopfen von Guy Gamelins Herz.
Ungeduldig bediente er sich der beruhigenden Technik tiefer, gleichmäßiger Atmung, die ihm dieser Typ in der Harley Street zusammen mit diesem Muskelentspannungskram empfohlen hatte. Keine der beiden Methoden zeigte Resultate. Mürrisch und widerwillig praktizierte Guy beides, aber nur aus einem Grund: Der Gedanke, für einen Rat zu zahlen und ihn dann nicht anzunehmen, war ihm unerträglich. In Wahrheit weigerte er sich zuzugeben, daß derlei prophylaktische Maßnahmen überhaupt notwendig waren. Er war so kräftig wie eh und je. Trotz seiner fünfundvierzig Jahre strahlte er Jugendlichkeit aus.
Da war dieses Flattern in seiner Brust. Eine extrem leise Schwingung wie die einer schwebenden Feder. Guy legte die Finger auf seine Jackeninnentasche, spürte den Umriß einer braunen Glasflasche, ohne die zu reisen ihm nicht mehr gestattet war. Ohne sie durfte er nicht mal vom Schlafzimmer ins Badezimmer gehen. Er zog den Walnußbarschrank heraus, mixte sich einen gefährlich großen, eiskalten Tom Collins und legte eine Tablette auf die Zunge. Kurz darauf ließ die Oszillation in seiner Brust nach, und wenngleich Guy sich nicht entspannte - das tat er nie -, meinte er, etwas bequemer auf dem Lederpolster zu sitzen. Danach stöpselte er das Telefon aus und ließ seine Gedanken schweifen. Sofort begann er sich Szenarien der bevorstehenden abendlichen Auseinandersetzung vorzustellen, die in wenigen Stunden stattfinden würde.
Normalerweise kam Guys Blut vor einer Begegnung mit einem Feind in Wallung. Denn nichts liebte er mehr als einen Kampf. Kampfbereitschaft war seine normale Seelenlage. Jeden Morgen wachte er nach Träumen von blutigen Eroberungen auf, bereit, sich durch städtische Sitzungssäle zu pflügen und eine Reihe verwundeter Unternehmen zurückzulassen. In Kleidungsstücke aus der Savile Road gehüllt, von Trampers rasiert und parfümiert, sah er sich als Kaufmann des 20. Jahrhunderts. In Wirklichkeit war er ein Räuberbaron, auch wenn seine Anwälte denjenigen, der die Kühnheit besaß, dies laut auszusprechen, auf der Stelle gekreuzigt hätten. Guy konnte es nicht ertragen zu verlieren. Beim Kaufen und Verkaufen mußte er der Beste sein, der Beste beim Verwüsten, bei der Aussaat von Leid. Seine Pferde mußten schneller laufen als alle anderen, seine Yacht mußte die schönste sein. Die Rennwagen, die er sponsorte, kamen unter seiner Patronage nur einmal als zweiter ins Ziel. »Zeig mir einen guten Verlierer«, pflegte er dem schwitzenden Fahrer ins ölverschmierte Gesicht zu bellen, »und ich werde dir einen Verlierer zeigen.«
Doch obwohl er Männer wie Erdnüsse kaufte und verkaufte, ganze Unternehmen und zahllose Frauen seinem Willen unterjochte, gab es einen Bereich, wo ihm bislang kein Sieg vergönnt gewesen war. Aber selbst in diesem Fall wurde das Wort »versagen« niemals auch nur angedeutet. Seine Tochter Sylvie war Guys einzige Liebe und gleichzeitig seine größte Pein.
Selbstverständlich hatte Guy damals, als Felicity schwanger wurde, einen Sohn gewollt. Da er es selbst in jenen frühen Tagen gewohnt gewesen war, seinen Willen durchzusetzen, hatte ihn die Geburt einer Tochter am Boden zerstört. Das Maß seiner Enttäuschung angesichts dieser Beleidigung seiner Männlichkeit hatte seine Frau, seine Eltern, das Krankenhauspersonal und jeden, der sich zu jener Zeit in seiner Nähe aufhielt, über alle Maßen erschreckt. Und (zu spät, viel zu spät) wahrscheinlich auch seine Tochter, wie er heute annahm.
In den ersten Wochen nach der Entbindung legte sich sein Zorn etwas, aber Resignation entsprach nicht seinem Charakter. Er besorgte sich jemanden, der aus wissenschaftlichen und medizinischen Journalen die neuesten Informationen über genetische Forschung herausfilterte, und kaufte sich die beste Information, die damals erhältlich war. Nach dem, was er gelesen hatte, stand die Wissenschaft - medizinisch gesehen -kurz vor einem Durchbruch, um das Geschlecht des Kindes im voraus bestimmen zu können, und er war gewiß nicht gewillt, sich ein zweites Mal von der Natur übers Ohr hauen zu lassen. Bedauerlicherweise stellte sich heraus, daß all die zusammengeklaubten Informationen, all die Ausgaben und die tyrannischen Konfrontationen mit Spezialisten nichts als Zeit- und Geldverschwendung gewesen waren, denn Felicity empfing nie wieder.
Während der Schwangerschaft seiner Frau hatte Guy sich seine erste Geliebte zugelegt und Felicitys beharrliche Weigerung, sich zu vermehren, als bewußten Racheakt gedeutet. Als sich dieser Standpunkt später, medizinisch gesehen, als unhaltbar erwies, sah sich dieser ungeheuer empfindliche Mann mit einem fürchterlichen Dilemma konfrontiert. Entweder er ging als Vater eines Mädchens durchs Leben, oder er begann mit einer neuen Partnerin von vorn und tat der Welt somit kund, daß seine Ehe ein Fehlschlag war.
Zu begreifen, daß ihm solch ein Geständnis absolut unmöglich war, hieß auch zu verstehen, was für ein erstaunlicher und unerhörter Triumpf es gewesen war, daß er sich Felicity überhaupt geangelt hatte.
Ihre Familie hatte in ihm freilich das gesehen, was er war. Sie hatten seine Herkunft durchleuchten lassen und waren von ihr angewidert. Sie, die gerade ein genuesisches Mädchenpensionat absolviert hatte, konnte auf eine ganze Reihe passender junger und nicht mehr ganz so junger Männer zurückgreifen, die ihr im Vergleich zu Guy - der sie faszinierte und genauso stark befremdete - allerdings furchtbar dröge vorkamen. Er war sich seiner Anziehungskraft bewußt und achtete sorgsam darauf, daß der Angstquotient nicht unter ein bestimmtes Level fiel. Einerseits mußte er gerade hoch genug sein, damit sie nicht das Interesse verlor, und andererseits niedrig genug, um ihr den Eindruck zu vermitteln, er ließe sich schon zähmen, falls ihm nur das richtige Mädchen über den Weg lief. Sie zähmte ihn nicht. Dafür vernichtete er sie.
Dennoch durfte ihr gemeinsames Leben, falls man diese leere barocke Extravaganz überhaupt als solches bezeichnen konnte, nicht enden. Mit Geld hatte er sich nicht abspeisen lassen, und das hatten alle versucht. Niemand würde ihm jemals nachsagen können, daß er etwas, das er einmal bekommen hatte, wieder losließ.
Die Kindheit seiner Tochter interessierte ihn nicht die Bohne. Er kriegte kaum mit, daß sie existierte. Es hatte Kindermädchen gegeben (die eine oder andere hatte sich als äußerst befriedigend herausgestellt), und ab und an waren andere Kinder ins Gamelin-Haus eingeladen worden. Einmal war Guy nach Hause gekommen und hatte Horden von Kindern mit bunten Ballons und Karnevalhütchen und einen Mann in einem Clownkostüm auf einem Einrad angetroffen. Bei jener Gelegenheit hatte Sylvie sich mit ernster Miene bei ihm für eine wunderhübsch gekleidete, einen Meter große Puppe bedankt, die ihm noch nie zuvor unter die Augen gekommen war. Normalerweise kam ihr kein Sterbenswörtchen über die Lippen, und wie sollte Guy, bar jeder Phantasie, jenen leidenschaftlichen Hunger seiner Tochter nach Liebe und Lob oder einfach nur Aufmerksamkeit verstehen?
Und dann, nach ihrem zwölften Geburtstag, veränderte sich alles grundlegend. An jede Minute dieses Tages entsann er sich noch ganz genau. Jemand hatte sie gebeten, etwas auf dem Klavier zu spielen. Da Musik auf dem Stundenplan ihres extrem teueren Internats stand, mußte sie lernen zu musizieren. Sylvie besaß kein Talent, hatte sich aber, da sie schon Stunden nehmen und während der Schulzeit üben mußte, eine rudimentäre Technik angeeignet. Sie hatte »The Robin’s Return« gewählt, eine altmodische, ziemlich sentimentale Melodie. Guy stützte sich auf den Marmorkamin und fragte sich, ob er mit seinem Gespür für Veränderung bei Blue Chip Trusts richtig gelegen hatte, als er über den weißen Steinway-Flügel blickte und zum ersten Mal das Gesicht seiner Tochter wahrnahm.
Blaß, intensiv, starr vor Angst. Mit in Falten gelegter Stirn saß sie da, ihre Lippen eine schmale Linie der Konzentration. Dünne Ärmchen schwebten über den Tasten; ihr glänzendes braunes Haar wurde von einem samtbezogenen Kamm aus dem Gesicht gehalten. Sie trug ein blau-weiß gestreiftes Kleid mit großem weißem Kragen und eine Schleife mit dünnen dunkelblauen Linien. All diese Einzelheiten hatte Guy so deutlich und lebendig vor Augen, als wäre ihm gerade eben erst die Gabe des Sehens zum Geschenk gemacht worden. Und dann, bevor er sich auch vage an diesen beinahe halluzinogenen Anblick gewöhnte, ereignete sich eine zweite, weitaus seltsamere Begebenheit.
Eine Glut extremer Emotionen überwältigte ihn. In dem Gefühl, darin zu ertrinken, von ihnen weggetragen zu werden, hielt er sich unendlich beunruhigt am Kamin fest. Er bildete sich ein, just erkrankt zu sein, so stark reagierte sein Körper. Sein Herz fühlte sich an, als drücke jemand fest zu, sein Magen machte einen Satz und wurde dann zusammengedrückt. Doch damit nicht genug - nachdem diese Gefühle verebbt waren, blieb ein trauriger Rest über und ließ ihn mit der Gabe des Verstehens zurück.
In kürzester Zeit wußte er um die Verzweiflung, die Einsamkeit, den Hunger nach Liebe, unter dem seine Tochter litt. Und gleich darauf lernte auch er den Schmerz kennen und empfand eine besorgte, auf sie gerichtete Zärtlichkeit. Die Neuartigkeit und die Macht dieses Schmerzes - von dem ihm jeder Vater hätte berichten können - fühlte sich an wie ein Messer, das ihm jemand in den Magen rammte. Er ertrank in ihrem ernsten Antlitz, und plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen, daß er sie nur selten lächeln gesehen hatte. (Warum war ihm das bisher nicht auf gefallen?) Das Wissen um ihre Traurigkeit berührte ihn über alle Maßen. Und dann überfiel ihn das verzweifelte Bedürfnis zur Wiedergutmachung. Ihr seine Liebe anzubieten.
Ja - er erkannte dieses Gefühl als das, was es war, obgleich man es ihm niemals entgegengebracht hatte. Er gelobte, ihr alles zu geben. Sich Zeit für alles mögliche zu nehmen, die vergangenen Jahre wettzumachen. Als die Musik leiser wurde und nach ein paar Noten gänzlich verhallte, applaudierte er, brachte die Hände zu laut zusammen. Amüsiert und fassungslos starrte Felicity ihn an.
»Das war sehr gut, Sylvie. Ausgezeichnet, Liebling! Du machst große Fortschritte.« Es überraschte ihn, wie selbstverständlich ihm diese Worte über die Lippen kamen. Ihm, der niemals ein Lebewesen gelobt hatte. Er wartete auf ihre Reaktion, hing väterlichen Illusionen nach, malte sich ihre Freude über seinen Enthusiasmus aus. Behutsam klappte sie den Tastendeckel zu, erhob sich von ihrem Stuhl und verließ das Zimmer. Felicity lachte.
Von jenem Augenblick an verfolgte Guy seine Tochter. Er nahm sie aus dem Internat, um sie jeden Tag sehen zu können. Jedes Wochenende überlegte er sich Aktionen, die ihr möglicherweise gefielen oder sie unterhielten. Er überschüttete sie mit Geschenken, legte sie ihr in den Schoß, versteckte sie in ihrem Zimmer oder wickelte sie in die Serviette neben ihrem Besteck ein, krank vor Sorge, daß sie nicht ihrem Geschmack entsprachen. All seine Bemühungen, ihre Zuneigung zu gewinnen, wies sie zurück. Nicht barsch oder vehement - damit hätte er umgehen können, das wäre ein Anfang gewesen, auf dem sich etwas aufbauen ließe sondern indem sie sich in leiser, wohlerzogener Resignation abwandte. Manchmal kam es vor, daß sie ihn anblickte. Ihre Augen glichen blaßblauen Steinen.
Nur ein einziges Mal zeigte sie ihre Gefühle, als sich Guy - in einem neuen Anfall von Reue über jahrelange Vernachlässigung - eines Tages während eines Zoobesuchs dazu durchrang, seine Scham und sein Bedauern in Worte zu fassen. In dem Bedürfnis, vielleicht einen Bruchteil der Schuld abzustreifen. Kaum hatte er zu sprechen begonnen, drehte sie sich um und brüllte ihn an: »Hör auf, hör auf. Das interessiert mich nicht.«
Anstandslos hatte er von seinen Bemühungen Abstand genommen, und sie hatten den verbleibenden Nachmittag stumm und distanziert verbracht, wenn auch nicht distanzierter als sonst, wie er schmerzlich einräumen mußte. Wohin er an diesem Tag auch schaute, überall erblickte er Väter, die ihre Kinder an der Hand hielten oder auf dem Arm trugen. Ein Junge, dem Aussehen nach gerade mal sechzehn Jahre alt, trug ein winziges Baby in einem Leinenbrusttuch. Das Kleine schlief, sein gerötetes, verschrumpeltes Profil ruhte auf dem flachen Brustkorb des Jungen. Das hätte ich auch tun können, dachte Guy und blickte verärgert auf den Scheitel seiner Tochter. Jesus - ich entsinne mich nicht mal, sie auf den Arm genommen zu haben.
Niemals wieder startete er den Versuch, Sylvie mit einer Erklärung seiner Gefühle zu belasten. Einmal jedoch mühte er sich ab, sie schriftlich festzuhalten. Den Brief hatte er ihr allerdings nie ausgehändigt, sondern ihn statt dessen zusammen mit einer Locke ihres Haars, ein paar Fotos und Schulzeugnissen in seiner Schreibtischschublade versenkt. Und während Monate und Jahre verstrichen, verlor seine bittere Reue angesichts ihrer fortwährenden Indifferenz ein wenig an Schärfe. Locker zu lassen war ihm freilich nicht gegeben. Unbeirrt unterhielt er sich mit ihr, bis seine Kehle schmerzte, stellte Fragen, machte Vorschläge, gab Kommentare zu Alltäglichkeiten ab. Irgendwann war er dann auf die Idee verfallen, Felicitys Gegenwart verursachte die Zurückhaltung des Mädchens. Daß er und Sylvie, wenn sie allein leben würden, durch den glücklichen Zufall einer familiären Osmose Wärme in das Herz und Leben des anderen hauchen würden. Ohne zu zaudern hatte er Sylvie einen entsprechenden Vorschlag unterbreitet. Inzwischen war es ihm egal, daß dieser Schritt der Welt vom Fehlschlagen seiner Ehe kündete. Sylvie war ziemlich verwirrt gewesen, hatte die Stirn gerunzelt und einen Augenblick nachgedacht, bevor sie fragte: »Wieso sollte ich diesen Wunsch hegen?«
Vor fünf Jahren war eine neuerliche Veränderung eingetreten. Am Morgen ihres sechzehnten Geburtstages verschwand Sylvie. Verließ wie üblich das Haus, als ginge sie zur Schule, kam dort nie an, kam nicht mehr heim. Guy, rasend vor Angst, war überzeugt, daß sie entführt worden war. Nachdem keine Löse-geldforderung gestellt wurde, malte er sich aus, sie wäre in einen Unfall verwickelt gewesen, einem Mörder zum Opfer gefallen. Er setzte sich mit der Polizei in Verbindung, die - nachdem sie Sylvies Alter erfahren hatten - irritierend gelassen reagierte und die Vermutung anstellte, daß sie höchstwahrscheinlich bei Freunden oder einfach eine Zeitlang allein sein wollte.
In der Überzeugung, daß das nicht der Fall war, stattete Guy ihrer Schule einen Besuch ab und fragte, ob er mit jemandem sprechen könnte, dem seine Tochter besonders nahe gestanden habe. Mit einem Namen konnte er nicht aufwarten, da Sylvie nie von ihren Freunden erzählt, seit vielen Jahren niemanden mehr mit nach Hause gebracht hatte.
Ein hochgewachsenes Mädchen mit schmalen Augen und hochnäsigem Blick wurde in das Büro des Direktors geführt. Sie informierte Guy, daß Sylvie seit jeher behauptete, sie könne ihren sechzehnten Geburtstag nicht erwarten, weil sie dann das Elternhaus verlassen konnte. »Sie hat mir gesagt«, plauderte das Mädchen mit gespielter Widerwilligkeit aus, »daß sie ihre Eltern zutiefst verachtet.«
An jenem Abend hörte Felicity, die von ihrer dritten Behandlung und schon ziemlich hinüber heimkam, sich die kläglichen Enthüllungen ihres Gatten an und sagte: »Mein Gott, außer Geldmachen ist dir doch alles schnurzegal. Sie haßt uns schon seit Jahren.«
Guy spürte Sylvie ziemlich schnell auf. Sie lebte in einem besetzten Haus in Islington. Relativ annehmbar, soweit man das von besetzten Häusern sagen konnte. Wasser, Elektrizität, Teppichreste auf dem Boden. Er erschien mit den Papieren eines dreijährigen Rennpferdes, sein Geburtstagsgeschenk für sie. Sie kam an die Tür und begann auf der Stelle zu schreien und ihn zu beschimpfen, spuckte ihm fast ins Gesicht. Nach Jahren blutloser, mundfauler Introvertiertheit hatte ihre Reaktion auf ihn die Wirkung eines Elektroschocks. Irritiert, überrascht und - wie er sich eingestand - aufgeregt wich er einen Schritt zurück. Dann warf sie die Papiere über das Kellergeländer und knallte die Tür zu. Jemand mußte sie später aufgehoben haben, denn im folgenden Monat wurde das Pferd ein Drittel unter Wert verkauft.
Komischerweise stachelte diese lautstarke Auseinandersetzung Guys frühere Hoffnungen an, nachdem er sich eigentlich längst voller Resignation an die nichtexistente Beziehung zu seiner Tochter gewöhnt hatte. Er mochte nicht glauben, daß einer der sechs schmarotzenden Troglodyten, die hinter ihrem Rücken höhnisch gegrinst hatten, einen Pfifferling für ihr Wohlbefinden gab.
Im Lauf der nächsten Jahre zog sie sehr oft um. Guy beauftragte eine Privatdetektivagentur, Jaspers, in der Coalheaver Street, und wußte daher immer, wo sie steckte. Allein lebte sie nie. Gelegentlich wohnte sie in einer Wohngemeinschaft, hin und wieder nur mit einem Mann. Diese Liebschaften, falls es welche waren, hielten selten lange Zeit. Guy schrieb Sylvie regelmäßig, bat sie, nach Hause zu kommen, und legte stets einen Scheck bei. Zu Weihnachten und zum Geburtstag einen dicken Scheck. Auf seine Briefe antwortete sie niemals, die Schecks hingegen wurden immer eingelöst, was nur hieß, daß er wenigstens noch zu etwas gut war. Wenn sie erst mal einundzwanzig war und über ihren Treuhandfonds verfügte, würde ihm selbst diese winzige Rolle abgesprochen werden.
Mich wundert nicht, daß sie es mir heimzahlen möchte, dachte Guy. Hat lange genug darauf warten müssen. Hat gewartet und gewartet, bis sie mich demütigen und zurückweisen konnte, wie ich es jahrelang mit ihr gemacht habe. Fast mit Freude erkannte er: Sie ist genau wie ich. Und dann kam die Erkenntnis, die ihn zu Boden schmetterte: Und ich würde niemals vergeben.
Ab und an fragte er sich quasi zum Trost, ob sie möglicherweise einer kalten, grausamen Symmetrie folgte. Hatte sie sich vorgenommen, diese Bestrafung, diese Verbannung exakt zwölf Jahre aufrechtzuerhalten, also genau so lange, wie seine gedauert hatte? Dann wäre sie achtundzwanzig. Vielleicht verheiratet, mit eigenen Kindern. Würde eventuell woanders wohnen. Vielleicht in Übersee. Angesichts dieser Gedanken beschlich Guy die verabscheuungswürdige und gemeine Ahnung, daß er, wäre sie tot, damit besser zurechtkäme.
All dies führte dazu, daß er immer in der Nähe der Wohnung rumging, wo sie gerade ihre Zelte aufgeschlagen hatte, heimlich und verunsichert wie ein abgewiesener Liebhaber. Einmal hatte sie ihn beim Einsteigen in ein Taxi entdeckt und wie ein obszöner Bauarbeiter heftig und vielsagend gestikuliert. Ein anderes Mal - und das war viel schlimmer gewesen - hatte er sie aus einem Gebäude kommen sehen, am Arm eines gelangweilt dreinblickenden Mannes in einem Tweedjackett. Sie hatte fröhlich geplaudert und ihn angelächelt. Ihre Haltung war die einer Person gewesen, die sich verzweifelt darum bemüht zu gefallen. Mitten auf der Straße hatte der Kerl sie abgeschüttelt, und Guy hätte ihn am liebsten umgebracht, ohne daß ihm die Ironie seiner Reaktion entgangen wäre.
Schließlich verschwand sie ein letztes Mal von der Bildfläche. Und zwar richtig. Angesichts ihres intelligenten Untertauchens übernahm Jasper höchstpersönlich die Aufgabe, sie zu finden. Sich als Schuldeneintreiber ausgebend, stattete er ihrem letzten Wohnort einen Besuch ab, nur um von einer Amazone von Mitbewohnerin die Treppe runtergeschmissen zu werden. Danach wurde ein weiblicher Schnüffler eingestellt, der das Glück anfänglich auch nicht hold war.
In diesen Wochen raste Guy vor Verzweiflung. Ehe ihm das Wissen um den Wohnort seiner Tochter versagt blieb, hatte er nicht begriffen, wie wichtig dies für seinen Seelenfrieden war. Auch wenn sie sich voller Bitterkeit von ihm fernhielt, hatte er zumindest gewußt, daß es ihr »gutging«, im eigentlichen Sinne des Wortes. Nachdem sie verschwunden war, registrierte er tagsüber und während der Nacht - vor allem in seinen Träumen - eine große, alles verschlingende Dunkelheit, die ihn in Augenblicken, in denen seine Achtsamkeit nachließ, zu übermannen drohte.
Einmal, als diese Ängste ihn fast bei lebendigem Leib auffraßen, hatte er sich kurz mit der Presse unterhalten. Die würde sie schon finden. GAMELIN-ERBIN VERSCHWUNDEN! Sie hatten massenhaft Fotos von ihr in ihren Archiven. Sie würden sie jagen und aus ihrem Versteck zerren. Irgendwo wußte irgend jemand, wo sie war. Auch wenn diese Vorgehensweise die Vater-Tochter-Beziehung nicht noch stärker belastete, als das ohnehin schon der Fall war, so standen die Chancen auf eine wie auch immer geartete, zukünftige Versöhnung nun schlechter denn je. Eine Möglichkeit, an die Guy unvernünftigerweise immer noch glaubte.
Knapp drei Wochen nach Sylvies Verschwinden stieß das Rechercheteam von Jaspers auf einen Informationskrümel. Eine Detektivin war auf die kluge Idee gekommen, einen Termin bei Sylvies Friseur zu machen. Dort stellte sie mit großen Augen und exaltiertem Gehabe die Vermutung an, daß Felix und seine Lockenwickler Zugang zu den Geheimnissen der Hälfte aller Mitglieder der Londoner Gesellschaft hatten. Ihre Schmeicheleien lockerten die Zunge des Hairstylisten beträchtlich. Nachdem er zu der Überzeugung gelangt war, daß jemand, der einen so gräßlichen selbstgestrickten Pulli und einen Vororthaarschnitt trug, garantiert kein Klatschkolumnist sein konnte, ließ er den einen oder anderen Namen fallen und wartete mit schlüpfrigen Anekdoten auf, die die Gute mit ihren langweiligen kleinen Freunden in Ruislip oder wo auch immer teilen konnte.
Zwei Informationen bezogen sich auf Sylvia Gamelin. Offenbar langweilte Hammersmith sie in Grund und Boden (»Und wem ginge das nicht so, meine Liebe?«). Daher war sie an einen ruhigen, sauberen und friedlichen Ort gezogen. Auf die drängende Frage, wo dieser Ort denn sein mochte, erwiderte Felix: »Sie redete nur vom Land. Und wir alle wissen doch, wie groß das ist, nicht wahr? Womöglich hat sie ja nicht mal die an London angrenzenden Grafschaften gemeint.« Klappernde Scheren blieben angesichts dieser bedrohlichen Vorstellung in der Luft hängen.
»Sie sagte, sie habe einen ungewöhnlichen Mann kennengelernt, aber ob die beiden Dinge miteinander in Beziehung stehen...«
Auch wenn diese Informationsschnipsel Guy nicht zu beruhigen vermochten, stürzte er sich wie ausgehungert auf sie und wies Jaspers an, die Bemühungen zu verdoppeln und auszuschwärmen. Weitere Hinweise oder Spuren wurden trotz aller Anstrengung nicht gefunden. Sechs leere Monate verstrichen, nicht ohne bei Guy Spuren zu hinterlassen. Die tiefe Befriedigung, die er früher aus dem Ankauf und der rigiden Umgestaltung von Firmen, aus der Durchsetzung auf dem internationalen Markt gezogen hatte, verwandelte sich in das dumpfe, ganz und gar nicht zielgerichtete Verlangen, anderen Schmerz zuzufügen. Was wiederum Einfluß auf seine Urteilsfähigkeit hatte. Er kaufte und verkaufte mit einer gewissen Schwerfälligkeit und begann zum ersten Mal seit zwanzig Jahren Geld zu verlieren. Gottlob war vor ein paar Tagen der Brief gekommen.
Nach dem ersten gewaltigen Schock, der nur natürlich ist, wenn einem etwas, wonach man sich lange gesehnt hat, einfach so in die Hände fällt, war Guy nun aufgeregt wie schon lange nicht mehr. Obwohl das Briefpapier nicht Sylvies Handschrift trug (der Brief stammte überhaupt nicht von ihr), handelte die Nachricht von ihr und enthielt - was noch besser war - eine Einladung. Immer wieder nahm Guy den Brief in die Hand, der für ihn inzwischen fast die Funktion eines Talismans hatte. Jetzt war er nicht da, wo er sein sollte. Er durchsuchte alle anderen Taschen, zupfte entnervt am Futter herum, bis ihm einfiel, daß er sich umgezogen hatte. Egal. Er kannte die Adresse und jede Zeile auswendig.
Sehr geehrter Mr. & Mrs. Gamelin, Ihre Tochter wohnt nun seit einiger Zeit bei uns. Am 19. August werden wir ihren Geburtstag feiern und würden uns freuen, wenn Sie beide kommen könnten. Vielleicht gegen halb acht. Wir essen um acht. Mit freundlichen Grüßen, Ian Craigie.
Gestern nacht hatte Guy vor Aufregung und Neugier keinen Schlaf gefunden, sich jeden Satz des kurzen Briefes immer wieder durch den Kopf gehen lassen, versucht, Trost daraus zu ziehen. Das »uns« beruhigte ihn sehr. Es klang nicht danach, als ob Ian Craigie jener »unglaubliche« Mann wäre, den Sylvie in London kennengelernt hatte. Das Wort implizierte, daß es möglicherweise eine Ehefrau, vielleicht gar eine Familie gab. Und »Ihre Tochter« hatte etwas angenehm Formelles, Gediegenes an sich.
Felicity erzählte er nichts von der Einladung. Sie mochte Sylvie nicht und hatte sich nicht die Mühe gemacht, ihre Erleichterung, als das Kind von daheim fortgelaufen war, und ihre Gleichgültigkeit gegenüber dem Wohlergehen ihrer Tochter zu verbergen. Nicht ein einziges Mal hatte sie ihren Namen ausgesprochen. Aufgrund ihres Verhaltens war es undenkbar, daß sie ihn begleitete. Guy beschloß zu sagen, daß sie krank war. Das schien ihm die einfachste Lösung zu sein. Und wem schadete es schon?
Danton Morel war eines der bestgehüteten Geheimnisse in London. Keiner, der seine Dienste in Anspruch nahm, erzählte das je weiter, eifersüchtig bestrebt, die Vorteile seiner Behandlungen exklusiv genießen zu dürfen. Nichtsdestotrotz war immer wenigstens ein Beispiel seiner Magie anwesend und verschlug den anderen den Atem, wenn sich die Reichen und Berühmten, die Berüchtigten und Glamourösen irgendwo ein Stelldichein gaben.
Seine Visitenkarte beschrieb ihn angenehm bescheiden als Coiffeur et Visagiste, doch die unerhörten Transformationen, die seine Kunst bewirkte, gingen weit über jene banalen Schminktechniken hinaus, die in Modezeitschriften oder im Fernsehen gezeigt wurden. Auf magische Weise veränderte Danton nicht nur das Äußere, das Fleisch und die Haut, das Aussehen, sondern schuf eine deutlich und dramatisch veränderte Persönlichkeit.
Einmal abgesehen von diesen märchenhaften Fähigkeiten, war Danton mit einer unglaublich wohlklingenden Sahne-und-Brandy-Stimme gesegnet. Und wenn er nicht sprach, signalisierte sein Schweigen Wärme, Ermunterung und Aufmerksamkeit, was dazu führte, daß die Menschen geneigt waren, ihm alles mögliche anzuvertrauen. Und Danton hörte zu, lächelte, nickte und fingerte derweil an ihnen herum.
Vor zwanzig Jahren hatte er als Maskengestalter und Marionettenhersteller angefangen und befand heute mit einer Spur Ironie, er sei immer noch im selben Geschäft tätig, wenngleich seine Kundschaft zu Tode erschrecken würde, wüßte sie um seine Gedanken. Sein Privatleben war extrem unkompliziert. Er führte ein Leben aus zweiter Hand, labte sich an Informationen, destilliert aus verworrenen Gefühlsausbrüchen, Geständnissen, Vertraulichkeiten und Schilderungen sybaritischer Ereignisse, die beeindruckender als das wahre Leben waren und sein Herz in neidischer Aufregung entbrennen ließen. Weil er niemals tratschte, unterstellte ihm jeder Diskretion, und diskret war er in gewisser Weise auch. Freilich schrieb er alles nieder und führte nun seit zehn Jahren Tagebücher, von deren Veröffentlichung er sich eines Tages großen Reichtum erhoffte. Er pflückte gerade ein paar Lorbeerblätter, als Felicity die Tür öffnete. Die Haare standen ihr zu Berge, als ob sie daran gezogen hätte, und er hätte ein Fremder sein können, so leer war ihr Blick.
Im oberen Stockwerk begann sie auf und ab zu gehen und zu lamentieren. Lange, aufwendig gebräunte Beine stachen wie dunkelbraune Scheren aus dem Hausmantel hervor, um gleich darauf wieder darunter zu verschwinden. Kaum hatte er das Haus betreten, drückte sie ihm den Brief in die Hand. Nachdem Danton ihn gelesen hatte, nahm er Platz und wartete.
»Dieser Betrug, Danton... dieser Betrug... Meine eigene Tochter! Als ob ich sie nicht gern sehen würde...«
Keuchend spuckte Felicity die Worte aus. Ihre Schultern zuckten, und sie strich beständig über ihre Arme, als würde sie von einem Schwarm Insekten angegriffen. Wieder sagte sie mit lauter, anklagender Stimme »Meine eigene Tochter!«, als trüge Danton die Schuld an den Vorgängen. Sein Eintreffen hatte sie in einem Anfall widerstreitender Gefühle herbeigesehnt. Zuerst war sie erstaunt gewesen über die Einladung, dann stinksauer, weil man sie nicht in Kenntnis gesetzt hatte. Jetzt war ihr ganz mulmig, aber auch bewußt, daß sie - nachdem sie den Brief gefunden hatte - eine Entscheidung bezüglich des Inhalts treffen mußte. Dieses ganze Durcheinander wurde begleitet von einer messerscharfen Verblüffung über die Macht, die der Brief auf sie ausübte. Sie war sich relativ sicher gewesen, daß die Liebe zu ihrer Tochter längst gestorben war. Sie selbst hatte alles dafür getan, ihre Zuneigung der Vergessenheit anheimfallen zu lassen, hatte sie über die Jahre hinweg schrumpfen lassen zu einer zu vernachlässigenden Gefühlsregung.
Sylvie hatte ihre Mutter nie gemocht. Schon als Kleinkind kämpfte sie und machte sich ganz starr, wenn Felicity versuchte, sie in den Arm zu nehmen oder zu halten. Kaum daß sie gehen konnte, polterte sie auf ihr Kindermädchen oder einen zufälligen Hausgast zu. Sie ging zu jedem - wenigstens bekam Felicity diesen Eindruck aber niemals zu jener Person, die sie am meisten liebte. Später, als deutlich wurde, daß Sylvie ihre Mutter nicht nur nicht liebte, sondern sich auch halsstarrig weigerte, sie zu mögen, begann Felicity langsam, die eigene Zuneigung zu pulverisieren. Dies hatte ihr großen Schmerz bereitet, zumal sie schon eine Ahnung von der kargen Landschaft hatte, als die sich ihre Ehe schließlich herausstellte. In ihren Augen war das Kind irrigerweise ein Gegenmittel, eine Quelle der Zuneigung und Freude gewesen. Sollte sie sich nun nach all den Jahren der Hoffnung hingeben? Das wagte sie nicht.
»Das ist wahrscheinlich ein Scherz, denke ich.«
»Warum sagen Sie das, Mrs. G?«
Danton wurde von seinen Klienten ständig gedrängt, sie beim Vornamen anzureden, hatte dieses Angebot aber seit jeher abgelehnt. In Felicitys Fall war die Abkürzung ihres Nachnamens das Zugeständnis, das er einzugehen bereit war. Sie hingegen konnte die Abkürzung auf den Tod nicht ausstehen, da sie der Meinung war, daß sie damit zum Ebenbild einer Cockney-Putzfrau degradiert wurde. Allerdings hätte sie es nie gewagt, dies öffentlich kundzutun, aus Furcht, ihn zu beleidigen.
»Seit fünf Jahren haben wir nichts von ihr gehört oder gesehen.«
»Haben Sie nicht gesagt, daß sie, wenn sie einundzwanzig wird, zu Geld kommt? Vielleicht stammt der Brief von einem Anwalt, und Sie beide müssen etwas unterschreiben.«
»Das müssen wir nicht. Die Bedingungen des Treuhandfonds sind eindeutig. Wurden von meinen Eltern festgelegt, als sie noch ein Kleinkind war. Wie dem auch sei - wir wurden zum Dinner eingeladen.«
»Ist es groß? Das Erbe?«
»Fünfhundert.«
Im Geist fügte Danton die fehlenden Nullen an und erschauderte neidvoll. Felicity ließ sich auf eine üppig gepolsterte Fußbank sinken und wickelte den glatten Satin um ihre Beine. Sie sagte: »Ich werde gehen«, und spürte die Größe ihres Vorhabens. Ihr war, als wäre sie in einen tiefen Abgrund gesprungen.
»Selbstverständlich«, meinte Danton. »Die Frage ist, als was Sie gehen werden?«
Zuerst blickte Felicity verständnislos, dann irritiert drein. Ganz automatisch hatte sie Danton herbeizitiert, eigentlich nur aus dem Verlangen nach einem aufmerksamen Zuhörer. Weitere Gedanken hatte sie sich bislang nicht gemacht.
»Sie können nicht einfach so gehen, Mrs. G.«
»Kann ich nicht?« Daß sie überhaupt eine Entscheidung getroffen hatte, war für Felicity schon genug gewesen. Was sie tragen sollte, wie sie aussehen wollte, all dies waren Fragen, mit denen sie sich noch nicht beschäftigt hatte. Doch nun, da das Thema angeschnitten worden war, begriff sie, welche Bedeutung es hatte. Ihr nervöser und verletzlicher Verstand schrieb den potentiellen Gästen schon die unterschiedlichsten Rollen zu. Sollten ihre Erwartungen zutreffen, durfte sie sich nicht nur einfach irgendwas überschmeißen, sondern mußte sich gegen eine beachtliche Ansammlung von Gegnern wappnen. Auf der anderen Seite...
»Nichts Extremes, Danton.«
»In diesem Fall dürfen Sie mir getrost vertrauen.«
Sie hatte ihn beleidigt. Hastig entschuldigte sich Felicity. Danton stand auf.
»Nun - dann machen wir uns lieber an die Arbeit. Gut gekleidet und bei Verstand, so heißt es doch, oder?«
Ein gemeiner Seitenhieb, möglicherweise gar beabsichtigt, was eigentlich nicht der Fall sein konnte. Man nahm einem Kunden nicht hundert Pfund die Stunde für seine Dienste ab und beleidigte ihn dann. Felicity folgte ihm die Empore hinauf zu ihren Ankleidezimmern. Wie gern hätte sie noch was getrunken, verzichtete aber darauf, weil sie nicht maßlos erscheinen mochte. Danton trank niemals Alkohol und auch nichts, das Koffein enthielt. Hin und wieder benetzte etwas Quellwasser seine Lippen. Seine Zähne und das Weiß seiner sanften braunen Augen funkelten.
Felicitys Kleidung wurde in drei Zimmern aufbewahrt. Eins für den Abend, eins für den Tag und eins für nicht leicht zu kategorisierende Kleidungsstücke wie Kreuzfahrtklamotten, Bikinis und Wickeltücher, selten benutzte Sportartikel. Tennisschläger, Skier, Golfausrüstung. (Sie hatte angefangen, Golfunterricht zu nehmen und sich gleich am ersten Morgen tödlich gelangweilt.) Die den Türen gegenüberliegenden Wände waren verspiegelt. Gut einen Meter unterhalb der Decken hingen metallene Kleiderstangen.
Zusammen mit Danton spazierte Felicity die Ansammlung ab, zog gepolsterte Kleiderbügel hervor und hängte sie wieder weg, begutachtete Taftrüschen, Seidengebilde und weichfallende Samtfalten. Unter einem Dutzend in die Decke eingelassener Glühbirnen, die »Tageslicht« suggerierten, musterten sie Muir und Miyake, Lagerfeld und Bellville Sassoon. Chanel und St. Laurent. Zahlreiche Kreationen wurden hervorgezogen, diskutiert und verworfen. Ein orangerotes Flamencokleid mit stark gerüschtem Rock, rückenfrei und vorn tief dekolletiert. »Das sollte ich nicht tragen. Nach acht Uhr könnte es etwas frisch werden.« Ein enges schwarzes Ding aus Samt mit Schleppe und einem weißen Band um den Hals. »Sie sind ihre Mutter und nicht ihr Beichtvater.« Ein beiges Hemdblusenkleid aus Rohseide, perlenbestickt, mit Goldfäden durchwirkt und furchtbar steif. »Ungewöhnlich langweilig.« Himbeerfarbener Georgette und Federn. »Zu sehr Ginger und Fred.«
Und so ging es weiter, bis sie alles durchhatten und wieder von vorn anfangen mußten. Schließlich entsann sich Felicity der Karelia. Sie ging weg und kehrte mit einem aufgebauschten Nebel aus weißer Baumwolle unter einem durchsichtigen Überwurf zurück. »Das war für eine Premiere im Garden gedacht.« Sie riß die Druckknöpfe auf und Danton hielt den unteren Hüllenrand fest, um zu ziehen. »Die Leute, mit denen ich in die Oper gehe«, fuhr Felicity fort, »haben für gewöhnlich eine Loge, aber an jenem Abend hatten wir aus irgendeinem unerfindlichen Grund Plätze im ersten Rang. Es wäre mir unmöglich gewesen, in diesem Ding zu meinem Sitzplatz zu gelangen. Daher habe ich es nie getragen.« Felicity schob mit dem Fuß die Hülle zur Seite. »Es war Pavarotti.«
»Das hier müssen Sie tragen.«
»Oh. Meinen Sie nicht, daß es ein bißchen zu -«
»Wir reden von einem feierlichen Diner auf einem Anwesen auf dem Land. Jeder wird sich herausputzen. Was sollen die armen Hunde dort draußen im Unterholz denn sonst tun?«
In Wirklichkeit dachte Danton, daß das Kleid »ein bißchen«, wenn nicht gar völlig übertrieben war, andererseits war es unerhört phantasievoll. Allein beim Betrachten zuckte es ihm in den Fingern. Ein Traumgewand, das dazu bestimmt war, zwischen Reihen von Bewunderung zollender, Zylinder tragender Männern eine Busby-Berkeley-Treppe hinunterzurauschen.
Lagen über Lagen aus durchsichtigem Chiffon in jeder nur erdenklichen Grauschattierung, angefangen von der Andeutung eines blassen Rauchtons bis hin zu sattem Anthrazitgrau, und alles über Petticoats in der Farbe von geschwärztem Silber. Das Satinmieder und die spitz zulaufenden Ärmel waren mit Schleifenschlingen verziert, die mit einer einzelnen dunklen Perle fixiert waren.
»Ziehen Sie es an.«
Ohne Scham legte Felicity ihren Hausmantel ab.
»Richten Sie mich her als... Nun - was schlagen Sie vor?«
»O mein Gott...« Er trat einen Schritt zurück und platzte fast vor Aufregung. »Wann müssen Sie los?«
»Ich denke... wegen des Feierabendverkehrs so gegen halb sechs.«
»Werden Sie zu Mittag essen?«
»Ich würde keinen Bissen runterkriegen.«
»Gut. Dann fangen wir lieber gleich an.«
Gleich nach dem Mittagessen gingen Suhami und Christopher nach draußen, um Calypso herumzuführen. Die schnell und gierig fressende Ziege mußte in relativ kurzen Intervallen an einen anderen Ort gebracht werden.
Wie sehr Calypso Gras liebte! Wegen des Verbots von Unkrautvernichtern gediehen Fingerkraut, Brennessel und dicker Löwenzahn allerorten. Als Christopher ihren Pfahl rauszog, hatte sie noch nicht den Eindruck, ihr jetziges Territorium ausreichend abgegrast zu haben, und er mußte die Leine mehrmals um seinen Unterarm schlingen, um sie wegzuzerren.
Calypso, die sehr wohl in der Lage war einzuschätzen, wie stark ihr Betreuer war, neigte zur Sturheit, falls sie ihn für schwächlich hielt. Erst neulich war sie wie wild die Zufahrt hinuntergesprungen und zum Tor hinaus auf die High Street gerannt, wo man sie zehn Minuten später geduldig wartend in der Schlange vor dem Fischgeschäft entdeckt hatte.
»Du bist ein einfältiges Mädchen«, hatte May sie auf dem Heimweg gescholten. »Zumal du Fisch gar nicht magst.«
»Möchtest du festhalten oder draufklopfen?«
»Festhalten«, antwortete Suhami und griff nach dem genieteten Halsband.
»Dann nimm dich lieber vor Eibenbeeren in acht.«
Christopher schlug den Pfahl in den Boden, während Calypso Luftsprünge vollführte und in einem Anfall von Zorn mit den Hinterbeinen ausschlug. Kaum angepflockt, legte sich ihre Wut. Sie begann friedlich zu mampfen und hob ab und an den Kopf, um der Welt einen ihrer enigmatischen Blicke zu schenken.
»Wir müssen uns unterhalten, Suze. Meinst du nicht auch?« fragte Christopher.
Sie wandte sich von ihm ab. »Ich weiß nicht.«
»Ich liebe dich.« Er stellte sich vor sie und bemerkte den Schatten, der ihre Miene verdüsterte. »Nun... es ist schön, wenn man gemocht wird.«
»Ich will dich ja - wirklich. Es ist nur so, daß...«
Als sie nicht weitersprach, hakte Christopher sich bei ihr unter und führte sie zu der großen Zeder. »Setzen wir uns da hin, und dann werde ich -«
»Nicht hier.« Suhami blieb stehen.
»Okay.« Verdrießlich dreinblickend, drehte er sich um und spazierte mit ihr zum Teich.
»Ich weiß, es ist dumm... und ich weiß, daß sie längst vom Wind weggeblasen wurde, aber Jims Asche wurde hier verstreut. Ich kann nicht anders; dieser Ort ist für mich immer so etwas wie ein Grab.«
»Arno hat mir davon berichtet. Muß sehr traurig gewesen sein.«
»Das war es damals. Und dennoch - es ist wirklich eine Schande, wie schnell man vergißt.«
»Ich denke, das ist immer so. Es sei denn, die Person hat einem ungewöhnlich nahegestanden.«
»Er war ein so netter Mann. Ruhig und bescheiden. Wenn er seine Arbeit getan hatte, ging er einfach auf sein Zimmer und las oder meditierte. Eigentlich paßte er nicht richtig in diese Art von Kommune. Manchmal hatte ich den Eindruck, er wäre in einem Kloster glücklicher gewesen.«
»Aber war er nicht ein heimlicher Säufer? Ich meine, gehört zu haben, daß -«
»O nein. Er hat überhaupt nichts getrunken. Darum ist es ja so eigenartig. Um ehrlich zu sein -«
»Hallo.« Der Zuruf kam von der Terrasse. May kam winkend auf sie zu.
Sie kam ruhigen Herzens. So ruhig, als hätten sich ihre Probleme in Luft aufgelöst. Kwan Yin hatte schließlich doch noch Wunder bewirkt. Nachdem sie sich erst mal ihr Problem vergegenwärtigt hatte, war die Lösung derart logisch, daß May sich am liebsten selbst einen Tritt in den Hintern gegeben hätte, weil sie so blind gewesen war. Natürlich war Christopher die Person, mit der sie sprechen mußte. Er war erst nach Jims Tod nach Windhorse gekommen und konnte deshalb unmöglich in die Geschehnisse verwickelt gewesen sein. Ihre Erleichterung führte mitnichten dazu, daß May seiner Reaktion gelassen entgegensah. Immerhin war es durchaus möglich, daß er vorschlug, zur Polizei zu gehen, und May wußte, daß sie sich in diesem Fall genauso schuldig fühlen würde, als hätte sie diesen Weg gewählt.
Sie hoffte, ihn allein anzutreffen, aber Suhami winkte ihr zu und rief: »Möchtest du etwas von uns, May?« Mit einer vagen Handbewegung versuchte May anzudeuten, daß - selbst wenn das der Fall gewesen wäre - sie den Grund ihres Kommens vergessen hatte. Aber die Geste wirkte gekünstelt, denn May war hoffnungslos ehrlich, arglos wie ein kleines Kätzchen.
»Eigentlich habe ich dich gesucht, Christopher.«
»Nun, jetzt hast du mich gefunden.«
»Ja... ähm... tja... Am Wochenende wollten wir Honig ernten, und der Sterilisierer funktioniert nicht.« May sprach mit geschlossenen Augen und rang um Worte. Wie ein schlecht sitzender Zahn lag ihr die Lüge im Mund.
»Letztes Mal, als wir ihn benutzt haben, funktionierte er prima.« Zusammen schlenderten sie zum Haus zurück. »Aber das ist schon ’ne Weile her.«
Beim Betreten des Hauses zerbrach sich May den Kopf, wie sie das junge Paar auseinanderreißen könnte. Ihr fielen eine ganze Menge unsinniger Ausreden ein, aber sie war sich bewußt, daß sie sie nicht überzeugend rüberbringen konnte und infolgedessen eher Suhamis Verdacht erregen, als ihn zerstreuen würde.
»Ich werde mich nach dem Tee darum kümmern.«
»Um was kümmern?« May starrte Christopher verblüfft an.
»Um das, worum du mich noch vor zehn Sekunden gebeten hast, May. Nach dem Tee werde ich mir den Sterilisierer anschauen - in Ordnung?«
»Aber sicher!« rief May. »Tee! Suhami - ich muß mein Ginseng einnehmen und habe es auf meinem Nachttisch stehenlassen. Wärst du so nett - dann könnte ich mir den Gang ersparen und meine Beine schonen...«
Kaum eilte Suhami davon, packte May den Arm ihres Begleiters und zerrte ihn in die Halle, bis sie unter dem Oberlicht standen. »Christopher, ich muß mit dir reden«, flüsterte sie dann.
Mit gehetztem Blick schaute er sich um und flüsterte: »Ich denke, sie wissen von unseren Plänen.«
»Sei ernst.«
Christopher lachte. »Entschuldigung. Wenn du möchtest, werde ich sofort nach dem Sterilisierer sehen, und wir können uns in der Küche unterhalten.«
»Das Ding funktioniert prima. Mir ist ad hoc nichts Besseres eingefallen. Ich mußte dich allein sprechen. Ich mache mir solche Sorgen. Irgend etwas geht hier vor... etwas stimmt nicht. Und ich bin mir sicher, daß es mit Jims Tod zu tun -« Sie brach ab und blickte zur Galerie hoch, die leer zu sein schien. »Was war das?«
»Ich habe nichts gehört.« Er folgte ihrem Blick.
»Ein Klicken. Als habe jemand eine Tür geschlossen.«
»Vielleicht war dem so. Was soll das alles, May?«
»Laß uns lieber draußen reden.«
Christopher ließ sich von ihr den Gang hinunter in Richtung Küche schleifen. »Kommt mir alles ein bißchen wie der MI vor. Du rekrutierst nicht zufälligerweise neue Leute?« Sie kamen zum Hintereingang des Hauses, einer verglasten Terrassentür. »Ich werde keinen Mikrofilm schlucken, May«, scherzte Christopher weiter. »Nicht mal für dich.«
Sie traten nach draußen. Christopher drehte sich um, um die Tür zu schließen. May stand ein paar Schritte hinter ihm auf unebenen, moosbewachsenen alten Pflastersteinen. Auf dem Weg zu ihr nahm er ein tiefes Rumpeln wahr. Donner? Ein Blick nach oben verriet keine Verdunkelung. Dann ertönte ein Poltern, und ein großes schwarzes Objekt holperte über die Dachrinne.
Mit einem Aufschrei verpaßte Christopher May einen Stoß. Sie flog nach vorn, fiel über den Saum ihres Kleides und plumpste über eine Blumenrabatte. Christopher stürzte in den Türeingang zurück. Der Gegenstand landete zwischen ihnen und brachte einen Pflasterstein zum Bersten. In Sekundenschnelle breitete sich von der Aufprallstelle ein Netz aus; Steinsplitter flogen durch die Luft.
Der Fall hatte sich so schnell ereignet und der Aufprall war so gewaltig gewesen, daß die beiden einige Sekunden vor Schock reglos an Ort und Stelle verharrten. Langsam registrierte Christopher, daß jemand hinter ihm stand und seinen Namen rief. Suhami.
»Hast du geschrien? Was ist denn? Was soll - May...«
Mit zerkratztem Gesicht, auf dem Abdrücke von Lavendelästen prangten, kämpfte May sich auf die Füße. Während Suhami ihr zu Hilfe eilte, schlich Christopher ins Haus zurück. Immer noch keine Menschenseele auf der Treppe oder Galerie. Alles war ruhig.
Behende rannte er zur Galerie hoch, klapperte alle drei Seiten ab, klopfte an Türen, riß sie auf und warf einen Blick in die dahinterliegenden Zimmer, wenn niemand antwortete. Alle Zimmer waren leer.
Am hinteren Ende des rechten Flügels, verdeckt durch einen Samtvorhang, lag ein extrem spitz zulaufender Mauerbogen. Gleich hinter dem Bogen gab es ein Dutzend Stufen, die wie ein Korkenzieher in enger Drehung aufs Dach führten. Es gab Anzeichen, daß vor kurzem jemand hier gewesen war. Der Staub auf den Stufen war teilweise weggewischt und mit Farbsplittern von dem alten, grüngestrichenen Oberlichtrahmen übersät. Christopher erinnerte sich, daß Arno vor ein paar Tagen dort oben gewesen war, um Vogelscheiße vom Fenster zu kratzen. Er kniete sich auf die oberste Stufe, ganz dicht neben das Glas, stieß den nächstbesten Glasflügel des Oberlichts auf und fixierte ihn mit einem verrosteten Stab. Danach steckte er vorsichtig den Kopf durch die Öffnung und schaute sich um.
Auf dem Dach schien niemand zu sein. Er kletterte hoch und verlor sofort jedes Orientierungsgefühl - die enge Wendeltreppe hatte ihn vergessen lassen, wo welche Himmelsrichtung lag. Zur Orientierung drehte er sich langsam im Kreis. Dort lag der Gemüsegarten, daher mußte der Dachabschnitt über der Hintertür auf der entgegengesetzten Seite liegen.
Während er noch zögerte, was er als nächstes tun sollte, schoben sich Wolken vor die Sonne und ließen die Farben der ihn umgebenden Ziegel und Mauern verblassen. Wind kam auf, und Christopher zitterte, obgleich ihm nicht kalt war. Jemand spaziert über mein Grab. Er fragte sich, wann dieser Satz zum ersten Mal Erwähnung gefunden hatte, denn die Toten, eingebettet in ihre hölzernen Kokons, waren die letzten, die sich dafür interessierten, ob jemand über ihre zu Staub zerfallenden Köpfe ging oder gar auf ihnen tanzte.
Auf dem Dach stand eine Unmenge von Kaminen, aber es gab nur drei rußige Schornsteine mit jeweils vier Töpfen. Ihre Nähe störte Christopher. Die toten Schornsteine vermittelten ihm den Eindruck von Zusammenhalt. Auf der einen oder anderen Öffnung saß eine Art Haube. Bei einem Windstoß drehten sich mehrere von den Dingern knarzend in seine Richtung. Sein Gefühl von Unsicherheit verstärkte sich noch. Auf einmal kam er zu der unsinnigen Überzeugung, daß die Hauben lebende Organismen beherbergten, die ihn beobachteten. Er versuchte sich zu beruhigen und begann langsam zum gegenüberliegenden Dachrand zu schreiten. Es war unmöglich, einen geraden Weg einzuschlagen. Das Dach setzte sich aus drei steil abfallenden Abschnitten zusammen, von schmalen Trampelpfaden durchschnitten. Zwischen zweien der Pfade bäumte sich das große, von Eisenstreifen eingefaßte Oberlicht auf.
Auf den engen Wegen kam man nur voran, wenn man vorsichtig einen Fuß vor den anderen auf die blauschwarzen, verbogenen Bleiplatten setzte. Genau so verfuhr Christopher. Auf der anderen Seite angekommen, spähte er über den Dachrand. Nun befand er sich direkt über dem zersplitterten Pflasterstein. Die Delle in der Dachrinne verriet ihm, an welcher Stelle der Metallgegenstand hinuntergepurzelt war. Und eine helle, runde, fleckenlose Stelle sagte ihm, wo er die längste Zeit gelegen hatte. Sie war gut einen halben Meter von der Dachrinne entfernt, auf einer ganz ebenen Fläche. Ihm erschien es unmöglich, daß ein Objekt von dieser Größe und diesem Gewicht sich aus eigenem Antrieb in Bewegung gesetzt haben sollte. Selbst für eine einzelne Person hätte es nicht leicht sein können, das Ding zur entsprechenden Stelle zu rücken, geschweige denn über den Rand zu hieven. Und doch mußte es genau so passiert sein.
Sollte dem so gewesen sein - Christopher richtete sich schnell auf und schaute sich um -, wie war es dieser Person dann gelungen, sich so schnell aus dem Staub zu machen? War jemand derart flink, daß er über das Dach gehen, das Oberlicht schließen, die schmalen Treppenstufen überwinden und nach unten laufen konnte und alles innerhalb von dem kurzen Zeitraum zwischen dem Herunterstoßen des Metallklotzes und Christophers Rückkehr in die Halle? Er konnte sich dies - ehrlich gesagt - nicht vorstellen.
Erneut knarzten die Schornsteinaufsätze und erinnerten Christopher daran, daß er sich zuvor beobachtet gefühlt hatte. Vielleicht war er auf eine Erklärung gestoßen. Falls der potentielle Mörder (denn als was sollte man sonst einen Menschen bezeichnen, der einen großen Brocken Eisenerz auf einen Menschenkopf warf?) gar nicht vom Dach herunter war, sondern geblieben war und sich versteckt hatte... Sich womöglich immer noch versteckt hielt.
Schlagartig wurde er sich des leeren Raums hinter seinem Rücken bewußt. Nichts als Luft. Sauerstoff, Stickstoff, Kohlendioxid. Keiner dieser Stoffe hatte die Macht, ihn aufzufangen. Eigentlich - wenn man genauer darüber nachdachte -waren sie nur zum Durchfallen geeignet. Gerade, als er am dringendsten auf sie angewiesen war, merkte er, wie seine Knie weich wurden.
Geschwind legte er die Distanz vom Dachrand zum nächsten Schornstein zurück. Keine Menschenseele verbarg sich dahinter. Auch hinter dem zweiten nicht. Leise und mit pochendem Herzen näherte er sich dem dritten. Vier gedrehte gelbe Stangen, rußüberzogen. Behutsam auftretend, begann er mit der Umkreisung. Nach der Hälfte überfiel ihn das Bedürfnis, laut zu lachen. Diese Vorgehensweise hatte er sich in einer Reihe von schaurigen Filmen abgeguckt, in denen die komische Hauptperson auf Zehenspitzen um einen Baum kreist und von einem Mann im Gorillakostüm verfolgt wird. Aber hier oben war niemand. Muß durch das Oberlicht geklettert sein, schloß Christopher, während ich mir die Dachrinne angesehen habe.
Schon im Gehen begriffen, erregte etwas zwischen den Schornsteinaufsätzen seine Aufmerksamkeit. Etwas, das aus einem Spalt ragte. Sah aus wie das Ende einer Metallstange. Er zog daran, bis das Ding sich löste. Und hielt ein Radkreuz in der Hand.
Als Christopher endlich wieder unten war und zu Mays Zimmer gelangte, war es proppenvoll. Noch im Türrahmen zählte er kurz durch. Alle waren anwesend.
Er sah sich mit einer höchst dramatischen Szene konfrontiert. Ziemlich malerisch und in gewisser Hinsicht viktorianisch beredt. Wie eine jener allegorischen Andeutungen der Sterblichkeit, auf denen ein alter Patriarch in seinen letzten Atemzügen abgebildet war, umgeben von weinenden Familienangehörigen, einem alten Faktotum und einem rührselig dreinblickenden Hund.
May lag auf einer Chaiselongue und sah für ihre Verhältnisse einigermaßen blaß aus. Jemand hatte einen pfauenblauen Fransenschal über ihre Knie drapiert. Hinter ihr stand der Meister. Sein weißes Haar strahlte im Sonnenlicht; seine Hand ruhte auf ihrer Stirn. Suhami kniete neben ihr. Tim hatte sich auf einem Fußschemel niedergelassen. Mit ringenden Händen beugte sich Arno (er rang sie wirklich, als wringe er Wäsche aus) über sie. Janet und Trixie hielten sich ein wenig abseits und erweckten den Eindruck, zur Gruppe zu gehören und auch wieder nicht.
Die Beavers kauerten am Fuß der Couch. Heather hatte ihre Gitarre mitgebracht und schlug leise, zuckersüße Akkorde an. Ken sagte: »Hier gibt es viel zu heilen«, ehe er zuerst seinen magnetischen Kristall berührte und dann mit ernster Miene nach Mays Fußsohle griff.
»Es geht mir gut«, betonte May. »Unfälle passieren. Macht keinen Wirbel.«
Heather begann die Saiten ihres Instruments mit mehr Inbrunst zu zupfen und rezitierte dann einen Vierzeiler, der sie alle auffahren ließ.
»Oh, Zenitene Strahlen kosmischer Macht ergießt aus dem himmlischen Turm gleißend helles Leuchten in einem goldenen Schauer und stärkt unsere sternengeborene Blume.«
Erneut berührte Ken seinen Kristall und betrachtete einen nach dem anderen mit einer Grabesmiene. Schließlich blieb sein Blick an der Vorhangschabracke hängen, als beschuldige er sie, wichtige Informationen zurückzuhalten. Eine Weile später wandte er sich wieder an die liegende Gestalt: »Jetzt bist du tief eingehüllt in Jupiters Psi-Sonde und badest in seinem wundersam heilenden Einfluß.«
»Nun, das weiß ich.« May zupfte am Seidenschal. »Wir alle sind permanent eingebettet in wundersam heilende Strahlen, welcher Ursprungs auch immer. Ich brauche jetzt meine Medizin und etwas Arnika für die blauen Flecken. Beides liegt in diesem kleinen Muschelkästchen. Wäre vielleicht jemand so nett... ?«
Umgehend setzte sich Arno in Bewegung. Er händigte ihr das Erbetene aus mit der Frage: »Möchtest du vielleicht auch etwas Oxymol, May?«
»Warum nicht? Honig kann nie schaden. Danke, Arno.«
Hocherfreut, die Wünsche seiner Herzdame erfüllen zu dürfen, eilte Arno von dannen. Er würde den wohlriechendsten Honig - war da nicht noch etwas Mount Hymettus übrig? - und dazu einen frischen, leichten Honig in einer hübschen Tasse geben. Sollte er noch ein paar Blumen pflücken? Unter derlei Umständen durften die Regeln sicherlich ein wenig lockerer ausgelegt werden.
Gerade als er die Küche betreten wollte, hielt er inne. Die hintere Tür stand immer noch offen. Arno trat über die Türschwelle, inspizierte den geplatzten Pflasterstein und den Metallbrocken und begutachtete den Lavendel, der von Mays Sturz plattgedrückt worden war. Einige Zweige waren abgeknickt. Als er sah, wie knapp sie dem Tod entgangen war, überkam ihn eine leise, tiefsitzende Furcht. Er stellte sich eine Welt ohne sie vor. Ohne Wärme und Farbe, ohne Licht, Musik, Sinn... Harmonie...
»Aber sie lebt ja noch«, sagte er mit fester Stimme. May würde ziemlich ärgerlich reagieren, wenn sie wüßte, daß er derlei schrecklichen, düsteren Gedanken nachhing. Sie selbst sah immer in allem das Positive. Nicht die Wolke, sondern den Silberstreifen am Horizont. Den Regenbogen und nicht den Regen.
Nachdem er kein schöneres Gefäß gefunden hatte, hielt Arno bei seiner Rückkehr einen schweren, grobschlächtigen Becher mit Oxymol in den Händen. May setzte sich auf und sah wieder einmal völlig unfehlbar aus. Sie hatte ihre Medizin so lange geschüttelt, bis sie sich indigo gefärbt hatte, und rieb etwas davon auf ihre Handgelenke. Im Zimmer breitete sich ein holziger Geruch aus. Er trat vor, und als er ihr den Becher überreichte, berührten Mays Finger die seinen. Arnos sommersprossige Wangen färbten sich rot. Er hoffte inständig, daß es niemandem auffiel.
»Ich habe mich nicht einen Moment wirklich in Gefahr befunden«, versicherte sie nun allen Anwesenden. »Mein Schutzengel wachte über mich, wie er das immer tut. Wer hat eurer Meinung nach dafür gesorgt, daß Christopher so dicht hinter mir war?«
Christopher wurde von allen Seiten dankbar angelächelt. Die von ihm auf dem Dach gefällte Entscheidung behagte ihm immer noch nicht richtig. Nachdem sich der Schock über den Fund des Radkreuzes gelegt hatte, hatte er nicht recht gewußt, was er mit dem Ding anstellen sollte. Sollte er es wieder dorthin legen, wo er es gefunden hatte? Und falls er so verfuhr, würde der Angreifer sich dann einbilden, nicht entdeckt worden zu sein, und selbstbewußt einen zweiten Anschlag verüben? Wenn Christopher das Radkreuz mitnahm, würde sich der Mann möglicherweise in acht nehmen und doppelt gefährlich sein. Nach längerem Abwägen hatte Christopher sich für letztere Strategie entschieden. Jetzt lag das Radkreuz in eine Decke gewickelt unter seinem Bett. Später wollte er es in Calypsos Schuppen bringen.
Das Gespräch drehte sich nun nicht mehr um Mays Wohlergehen, sondern um den Eisenklumpen und die Tatsache, wie seltsam es war, daß das Ding überhaupt auf dem Dach gelegen hatte. Heather, die sich als einzige mit der Geschichte von Manor House auseinandergesetzt hatte - in der Küchentisch-schublade lag ein kleines Büchlein zu diesem Thema -, verkündete, daß der Klumpen zum ersten Mal nach dem Ersten Weltkrieg erwähnt und damals für das Fragment einer Kanonenkugel gehalten worden war. Später deutete man ihn - zweifellos das Ergebnis des Fortschritts in den Wissenschaften und der Astronomie - als Teil eines Meteors. Egal, welchen Ursprungs das Ding sein mochte, es hatte dort oben gelegen, und weder die Allmacht der Natur noch die Bombardierungen im Zweiten Weltkrieg hatten das Ding auch nur einen Zentimeter verrücken können. Wie seltsam, schloß Heather, daß er ausgerechnet heute nach unten gefallen war.
Nach dieser Bemerkung verfielen alle in Schweigen. May, unter dem Schutz der Engel, schaute immer noch etwas perplex drein. Hinter dem Rücken der anderen verdrehte Trixie die Augen. Ken schien von dem Geheimnis fasziniert zu sein, und Heather vermutete, er könne es nicht erwarten, in dieser Angelegenheit Hilarions Meinung einzuholen. Tim, das Unerklärliche spürend, machte sich noch kleiner als sonst.
Die Stille breitete sich immer mehr aus, bis sich alle, einer nach dem anderen, dem Meister zuwandten. Der Raum schien vor verheißungsvoller Erwartung zu bersten. Er würde diese Disharmonien erklären können, besagten ihre vertrauensvollen Mienen. Der Meister lächelte sein obligates Lächeln. Beugte sich kurz nach unten, um Tims goldenen Schopf zu streicheln, und meldete sich schließlich zu Wort.
»Viele Dinge agieren im Vakuum des Energiefeldes. Das niedrige Stratum dynamischer Kraft ist weit davon entfernt, stabil zu sein. Subatomare Partikel sind konstant in Bewegung. Vergeßt niemals - es gibt kein ruhendes Elektron.«
Das war es also. Das fallende Objekt war nichts anderes als die Verkörperung lebendiger Materie. Die Anwesenden begannen zu nicken und zu lächeln oder den Kopf zu schütteln angesichts ihrer geistigen Trägheit. Den Handrücken auf die Stirn legend, bekundete Ken, was für ein Idiot er doch sei. Niemand widersprach ihm.
Kurz danach forderte der Meister sie auf, May ruhen zu lassen. »Und bedankt euch bei ihrem Schutzengel, wie es sich gebührt.« Damit entfernte er sich. Tim folgte ihm und trat beinahe auf den Saum seines blauen Gewandes, vor lauter Angst, zurückgelassen zu werden. An der Tür drehte sich der Meister um. »Ich mache mir große Sorgen wegen deiner für heute abend angesetzten Rückführung. Diese Reisen können überaus anstrengend sein. Wäre es dir lieber, sie auf einen anderen Abend zu verschieben?«
»Auf gar keinen Fall, Meister«, antwortete May stur. »Wir haben Neumond, und wir haben überaus verheißungsvolle Nachrichten von Hilarion erhalten. Wie würde ich mich fühlen, wenn mir Astarte eine Manifestation zuteil werden ließe und ich all diese extrem dynamische Energie nicht nutzte? Und außerdem«, sagte sie, setzte sich auf, trank einen kleinen Schluck Oxymol und strahlte die anderen an, »bin ich schon wieder ganz die alte.«
Es war halb fünf. Beim Abendessen waren die Craigies sicherlich anwesend. Und hinterher gab es vielleicht keine Möglichkeit mehr, Sylvie allein zu sprechen. So kam es, daß Guy verfrüht in Compton Dando eintraf. Die leise Befürchtung, daß dies eventuell nicht gern gesehen war, hatte keine Chance gehabt, neben dem alles umfassenden Deckmantel freudiger Aufregung zu bestehen.
Auf dem Weg dorthin war es ihm gelungen, sich selbst davon zu überzeugen, daß der Brief in Wirklichkeit - ihm war es sehr wohl gegeben, zwischen den Zeilen zu lesen - von Sylvies Entscheidung kündete, ihm zu verzeihen. Daß sie ihn nicht persönlich über ihren Sinneswandel in Kenntnis setzen konnte, dafür brachte Guy großes Verständnis auf. Sie war tief verletzt worden und keineswegs bereit, die Rolle einer Bittstellerin einzunehmen. Und dies wünschte er auch nicht. Aber daran, daß eine Einladung ausgesprochen worden war, und zwar nicht nur mit ihrer Erlaubnis, sondern auf ihren Wunsch hin, hatte er nun nicht mehr den geringsten Zweifel. Die Jahre seiner einsamen Trauer neigten sich dem Ende zu. Mit einem Blumenstrauß und einer Karte mit den schlichten Worten »In Liebe« neben dem Haupteingang von Manor House stehend, wurde er von Glücksgefühlen übermannt. Er war darin gebadet, wie in Schweiß.
Er schaute sich nach Anzeichen von Leben um. Im Schloß steckte ein großer gotischer Schlüssel, und an einem vertikal angebrachten Eisenstab war eine rostige Klingel befestigt, an der erzog. Die Klingel tönte recht laut, aber niemand kam. Die Blumen umständlich haltend, wartete er eine Weile. Auf der Veranda standen zwei an die Wand gelehnte Holzstühle, abgenutzt und glatt wie jene, die man oft vor alten Dorfkirchen fand. Guy legte den Strauß auf einem der Stühle ab und trat einen Schritt zurück, um das bemerkenswert imposante Haus besser betrachten zu können.
Daß sie gar nicht dasein könnte, war Guy nicht in den Sinn gekommen. Sollte er erst in sein Hotel einchecken und später wiederkommen? Gina hatte ihm ein Zimmer im Chartwell Grange, dem einzig halbwegs annehmbaren Hotel weit und breit, reserviert. Guy hatte beschlossen, nach dem Abendessen, egal welchen Ausgang es nahm, nicht heimzufahren. Er wollte allein sein und das Wiedersehen mit seiner Tochter allein verdauen, genießen, im Geist noch mal durchleben und feiern. Und auch wenn Felicity nichts von der Einladung ahnte und - bis er zurückkehrte - sich mit Hilfe von Alkohol und Tabletten unter aller Garantie ins seelische Niemandsland katapultiert hatte, war Guy der Gedanke unerträglich, sich kurz nach dem Abschied von seiner Tochter ihrer Gegenwart aussetzen zu müssen.
Noch nicht gewillt aufzugeben, marschierte er am Haus entlang. Was für ein Durcheinander hier herrschte. Blumen, deren Blüten nicht aufgerichtet waren, sondern im Staub lagen. Ein immens hohes, vielfach verstrebtes blaues Etwas, das in sich zusammengefallen war und auf dem Kies verstreut lag. Er gelangte zu einer räudigen Eibenhecke, die parallel zur einer Mauer verlief. An einer Stelle waren die Äste für einen Durchgang, durch den Guy nun trat, gekappt worden.
Dahinter lag ein weitläufiges Rasengrundstück, auf dem Stiefmütterchen und Klee sprossen, an denen sich eine korpulente Ziege labte. In der Mitte stand eine große Zeder, die so alt wie das Haus sein mußte. Zu seinen Füßen lag ein rechtwinkliger Teich mit herumflitzenden Fischen. Manche waren wie Tiger gestreift, andere waren kleiner und hatten dünne Rücken und durchsichtige schneckenartige Hörner. Am Ende der Rasenfläche erhoben sich mehrere Bambuswigwams. Dort mußte es - das verriet ihm die Uneinheitlichkeit der Pflanzen - auch einen Gemüsegarten geben. Und endlich ein Anzeichen von menschlichem Leben. Jemand harkte Erde. Vielleicht Ian Craigie?
Kaum hatte Guy sich richtig in Bewegung gesetzt, da stellte der Mann sein Tun ein, warf den Kopf nach hinten und begann zu deklamieren. Die Verse waren schlicht, wurden laut vorgetragen und mit befremdlichen Gesten untermalt. Der Mann warf die Arme hin und her und hielt das Gesicht in die Sonne. Leicht verstört zog sich Guy zurück.
Wieder auf der Veranda, beschloß er, noch mal die Klingel zu betätigen, kam dann aber wieder davon ab und drehte, ohne groß nachzudenken, an dem aus einem Eisenring bestehenden Türgriff. Die Tür ging auf, und er betrat das Haus.
Er stand in einer großen Halle mit gewölbter Decke, die mit farbenprächtig bemalten Schlußsteinen akzentuiert war. Eine beeindruckende Treppe mit aufwendig geschnitzten Treppen- und Geländerpfosten führte zu einer dreiflügeligen Musikantengalerie hoch. Der riesige Raum war nur spärlich mit äußerst schlichten Möbelstücken ausstaffiert: zwei stattliche Holztruhen, von denen eine einen kaputten Deckel hatte, zwei unfachmännisch gepolsterte Stühle, ein runder, nichtssagender Tisch, der keiner Stilperiode zuzuordnen war, und ein großer freistehender Schrank. Der einzig ansehnliche Gegenstand war ein großer, knapp zwei Meter hoher Steinbuddha auf einem Sockel. Der Kopf war mit kleinen, an Pickel erinnernde Locken verziert. Auf dem Sockel stand eine Glasschale mit Lupinen, und jemand hatte ein paar Früchte ausgelegt.
Die Luft roch unangenehm. Nach Bohnerwachs, ungesundem Essen und feuchter Wäsche. Der Geruch einer Institution. Er mußte es wissen. Schließlich hatte er lange genug dort gelebt. Und über allem schwebte ein ziemlich aufdringliches Aroma, das - wie Guy fürchtete - Weihrauch sein mußte.
Auf dem Tisch standen zwei Holzschalen, in denen jeweils eine schön beschriftete Karte lag. »Fühlst du dich schuldig?« und »Liebesopfer« stand darauf geschrieben. In der Schale für die Schuldgefühle lagen fünf Pence. Außerdem gab es eine Menge von Hand bedruckter Flugblätter, die von überflüssigen Hervorhebungen und eigenwillig plazierten Ausrufezeichen strotzten. Guy hob The Romance of the Enema von einem Kenneth Beavers hoch, der sich Clairaudient und Intuitiver Diagnosesteller titulierte. An der Tür, durch die er gerade eingetreten war, hing ein grüngebeiztes Anschlagbrett. Guy ging hinüber, um einen Blick darauf zu werfen, und trat fest auf, damit seine Schritte lauter als nötig klangen.
Die daran befestigten Notizen erwiesen sich als uninteressant. Hauptsächlich Arbeitspläne. Kochen, Waschen. Calypso füttern und melken. Schnell überflog er die Liste, ohne Sylvies Namen zu entdecken. Er wußte nicht, ob er sich ermutigt fühlen oder frustriert sein sollte. An der gleichen Stelle hing auch ein großes Poster: »Mars & Venus: Das Verlangen nach Hilfe, aber sind wir bereit? Diskussion am 27. August in der Bibliothek von Causton. Melden Sie sich rechtzeitig an, dann laufen Sie nicht Gefahr, abgewiesen zu werden.«
Lebte hier demnach eine übergeschnappte, pseudoreligiöse Truppe? Auf dem Arbeitsplan waren Männer und Frauen eingetragen. Dann handelte es sich nicht um ein Nonnenkloster. Möglicherweise war das Haus eine Art Anstalt. Die Vorstellung, daß Sylvie sich hier aufhielt, kam ihm - ehrlich gesagt -lächerlich vor. Und wo kam dieser Craigie ins Spiel? »Essen Sie mit uns zu Abend.« Stand »uns« für diese eigenartige Gruppe? Die Vorstellung behagte Guy ganz und gar nicht. Er verspürte nicht die geringste Lust, sich in Gesellschaft einer Horde von Freaks mit seiner Tochter auszusöhnen. Er schaute sich nach weiteren Hinweisen um.
Zwei Korridore gingen von der Halle ab, und da war auch eine Tür mit der Aufschrift »Büro«, die Guy öffnete. Er warf einen Blick in das fensterlose Zimmer mit auf Boden und Regalen verteilten Papieren und Akten. Auf einem Kartentisch stand ein Gestetner. In einem Ledersessel mit hoher Rückenlehne saß jemand.
Lange, von blauem Jeansstoff eingehüllte Beine, ein bildschöner Schopf goldblondes Haar, feine Locken auf der Stirn. Eine Diele knarzte unter Guys Füßen, und die Gestalt drehte den Kopf. Es gelang ihm, einen kurzen Blick auf ihr Gesicht zu erhaschen, ehe sie aufstand, zum verstaubten Wandteppich rannte und sich dahinter versteckte, als wäre sie splitterfasernackt.
Sie war das schönste Wesen, das ihm je unter die Augen gekommen war. Angesichts dieser Perfektion fiel Guy die Kinnlade runter. Es dauerte eine halbe Minute, bis er sich gefaßt hatte. Erst dann begriff er, wie sehr sie sich vor ihm fürchtete. Hechelnd wie ein in die Enge getriebenes Tier, stand sie mit dem Rücken zur Wand. Leise murmelnd begann Guy eine Entschuldigung hervorzubringen.
»Es tut mir leid... ich wollte nicht... Es ist alles in Ordnung. Ich bin ein Besucher. Bin gekommen, um meine Tochter zu sehen.«
Seine Worte waren nur Schall und Rauch. Ihr Keuchen wurde lauter, sie witterte Gefahr. Guy wich zurück, lächelte und zuckte mit den Schultern, um zu zeigen, daß er keine Gefahr darstellte. Dann bewegte sie sich so heftig, daß der Vorhang wegrutschte. Zum zweiten Mal erhaschte er einen Blick auf ihr Gesicht und war schockiert. Sein Magen zog sich zusammen, seine Stirn wurde kalt und klamm. Schlagartig verflog der Zauber. Angeekelt wandte er den Blick ab - das Mädchen war geisteskrank.
Unkontrolliert verdrehte sie die dunkelblauen Augen. Sabber tropfte von ihren wohlgeformten Lippen, die sie schürzte und zu einer unansehnlichen runden Schnute zusammenpreßte. Dann bemerkte Guy zum ersten Mal die Kinnlinie und die große braune Hand, die über die Wand glitt. Langsam dämmerte ihm, daß die Gestalt keine Frau, sondern ein junger Mann war. Sein Ekel verstärkte sich noch. Am liebsten wäre er aus dem Zimmer gestürmt und hätte die Tür hinter sich zugeschlagen.
Verdammt, was für ein Ort war das hier? Er war durchaus gewillt gewesen, den ersten Kerl, der draußen im Kohlbeet allein vor sich hin gefaselt hatte, zu entschuldigen, aber dieser hier, diese zurückgebliebene Kreatur, war einfach zuviel. Die Vorstellung, daß seine Tochter in diesem Umfeld lebte, beunruhigte ihn.
Er kehrte in die Halle zurück, wo man allem Anschein nach endlich von ihm Notiz genommen hatte. Vorhangringe aus Holz klapperten, ein Mädchen tauchte auf der Galerie auf und ging schnellen Schrittes zur Treppe hinüber.
Sie hatte das lange dunkle Haar zu einem Zopf geflochten und trug fließende Musselinhosen. In Bewegung erinnerte sie an eine weiße Motte mit gespreizten Flügeln. Der Musselin war an den Fesseln in Bündchen zusammengefaßt, an denen winzige, fröhlich klimpernde Glöckchen befestigt waren. Barfuß hüpfte sie wie eine Wolke Distelwolle die Stufen hinunter. Ihre Füße berührten kaum den Boden. Als sie näher kam, sah er, daß ihr geflochtener Zopf mit kleinen weißen Blumen geschmückt war und ein roter Tupfer mitten auf ihrer Stirn prangte. Sich vor ihm aufbauend, legte sie wie beim Gebet die Handflächen aufeinander, um ihn zu begrüßen. »Willkommen im Golden Windhorse.« Sie verbeugte sich.
Gezwungenermaßen mußte Guy den dritten Schock innerhalb von wenigen Minuten verdauen, reagierte aber dennoch geistesgegenwärtig. Dieser eine Augenblick war gefährlich und bot ihm gleichzeitig eine große Chance. Sein Blick ruhte auf ihrem Scheitel, der ebenfalls rot gepudert war. Er streckte die Hand aus und berührte vorsichtig ihre Schulter. Dann sagte er: »Tag, Sylvie.«
»Ich heiße jetzt Suhami.« Selbst ihre Stimme klang anders. Sanft, wohlklingend, leicht gedämpft, als dringe sie durch mehrere Baumwollschichten. »Das heißt tanzender Wind.«
Im stillen spielte Guy mehrere Antworten durch, die seiner Einschätzung nach alle mißverständlich sein konnten, und schwieg. Nickte nur mit dem Kopf und zog die untere Hälfte seines Gesichts zu einem Lächeln hoch. War diese Reaktion zu kühn? Der gesenkte Blick Suhamis verriet ihm nichts. Sie sagte: »Du bist früh dran.«
»Ja. Ich hatte gehofft, wir könnten uns vor dem Abendessen unterhalten.«
»Ich fürchte, das wird nicht möglich sein.« Allein der Gedanke schien sie aufzuregen. Die Haut unter dem roten Punkt legte sich in Falten.
Unsicher und reglos stand Guy da und starrte seine Tochter an. Nur Sylvie war in der Lage, ihn in solch einen Zustand zu versetzen, und zum ersten Mal störte es ihn wirklich, daß sie dazu fähig war.
Ohne ein weiteres Wort entfernte sie sich. Durchmaß die Halle, verschwand in einem Korridor. Gewiß ging sie davon aus, daß er ihr folgte. Guy setzte sich in Bewegung und kam sich auf einmal unglaublich ordinär vor. Der Flur endete vor einer Glastür, die auf die Terrasse hinausführte. Kurz vor der Tür, auf der linken Seite, waren ein paar Holzhaken angebracht, an denen ein alter Regenmantel und ein Wäscheklammerbeutel hingen. Darunter standen mehrere Paare Gummistiefel und ein Paraffinofen. Gegenüber dieser Wand führten drei Steinstufen zu einer weiteren Tür, aus der das Klappern von Teelöffeln und Geschirr drang.
Guy drückte den Türgriff runter und trat in die quadratische, niedrige Küche. Die Kacheln und die Steinspüle hatten Risse und sahen alt aus. Es gab ein langes Eisenregal, einen moderneren Gasherd. Sylvie kochte Tee. Aus einem flachen Bastkorb nahm sie Minzeblätter, legte sie in eine kleine Teekanne und goß kochendes Wasser darauf. Zuerst hoffte Guy, daß er nicht für ihn bestimmt war, dann wieder hoffte er, daß Sylvie den Tee doch für ihn aufbrühte.
Sie ging zu einem Regal, auf dem verschiedene Messer ausgelegt waren, nahm eins herunter und begann ein Stück glänzendes, klebriges und hart aussehendes Etwas zu zerteilen. Ihr Vater, der erst vor kurzem einen Bericht über Drogen gesehen hatte, fand, das Zeug sähe wie gepreßter Cannabis aus.
»Was ist das?«
»Rambutanzwieback.«
»Aha.«
Jetzt richtete sie ein Tablett her. Offenbar war der Tee weder für sie noch für ihn. Jede Sekunde würde sie das Tablett nehmen und vielleicht endgültig verschwinden. Guy studierte das gefaßte Profil. Suchte darin nach einer Reaktion auf ihre Begegnung. Wie konnte sie nur so ruhig sein? Hatte sie tatsächlich keinen Sinn für die Bedeutung des Augenblicks? Was immer er auch erwartet haben mochte, das hier bestimmt nicht. Sie kam ihm wie eine Fremde vor. War seine Tochter und doch nicht seine Tochter.
Möglicherweise hatte man sie einer Gehirnwäsche unterzogen. Vielleicht war dies die Zentrale eines verrückten Kults - das würde das fließende Kostüm, die dummen Glöckchen und diesen lächerlichen roten Punkt erklären. Ohne einen historischen Bezugspunkt für solch eine Transformation lehnte er sie prinzipiell ab, wie ihm jedwede Veränderung widerstrebte, die ohne seine Zustimmung vonstatten ging.
Ihm entging nicht, daß sie allen Gegenständen auf dem Tablett eine übertriebene Aufmerksamkeit schenkte. Mit extremer Präzision und widernatürlich konzentriert neigte sie zwischen den einzelnen Bewegungen den Kopf nahezu ehrerbietig. Wie bei allen Ritualen wurde auch hier der Beobachter bewußt ausgeschlossen. Ihre Ernsthaftigkeit ging Guy langsam auf die Nerven. Er verspürte den heftigen Drang, sie zu irgendeiner Reaktion zu nötigen, wohlwissend, wie unklug ein solcher Schritt wäre. Auf die Idee, daß seine Gesellschaft ihr unerträglich war, kam er nicht.
»Ein wunderschönes Haus, Syl... ähm... Suzz... ähm...«
»Ja. Ich bin sehr glücklich hier.«
»Das freut mich - oh! Es freut mich, daß du glücklich bist, Sylvie.« Ihm fiel auf, daß sie angesichts seiner aufdringlichen Überschwenglichkeit zusammenschrumpfte. Auf seine Stimme achtend, fügte er hinzu: »Wie kommt das? Was bedeutet dieser Ort für dich?«
»Ich habe hier meinen Frieden gefunden.« Eine grazile Bewegung der Hand schloß das alte Regal und die Küchenschränke. »Und Menschen, denen wirklich etwas an mir liegt.«
Ohne groß zu murren, fing Guy den Schlag unter die Gürtellinie ab.
Er konnte sehen, daß sie es ernst meinte. Das wußte er nun. Oder dachte es, was auf das gleiche hinauslief. Daher rührten zweifellos ihr ausdrucksloses Gesicht, ihre fließenden Bewegungen, ihre vagen Verbeugungen. Demut war Guy unerträglich. Wenn es nach ihm ging, konnte man sich Bescheidenheit in den Hintern schieben. Wieder wandte sie sich mit ihrer geschlechtslosen sanften Stimme an ihn: »... und als der Meister vorschlug, daß du eingeladen werden sollst, haben wir alle über diesen Vorschlag diskutiert und sind übereingekommen, daß mein Geburtstag der passende Zeitpunkt ist.«
Der zweite, so ganz beiläufig ausgeteilte Schlag unter die Gürtellinie setzte Guy wesentlich stärker zu als der vorige. Um ehrlich zu sein, er hing in den Seilen. Sein Besuch war also nicht ihre Idee gewesen. Der Vorschlag stammte von einer Horde Irrer, die alles miteinander teilten, die permanent füreinander da waren, Frieden predigten und die Venus beobachteten. Seine Anwesenheit an diesem Ort wurde von ihnen nur geduldet. Der Gedanke verletzte seinen Stolz. Und machte ihn eifersüchtig. Ganz spontan wollte er unhöflich sein. Ihr weh tun, weil sie ihm diesen Schlag versetzt hatte.
»Ich denke, das wird sich legen.«
»Was?«
»All dieser Frieden und so.«
»Nein, das wird sich nicht legen.«
»Du bist noch sehr jung, Sylvie.«
»Ich bin älter, als ich aussehe.«
Die Worte waren voller Bitterkeit. Er schaute zu ihr hinüber, und die Kluft schloß sich. Ehrlichkeit erblühte, und plötzlich machten sich in der Küche jämmerliche Reminiszenzen der Vergangenheit breit. Verpaßte Chancen, Gesten, die nie ausgeführt, Lieder, die nie gesungen worden waren. Guy ging auf sie zu, und sie wich zurück.
»Es tut mir so leid, Sylvie. Bitte... glaub mir ...es tut mir so leid.«
»Ach, warum bist du nur gekommen?« Sie verlor die Fassung. In ihren Augen funkelten auf einmal Tränen.
»Ich habe einen Brief erhalten -«
»Ich meine, wieso bist du jetzt gekommen? Wieso konntest du nicht einfach wie verabredet um halb acht kommen?«
»Das habe ich dir schon vorhin erklärt. Ich wollte -«
»Du wolltest, du wolltest. Kannst du nicht einmal in deinem Leben tun, was jemand anderer will? Ist das dir ganz und gar unmöglich?« Sie brach ab, drehte sich um und legte die Hände aufs Gesicht.
Bedrückendes Schweigen machte sich breit. Guy, tief betroffen von diesem abrupten und erschreckenden Umschwung, von ihrer Ablehnung, senkte den Kopf. Er mußte erkennen, daß es seine Schuld war. War es nicht unwichtig, daß diese Gelegenheit, seine Tochter zu treffen, von Fremden initiiert worden war? Man hatte ihm eine Chance gewährt - allein das zählte. Und er hatte in dieser ihm fremden Umgebung den Mantel der Feindschaft übergestreift und selbstherrlich die Zügel in die Hände genommen. Ich habe alles versaut, dachte er und verdrängte die Erkenntnis auf der Stelle. Ein falscher Schritt war noch keine Katastrophe.
Sein Blick bohrte sich in Sylvies Rücken. Der dicke, mit Blumen verzierte Zopf war nach vorn gefallen und kaschierte nun nicht mehr jene zarte Einbuchtung unterhalb ihres Halses. Wenigstens das hatte sich nicht geändert. Die Stelle wirkte so zart und zerbrechlich wie eh und je. Er hatte mal gehört, daß sie die Exekutionslinie genannt wurde, und war erschauert, als wäre das sein Metier. Stotternd begann er zu sprechen.
»Ich fürchte, ich habe falsch gehandelt, aber nur, weil ich dich so gern sehen wollte. Und jetzt, wo ich dich sehen kann, scheine ich nicht in der Lage zu sein... « Das Ausmaß seiner Hilflosigkeit, seines reuigen Verlangens schnürte ihm die Kehle zu.
Suhamis bis dahin gerader Rücken krümmte sich. Schon schämte sie sich für ihren unkontrollierten Gefühlsausbruch. So durfte sie sich nicht verhalten. Welchen Sinn hatte die Meditation, das Ringen darum, im Licht zu wandeln und allen empfindungsfähigen Wesen ihre Liebe darzubieten, wenn sie nicht einmal in der Lage war, einem einzelnen Menschen Höflichkeit entgegenzubringen? Ihr Vater war ein verabscheuungswürdiger Mann, doch hassen durfte sie ihn nicht. Er hatte ihr unermeßlichen Schmerz zugefügt, aber sie durfte keine Rache üben. Der Meister hatte ihr in dieser Sache mit Rat und Tat zur Seite gestanden, und sie wußte, daß er recht hatte. Bosheit zu nähren hieß nur, sich selbst zu schaden. Ihr Vater konnte einem leid tun. Wer auf dieser Welt liebte ihn schon? Doch ich - Suhami atmete tief durch und beruhigte sich - habe Liebe kennengelernt. Vom Meister, von meinen Freunden hier, von Christopher. Man hat mich genährt und sich um mich gesorgt. Sollte ich dafür nicht auch Großzügigkeit walten lassen? Sie drehte sich um und blickte ihm ins Gesicht. Noch immer wirkte er optimistisch, aber längst nicht mehr so forsch. Sein Kinn ruhte auf seiner Brust.
»Mir tut es auch leid. Du darfst nicht denken...« Sie suchte nach etwas, das der Wahrheit entsprach. »Jeder ist fasziniert von der Idee, dich kennenzulernen.«
Guy antwortete blitzschnell: »Und ich freue mich darauf, die Craigies kennenzulernen.«
»Die...?« Suhami war verwirrt und lachte dann, als habe er etwas wirklich Witziges gesagt. »Oh... so ist es nicht.« Sie hob den Zopf und ließ ihn wieder auf ihren Rücken fallen. »So ist es überhaupt nicht.« Dann hob sie das Tablett auf. »Ich muß das hier dem Meister bringen.«
»Ist der Tee inzwischen nicht kalt?«
»Nein, ich denke nicht.«
Guy fiel es wie Schuppen von den Augen, daß sie sich nur wenige Minuten in der Küche aufgehalten hatten. Kaum zehn Minuten waren verstrichen, seit sie sich in der Halle begegnet waren. Zehn Minuten, in denen er Achterbahn gefahren war während einer Begegnung, die ihn seit Tagen unablässig beschäftigte.
Auf der Treppe drehte sie sich um und zeigte auf die verglaste Tür neben den Gummistiefeln. »Du kannst da rausgehen. Vielleicht hast du ja Lust, dir den Garten anzusehen? Oder die Bibliothek?«
»Ich denke, ich werde gehen, meinen Koffer ins Hotel bringen und eine Dusche nehmen. Ich habe ein Zimmer reserviert.«
»In einem Hotel?«
»Ich habe beschlossen, dort zu übernachten. Dachte, ich würde hier vielleicht stören. Ich möchte keine Umstände machen.«
Suhami fixierte ihn einen Moment lang und lächelte dann. Die Vorstellung, daß ihr Vater nicht stören wollte, amüsierte sie, aber ihr Vater legte ihre Reaktion als einzigartig und als Beweis ihrer Zuneigung aus. Seine von Zorn und Kummer verdrängte Selbstsicherheit kehrte zurück. Er konnte es schaffen. Er mußte sich nur an ihre Spielregeln halten. Er würde allem zustimmen, jeden mögen und sich - falls nötig - verstellen. Während er beobachtete, wie seine Tochter sich entfernte, empfand er große Befriedigung, als habe er diese unmögliche Leistung schon vollbracht.
Er würde Sylvie beweisen, daß er in der Lage war, sich zu ändern. Womöglich würde es ihm sogar gelingen, sie von der Echtheit seiner Gefühle zu überzeugen. Aufgeregt und hoffnungsvoll schlenderte er an dem alten Ofen und den Gummistiefeln vorbei und trat hinaus in die Sonne.
»Da ist jemand auf der Terrasse.« Trixies Wange rieb über den Fensterrahmen. Die Bewegung produzierte ein leises Quietschen, veranlaßte den Mann jedoch nicht, zu ihr hochzusehen. »Ich nehme an, das ist Suhamis Vater.«
Janet kam herüber, legte vorsichtig die Hand auf Trixies Schulter und schaute ebenfalls nach unten. Trixie ließ sie stehen und sagte: »Er sieht wie ein Gangster aus.«
Das tat er tatsächlich ein bißchen. Die schwere Statur in Verbindung mit der durchschnittlichen Größe verlieh Guy ein fast kubisches Aussehen. Sein Unterkiefer, vom Rasieren normalerweise lilagrau, hatte nun die Farbe von Treibhaustrauben.
»Und was für ein gräßlicher Anzug.« Mit diesem Kommentar zu dem Gieves-&-Hawkes-Anzug aus einem doppelfädigen Seiden-Mohair-Gemisch verbündete Janet sich mit ihrer Freundin. Sie musterte den mächtigen, überraschend wohlgeformten Schädel mit den dunklen Locken, die auf breite, fleischige Schultern fielen. Anscheinend hatte er keinen Hals. »Ich wette, er trägt ein Toupet.«
»Auf gar keinen Fall.« Trixie ließ sich in einen grünen Sessel fallen und schwang die Beine über die Armlehne. Sie trug einen dünnen Nylonmorgenmantel und kaum was darunter. »Ich finde, er sieht eigentlich ziemlich umtriebig aus. Ein bißchen wie jener eigenartige Mann aus deinem Buch. Der Minnator.«
»Minotaur.« Zu spät. Janet hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen.
»Hättest Lehrerin werden sollen«, giftete Trixie. Sie mußte an verstaubte Tafeln denken, an böswillige oder uninteressierte Schüler, an einsame Nächte, in denen flüchtige Hausarbeiten korrigiert wurden. »Hackst immer auf anderen rum.«
»Tut mir leid.«
»Was willst du überhaupt?«
»Ich wollte mir einen Wattebausch borgen.«
In Wirklichkeit liebte es Janet einfach, sich in diesem Zimmer aufzuhalten, selbst wenn Trixie nicht da war. Manchmal glaubte sie sogar, daß ihr das noch lieber war. Dann konnte sie eher sie selbst sein. Sich entspannen. Die berauschende Atmosphäre in sich aufsaugen: Gesichtspuder, Parfüm, billiges Haarspray, eine Schale Rosen. Einmal hatte sie sogar Zigarettenrauch wahrgenommen. Dieses angenehme Potpourri aus Gerüchen in Verbindung mit jenem unterschwelligen süßen Duft des Verfalls schuf eine einschläfernde Ante-Bellum-Atmosphäre. Rosen waren verboten. Gartenblumen durften nur zu seltenen Gelegenheiten geschnitten und dann in Gemeinschaftsräumen aufgestellt werden, wo sich jeder an ihnen erfreuen konnte. Aber Trixie machte immer, was ihr paßte, und verließ sich auf den allgemein vorherrschenden Widerwillen, an anderen Kritik zu üben.
Janet zog eine Schublade heraus und gab vor, nach einem Wattebausch zu suchen. Sie berührte einen pfirsichfarbenen Satinslip, hauchdünne Strümpfe und ein paar Kleidungsstücke aus austernfarbenem Satin, die sie bei einer bestimmten Gelegenheit einmal Tarnschlüpfer getauft hatte. Heute würde sie dies nicht mehr laut wiederholen. In der zweiten Schublade lagen zwei Packungen Tampax und mehrere Halbschalen-büstenhalter aus Spitze.
»Das, was du suchst, wirst du da nicht finden.«
»Nein - wie dumm von mir.« Janets langes, knochiges Gesicht lief rot an, und sie ließ das fipsige Ding wie glühende Kohle fallen. »Ich habe vergessen, sie auf Arnos Liste zu schreiben.«
Eines Tages, fuhr es ihr durch den Kopf, wird sie mich - wenn ich mir Pflaster oder Taschentücher oder Sicherheitsnadeln ausborgen möchte - zur Rede stellen und sagen, sie wisse, daß ich mir in Wahrheit gar nichts ausborgen möchte. Daß ich nur hierherkomme, um die Luft zu atmen, die sie ausatmet. Oder um die Dinge zu berühren, die sie berührt.
»Ich komme einfach nicht über diese muskelbepackten Schultern weg.« Wann immer Trixie im Begriff war, eine Gemeinheit loszuwerden, schwang in ihrem Tonfall ein Hauch Erwartung mit. Diesen bestimmten Tonfall bemerkte Janet jetzt, und sie wappnete sich innerlich. »Ich frage mich, wie er im Bett ist.«
Was soll ich ihrer Meinung nach nun sagen? Was kann ich sagen? Soll ich einfach lachen? Mit ihr von Frau zu Frau darüber scherzen? »Es gibt nur eine Möglichkeit, das rauszufinden?« Doch wenn ich dazu in der Lage wäre, hätte sie mir diese Frage erst gar nicht gestellt.
Bilder zogen durch Janets Kopf. Bleiche, zarte Gliedmaßen, die sich um dunkelhäutige, behaarte, brunftige Maskulinität schlangen. Von schwarzen Haaren überzogene Hände, suchend, tastend. Dicke Stummelfinger, die weiche Brüste drückten, honigfarbene Locken zerzausten. Mit einem Anflug leichter Übelkeit und kurz vor einem Tränenausbruch, warf sie einen Blick zum Sessel hinüber und bemerkte das zweideutige Lächeln.
»Einen Millionär zu vögeln, das würde mir echt Spaß machen. Alle behaupten, Macht wäre ein Aphrodisiakum.«
»Wen meinst du mit >alle« Trixie war wie Kleopatra, die mit der Wünschelrute nach Gold suchte.
»Ich wette, das stimmt. Der da sieht echt aus, als stehe er darauf, Schaden anzurichten.«
Das war die perfekte Eröffnung für eine spitzzüngige Erwiderung. Als Trixie sich der Kommune angeschlossen hatte, war keinem entgangen, daß ihr erst vor kurzem Gewalt angetan worden war. Ihre Arme und ihr Nacken waren von blauen Flecken überzogen, ihr Haar strähnig und verwahrlost gewesen. Aber trotz Heathers wiederholter Angebote, ihr von Frau zu Frau mit Rat und Tat zur Seite zu stehen, hatte Trixie kein einziges Mal ein Wort über diese Verletzungen verloren oder deren Ursprung erläutert. Würde Janet es nun wagen, sie darauf anzusprechen? Sie war kurz davor.
»Erzähl mir nur nicht, daß du eine von denen bist, die sich gern von Männern verprügeln lassen.«
Trixie lachte. Ein spontanes, amüsiertes Feixen, als habe Janet eine komplett verrückte Frage gestellt. Dann schwang sie ihre bleichen Beine von der Armlehne und stand auf. »Wenn du nur wüßtest...«
»Was wüßte?« Die Möglichkeit, vielleicht etwas aus der Vergangenheit der anderen zu erfahren, ließ die wißbegierige Janet einen Schritt nach vorn machen. Würde Trixie ihr nun von den billigen blauen Briefumschlägen erzählen, die sporadisch kamen? Von den Telefongesprächen, die sie beendete, sobald jemand ins Zimmer trat?
Aber Trixie zuckte nur mit den Achseln und schlenderte zum Fenster hinüber. Guy stand immer noch da und schaute sich hilflos um. Er war vor die Terrassenstufen getreten, die zum Kräutergarten führten, und ließ den Blick über den Rasen schweifen. Trixie öffnete das Fenster.
»Was machst du da?«
»Wonach sieht es denn aus?«
»Aber du wirst doch nicht... zieh dir wenigstens...« Hilflos mußte Janet mit ansehen, wie Trixie auf das Fensterbrett rutschte, ihren Morgenrock in der Taille zusammenhaltend, dessen Stoff von ihrer linken Schulter glitt. Sie erhaschte einen Blick auf Trixies herausforderndes, aufgeregtes Antlitz und erkannte, wie fasziniert sie war.
»Hallooo.« Dann, nach einer kurzen Pause: »Hier oben.«
»Hallo.« Er hatte gelächelt, doch der Klang seiner rauhen, unpersönlichen und kalten Stimme ließ einen das nicht erahnen.
Der Morgenrock rutschte noch ein Stück herunter, als Trixie sich etwas weiter aus dem Fenster lehnte. »Suchen Sie jemanden?«
Janet riß die Schublade mit den Pullovern auf. Die Farben verschwammen vor ihren Augen. Wie eine Wilde wühlte sie die Sachen durch.
»Wie gefällt Ihnen das Wetter?« erkundigte sich Trixie und zeigte mit dem Kinn auf die verwelkenden Blumen und die trockenen Büsche. Beim Sprechen verrutschte der ausladende Ausschnitt ihrer Bluse und gab kurz einen Blick auf den cremigen, von Sommersprossen überzogenen Brustansatz frei.
»Zu heiß für mich.« Beim letzten Wort hob sich die Stimme etwas, als hätte er eine Frage gestellt.
Trixie lachte, rauchig und frech. »In diesem Anzug kann ich mir das gut vorstellen.« Nun stand sie breitbeinig auf der Terrasse, einen Tick näher, als die Höflichkeit es erlaubte. Sie hatte die Haltung eines Principal Boy eingenommen.
»Ein Drink dürfte helfen«, setzte Guy die Unterhaltung fort.
»Im Kühlschrank steht Zitronentee.«
»Ich meinte einen richtigen Drink. Ich werde gleich in mein Hotel fahren und dort einchecken. Vielleicht könnten wir dort etwas trinken.«
»Ohhhh...« Dieser Vorschlag überrascht mich nun doch, sagten der beschleunigte Atem und das Klimpern der Wimpern. »Ich weiß nicht so recht.«
Trixies Verwirrung, die Guy auf der Stelle als weibliches Getue abtat, war nicht nur gespielt. Als sie sich schnell ein paar Klamotten übergeworfen hatte und zur Terrasse hinuntergelaufen war, hatte sie nur den kindischen Wunsch gehabt, einen reichen und berühmten Mann aus der Nähe zu sehen. Kaum daß sie sich ihm vorgestellt hatte - sie hatten sich inzwischen etwa zehn Minuten miteinander unterhalten, hauptsächlich über Suhami -, registrierte sie eine ihr nicht gänzlich unbekannte physische Reaktion. Ihre halb im Ernst, halb im Spaß dahingeworfene Bemerkung über Geld und welche Wirkung es auf einen hatte, erwies sich nun als verblüffend zutreffend.
Die Redewendung, daß die Reichen sich von ihren Mitmenschen nur dadurch unterschieden, daß sie mehr Geld besitzen, war Trixie bislang nicht zu Ohren gekommen, und wäre dem so gewesen, hätte sie vehement Einspruch erhoben. In ihren Augen war Guy ein durch und durch geheimnisvolles Wesen. Die Verkörperung eines Charakters, den man eigentlich nur aus Seifenopern kannte. Immer in Bewegung, immer am Geschäfte machen, stets damit beschäftigt, Leute aufzubauen und zu vernichten und in sultanischem Prunk an der Spitze eines atemberaubenden Familienclans zu stehen.
Sie spazierten zu seinem Wagen. Mit großen Augen musterte Trixie das auf Hochglanz polierte, funkelnde, fuchsrote Chassis, die großen Scheinwerfer, die umwerfenden Weißwandreifen und die Motorhaube, die dem gespannten Segel einer Yacht glich. Sie kam nicht mal auf die Idee, ihre Ehrfurcht zu verbergen, und sagte: »Wie wunderschön. Sie müssen sehr reich sein.«
Worauf Guy schlicht erwiderte: »Ich bin so reich wie Gott.«
Furneaux, der sie näher kommen sah, legte seinen Evening Standard weg, setzte seine spitze Samtkappe auf und sprang aus dem Wagen, um die Hintertür aufzureißen. Trixie stieg ein und nahm ganz vorsichtig auf dem Rand Platz, als wäre die Rückbank aus Glas gefertigt. Nachdem sie losgefahren waren, lehnte sie sich Stück um Stück zurück, und als sie durch Causton glitten, hatte sie es sich in einer Ecke bequem gemacht. Ein Arm lag lässig auf dem Fensterrahmen, damit sie - sollte sie einen echten oder falschen Bekannten sehen - gleich winken konnte.
Wie gewöhnlich dem Prinzip folgend, daß man sich nicht auf eine Sache konzentrierte, wenn man gleichzeitig mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen konnte, tastete sich Guy näher an Trixies Knie heran, schaute ihr tief in die Augen und stellte ihr weitere Fragen über die Kommune.
»Wie ist er denn nun - dieses strahlende Licht?«
»Der Meister? In Ordnung. Das heißt, nett und... Sie wissen schon... nun, gut.« Jetzt, wo sie gefragt wurde, überraschte es Trixie, wie wenig sie zu diesem Thema zu sagen wußte. Guy warf ihr einen erwartungsvollen Blick zu. Sie zerbrach sich den Kopf, was sie ihm sonst noch erzählen konnte. »Man kann sich prima mit ihm unterhalten.« Das behaupteten alle, also mußte es stimmen, wenngleich sich Trixie nach jenen seltenen Zweiersitzungen weniger beruhigt, denn entblößt und nervös gefühlt hatte. »Er verbringt eine Menge Zeit mit Meditation.«
Guy kicherte höhnisch. Für Menschen, die sich nicht mit voller Kraft ins chaotische Treiben der Arbeitswelt stürzten, brachte Guy nur Verachtung auf. Er selbst arbeitete achtundvierzig Stunden pro Tag, wie er immer wieder gern verkündete. Laut Felicity klang das, als verdinge er sich in einem Steinbruch.
Trixie interessierte sich mehr dafür, etwas über Guys Leben zu erfahren, als von ihrem eigenen zu sprechen, doch ehe es ihr gelang, dem Gespräch eine andere Richtung zu geben, sagte er schon: »Sie müssen doch noch mehr über ihn wissen.«
»Nein, ehrlich nicht.«
»Kommen Sie - Sie sind ein intelligentes Mädchen.« Guy lächelte in das ausdruckslose, fragende Gesicht. »Zum Beispiel - gehört ihm das Haus?«
»Das weiß ich nicht. Es gibt ein Komitee, das sich um alles kümmert.« Seine Hand streichelte ihr Knie. »May, Arno. Leute, die schon länger dort leben. Lassen Sie das.«
»Was soll ich lassen?« Sein vulgärer, energischer Tonfall war fast enervierend. Seinem mächtigen Körper hafteten die unterschiedlichsten Gerüche an: Tabak und Alkohol, Haarwasser, ein scharfes, zitroniges Rasierwasser, das den männlichen Schweißgeruch kaum zu kaschieren vermochte. Er rückte näher und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Erstaunt riß Trixie den Mund auf.
»Das ist wirklich schrecklich.«
»Ich bin ein schrecklicher Mann.«
Guys Hand glitt nach oben, tastete sich entschlossen vor. Der oftmals von Soldaten und Athleten geäußerten Vermutung, daß Geschlechtsverkehr einen auslaugte und aller physischen Reserven beraubte, stimmte er nicht zu. Nach dem Sex fühlte sich Guy geistig klar, befreit und war stets guter Dinge. Auf all das war er angewiesen, falls der Abend so erfolgreich verlaufen sollte, wie er es anvisiert hatte. Daß ihm Trixie über den Weg gelaufen war, kam ihm da gerade recht. Er nahm ihre Hand, drehte sie um und kratzte mit seinem Nagel über ihre Handfläche.
Trixie, der es nicht gerade leichtfiel, den Blick von ihrem triebhaften Begleiter abzuwenden, fixierte Furneauxs Nacken. Trotz des ganz gerade gehaltenen Rückens und - das sah sie im Rückspiegel - des stur auf die Straße gerichteten Blickes beschlich sie der Eindruck, daß er heimlich grinste.
Guy drückte seine vollen roten Lippen auf Trixies Ohr, schob seinen Mittelfinger zwischen ihren Ring- und Mittelfinger und bewegte ihn dort immer schneller hin und her. Nicht gerade entschieden versuchte Trixie wegzurutschen. Es gefiel ihr nicht, daß sie seine plumpen Bemühungen nur der langen Fahrt zum Hotel zu verdanken hatte. Gewöhnlich bestand Guys Vorspiel aus der Vergewisserung, daß das Mädchen wach war.
Als der Wagen auf die gewundene Auffahrt des Chartwell Grange rollte, brachte Trixie ihr Haar in Ordnung. Furneaux parkte und lud das Gepäck aus. Die ausladende Empfangshalle war mit mehreren chintzbezogenen Sofas, tiefen Sesseln und kleinen Tischchen möbliert, auf denen Sport- und Countryzeitschriften ausgelegt waren. Auf korinthischen Säulen kamen zwei atemberaubende Blumenarrangements zur Geltung.
Hätte Guy zu der Sorte Mensch gehört, die ein Gespür für die Gefühle ihrer Mitmenschen hat, wäre ihm am Empfang hinter dem »Willkommen«-Schild eine gewisse Kühle nicht entgangen. Der Umgangston von Guys Sekretärin hatte die kleine Jill Meredith, die die Gamelin-Reservierung entgegengenommen hatte, schwer vor den Kopf gestoßen. Auf Jills Frage, ob die beiden Gäste Wert auf nebeneinanderliegende Zimmer legten, hatte die Sekretärin geraunzt: »Stellen Sie sich nicht so blöd an. Haben Sie nicht so was wie ein Nebengebäude? Bringen Sie den Chauffeur dort unter.«
Es gab keinen Grund, hatte Jills Chef verlauten lassen und seine Angestellte mit einem Iced Malibu zu trösten versucht, solch einen Ton anzuschlagen. Jill nickte und wünschte, sie hätte bei der Gelegenheit mit solch einer einfallsreichen Erwiderung aufgewartet. Nun händigte sie die Schlüssel aus, ohne zu lächeln. Ein Page in einer Tracht wie aus einem komödiantischen Musical - mit weißen Handschuhen und nur einer Epaulette - ging mit Guys Koffer voran.
»Und jetzt die Drinks... ja?« wandte sich Guy an seine Begleiterin, deren Taille er fest umschlang.
Trixie nickte und warf ihm einen aufgeregten, leicht nervösen und besitzergreifenden Blick zu. In der festen Überzeugung, daß jeder im Hotel wußte, wer er war, meinte sie, ihr eigener Status verändere sich dementsprechend. Doch Geschäftsmänner mittleren Alters, die Sekretärinnen, persönliche Assistentinnen, Hilfskräfte oder andere nächtliche Begleiterinnen mitbrachten, waren im Grange keine Seltenheit. Diese jugendlichen Anhängsel wurden von den Hotelangestellten als »Zusatzgepäck« tituliert und von allen geschmäht. Nicht wegen moralischer Bedenken, sondern weil sie niemals Trinkgeld gaben.
»Etwas Scotch... Gin. Eis. Soda.«
»Wann möchten Sie -«
»Sofort.«
»In der Tally Ho Lounge, Sir?« erkundigte sich die Empfangsdame.
»Nur wenn Ihnen daran liegt, daß sie innerhalb von fünf Sekunden leergefegt ist.« Jill Meredith errötete. »Ansonsten vor meiner Tür.«
»Das Eis wird schmelzen«, prophezeite Trixie kichernd, als sie in den Lift traten. Glücklicherweise wußte sie noch nicht, daß Guys brutale und habgierige Vorgehensweise keinem Eiswürfel die Chance einräumte, auch nur leicht anzuschmelzen.
Bevor die Tür ins Schloß fiel, hatte er seine Hände schon unter ihrem Rock und rieb sein geschwollenes Geschlecht an ihrem Schenkel. Im Zimmer stürzte er sich wie ein gefräßiger Wolf auf sie. Riß an ihr, zwickte sie, knabberte an ihr herum, biß in ihr Fleisch. Währenddessen kamen ihm unablässig Obszönitäten über die Lippen. Bekleidet, aber mit offenem Hosenladen drang er voller Zufriedenheit und unter Kraftanwendung in sie ein, um kurz darauf ihren Kopf in seinen Schoß zu drücken.
»Nein«, jammerte Trixie. »... das mache ich nicht -«
»Mach hin...« Gewaltsam packte Guy ihren Haarschopf. Sie heulte vor Schmerz auf. »Los, runter, du widerspenstige, störrische Kuh.«
Nachdem er fertig war, stürzte Trixie ins Badezimmer, riß die Zahnbürste aus der Verpackung, schraubte die Zahnpastatube auf und schrubbte ihre Zähne, ihr Zahnfleisch, ihre Zunge, sogar ihre Lippen. Danach gurgelte sie, spülte mit Mundwasser und trank ein Glas Wasser. Was nichts nutzte - sein Geschmack war nicht zu vertreiben.
Sie betrachtete sich im Spiegel. Musterte ihre mit blauen Flecken und Bissen überzogenen Brüste und die roten Striemen auf ihren Armen. Steifbeinig kehrte sie ins Schlafzimmer zurück, hob das zerfetzte Höschen und die zerrissene Bluse auf und machte sich auf die Suche nach ihrem Rock.
Auf dem Bettrand sitzend, bemerkte sie, wie verspannt ihre Rückenmuskeln waren. Da sie nicht die geringste Lust hatte, Guy anzusehen, fixierte sie eine Obstschale. Auf der dazugehörigen Karte stand: Verleben Sie eine schöne Zeit? Großartig. Dann erzählen Sie Ihren Freunden davon. Oder vielleicht sogar uns. Viele Grüße, Ian und Fiona.
Guy hatte die Getränke hereingeholt und mixte einen großen Scotch. Er nahm einen tiefen Schluck, zog seine Brieftasche hervor, nahm einen Geldschein heraus und ließ ihn aufs Bett fallen mit den Worten: »Das ist für dich.«
Er hatte es sich zur Regel gemacht, für flüchtigen Sex zu bezahlen. Damit ging er späteren Forderungen aus dem Weg. Niemand schuldete irgend jemand irgendwas. Kein Geschwätz über zukünftige Treffen, keine lahmen Versprechungen, Kontakt zu halten oder anzurufen. Und keine gotterbärmlich langweiligen Vorträge über unglückliche Kindheiten. Rein und raus. Das war’s.
Ungläubig starrte Trixie das Geld an. Guy zog sein Jackett aus, hängte es über die Stuhllehne und begann seine Krawatte aufzuknoten. Er genehmigte sich einen weiteren Schluck Scotch und zeigte mit dem Daumen in Richtung Tablett. »Bedien dich.« Als er keine Antwort erhielt, fragte er: »Was ist los?«
»Was los ist? Was los ist?«
»Fünfzig, mehr kriegst du nicht, falls es das ist, was dir Kummer bereitet.«
»Ich will kein Geld.« Bibbernd kauerte Trixie sich auf dem Bett zusammen. »Ich will nichts davon.«
»Was ist es dann?« Auf seinen Froschlippen machte sich ein Grinsen breit. »Werden diese Woche Millionäre umsonst gefickt? Nur zu - nimm es. Kauf dir ein neues Oberteil. Von deinem ist eh nicht mehr viel übrig.«
»Sie sind ein... Sie sind ein...« Als wolle sie sich schützen, schlang sie die verstriemten Arme um ihren Oberkörper. »Abscheulich ... Sie sind abscheulich.«
Ernsthaft überrascht stierte Guy zu ihr hinüber. »Jetzt kapiere ich gar nichts mehr.« Er legte seine Krawatte ab und machte sich daran, sein Hemd aufzuknöpfen. »Aber schon jetzt bin ich tödlich gelangweilt. Du kannst dir jetzt einen Drink machen und dich wieder normal benehmen oder abhauen. Wie du dich entscheidest, ist mir vollkommen schnuppe.«
Er verschwand im Badezimmer, drehte die Dusche an und kam noch mal zurück, um Hose und Unterhose abzustreifen. Krank vor Wut und Selbsthaß sah Trixie ihm dabei zu. Wie hatte sie es nur zulassen können, daß er sie anfaßte? Er war widerwärtig. Schwitzte am ganzen Leib, war überzogen mit diesen flachgedrückten, langen schwarzen Haaren. Selbst sein Gehänge war - wie sie jetzt bemerkte - ganz haarig, dunkel und glatt wie das Fell einer Ratte. Er zog die Socken aus.
Überwältigt und überrumpelt schloß Trixie die Augen, suchte Zuflucht in der Phantasie: Sie schenkte sich einen Scotch ein, knallte ihm das Glas auf die Lockenmähne und rammte ihm die Glassplitter in Mund und Augen. Im Besitz übermenschlicher Kräfte warf sie sich im Badezimmer auf ihn, packte ihn bei den seifigen schmierigen Schultern und drückte seinen Kopf so lange unter Wasser, bis keine Bläschen mehr aufstiegen. Dann kam ihr eine Idee. »Ich habe vergessen, Ihnen zu sagen..., daß ich Aids habe«, rief sie durchs Zimmer.
Guy bedachte sie mit einem kurzen Blick, ehe er höhnisch auflachte. »Mann, o Mann. Schon vor meiner Geburt sind mir bessere Lügen eingefallen.«
»Es ist wahr.« Doch sie beide hörten, wie dünn ihre Worte klangen, daß in ihnen ein fast flehender Unterton mitschwang. Angewidert schüttelte Guy den Kopf.
Doch in diesem Moment kamen Trixie noch mehr blutige, vor atemberaubender Vernichtung triefende Szenen in den Sinn, und sie erdachte eine Waffe mit vernichtender Schärfe. Diesmal rein zufällig. Dann erinnerte sie sich an ihre Unterhaltung auf der Terrasse und an den Schatten, der beim Gespräch über seine Tochter über Guys Gesicht gezogen war. Sie setzte sich auf.
»Eigenartig, daß Suhami auf Windhorse lebt, nicht wahr? Mit ihrer Herkunft. Und all dem Geld... Man möchte meinen, sie hat daheim alles, was sie braucht.« Guys veränderter Gesichtsausdruck machte ihr angst, aber ihr Verlangen, es ihm heimzuzahlen, feuerte sie an. »Es wundert mich nicht, daß sie den Meister abgöttisch liebt. Ich nehme an, er ist so ’ne Art Vaterfigur. Ein bißchen seltsam ist das allerdings schon. Zumal sie ja einen Vater hat.«
Die letzten Worte brachte sie nur stammelnd hervor. Die Art und Weise, wie Guy auf sie zukam, machte ihr angst. Es kostete sie große Mühe, sich nicht kleinzumachen, sich nicht in den Kissen zu verstecken. Er hielt ihr sein Gesicht vor die Nase. Sie konnte die großen Poren erkennen, die roten Äderchen, die widerspenstigen Haare auf seiner Nase.
»Ich werde jetzt duschen gehen. Den Geruch der Gosse abwaschen. Wenn ich rauskomme, will ich, daß du verschwunden bist. In fünf Minuten - okay?« Sein leises, bedrohliches Flüstern war so haßerfüllt, daß sein Atem auf ihrer Haut brannte.
Als die Badezimmertür zufiel, löste sich Trixies letztes Fünkchen Courage in Luft auf. Mit zittrigen Beinen erhob sie sich, taumelte zum Schminktisch hinüber. Im Spiegel sah sie, daß ihre Wangen feucht waren. Daß sie geweint hatte, war ihr nicht bewußt gewesen. Wie war das nur möglich? Zu weinen, ohne es mitzukriegen. Ein Seufzer voller Selbstmitleid kam ihr über die Lippen und wurde sofort unterdrückt, obwohl ihn niemand hören konnte.
Sie hörte, wie er sich einseifte und dabei rumplanschte. In einer samtbezogenen Schachtel lagen Gesichtstücher. Sie schnappte sich ein paar und rieb damit ihr Gesicht ab. Sie hatte viel zuviel Make-up aufgetragen. Hektisch und unprofessionell, ehe sie die Treppe hinuntergelaufen war. Die Erinnerung an vorhin ließ sie zusammenzucken. Trixie versuchte den Schaden, den die Tränen und der Schweiß angerichtet hatte, zu korrigieren, was kein Kinderspiel war, denn sie hatte ihre Handtasche vergessen und - das fiel ihr jetzt erst auf - infolgedessen kein Geld dabei.
Wie sollte sie heimkommen? Der Gedanke, sich an den Chauffeur zu wenden und sich zuvor an der Rezeption nach dessen Zimmernummer zu erkundigen, ließ sie erneut erschaudern. Zweifellos würde er sie ohne Gamelins Erlaubnis nirgendwohin bringen. Trixie mußte an ihre Eingebung im Wagen denken - daß der Mann über sie gelacht hatte. Wahrscheinlich hielt er sie für eine Art Prostituierte. Womöglich hielt jeder sie dafür! Von Scham überwältigt, wandte Trixie sich von ihrem Spiegelbild ab.
Das Wasser lief immer noch. Zwei Minuten waren gewiß schon verstrichen. Wie würde er reagieren, wenn er zurückkam und sie immer noch da war? Sie unter Gewaltanwendung rauswerfen, das würde er tun. Ihm war es doch scheißegal, ob er eine Szene machte. Reichtum bedeutete, daß man sich niemals entschuldigen mußte.
Da fiel ihr die Fünfzigpfundnote ein, die auf den nach liebloser Kopulation stinkenden Kissen lag. Daß sie kurz mit dem Gedanken spielte, sie zu nehmen, ekelte sie an. Das Geld war nicht als Entschädigung für den Sex gedacht, sondern für die blau angelaufenen Brüste, die Rückenschmerzen, die wundgescheuerten, tauben Gliedmaßen. Instinktiv, vielleicht um sich vor diesem verführerischen, aber unehrenhaften rationalen Gedanken zu schützen, riß sie den Geldschein entzwei. Dann noch mal und noch mal und noch mal, in so kleine Schnipselchen wie nur irgend möglich. Gerade als sie sie in die Luft werfen wollte, fiel ihr Blick auf die aus der Innentasche ragende Brieftasche. Sie zog sie raus und stopfte die Schnipsel hinein. Diese kindische Beschäftigung verschaffte ihr kurzzeitige Befriedigung. Sie malte sich aus, wie er in irgendeinem eleganten Restaurant nach seiner Kreditkarte suchte und eine Konfettiwolke freisetzte.
Beim Verstauen der Brieftasche stieß Trixie auf einen harten, klobigen Gegenstand, der ihre Neugier weckte. Sie griff danach. Ein Röhrchen aus sehr dickem braunem Glas. Sie drehte den folienbezogenen Deckel ab. Auch ohne das Schild hätte sie gewußt, was der Inhalt war. Glycerol Trinitrate. Ihr Vater hatte diese Tabletten immer dabei gehabt, um den Tod in Schach zu halten. Er hatte sie nie in einem anderen Zimmer zurückgelassen, wenn er duschen ging. Trixie schüttete die Tabletten in die Hand, schraubte den Deckel auf und steckte das Röhrchen dahin zurück, wo sie es gefunden hatte. Das Wasser wurde abgestellt.
Sie stand einfach nur da und betrachtete die weißgestrichene Tür, hinter der es kurz klapperte. Ein Bügel, der gegen Holz schlug. Er zog den Bademantel an. Er würde rauskommen und sie hier finden. Sie war nicht innerhalb von fünf Minuten verschwunden, sondern stand hier, mit seinen lebenswichtigen Pillen, mit einem kleinen Häufchen schweißgetränktem weißem Kies in der Hand. Dann lautes Surren. Ein Rasierapparat. Erleichtert spürte Trixie, wie ihre Lebensgeister zurückkehrten. Andererseits hatte die Bedrohlichkeit des eigenen Tuns bei ihr zu einer Art inneren Anspannung geführt. Womöglich war der Diebstahl von Tabletten sogar kriminell. Sie mußte sie wieder in das Röhrchen legen. Urplötzlich kam ihr der Diebstahl wie kompletter Wahnsinn vor.
Gerade als sie sich in Bewegung setzte, ertönte in dem Raum das schrille Klingeln eines Telefons. Guy schaltete den Rasierapparat aus. Und Trixie floh.
Im Buchenwald, der an die hinter dem Haus liegenden Felder grenzte, lief Janet wütend auf und ab, trat nach Blätterhaufen, stampfte auf am Boden liegende Zweige. Der dunkle Wald mit seinem düsteren, lichtundurchlässigen Astdach paßte hervorragend zu ihrer Laune. Tränen tropften ungleichmäßig. Ab und an kam ihr ein eigenartiger Ton über die Lippen. Ein Geräusch, das wie eine Mischung aus Husten und Stöhnen klang.
Trixies Eile setzte Janet ganz schön zu. Gott - wie sie umhergerannt war! Hektisch Lippenstift aufgetragen, sich überall mit Parfüm bestäubt hatte - sogar das Unterhöschen. Janet zugezwinkert, »Monee makes the world go round... the world go round... the world...« geträllert hatte. Und dann mit dem ihr eigenen Gang einer Haremsdame entschwunden war.
Wie grauenvoll das gewesen war. Bemitleidenswert und degradierend, als beobachte man die Armen beim Zusammensuchen von Brotkrumen. Janet wußte, daß sie übertrieb, aber im Prinzip lag sie mit ihrer Einschätzung richtig. Ich hätte ihr Geld geben können. Sie kann gern alles haben, was ich habe. Mit einem Hauch gestohlener Spitze rieb sie über ihre Wange.
Er hatte wahrhaftig wie ein Verbrecher ausgesehen. Die Erinnerung an ihn ließ sie mitten im Schritt innehalten und sich auf einen Baumstamm setzen. Genau richtig gebaut, um Schaden anzurichten, hatte Trixie gesagt. Was für eine Art Schaden richtete so einer wohl an? Sie war so verletzlich. Versuchte immer so zu tun, als - wie hieß die Redewendung noch gleich - wisse sie, wo’s lang geht. Doch in Wahrheit war sie kaum mehr als ein Kind, was bei Janet einen starken Beschützerinstinkt auslöste.
Mehr hatte es mit ihren Gefühlen selbstverständlich nicht auf sich. Auf gar keinen Fall war sie in Trixie verliebt. Niemals, nicht in einer Million Jahre. Denn dann wäre sie ja so was wie eine... ähm... Lesbe. Und Janet wäre vor Scham rot angelaufen und in Grund und Boden versunken, würde ein anderer sie so titulieren. Denn sie würde niemals etwas tun. Konnte sich nicht vorstellen, unter wie auch immer gearteten Umständen aktiv zu werden. Allein schon der Gedanke daran widerte sie an. Sich in übertriebener Weise rechtfertigend, schätzte sie ihre gefühlsbetonteren Freundschaften (und waren nicht alle wahren Freundschaften sehr gefühlsbetont?) eher als götzendienerische Schwärmereien ein, die den Geschichten altmodischer Mädchenbücher glichen. Maisie Saves The Day. Sukie Pulls It Off. So was in der Art.
Abwesend hatte sie die Baumrinde abgezupft - sie war so weich wie Schokoladenflocken - und sich dabei bemüht, ihr seelisches Gleichgewicht wiederzufinden. War doch dumm, sich derart hinreißen zu lassen. Wahrscheinlich waren die beiden nur irgendwo was trinken gegangen. Und er war ja nur für ein, zwei Stunden hier. Nach dem Abendessen verschwand er wieder, und das war’s dann. Sicher?
Ihr Gezupfe hatte ein paar Bohrasseln aufgeschreckt. Dutzende fielen zu Boden und krabbelten aufgeregt umher. Eine landete auf dem Rücken und bewegte heftig die dünnen Beinchen. Janet drehte sie mit dem Fingernagel um und warf dann einen Blick auf die Uhr. Trixie war inzwischen seit knapp einer Stunde weg. Mußte jede Minute zurückkehren. Vielleicht war sie sogar schon daheim.
Janet sprang auf, lief schnell zum Waldrand und kletterte auf den Zauntritt. Betrat das Grundstück durch die alte Tür, die in den Obstgarten führte. Just in diesem Moment wurde sie von der eindringlichen, glasklaren Vorahnung überwältigt, daß etwas nicht stimmte. Daß Trixie sie brauchte. Um Hilfe schrie oder nach Beistand verlangte. Sogleich setzte Janet sich in Bewegung, stolperte über den Rasen, trampelte Erdhügel nieder, bewegte die Arme wie Kolben auf und ab, legte die Ellbogen an, als ginge es darum, ein Wettrennen zu gewinnen.
Als sie durch die Öffnung in der Eibenhecke stürmte fuhr ein Taxi in der Auffahrt vor, und Trixie stieg aus. Ihren Namen rufend, rannte sie über den Kies und lehnte sich dann keuchend an die Motorhaube. Trixie machte einen ziemlich gefaßten Eindruck, war aber blaß und hielt ihre Bluse seltsam zusammen.
»Bezahlst du für mich das Taxi, Jan?« Sie eilte ins Haus und rief noch über ihre Schulter: »Ich geb’s dir zurück.«
Janet bat den Taxifahrer zu warten. Sie holte das Geld. Nachdem er weggefahren war, ging sie nach oben und klopfte mehrmals leise an Trixies Tür. Keine Antwort. Schließlich gab Janet auf und ging wieder nach unten, um bei den Geburtstagsvorbereitungen zu helfen.
Gänzlich verwandelt saß Felicity vor ihrem Ankleidezimmerspiegel und betrachtete sich. Ein schwarzer Hufeisenbogen aus faux marbre, gestützt von einer Gruppe ernst dreinblickender Karyatiden, spannte sich über sie und Danton. Dieses Bild spiegelte sich in einer Reihe von funkelnden Glasgegenständen - Töpfchen, Fläschchen, Flakons - und in Lippenstifthüllen, Spraydosen und verchromten Döschen. Die Reflexionen in dem kleinen Raum, der ausschließlich dazu bestimmt war, der Eitelkeit zu frönen, wurden durch die zahllosen verspiegelten, in die Wände eingelassenen Paneele multipliziert.
Als seine Kundin aufstand, entfernte sich Danton mit erhobenen, kabukihaft anmutenden Händen. Die Geste verriet sowohl Stolz als auch Verwunderung darüber, daß seine Kunst einen so hohen Grad an Perfektion erreichte. Felicitys Haut war - einmal abgesehen von dem perligen, rosafarbenen Glühen ihrer Wangen - einheitlich blaß. Riesige Augen wurden von silbernen und violetten Schatten eingerahmt, ihre Schultern schimmerten seidig unter einer Hülle changierender muschelfarbener Seide. Ihr Mund, in die Farbe eines dunklen Rotweins getaucht, stand vor Entsetzen offen.
»Ich sehe wie der Todesengel aus.«
»Mrs. G... Mrs. G...« Doch Danton empfand ihre Kritik als Kompliment. Von Anfang an hatte dieses Kleid ihm »Denk feierlich« zugeraunt, und als was für eine Inspiration sich diese Intuition erwiesen hatte! »Sie brauchen noch ein Gläschen Schampus.«
»Nein.« Felicity schüttelte den Kopf. Die schwere Mähne aschblonder Locken bewegte sich nur unmerklich. »Hatte schon genug.«
»Dann vielleicht eine Line.« Wann immer Danton seine Kunden aufsuchte, hatte er stets einen Erste-Hilfe-Koffer dabei.
Felicity zögerte. »Bin seit einer Weile davon runter.« Vor ihren Augen schraubte Danton ein kleines Perlmuttdöschen auf. »Wie auch immer... selbst wenn ich mir jetzt was genehmige, bis ich dort bin -«
»Dann nehmen Sie es eben mit.« Beherzigt legte er das Döschen und den winzigen Löffel in ihre Handtasche. »Ist durchaus möglich, daß Sie es gar nicht brauchen werden, wenn Sie die Gewißheit haben, sich jederzeit bedienen zu können.«
»Stimmt.«
Aber Felicity wußte jetzt schon, daß gar nichts auch nur annähernd okay sein würde. Angespannt und fassungslos betrachtete sie sich im Spiegel. Wie hatte das hier nur geschehen können? Sie hatte nur ein einziges Mal telefoniert. Diese simple Handlung und ihr Entschluß, die Einladung anzunehmen, hatten zu dieser kapriziösen und bizarren Metamorphose geführt. Sie konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, in einen Hinterhalt gelockt worden zu sein. Und dennoch war es an einem bestimmten Punkt gewiß möglich gewesen, dem allem Einhalt zu gebieten, oder nicht? Hätte sie das Kleid ablehnen, darauf beharren können, wie gänzlich unpassend - das sah sie nun glasklar - es für diese Gelegenheit war? Oder hätte sie in jenem Moment »Halt« rufen sollen, als Danton ihr frischgewaschenes Haar aus jeder Perspektive inspizierte, um schließlich aufgeregt »erkaltete Asche« zu hauchen?
All diese Chancen waren allerdings längst vertan. In fünfzehn Minuten kam der Wagen. Eine schreckliche Trägheit befiel sie. Ein Anflug von Fatalismus. Sie schien keinen eigenen Willen mehr zu haben. Jetzt, wo sie diese Reise angetreten hatte, gab es kein Zurück mehr. Sie sah sich an dem Tisch sitzen, zu Abend essen. Ein Gespenst an einer Tafel, wie Banquos Geist. Guy würde sie auslachen, wie er das im Schlaf immer tat. Sylvie würde entgeistert sein und sich ihrer schämen. Und schließlich würde Felicity in ihrem Kapuzenumhang davoneilen und sich ausgeschlossen fühlen.
»Duft.« Das war keine Frage. Dantons Finger flogen über die geschliffenen Glaspfropfen der Flakons. »L’Egypte.«
Äußerst passend, fand Felicity. Schwer und oppressiv. Verschlossene Särge, vertrocknete Leichen, feuchte, abgestandene Luft. Er besprühte sie großzügig, drapierte vorsichtig ein nebelgraues Tuch über ihr Haar. »Ich werde Ihr Köfferchen nach unten tragen.«
Wohlwissend, daß jeder Einwand sinnlos war, hatte sie sich auf seinen Vorschlag eingelassen, einen Koffer mit Sachen zum Wechseln mitzunehmen, obgleich sie wußte, daß sie nicht über Nacht bleiben würde, und rechtzeitig veranlaßt hatte, daß der gemietete Wagen vor der Tür wartete, um ihr die Flucht zu erleichtern.
Danton kehrte zurück und stellte sich neben seine Kundin. Rückte ein letztes Mal ihre Ohrringe zurecht, zupfte noch einmal an ihren Locken. Felicity neigte den Kopf, als gewähre er ihr den coup de gräce.
»Machen Sie nicht so ein Gesicht, Mrs. G«, riet Danton. »Sie werden eine prima Zeit haben. Ich wünschte, ich könnte dabei-sein.« Auf der Straße hupte es. »Das wär’s dann.« Er steckte seinen Scheck weg und warf ihr mit der Theatralik eines Matadors den Umhang über die Schultern. »Rufen Sie mich nach Ihrer Rückkehr gleich an, und berichten Sie mir von dem außergewöhnlichen Abend. Ich kann kaum erwarten, von Ihnen zu hören.«
Exakt um fünf vor sieben fuhr der Corniche erneut auf der Auffahrt von Manor House vor. Wieder zog Guy an dem Eisenzug der Klingel. Diesmal unterliefen ihm keine Fehler. Sylvie - nein, Suhami, er durfte ihren neuen Namen nicht vergessen - hatte im Chartwell Grange angerufen, um ihn wissen zu lassen, daß der Meister ihn um sieben auf ein kurzes Gespräch vor dem Abendessen einlud.
Der Klang ihrer Stimme hatte ihn beflügelt. Er freute sich schon darauf, sie wiederzusehen, gierte nach einer Möglichkeit, die am Nachmittag entstandene Mißstimmung zu beheben. Aber behutsam, ganz behutsam... Er mußte sich langsam vortasten. Sich bemühen, niemanden vor den Kopf zu stoßen. Seine Meinung für sich behalten. Das war kein leichtes Unterfangen, aber er würde es schaffen, denn er hatte sie wiedergefunden und durfte sie nicht noch mal verlieren.
In diesem Augenblick kam eine Feuersäule um die Ecke gebogen. Scharlachrote und orange Stofflagen bauschten sich flirrend, siedend, züngelnd auf. Sie wurden von einem mit bernsteinfarbenen Steinen besetzten Gürtel zusammengerafft. Die Feuersäule blieb stehen und richtete das Wort an ihn.
»Sie tragen nicht Indigo.«
»Ich trage niemals Indigo«, meinte Guy. »Was ist Indigo?«
»Das sollten Sie aber. Sie verfügen über ein hohes Maß an Aggression. Zuviel Rot.«
»Rot trage ich auch nie.« Na, die muß gerade was sagen, dachte Guy und spielte den Moderaten, als wäre die Unterhaltung schon aus dem Ruder gelaufen.
»In Ihrer Aura, meine ich. Sie glüht. Und hat ein Loch so groß wie eine Cantaloupe.«
»Ach... ach ja?«
»Ein ätherisches Leck darf nicht unterschätzt werden.«
Mit ernsthafter Miene öffnete May die Tür. »Es gibt auch eine Menge dunkler Flecken. Sie sind nicht zufälligerweise ein Geizkragen?«
»Bestimmt nicht«, erwiderte Guy spöttisch, während er ihr in die Halle folgte. Konnte man jemanden, der sich selbst einen Rolls-Royce-Corniche gönnte, als Geizkragen bezeichnen?
»Nun, mir fällt da eine bedenkliche Unausgeglichenheit auf, Mr. Gamelin. Zuviel einseitige Aktivität, wie ich vermute. Ich möchte Sie ja nicht aushorchen, aber falls Sie Wert auf weltlichen Erfolg legen -«
»Ich habe weltlichen Erfolg. Und mir fehlt nichts.« Einmal abgesehen von einer Tochter. Ab, Sylvie - meine große Unausgeglichenheit. Mein Leben.
»Ich bin zu Besuch -«
»Das weiß ich alles. Ich werde Ihnen den Weg zeigen. Hier entlang, bitte.« Schon stürmte sie davon. Guy hängte sich an ihre Fersen. Sie kamen an jener Tür vorbei, hinter der er nachmittags den verrückten Jungen entdeckt hatte.
»Bleiben Sie über Nacht?«
Guy murmelte etwas von einem Hotel.
»Ausgezeichnet. Morgen müssen Sie vorbeikommen und ein paar Fläschchen auswählen, und ich werde Sie auf den richtigen Weg bringen.«
Dessen war Guy sich nicht so sicher. Der Begriff »DarmSpülung« kam ihm in den Sinn. Er fragte, woraus eine Konsultation bei ihr bestand.
»Ich beginne mit den Chakras. Durchspüle sie richtig, reinige die Nadis. Danach versuche ich, mit einem von den großen Meistern in Verbindung zu treten. Meine Meisterin ist von unschätzbarem Wert. Sie ist ein erster Chohan des siebten Strahls, müssen Sie wissen.«
»Aber Ihr Meister ist doch schon hier«, sagte Guy und bemühte sich, keine Miene zu verziehen. »Könnten wir nicht einfach ihn um Rat fragen?«
Mays Reaktion verblüffte ihn sehr. Sie schien richtiggehend irritiert zu sein. Der Rhythmus ihres selbstbewußten Gangs war kurzzeitig unterbrochen.
»Oh, das wäre mir nicht möglich. Er ist... momentan erschöpft. Ist ihm in letzter Zeit nicht allzu gutgegangen.«
»Meine Tochter hat das gar nicht erwähnt.«
»Nicht?« May war vor einer geschnitzten Holztür stehengeblieben. Sie klopfte und wartete. Und dann - als habe sie eine Antwort erhalten, die Guy nicht hören konnte - stieß sie die Tür mit den Worten auf: »Mr. Gamelin ist hier, Meister«, und scheuchte ihn hinein.
Zuerst hatte Guy den Eindruck, in einen sehr großen Raum zu treten, doch er erkannte schnell, daß dies vor allem der spärlichen Möblierung zuzuschreiben war. Das farblose, leere Zimmer erinnerte ihn an japanische Räume. Die Negation eines Raums. Zwei Kissen lagen auf dem Boden. Neben dem Fenster standen ein Wandschirm und ein Holzrahmen, in den ein farbenprächtiges Stück Seide gespannt war.
Beneidenswert grazil erhob sich ein Mann von einem der Kissen und kam auf ihn zu, um ihn zu begrüßen. Guy blickte in so faszinierende Augen, daß es eine Minute dauerte, bis er der ganzen Erscheinung seine Aufmerksamkeit schenkte. Was er sah, beruhigte ihn auf der Stelle. Langes weißes Haar, ein blaues Gewand, Sandalen - alles zielte geradezu pathetisch darauf ab, eine spirituelle Wirkung zu erzielen. Wie die Zeichnung eines miesen Künstlers. Astroth: Meister des Universums. Guy schüttelte nachdrücklich die Hand seines Gegenübers und grinste.
Der Meister bot ihm an, sich zu setzen. Etwas schwerfällig ließ er sich auf dem Kissen nieder, mit geradem Rücken, die Hände hinter sich flach auf dem Boden liegend, die Beine gespreizt ausgestreckt. Während ihm diese unbequeme Haltung zuwider war, flößte ihm die dahinterstehende Strategie gleichzeitig Respekt ein. Bestimmt verfügte Craigie über konventionellere Sitzmöbel (niemand lebte in solch einer kargen Behausung), hatte aber absichtlich alles entfernen lassen, um seinen Gast in die Defensive zu drängen. Die Fakirversion der »Sieh-mal-wer-den-höchsten-Stuhl-innehat«-Methode. Es wird schon mehr als diese Mätzchen brauchen, Craigie. Guy warf seinem Gastgeber einen ermutigenden und herausfordernden Blick zu. Craigie lächelte und schwieg beharrlich.
Das Schweigen dauerte an. Zu Anfang löste es bei Guy eine gewisse Rastlosigkeit aus. Wie gewöhnlich schlug sein Verstand Kapriolen, entwarf ausgefuchste Schachzüge, spielte die unterschiedlichsten Strategien zur Vernichtung des anderen durch. Langsam, als die Sekunden und Minuten verstrichen, legte sich seine Aufregung, und etwas anderes trat an ihre Stelle. Er konnte noch immer seine bombastische innere Stimme hören, doch gedämpft, wie Kampflärm hinter einem fernen Hügel.
Normalerweise war Stille für Guy unerträglich. Er mochte das, was er »ein bißchen Leben« nannte, mit dem er gewöhnlich »ein bißchen Lärm« meinte. In diesem Fall übte die Stille eine sonderbare Wirkung auf ihn aus. Kam ihm wie eine beruhigende Umarmung vor. Am liebsten hätte er losgelassen. Sich einfach fallen lassen. Ihm war, als habe ihm jemand eine Last von den Schultern genommen, als würden alle Bewegungen angehalten. Er verspürte das Bedürfnis, diesen bemerkenswerten Zustand in Worte zu fassen, doch die Sprache, mit der man derlei Befindlichkeiten ausdrückte, hatte er nicht gelernt, und so blieb er einfach still sitzen. Dem Anschein nach bestand kein Grund zur Eile, und unwohl fühlte er sich auch nicht mehr.
In dem Raum hing das Licht der untergehenden Sonne. Die farbenfrohe Seide sah aus, als brenne sie lichterloh. Während 'Guy den gespannten Stoff betrachtete, verstärkte sich die Intensität der sirrenden Farben. Er bildete sich fast ein, daß sie lebten und vor Energie pulsierten. Da es ihm unmöglich war, den Blick von dieser strahlenden Transformation abzuwenden, fragte er sich, ob er hypnotisiert wurde. Just in diesem Augenblick ergriff der andere Mann das Wort.
»Ich freue mich sehr, daß Sie zu Besuch kommen konnten.«
Guy faßte sich, rang darum, sich auf sein Gegenüber zu konzentrieren, was ihm nicht leichtfiel. »Ich muß Ihnen dankbar sein. Dafür, daß Sie so freundlich zu meiner Tochter sind.«
»Sie ist ein äußerst angenehmes Mädchen. Wir alle sind ganz vernarrt in Suhami.«
»Ich habe mir große Sorgen gemacht, als sie verschwand.« Regel Nummer eins: Gesteh niemals deine Schwächen ein. »Nicht daß wir uns sehr nahegestanden hätten.« Regel Nummer zwei: Und auch nicht, daß du versagt hast.
Was war denn in ihn gefahren? Das hier war sein Gegner. Die Vaterfigur, die Sylvie über alles stellte. Guy bemühte sich, seine Eifersucht, seinen Rachedurst wieder anzukurbeln. Ohne diese Emotionen kam er sich nackt, entblößt vor. Er blickte in die strahlendblauen Augen und das ruhige ausdruckslose Gesicht. Links und rechts der spitzen, geraden Nase war die Haut etwas eingefallen. Halt dich daran fest. Der Kerl ist schrottreif. Mit einem Bein im Grab. Aber wie ist es um seine Kinnlinie bestellt? Das Kinn eines Soldaten. Das Kinn eines Soldaten im Gesicht eines Mönchs. Welche Rückschlüsse konnte er daraus ziehen? Was er damit anfangen sollte, wußte Guy nicht.
»Selbst in Familien, wo die einzelnen Mitglieder einander sehr nahestehen, lösen die jungen Menschen sich. Das ist eine äußerst schmerzhafte Erfahrung.«
Da war etwas an Craigies Präsenz, vielleicht die Tatsache, daß er sich so stark auf seinen Gesprächspartner konzentrierte, das nach einer Antwort verlangte. Guy sagte: »Schmerzhaft ist noch milde ausgedrückt.«
»Wunden können heilen.«
»Ach ja, meinen Sie? Glauben Sie tatsächlich, daß das möglich ist?«
Mit gefalteten Händen beugte sich Guy nach vorn. Und begann zu reden. Ein Schwall unglücklicher Erinnerungen strömte aus seinem Mund. Ströme der Reue. Fluten von Selbstbezichtigungen. Unablässig ging das so weiter, als gäbe es kein Ende. Entsetzt und angewidert lauschte Guy seinen eigenen Worten. Welch verabscheuungswürdige Fäulnis! Und dennoch - mit was für einer Leichtigkeit alles aus ihm rausfloß! Als hätten diese Wortströme jahrelang nur darauf gewartet, ihm über die Zunge zu kommen.
Am Ende war er total erschöpft. Sein Blick suchte Craigie, dessen Blick auf den Händen ruhte. Guy versuchte in der Miene des anderen zu lesen, die er als teilnahmsvolle Distanziertheit interpretierte, aber das konnte doch gar nicht'sein. Entweder man war teilnahmsvoll oder distanziert, aber gewiß nicht beides. Und schon gar nicht gleichzeitig. Eine kurze Weile saß Guy einfach so da, bis sein Verlangen nach einer wie auch immer gearteten Reaktion unerträglich wurde. Um die passenden Worte ringend, schob er eine Rechtfertigung nach:
»Ich habe ihr alles gegeben.«
Ian Craigie nickte zustimmend. »Das ist verständlich. Aber es funktioniert natürlich nicht.«
»Wollen Sie damit sagen, daß man Liebe nicht kaufen kann? Da haben Sie ganz recht. Ansonsten gäbe es keine einsamen Millionäre.«
»Ich wollte damit sagen, daß Dinge den Menschen nicht wahre Zufriedenheit schenken können, Mr. Gamelin. Sie haben kein Leben, das müssen Sie verstehen.«
»Ah.« Guy verstand gar nichts. Letztendlich ging es doch um nichts anderes als die Anhäufung und Zurschaustellung von Dingen. Woher sollten die anderen sonst wissen, was für ein Mensch man war? Und selbst ein ganz bodenständiger Mensch brauchte ein Haus, Essen, Wärme und Kleidung. Diese Meinung tat Guy auch kund.
»Selbstverständlich stimmt das. Aber es existiert eine vierte große Notwendigkeit, die wir gern vernachlässigen. Ich spreche von dem Verlangen nach Euphorie.« Er lächelte mit dem Wissen, daß das Wort für Guy eine ganz andere Bedeutung hatte. »Ich spreche von emotionaler und spiritueller Euphorie. Manchmal vermittelt das Theater uns eine Ahnung davon. Gelegentlich auch die Musik...«
»Das verstehe ich.« Guy entsann sich der vollgestopften Glasschluchten in der Stadt. Der dramatischen Riten der Durchquerung. Rauchiger Sitzungszimmer, Dolche, die unüberhörbar gezogen wurden. All das war unerhört euphorisch. »Ich begreife nicht, wie hier...« Mit einem Wedeln der Hand beendete er den Satz.
»Hier hängt unser Herz am Gebet. Außerdem haben wir uns dem Streben nach dem Guten verschrieben.«
Ein irritierender Anflug von Ironie. Guy haßte Ironie. In seinen Augen war sie eine Waffe, der sich Schwächlinge und Klugscheißer bedienten. »Sie hören sich an, als würden Sie das nicht ernst nehmen.«
»Die Herausforderung nehme ich sehr ernst. Aber nicht den Menschen. Oder nur sehr, sehr selten.«
Urplötzlich wurde Guy kalt, als wäre ihm die Quelle seines Wohlbehagens schlagartig entrissen worden. War dann die Wärme, das Verständnis, die Tatsache, daß er sein Leid einer intelligenten, zur Anteilnahme fähigen Person gestanden hatte, nur Illusion gewesen? Guy wurde zornig. Fühlte sich betrogen. »Das Streben nach dem Guten? Ich verstehe nicht ganz.«
»Nein. Abstraktionen sind immer schwer zu verstehen. Und gefährlich. Ich denke, die einfachste Möglichkeit, dies zu erklären, ist folgende: Wenn die Vorstellung, daß so etwas tatsächlich existiert... daß wir es vielleicht erfahren, spüren können ... wenn diese Vorstellung sich einmal durchgesetzt hat, dann läßt sie einen nie wieder in Ruhe.«
Guy dachte an seine alles verzehrende Liebe und verstand vollkommen.
»Wir verbringen hier natürlich viel Zeit damit zu straucheln, vom Weg abzukommen. In dieser Hinsicht unterscheiden wir uns nicht von unseren Mitmenschen.«
»Und dieses... Streben ist Ihrer Meinung nach das, was Sylvie sucht?«
»Davon ist sie momentan überzeugt. Ihre Meditationen haben ihr ein gewisses Maß an Zufriedenheit geschenkt. Aber sie ist noch sehr jung. Im Lauf unseres Lebens setzen wir viele unterschiedliche Masken auf. Und schließlich finden wir eine, die so gut paßt, daß wir sie nie mehr ablegen.«
»Ich habe nie eine Maske getragen.«
»Wirklich nicht?« Es klopfte an der Tür. Er rief: »Noch ein paar Minuten, May«, und wandte sich wieder an Guy. »Wir haben noch nicht über das eigentliche Problem, über das Erbe Ihrer Tochter gesprochen, was der eigentliche Grund für meine Einladung war.«
»Der McFadden-Treuhandfonds? Darüber spreche ich nicht mit Ihnen, Craigie.«
»Ihre Tochter will alles der Gemeinschaft vermachen.«
Guy stöhnte auf, woraufhin der Meister sich besorgt vorneigte. »Geht es Ihnen nicht gut, Mr. Gamelin?«
Guy hob das Gesicht. Seine Miene sprach Bände, verriet Benommenheit, Bestürzung. Ihm fiel die Kinnlade runter. Der Meister beobachtete diese bemitleidenswerte Reaktion und lächelte dann mit geschlossenem Mund. Nach ein paar Minuten fuhr er fort:
»Bitte, machen Sie sich keine Sorgen. Das Geld wird nicht akzeptiert werden. Wenigstens nicht in nächster Zeit. Ihre Tochter ist uns für unsere Zuneigung sehr dankbar, wie das bei Kindern, die keine Liebe erfahren haben, oftmals der Fall ist. Außerdem erinnert das Erbe sie an ihr früheres Unglücklichsein, weshalb sie den Entschluß gefaßt hat, sich davon zu befreien, wenn nicht hier, dann woanders. Ich hatte gehofft, mit Ihnen über dieses Anliegen sprechen zu können. Ich habe mich gefragt, ob es nicht eine Möglichkeit gibt, mir das Vermögen pro forma zu übertragen, damit es nach außen hin so aussieht, als nähme ich es an, während es in Wirklichkeit irgendwo fest angelegt wird, vielleicht wenigstens für ein Jahr. Selbstverständlich besteht dann immer noch die Möglichkeit, daß sie das Vermögen weggeben möchte, aber laut meiner Erfahrung«, die Ironie wurde jetzt noch deutlicher, »wird sie am Ende nicht so handeln.«
Es klopfte erneut. May legte ihre Lippen an den Türrahmen. »Meister - wir werden gleich zu Abend essen.«
»Wir werden uns später noch mal über dieses Thema unterhalten, Mr. Gamelin. Bitte, machen Sie sich keine Sorgen. Wir werden gewiß eine Lösung finden.«
Aus diesem unglaublich höflichen Vorschlag meinte Guy herauszuhören, daß seine Reaktion Belustigung hervorgerufen hatte, was ihm gegen den Strich ging. Welcher halbwegs normale Mann wäre nicht beunruhigt bei dem Gedanken, daß eine halbe Million Pfund aus den Schatztruhen der Familie entfernt wurden? Auch wenn die McFaddens eine erbärmliche Truppe gewesen waren, ihr Geld war so gut wie das jedes anderen. Er kämpfte sich auf die Beine und ärgerte sich erneut darüber, daß man ihm eine derart unbequeme Sitzgelegenheit angeboten hatte. Craigie rührte sich nicht. »Kommen Sie nicht?«
»Ich esse um zwölf.«
»Nur um zwölf? Dann müssen Sie sehr hungrig sein.«
»Überhaupt nicht.« Es war fast spürbar, wie stark sein Interesse nachließ. Wie er sich in sich selbst zurückzog. Guy hätte allein im Zimmer sein können. »Und jetzt müssen Sie mich entschuldigen. Ich muß mch ausruhen.«
In einer endlosen Schlange verharrte der von Felicity angemietete Wagen reglos auf der M4 zwischen einem verbeulten Cortina und einem BMW. Der Chauffeur drückte immer wieder auf die Hupe. Felicity streifte ihren Schuh ab und klopfte mit dem mit Rheinkieseln besetzten Absatz gegen die Glasscheibe. ! Der Fahrer zuckte zusammen und drehte den Kopf. Sein Profil verriet Nervosität.
Seit sie Belgravia verlassen hatten, hatte er sie unablässig im Auge behalten. Hätte er die Wahl gehabt, wäre es nach ihm gegangen, hätte er sie überhaupt nicht einsteigen lassen. Nicht nur daß sie wie Vincent Prices Filmpartnerin aussah, nein, sie verhielt sich auch reichlich sonderbar. Zog fortwährend ihr Tuch runter, drapierte es dann wieder über die Haare, summte, winkte aus dem Fenster. Er ließ die verstärkte Glasscheibe runter.
»Ich habe Ihrer Firma gesagt, daß ich um halb acht dort sein muß.«
»Den Verkehr kann ich nicht ändern, Mrs. Gamelin.«
»Sie hätten früher kommen sollen.«
»Ich kam um die Uhrzeit, für die ich bestellt war.«
»Aber die hätten wissen müssen, wie es hier aussieht.« Diese Unterhaltung hatten sie nun schon x-mal geführt. Er schwieg und wartete ab. »In dem Brief stand zwischen halb acht und acht, verstehen Sie. Auf Manor House, Compton Dando. Das ist schrecklich wichtig für mich.«
Was für ein Unsinn, ihm die Adresse zu nennen. Die war ihm ohnehin ins Gehirn gebrannt. Seit sie in den Wagen gestiegen war, hatte sie sie ununterbrochen wiederholt. Und er hatte sie auch aufgeschrieben.
»Können Sie nicht ausscheren oder überholen oder so was?«
Der Fahrer lächelte, nickte und ließ die Glastrennwand wieder hochfahren. Leicht beunruhigt bemerkte er, daß sie den Schuh immer noch in der erhobenen Hand hielt.
»Zu unserer vorigen Unterredung, Mr. Gamelin...«
Wieder wurde Guy von May durch einen Korridor geschleust, und wieder hörte er nicht zu. Er rang darum, sein Selbstbewußtsein wiederzuerlangen, das in jenem Raum auf geheimnisvolle und subtile Weise zuerst in seine Einzelteile zerlegt und dann ausradiert worden war. Mein Gott, dachte er - wenn ich lernen könnte, das zu tun. Was für eine Waffe wäre das!
»Ich veranstalte im September einen Farbenworkshop. Ein paar Plätze sind noch frei.«
Craigie, dieser altersschwache und fast stumme Mann, war ein Zauberer. Ein Betrüger. Das mußte es sein. Welche andere Erklärung konnte es sonst noch geben? All dieses Geschwafel über das Gute und spirituelle Euphorie war absoluter Schwachsinn. Ein Mantel aus mildtätigem Mystizismus, hinter dem sich insgeheim ein Imperator versteckte. Und dann dieses scheinheilige Getue, als wolle er Sylvies Schotter nicht annehmen. Craigie konnte bluffen, das mußte man ihm lassen. Wirklich beachtlich! Auch diese »Konsultation« der Eltern. Die diente doch nur dazu, Craigies Rolle als selbstloser Wohltäter zu untermauern. Dieser schlaue Fuchs. Vaterfigur. Dem werde ich eine Vaterfigur geben! Der hat keine Ahnung, mit wem er es zu tun hat. Der weiß noch nicht mal, daß er geboren wurde. Als sie den Speisesaal erreichten, war Guy wieder ganz der alte.
Dort hatten sich eine Menge Menschen eingefunden. Alle saßen an einem langen Tisch. Die Mienen von ein oder zwei Anwesenden verrieten ermüdende Selbstbeherrschung. Guy nahm an, daß er sich bei ihnen entschuldigen sollte, weil er sie hatte warten lassen, fand, daß das nicht seine Schuld gewesen war, kam dann aber zu der Überzeugung, daß Sylvie es ihm übelnehmen würde, und richtete ein paar versöhnliche Worte an alle und niemand besonderen.
»Ich denke, Sie hätten gern einen Drink.«
May führte ihn zu einer Anrichte mit zwei Glaskrügen. Einer war randvoll mit einer hellroten Flüssigkeit, der andere, schon halb leer, enthielt etwas Teichgrünes. Die Regel befolgend, daß die Eingeborenen immer am besten wissen, was gut schmeckt, neigte Guy zu dem Krug mit dem grünen Getränk.
»Nun«, sagte May mit der Handbewegung einer Zauberin. »Was darf es sein?«
»Was am stärksten ist.«
»Die Haferpflaume strotzt nur so vor Kalzium. Wenn Sie die Rübenblätter nehmen, kriegen Sie etwas Jod, eine Menge Vitamin C und eine ordentliche Menge Magnesium.«
»Ich meinte den stärksten Alkohol.«
»O Gott.« Verständnisvoll tätschelte sie seinen Arm. »Brauchen Sie dringend einen Schluck Alkohol? Das erklärt den aurischen Rückstand. Keine Sorge«, sagte sie und füllte einen Tonbecher, »es ist nie zu spät. Vor ein paar Monaten hatte ich hier einen Alkoholiker. War kaum in der Lage aufzustehen, als er hier neu war. Ich habe ihn gependelt, mit ihm über dem violetten Arturusstrahl gearbeitet, seine Chakras gereinigt und ihn gelehrt, die Sonne zu grüßen. Wissen Sie, wo der Mann heute ist?«
Guy fiel auf, daß er seinen Flachmann im Wagen liegengelassen hatte. Die grüne Flüssigkeit schlürfend, folgte er seiner Gastgeberin. Das Gebräu schmeckte besser, als es aussah, was aber nicht viel hieß. Es freute ihn zu sehen, daß der Platz neben Sylvie frei war. Sofort steuerte er auf diesen Stuhl zu, wurde aber von May behutsam in eine andere Richtung gelenkt, an einen Platz geführt, ehe sie sich neben seine Tochter setzte.
Er rief ihr hinterher: »Kann ich nicht dort sitzen...« Die Frau zu seiner Rechten unterbrach ihn.
»Jeder von uns hat einen bestimmten Platz. Das ist so unsere Art hier. Ein Hauch von Disziplin. Sie nehmen den Platz des Besuchers ein.«
Guy musterte sie voller Ablehnung. Ein fliehendes Kinn, langes graues Haar, das mit einem bunten Tuch nach hinten gebunden war, vorstehende Augen, die ernst dreinblickten. Sie trug ein T-Shirt mit dem Aufdruck »Universelle Seele: Die einzige Wahl« und hatte keinen BH an. Ihre großen Brüste mit den hervorstehenden Brustwarzen reichten fast bis zur Taille. Der Mann, der ihr gegenübersaß und den Platz am Tischende einnahm, trug einen Schäferrock. Er reichte Guy eine Platte mit Kuhfladen.
»Gerstenkuchen?«
»Warum nicht?«
Mit einem gezwungenen Lächeln nahm Guy zwei Stück und inspizierte die anderen Gerichte. Ein grauenvoller Anblick. Noch mehr Krüge mit Chateau-Ekelhaft, Berge von mit schwarzbraunem Kleister bestrichenem Brot und eine Schüssel mit einer klebrigen Pampe, in der aufrecht ein Löffel steckte, als sei er vor Schreck erstarrt.
Griesgrämig dachte Guy an die Speisekarte in seinem Zimmer im Chartwell Grange. Fritierter Thwaite Shad auf einem Mandelreisbett mit englischen Pilzen und neuen Kartöffelchen. Nach diesem göttlichen Mahl wurde entweder ein Korb mit knackigen Cox-Orange-Äpfeln, herzhafter Fenland-Sellerie oder Tarte Judy gereicht, je nach Geschmack oder Appetit des Gastes. Was ich alles aus Liebe über mich ergehen lasse, fuhr es Guy durch den Kopf. Er warf seiner Tochter einen Blick zu, hoffte auf ein Lächeln von ihr.
Sylvie war in einen wunderhübschen apfelgrünen und roten Sari gehüllt. Mit ihrem ernsten jungen Gesicht, auf dessen Stirn ein frischer roter Punkt prangte, und ihrem staubigen Haar wirkte sie auf ihn wie ein Schulkind, das bei einer Theateraufführung falsch besetzt war. Er konnte nicht fassen, daß sie an diesen quasireligiösen Unfug glaubte. Sie saß neben einem jungen Mann mit langen dunklen Haaren, der sich wiederholt mit sanfter Intimität an sie wandte und ihr ins Ohr flüsterte. War er der »wunderbare Mann«, wegen dem sie London den Rücken gekehrt hatte? Falls dem so war, war er ihr gegenüber im Vorteil.
Guy bemerkte sein verlogen sanftes Lächeln. Wahrscheinlich ein Mitgiftjäger. Das Mädchen war von diesen blutrünstigen Geiern umzingelt. Wie paradox seine Schlußfolgerung war, die da lautete, daß seine Tochter, die er nur um ihretwillen liebte, von anderen nur geliebt wurde, weil sie nach ihrem Vermögen trachteten, fiel ihm nicht auf.
Voller Elan machte sich May über den Inhalt einer flachen Zinnschale her und teilte aus. Wann immer sie ein eingetunktes Stück Brot hochhob, zog die blaßgelbe Tunke eklige Fäden. Beim Servieren plauderte sie munter drauflos.
»... beim grauen Star geht es eigentlich doch darum, daß die Ärzte nicht einsehen wollen, daß es sich um eine psychosomatische Krankheit handelt. Die älteren Menschen werden mit dem modernen Leben nicht fertig. Computer, Straßengewalt, große Supermärkte, nuklearer Abfall... All dies zu sehen, können sie einfach nicht ertragen. Daher legt sich ein Film über die Augen. Ich meine... das ist so einfach. Guy?«
»Danke.« Man reichte ihm einen Teller mit einer geheimnisvollen Mixtur. Ein Mosaik aus Rot, Braun und Khaki mit schwarzen Ringen aus einer gummiartigen Materie. Guy griff nach seinem Besteck, registrierte die Verwunderung der anderen und legte es wieder weg. Während er darauf wartete, bis alle bedient waren, musterte er die restlichen Tischgäste.
Einen Gnom von einem Mann mit hellrotem, schaufelähnlichem Kinnbart, eine Frau mit störrischem, vollem Haar und mürrischer Miene. Jener arme Tropf von einem Jungen, der auf der anderen Seite von Sylvie saß. Richtiggehend angewidert bemerkte Guy, wie sanft sie mit dieser gestörten Kreatur sprach und einmal sogar ihre Hand auf seinen Arm legte. Solche Menschen, von Krankheit verzehrt, müßten weggesperrt werden und sollten nicht frei rumlaufen und groteske Forderungen an unschuldige, weichherzige Menschen stellen dürfen. Kein Anzeichen von seiner Gespielin, mit der er sich heute nachmittag vergnügt hatte. Guy wußte nicht, ob er sich über ihre Abwesenheit freuen oder ärgern sollte. Eigenartigerweise hatte ihn kurz nach Trixies Verschwinden ein Hauch von Unwohlsein überfallen. Wo ihr Problem lag, kapierte er allerdings immer noch nicht. Sie hatte ihm Avancen gemacht, er hatte das Angebot bereitwillig angenommen und sie prompt für ihre Dienste bezahlt. Trotz des Gezeters und verletzten Stolzes waren die fünfzig Pfund zusammen mit ihr verschwunden. Nein - Guy fürchtete, daß sie Sylvie von ihrem Stelldichein erzählte und dabei die Wahrheit entstellte. Möglicherweise sogar behauptete, sie hätte keine Lust gehabt. Daher beschloß er, sich zusammenzureißen und sie freundlich zu behandeln, falls er ihr noch mal über den Weg laufen sollte. Und sich eventuell sogar entschuldigte, auch wenn er immer noch nicht wußte, wofür.
Nachdem allen aufgetragen worden war, herrschte kurz Schweigen am Tisch. Alle senkten den Blick auf ihre Teller. Guy inspizierte seine Kuhfladen, die seinen Blick fäkal erwiderten. Sein Tischnachbar meldete sich zu Wort. Er legte den Schäferrock ab, unter dem er ein T-Shirt mit den Worten »Respektier meinen Raum« trug.
»Hey... wie wäre es, wenn wir uns nun gegenseitig vorstellen? Ich bin Ken >Zedekial< Beavers. Und das hier ist Heather, meine göttliche Ergänzung«, sagte der Grauhaarige. »Oder - astral ausgedrückt - Tethys.«
»Guy Gamelin.« Jeder reichte jedem die Hand. Nach der Begrüßung durfte Guy endlich mit der Gabel in seinem Essen rumstochern. »Was essen wir hier eigentlich?«
»Nun, das ist - wie jeder sieht - eine Lasagne. Kennt jeder. Und dieser kleine Haufen ist Kichererbsenpürree, und das da«, er zeigte auf die schwarzen Schleifen, »ist Zostera marina, direkt aus dem Meer.« Ken sprach das Wort ziemlich eigenartig aus, hob die Stimme und gurrte wie eine Gans. »Wo wären wir nur ohne den Ozean?«
»Wie bitte?«
»Zostera marina ist Seegras. Aus Japan.«
»Ißt man viel davon, kriegt man kein Gürtelrosen mehr.«
Guy, der noch nie im Leben eine Gürtelrose gehabt hatte, nickte unmerklich und legte die Gabel beiseite. Außer dem Gemurmel der sich unterhaltenden Leute nahm er Musik wahr. Oder eher die zuckersüße Rekonstruktion der Natur, die sich selbst genügte. Vogelgezwitscher, im Wind rauschende Äste, das unablässige Plätschern von Wasser.
Zweifellos erachteten sie diese aufgezeichneten Geräusche als der Ruhe förderlich. Und es schien zu funktionieren. Die ganze Atmosphäre hatte etwas ungewöhnlich Ernsthaftes. Jeder sprach mit gesenkter Stimme. Niemand nahm sich einfach das, worauf er Appetit hatte. Zeigte nur darauf und murmelte leise Worte. Guy fragte sich, was sie mit all ihrem Ärger anfingen. Jeder ärgerte sich irgendwann. Das gehörte zur menschlichen Ausstattung, wie Leber und Augen, Zähne und Nägel. Meditierten sie ihn weg? Kehrten sie ihn unter einen Teppich aus gutgemeinten Taten? Oder schickten sie ihn mit einem Lied auf den Lippen für immer in den Kosmos? Was für eine Horde wabbelbäuchiger Schwächlinge. Taten sich zusammen, rannten vor sich und dem Leben davon. Als er merkte, wie grießgrämig er dreinblickte, tat er schnell höflich interessiert und wandte sich an seinen Nachbarn.
»Und was tun Sie hier alle auf Windhorse?«
Heather warf ihr langes Haar über die Schulter. »Wir lachen... wir weinen...« Sie faltete die Hände und öffnete sie dann mit einer ausladenden Bewegung, als ginge es darum, einen Vogel freizulassen. »Wir leben.«
»Das tut jeder.«
»Nicht jeder trinkt aus dem tiefen Kelch seines Wesens.« Sie reichte ihm eine Platte mit einer grünen Pampe. »Möchten Sie probieren?« Guy zögerte. »Ein feines Pürree aus kleingehacktem Schwarzwurz, Majoran und ein wenig Hanfnessel.«
Mit einem Kopfschütteln gelang es Guy, seine Enttäuschung zu verbergen. »Wenn ich etwas unter gar keinen Umständen zu mir nehmen darf, dann Hanfnessel.«
»Kondensierter Sonnenschein«, versicherte Ken und deutete mit dem Kinn auf das Pürree.
»In welcher Hinsicht?«
»Durchdrungen von solarem Licht.« Das Funkeln und Glitzern seines Kristalls unterstrich seine Behauptung. »Erzählen Sie mir nicht, daß Sie noch nie von den fünf Platonischen Körpern gehört haben.«
»Von ihnen gehört habe?« fragte Guy. »Ich esse sie.«
Mit einem Schmunzeln deutete er an, daß er einen Scherz gemacht hatte, und erkundigte sich dann mit gesenkter Stimme vorsichtig, ob auch Fleisch gereicht würde.
Seine Frage zog einen langen Vortrag, gespickt mit warmherzigen, sentimentalen Schmähungen, nach sich, der damit endete, daß im Grimmdarm eines Fleischfressers stets wenigstens fünf Pfund tierische Proteine gärten.
»Fünf Pfund? «
»Minimum.«
Guy stieß einen Pfiff aus, und Ken gab einen übelriechenden Rülpser von sich, als wolle er damit die hervorragende Arbeit seines Verdauungsapparates demonstrieren. Guy rümpfte die Nase. Heather wechselte das Thema und bot Guy noch etwas von dem Ersatzgebräu an, dem er heimlich das Etikett »Chä-teau-Pisse« verpaßt hatte.
Nachdem es ihr nicht gelungen war, ihn von ihrem Tun zu überzeugen, erkundigte sie sich: »Und was tun Sie den ganzen Tag lang?«
»ich bin Finanzier.« Als ob du das nicht wüßtest.
»Keine einfache Aufgabe.«
»Wenn man die Eier dazu hat, dann schon«, gab Guy selbstzufrieden Auskunft. Das sich daraufhin einstellende Schweigen zog sich hin. »O Gott - bin ich Ihnen zu nahe getreten? Ich nahm an, Sie wären hier alle auf Du und Du mit der Natur.«
»Wir ziehen die Eingeweide dem Verstand auf jeden Fall vor.«
»Die Götterdämmerung des Intellekts«, warf Heather ein, »steht bevor.«
In deinem Fall mag das zutreffen, dachte Guy. »Ich selbst genieße es sehr, hin und wieder zu einem vernichtenden Schlag gegen den Verstand auszuholen.«
»Hier sind wir alle Millionäre im Geist«, ließ Ken verlauten. »Und finden, daß erbarmungslose Konkurrenzkämpfe Ihresgleichen Vorbehalten sind.« Dieser Schlag unter die Gürtellinie wurde mit vollem Mund kundgetan.
»Es überrascht mich, auf diese Weise abgestempelt zu werden. Zumal ich Gast in Ihrer Kommune bin.« Ken lief dunkelrot an. Schlagartig hatte Guy das dumme Gequatsche der beiden satt. Er beugte sich vor, um die beiden glauben zu machen, er beabsichtige, eine Vertraulichkeit auszutauschen. Dabei war er sich ganz sicher, daß die anderen ihn nicht hören konnten.
»Hör mal, du Idiot, die Menschen steigen nicht aus dem erbarmungslosen Konkurrenzkampf aus. Ganz im Gegenteil, man flieht irgendwann davor. Und zwar diejenigen, die keinen Schneid haben. Dann kriechen sie davon und überlassen es einem anderen, das Schiff zu steuern.«
Mit einem Lächeln auf den Lippen streckte Ken versöhnlich die Hand aus. »Es tut mir leid zu hören...«
»Es tut Ihnen gar nicht leid. Es regt Sie tierisch auf, aber Sie haben nicht den Mumm, Ihre Wut zu zeigen. Und nehmen Sie die Hand von meinem Arm.« Wie ein aufgeschreckter Lachs sprang die Hand weg.
»Wo wären wir denn«, forderte Guy sein Glück heraus, »wenn sich jeder dazu entschließen würde, auszusteigen und sich für den Nabel der Welt zu halten? Es gäbe keine Ärzte - keine Krankenschwestern - keine Lehrer...«
»Aber das wird niemals geschehen«, protestierte Heather. »Die Anzahl der Menschen, die den Wunsch hegen, ein zurückgezogenes Dasein zu führen, das von Moral und Philosophie durchdrungen ist, kurzum eine spirituelle Elite, wenn Sie so wollen, ist von Natur aus gering. Zumal so ein Leben einen unglaublich disziplinierten Tagesablauf erfordert.«
»Wie ich sehe, nutzen Sie die Vorteile moderner Technologien.« Jemand mit so einem Elefantenarsch, fand Guy, hatte auf ewig das Recht verwirkt, das Wort Disziplin in den Mund zu nehmen. Er spürte, daß die Zeit gekommen war, den Mund zu halten. »Haben Sie niemals einen Gedanken daran verschwendet, daß so ein armer Tropf in irgendeiner Mine auf den Knien Kohle schaufelt, damit Sie es warm haben, während Sie auf dem Pfad der Tugend wandeln?«
»Das ist sein Karma.« Guy registrierte einen Anflug von Irritation. »Er befindet sich auf der niedrigsten Stufe der Rein-karnation. Hat sich wahrscheinlich vom Maulwurf hochgearbeitet.«
Die Leute am anderen Tischende unterhielten sich ebenfalls miteinander. Janet fragte sich, ob sie noch mal hochgehen und sich vergewissern sollte, daß Trixie nicht dazu überredet werden konnte, nach unten zu kommen. May fragte, ob die anderen auch fänden, daß die Kichererbsen ziemlich eigenartig schmeckten, und Arno drohte, sie würde keinesfalls einen Nachschlag kriegen. Tim mampfte vor sich hin und streichelte gelegentlich über die ockerfarbenen Sonnenblumen auf Suhamis Geburtstagstasche.
Suhami selbst aß nur wenig. Mit wachsender Anspannung Beobachtete sie ihren Vater. Auf jemanden, der ihn nicht kannte, machte er den Eindruck des perfekten Gastes. Er nickte, unterhielt sich, hörte zu, schmunzelte, aber er aß nicht viel. Hielt er die anderen zum Narren? Gewiß doch. Sich hundertprozentig zu verstellen war eine seiner ausgeprägtesten Gaben. Mühelos spielte er seine Spielchen. Sein Blick, die Art und Weise, wie er gerade den Kopf hielt, mißfiel ihr. Urplötzlich überfiel sie Panik. Sie wünschte, sie besäße die Gabe der Teufelsaustreibung und könnte ihn verschwinden lassen. Heather meldete sich zu Wort. Suhami spitzte die Ohren.
»...und wir sind der festen Überzeugung, daß einem wahres Glück nur beschert wird, wenn das eigene Ich vernachlässigt wird. Wir bemühen uns, unsere Individualität abzulegen, aus Rücksicht auf andere. Die Kranken oder Machtlosen... die Armen...«
»Die Armen...?« Guys Stimme explodierte. Quälende, seit langem unterdrückte Erinnerungen fingen Feuer. Ein kleiner Junge, der vor einer Stromuhr kniete. Der sein Taschenmesser in den Schlitz rammte, weder das Geld noch das Messer raus-bekam, dem die Angst im Nacken saß. Derselbe Junge auf der Jagd nach Früchten und Gemüse aus kaputten Holzkisten hinter den Marktständen, über den die Menschen herfielen, falls sie ihn entdeckten. Ein leerer Magen, der ab und an mit ölgetränkter Stärke gefüllt wurde. Ein Junge, der als Erwachsener nur aß, was auf Dauer zu Herzkranzverfettung führte. Rotes Fleisch in üppiger Soße, Berge von Schokolade und Schlagsahne. Hummer-Thermidor.
»...muß stark werden... da rauskommen... Weggehen... oder wird untergehen...« Guy zitterte und schaute sich leeren Blickes um. Die Intensität seiner Erinnerung riß ihn fort. Er war kaum in der Lage, sich verständlich zu machen. »...Ratten ... die Armen... das sind Ratten...«
»Nein... das dürfen Sie nicht sagen.« Blaß, aber entschlossen neigte Arno sich vor. »Auch sie sind menschliche Wesen und müssen als solche wertgeschätzt werden. Und man muß ihnen helfen, weil sie keine Macht besitzen. Steht nicht in der Bibel geschrieben, daß die Schwachen die Erde erben werden?«
»Das haben sie ja auch, oder?« Guy mußte sich einfach Luft machen. »Es gibt Massengräber, die sind voll von ihnen.«
Sein Ausbruch machte die anderen mundtot. Jeder schaute betroffen zu seinem Nachbarn hinüber und fragte sich fassungslos, ob diese absolut grausame Bemerkung tatsächlich gefallen war.
Mit offenem Mund saß Guy vollkommen erstarrt da. Furcht übermannte ihn. Was hatte er nur getan? Wie hatte er sich von ein paar alternativen Hippies zu solch einem Gefühlsausbruch hinreißen lassen können, wo doch so viel für ihn auf dem Spiel stand? Er hob den Kopf, der kalt und schwer wie Blei war, und begann von neuem. »Es tut mir leid... verzeihen Sie.« Er stand auf. »Sylvie - ich hatte nicht die Absicht...«
»Du kannst nichts und niemanden in Ruhe lassen, nicht wahr?« Mit erstarrter Miene sprang sie ebenfalls auf. »Alles, was freundlich oder schön oder gut ist, mußt du auf dein vergiftetes Level runterziehen. Ich war hier glücklich. Und nun hast du alles verdorben. Ich hasse dich... Ich hasse dich...«
Verunsichert schrie Tim auf und legte den Kopf in Mays Schoß. Christopher griff nach Suhamis Arm und sagte: »Nicht, Liebling... bitte... tu es nicht...«
Die anderen scharten sich um sie und redeten gleichzeitig auf sie ein. Suhami brach in Tränen aus. »Mein Geburtstag... an meinem Geburtstag...«
Christopher strich ihr übers Haar. May tat das gleiche bei Tim, und Ken und Heather warfen Guy scheinheilige Blicke zu. Guy harrte am anderen Ende des Tisches aus, zurückgewiesen und ausgeschlossen wie ein Pestkranker in einem Feldlazarett.
Als das tröstende Gemurmel verstummte, wurde er sich der außerordentlichen Qualität der einsetzenden Stille bewußt.
Die einzelnen Kommunenmitglieder drängten "sich noch enger zusammen und vermittelten den Eindruck, aufgeregt und verängstigt zu sein. Guy spürte einen kalten Luftzug im Nacken. Als er sich umdrehte, fiel sein Blick auf eine Frau, die im dunklen Türeingang stand.
Wie ein Phantom lehnte sie am Türpfosten, gehüllt in Stofflagen, die die Farbe von Nebel hatten. In den Händen hielt sie einen riesigen Strauß in Zellophan gewickelte, mit Bändern verzierte Blumen. Sie bewegte sich auf sie zu, zog langsam eine Schleppe aus Seide und Taft hinter sich her, die leise zischelnd über die blanken Dielen glitt. Auf halber Strecke hielt sie inne, zog einen rauchfarbenen Schal vom Kopf. Beim Anblick ihrer großen Augen, ihres hohlwangigen Gesichts und der aufgetürmten lehmgrauen Haarpracht traten die Kommunenmitglieder näher.
Verwundert und ungläubig rief Ken: »Hilarions Prophezeiung. Sie ist eingetroffen...«
Verunsichert blickte die Besucherin sich um und räusperte sich. Ihr Hüsteln klang wie das Rascheln welker Blätter. »Ich habe geläutet.« Eine Stimme so zaghaft, daß man sie kaum verstand. Sie streckte ihnen ein quadratisches grünes Papier entgegen, um nicht aufdringlich zu wirken. »Ich wurde eingeladen.«
Guy, der den Brief erkannte, stieß einen zornigen, ungläubigen Schrei aus und sah zu, wie seine Frau sich schwankend wie eine Drogenabhängige auf die nächste Stütze - auf einen mit Leinen bezogenen Stuhl - zubewegte. Dort angekommen, nahm sie Platz, wobei sich die sturmwolkenfarbenen Röcke aufbauschten. Die aus der einfachen Aufgabe resultierende Zufriedenheit überwältigte sie offenbar.
Ken und Heather näherten sich ihr mit erhobenen Händen, knieten sich vor ihr nieder und berührten mit der Stirn den Boden.
»Sei gegrüßt, Astarte... Göttin des Mondes.«
»Königin des Halbmondes... lunares Strahlen.«
»Tausend demütige Willkommensgrüße.«
Irritiert senkte Felicity den Blick. Dann sagte eine vor Scham erblaßte Suhami: »Mutter?« Sie ging zu der sitzenden Gestalt hinüber. »Er sagte, du könntest nicht kommen.«
Das abschätzige unpersönliche Pronomen ließ Guy zusammenzucken. Er sah, wie Felicitys Schwarze-Johannisbeer-Lippen vor Anstrengung zitterten, als sie um eine Erwiderung rang. Statt dessen überreichte sie den Blumenstrauß. Suhami nahm ihn entgegen, las die Karte und sagte: »Wie hübsch - danke.«
Guy mußte an seine eigenen Blumen denken, die er auf der Veranda vergessen hatte. Und mußte erkennen, daß dies sein Strauß war. Welch unverschämte Dreistigkeit! Jetzt konnte er nichts mehr daran ändern. Wenn er vorstürmte und behauptete, er habe sie mitgebracht, würde er wie ein bemitleidenswerter Idiot rüberkommen. Nun glaubte Sylvie sicherlich, er habe ihr kein Geschenk mitbringen wollen. Suhami äußerte sich dazu allerdings nicht.
»Er hat uns gesagt, du seist krank.«
»Meine Liebe«, warf May ein, »Sie sind krank.«
Die nicht, dachte Guy. Die hat den Kopf voller Schnee oder ist betrunken wie ein Iltis. Ist nur gekommen, um sich hämisch zu freuen, falls etwas schiefläuft. Oder um ihm Knüppel zwischen die Beine zu werfen für den Fall, daß alles glattging. Hatte sie es doch tatsächlich geschafft, daß die anderen nur Augen für sie hatten. Wie diese glupschäugigen Eingeborenen in einem Tarzanfilm, die aus dem Dschungel gekrochen kommen. Preist den weißen Gott in dem Eisenvogel, der vom Himmel herabgestiegen ist! Jesus - was für ein Abend.
»Sie armes Ding«, fuhr May fort. »Sie sehen schrecklich aus. Suhami - hol deiner Mutter etwas zu trinken.«
»O ja, bitte«, rief Felicity. Ihr Mann lachte laut heraus.
Sie sah seinen Blick, war nicht in der Lage, ihm standzuhalten. Das legte er als Triumph aus und sagte: »Du hast dich also unter die lebenden Toten gemischt, Felicity?«
»Das ist ganz und gar unnötig.« May zog ein kleines Plastikfläschchen aus ihrer Robe. »Ihrer Frau geht es nicht gut. Jetzt... halten Sie Ihre Hände so...« Sie schüttete ein paar Tropfen in Felicitys hohle Hände. »Bitte inhalieren Sie.«
Felicity folgte ihrer Aufforderung und mußte prompt niesen. May sagte: »Ausgezeichnet« und: »Könnte ich eine Serviette bekommen?«
Ken und Heather, immer noch verzückt, näherten sich Felicity und fragten sie, ob sie wisse, welcher Tag heute sei. Felicity, die kaum wußte, welches Jahr man schrieb, versuchte den Kopf zu schütteln. Suhami brachte ihr einen Drink. Zwei, dreiMal streckte Felicity die Hände aus, ohne die ihrer Tochter zu ' fassen zu kriegen. Heather behauptete: »Der Astralraum funktioniert anders.«
May nahm das Glas und legte behutsam Felicitys Finger darum. Felicity nahm einen Schluck und begann, nachdem Verstand und Zunge endlich synchron arbeiteten, ihr spätes Eintreffen zu erklären. Sie klang ängstlich und defensiv, als fordere ihre Verspätung einen hohen Preis.
Alle sagten: »Macht doch nichts - ist wirklich nicht so schlimm« und: »Toll, daß Sie überhaupt kommen konnten.«
Langsam gewöhnten sie sich an sie. Arno ging los, um die Tür zu schließen, fand einen Schweinslederkoffer und brachte ihn herein.
Guy lag natürlich richtig mit seiner Vermutung, daß Felicity nicht krank war. Noch daheim hatte sie eine erste Line hochgezogen und im Wagen eine zweite. Für gewöhnlich lief mit Koks alles besser. Man kriegte einen richtigen Schub und einen Anflug von Selbstvertrauen, der einen die Treppe zum Paradies hochkatapultierte. Auf dem Weg zu den Sternen sonnte man sich in kristallenem Dunst.
Aber diesmal war alles ganz anders gekommen. Überdeutlich empfand Felicity das Ausmaß ihrer eigenen Verletzlichkeit. Sie fühlte sich wie eine jener Weichschalenkreaturen, die bei Ebbe an den Strand gespült wurden und langsam im Sand dahinsiechten. Die Gestalten, die sich über ihr auftürmten, ließen sie zusammenschrumpfen. Sie hatten große, glühende Augen und Gummilippen und veränderten fortlaufend ihre Gestalt. Eine streckte die Hand aus und berührte sie. Felicity heulte vor Schreck auf.
Guy sagte: »Heilige Scheiße«, woraufhin alle Anwesenden die Köpfe in seine Richtung drehten.
Gut eine Stunde war seit Felicitys hochdramatischer Ankunft verstrichen. Der erste Gang war abgeräumt, um für den Pudding und Suhamis Geburtstagstorte, einen von Janet gebackenen, quadratischen »Cidre-Kuchen«, Platz zu machen, der mit Apfelsaft und Soya-Marzipan verfeinert worden war. Der Kuchen war mit einer S-förmigen Kerze verziert und hatte einen Kranz aus recyceltem schlammgrünen Toilettenpapier.
Neun Leute nahmen Platz und nahmen sich vom Dessert. May hatte sich zurückgezogen, um sich auf ihre Rückführung vorzubereiten, aber man hatte Trixie überreden können, sich der Geburtstagsfeier anzuschließen. Dieser Erfolg war vor allem Janets eindringlichen Überredungskünsten durchs Schlüsselloch und ein paar beiläufigen Bemerkungen zuzuschreiben, die Trixies Neugier anheizten. Da Janet um Trixies Leidenschaft für Kleider wußte, hatte sie lange und ausführlich von der atemberaubenden, spektakulären Schönheit von Felicitys Abendkleid berichtet. Instinktiv hatte sie auch noch den Streit zwischen Suhami und Guy erwähnt, weil sie meinte, diese Neuigkeit würde ihre Freundin zutiefst befriedigen.
Eigentlich hatte Trixie nicht vorgehabt, ihr Zimmer zu verlassen, ehe er abgehauen war. Ängstlich hatte sie sich in ihrem Zimmer versteckt und immer wieder ausgemalt, wie wütend und zornig Guy werden würde, wenn er den Verlust seines Medikaments entdeckte. In ihrer Vorstellung wurde er von Mal zu Mal gemeiner und gewalttätiger. Inzwischen sah sie ihn die Stufen hochspringen, »Fee Fi Fo Fum« rufen, die Tür ein-treten und sie bei lebendigem Leib auffressen.
Als Janet ihr berichtete, er habe sich zum Abendessen nicht umgezogen, gab Trixie sich der Hoffnung hin, daß er das Verschwinden seiner Pillen noch gar nicht bemerkt hatte. Und selbst wenn dem so war, wäre er dann bereit, Suhami mit einer weiteren Szene zu verprellen? Außerdem (und da beschloß sie, nach unten zu gehen), wer sollte sie daran hindern zu behaupten, sie wisse nichts von der Medizin? Niemand konnte ihr das Gegenteil beweisen. Wer sollte die unseligen Dinger finden? Schließlich hatte sie die Tabletten in blinder Panik aus dem Taxifenster geworfen. Jetzt befand sie sich im Speisesaal, nippte an dem erstklassigen Haferpflaumengebräu, musterte neidisch Felicitys Kleid und warf Guy ab und zu einen erwartungsvollen Blick zu. Irgendwann schaute er sie an. Sein Lächeln war so falsch, sein Winken so gekünstelt, daß sie wünschte, er hätte es gelassen.
Christopher sprach. Erzählte ihnen von seinem letzten Auftrag (ein Dokumentarfilm über Afghanistan) und schilderte die endlose, problematische Durchquerung der Chagai-Berge. Genau in diesem Augenblick ertönte ein warmer, durchdringender Ton, der an ein Nebelhorn erinnerte.
Heather sagte: »Die Meeresschnecke«, und wandte sich an Felicity mit dem freundlichen Zusatz: »Wir müssen gehen.«
Inzwischen hatten Ken und Heather sich widerstrebend an Felicitys physische Gegenwart gewöhnt, legten ihr Eintreffen aber immer noch als geheimnisvoll, »vorbestimmt«, als Omen aus. Seit Mays Verschwinden hatte Heather das Ruder übernommen. Sie füllte Felicitys Becher (halb warme Ziegenmilch, halb Malztrunk) auf und erteilte mit überschwenglicher Herzensgüte diskret Ratschläge. Eine Mischung aus astrologischer Deutung und Hinweisen, wie man negative Schwingungen umwandelte. Felicity lauschte ihr mit der nichtssagenden Miene einer Schlafwandlerin und unterbrach sie nur einmal, um zu klatschen, als der Kuchen aufgetischt wurde.
»Sie begleiten uns doch.« Heather half ihr beim Aufstehen.
»Wohin?«
»Wir gehen in den Solar. Sie werden den Meister kennenlernen. Wäre das nicht schön?«
»Ja«, antwortete Felicity und strengte sich an, genau zu erkennen, wo der Tischrand war. »Werden wir auch tanzen?«
»Ausgeflippt«, sagte Ken und nahm ihren anderen Arm. Ganz beiläufig bemerkte er: »Stell dir vor, wie viele Menschen in Bangladesch man mit dem Gegenwert für dieses Kleid satt kriegen könnte.«
Die anderen waren schon im Begriff zu gehen. Trixie lachte schallend, plapperte laut und hängte sich bei der angenehm überraschten Janet ein. Suhami in Gesellschaft von Christopher, der ihre Tasche trug, und von Tim, der verzaubert in der Halle stehenblieb, zum Oberlicht hochschaute und sich weigerte weiterzugehen, bis Suhami ihm versprach, daß er später noch mal nach unten dürfe. Guy machte sich allein auf den Weg, nachdem man ihn für indiskutabel befunden hatte.
Arno, dem das auffiel, unterdrückte seine natürliche Aversion, ging neben ihm her und stellte sich vor. Er streckte sogar die Hand aus, vermittelte gleichzeitig aber den Eindruck, diese Geste verlange ihm sehr viel ab. Sein Benehmen brachte Guy dazu, sich nach einem entsprungenem Löwen umzuschauen.
Arno. Was für ein Name war das denn? Klang doch irgendwie komisch. Wie eine dieser weit draußen liegenden Inseln, die bei Wettervorhersagen für die Schiffahrt immer genannt wurden. Wind der Stärke 9 bei Ross, Arno und Cromarty. Guy ignorierte die ausgestreckte Hand und bemerkte kühl: »Sie haben Pudding im Bart.« Danach zog er - aufsässig wie immer - eine Zino Anniversaire, die Königin unter den Zigarren, hervor und zündete sie an.
Der Solar lag am hinteren Ende der Galerie. Ein langer Raum mit hohen Deckenbalken und einem schwarzen Bitumenboden, auf dem in zwei akkuraten Reihen vierundzwanzig Kissen in losen, gebleichten Baumwollhüllen ausgelegt waren. Die beiden parallelen Reihen lenkten den Blick auf ein kleines, drei Stufen hohes Podest, das mit graubeiger Tweedauslegware bezogen war. Auf dem Podest stand ein Stuhl mit geschnitzter Rückenlehne. Neben den Beinen lagen verschiedene Objekte: das Meeresschneckengehäuse, ein kleiner Messinggong und ein großer, auf Hochglanz polierter Holzfisch, dessen Schuppen wie Karameltoffee glänzten. Die Dämmerung setzte ein, und jemand knipste die in einer tiefhängenden Papierlaterne versteckte Glühbirne an.
Der Meister, ganz in Weiß, saß schon auf dem geschnitzten Stuhl. Tim sauste durch den Raum und hockte sich neben seine Füße. Die anderen nahmen entweder auf den Stufen Platz oder bauten sich hinter dem erhöht sitzenden Zauberer auf.
Guy war sehr erleichtert, daß man nicht schon wieder von ihm erwartete, sich auf einem Kissen niederzulassen. Er warf Craigie einen Blick zu, der Felicity gerade mit einem milden, aber besorgten Lächeln begrüßte. Noch einmal bemerkte Guy die zerbrechliche Statur des Mannes, das lange weiße, bis auf die Schultern herabfallende Haar, und nun mußte er sich über seine Leichtgläubigkeit von vorhin wundern. Wie war es nur möglich gewesen, daß er - wenn auch nur kurz - einem derart offensichtlichen Poseur auf den Leim gegangen war? Nachdem alle einen Platz gefunden hatten, griff Craigie nach dem Fisch, riß dessen breiten Kiefer auf und ließ ihn mit einem lauten Kläcken einrasten, May tauchte in der Tür auf. Sie trug ein schlichtes malvefarbenes Leinengewand und hatte bis auf einen silbernen Einhornanhänger an einer Kette allen Schmuck abgelegt. Sie war barfuß. Das offene, frisch gebürstete Haar reichte ihr bis zur Taille. Langsam und sehr rhythmisch näherte sie sich den anderen. Aufrecht und mit geradem Rücken, als trage sie eine unsichtbare Amphore.
Auf dem Boden, zwischen den hinteren sechs Kissen und gut drei Meter vom Podest entfernt, war eine Decke mit bunten Applikationen ausgebreitet worden. May legte sich dort nieder, setzte eine ernste Miene auf und faltete die Arme vor der Brust. Einen Augenblick später setzte sie sich wieder auf.
»Um ehrlich zu sein, beim letzten Mal wurde mir in dem Wikingerboot ziemlich kalt. Dürfte ich vielleicht meine kleine Pelerine haben? Sie ist in meiner Tasche.«
Auf dem Sockel griff Christopher nach unten.
»Das ist meine«, sagte Suhami mit schneidender Stimme.
»Selbstverständlich. Entschuldige.«
»Drüben neben der Tür«, rief May.
Christopher holte Mays Tasche. Im Gehen machte er sie auf und zog das cremefarbene, gerippte Cape heraus. »Ist es das hier?« Er drapierte ihr den Stoff um die Schultern.
»Prima«, meinte May und machte den Verschluß zu. Dann legte sie sich wieder hin, schloß die dunklen Augen und begann tief zu atmen, stemmte diese atemberaubenden Halbkugeln unter ihrem Gewand in die Stratosphäre. Arno stöhnte verzaubert auf und war froh, als der Meister »Licht« rief und er zum Lichtschalter laufen durfte und kurzfristig abgelenkt wurde.
»Soll ich hierbleiben, May?« fragte Christopher und berührte ihre linke Schulter. »Dann kann ich deine Hand halten, falls es brenzlig wird.«
»Wenn du möchtest, aber ich komme auch so zurecht. Du weißt ja, man kehrt immer heil zurück.«
Nachdem das Licht gelöscht war, sah alles ganz anders aus. In den grauen Schatten wirkten die reglosen Gestalten, als habe man ihnen ihre Menschlichkeit entzogen. Alle wirkten geheimnisvoll. Ihre Konturen verwischten wie bei Gartenstatuen in der Morgendämmerung. Mays Atem ging deutlich lauter. Tiefe, regelmäßige Seufzer in zunehmend längeren Intervallen.
Auf des Meisters Frage hin, ob sie bereit sei, erwiderte May mit sonorer Stimme: »Ich bin soweit.« Daraufhin wurde sie gebeten, exakt das Zentrum ihres Seins zu bestimmen, und einige langsame und noch tiefere Atemzüge später legte sie die flache Hand auf ihren Bauch.
»Wie siehst du dieses Zentrum?«
»Eine Kugel... eine goldene Kugel.«
»Kannst du die Kugel nach unten rollen? Nach unten... und durch deine Fußsohlen hinaus... so ist es richtig... schieb sie weg...« May grunzte leise. »Und jetzt wieder hoch, schieb sie nach oben...«
May schob das Zentrum ihres Wesens hoch und runter, jedesmal ein Stückchen weiter, bis es von einer kleinen Kugel zu einer großen, golden schimmernden Haut anschwoll, die wie ein Heliumballon gegen die Wände preßte. Und dann - freigelassen - schwebte der Ballon plötzlich. May warf einen kurzen Blick nach unten, sah die gedrehten Kamine und die moosbewachsenen Ziegel von Manor House, und dann war sie plötzlich weit weg. Hinter den Hügeln, über den Wolken, ganz weit weg.
»Wo befindest du dich jetzt, May?«
Ja, wo denn? Unter ihr veränderten sich die Dinge blitzschnell. Die Landschaft war rauh und wild. Wälder und weite, buschbestandene Ebenen. Dann ein paar kreisrunde Zelte, umgeben von einer hohen Steinmauer.
»Erzähl uns, was du siehst.«
Beim Abstieg wurden die Zelte größer. Eins war besonders groß. Größer als alle anderen und geschmückt mit einem purpurnen und goldenen Banner. Ein Adler stieg auf.
»Was ist im Zelt?«
Ein Paar Holzstelzen wurden sichtbar, waren mit in Streifen gerissenen Lumpen an dreckige Männerfüße gebunden. Der dazugehörige Mann hielt in der rechten Hand einen blutigen Fleischklumpen.
Im Zelt stank es nach brutzelndem Fett, verschüttetem Wein und nach in Pech getauchte, brennende Fackeln. Ein ohrenbetäubendes Gelage war im Gange. Männer brüllten einander an, lachten, schrien. Hunde knurrten, kämpften um Knochen. Irgendwo, mittendrin, ein Sänger, der sich selbst auf einer kleinen Trommel begleitete, darum kämpfte, sich inmitten des Lärms Gehör zu verschaffen.
Die üble Luft machte den Vorkoster des Generals krank. Er stopfte sich das rohe Fleisch in den Mund, kaute auf den Sehnen herum, schluckte es mit Mühe, legte den Rest auf einen Metallteller. Eben war ein neuer Schlauch Wein entkorkt worden, und er nahm einen großen Schluck davon. Der Sklave des Generals, ein sehr junger Mohr, nahm den Teller und den Schlauch und brachte sie zu dem anderen Geschirr, das sich auf einer Steinplatte türmte. Der General nahm nie warmes Essen zu sich (da nicht alle Gifte schnell wirkten, mußte man sich in Geduld üben). Andererseits war er immer noch am Leben. Der General verzehrte gerade Schafsnieren. Rülpsend und furzend wischte er seine fettigen Finger am dicken Haar des Negerjungen ab und kippte sich dann etwas Wein hinter die Binde. Leute von höherem Rang nachahmend, stützte er sich auf seinen rechten Ellbogen. Seine große Tunika verrutschte, und jeder konnte seine Unterhosen sehen, die aus der Haut seines Lieblingshengstes gefertigt waren und wie Kastanien glänzten.
Danach standen Pilze auf dem Speiseplan. Der Vorkoster haßte Pilze in jeder Form. Es war bekannt, daß manche Sorten tödlich waren, und obgleich die meisten (dank einer Reihe sich aufopfernder Vorgänger) kategorisiert worden waren, kam es immer wieder vor, daß sich ein giftiges Exemplar inmitten der anderen wiederfand. In so einem Fall stand sowohl das Leben des Vorkosters als auch das des Kochs auf dem Spiel. Leider liebte der General Pilze. Er hing der festen Überzeugung an, daß sie einen in der Liebe potent und in der Schlacht unbesiegbar machten.
Die Pilze wurden in einem kleinen, vierbeinigen Bronzepfännchen gedünstet. Ihr Saft hatte eine unangenehme Farbe. Der Vorkoster schob einen einzigen Pilz und einen Löffel violetter Flüssigkeit in seinen Mund. Sofort würgte es ihn. Die Muskeln in seiner Kehle wurden starr, seine steife, schwarzan-gelaufene Zunge hing aus seinem Mund. Mit hervorquellenden Augen fiel er hin, stieß dabei das Pfännchen um, verbrannte sich die Arme mit dem dampfenden Essen.
Kurz nahm er noch die besorgten Gesichter und den fliehenden Sklaven wahr, dann breitete sich die Paralyse in seiner Brust aus, und das Leben schloß sich in ihm wie ein Fächer.
»May... May...« Arnos Worte klangen gepreßt, als er auf das schreckliche Würgen reagierte. Er sprang als erster von dem Sockel und kniete sich neben sie. Die anderen folgten seinem Beispiel und gruppierten sich um die am Boden liegende May. Selbst Felicity, die eher verwirrt denn besorgt zu sein schien, flanierte hinüber, um einen Blick auf die sich auf der Decke aufbäumende und windende Gestalt zu werfen.
»So tut doch etwas!« schrie Arno. »Warum unternimmt ... denn... niemand etwas?« Er nahm Mays Hand, die Christopher eben noch gehalten hatte, und begann sie mit seinen Händen zu massieren.
»Du mußt sie von Mund zu Mund beatmen.«
»Sie ertrinkt nicht.«
»Woher willst du wissen, daß sie nicht ertrinkt?«
»Sollten wir nicht den Gürtel lockern?«
»Seht euch ihr Gesicht an!«
»Nehmt das Kissen weg. Legt sie flach hin.«
»So kann sie nicht atmen.«
»Ken hat recht. Das wird ihren Zustand nur noch verschlimmern.«
»Wir brauchen etwas Odermennig.«
»Ich dachte, davon hätten wir hier schon genug.«
»Bemerkungen dieser Art sind nicht besonders hilfreich, Mr. Gamelin.«
»Tut mir leid.«
»Hier handelt es sich um einen Notfall, falls Sie das noch nicht bemerkt haben sollten.«
»Es tut mir leid - okay?«
May fletschte die Zähne und gurgelte erbarmungswürdig. »Was würde sie sagen, wenn sie sprechen könnte?«
»Denkt an Farben, die den kosmischen Regeln folgen.«
»Das stimmt, genau das würde sie sagen. Welchen Tag haben wir?«
»Freitag.«
»Das ist violett.« Heather neigte den Kopf tiefer und rief, »May - kannst du mich hören ? Denk violett...«
May schüttelte angestrengt den Kopf, bemühte sich, die richtigen Worte zu sagen und rief schließlich: »Schnauze ...Schnauze...«
»Was meint sie mit Schnauze... Schnauze...?« Nachdenkliches Schweigen setzte ein. Dann rief Arno: ’ »Hunde! Bestimmt ruft sie nach Hunden. May ist in der Antarktis.« Geistesgegenwärtig zog er seine Strickjacke aus. »Darum zittert sie auch so. Sie erfriert. Schnell, beeilt euch...«
Jeder der Anwesenden legte ein Kleidungsstück ab. Felicity bot ihren glänzenden Mousselinschal an. Die einzelnen Teile wurden auf May gelegt. Nach einer Weile sah es ganz danach aus, als erzielten die Kleidungsstücke die gewünschte Wirkung. Das Gurgeln ließ nach, ging in leises Blubbern über und war dann nur noch ein pfeifendes Seufzen. Ihr Atem ging so leise, bis er kaum mehr zu hören war. Ihre Brust hob und senkte sich ruhig, gleichmäßig. Der Saum ihres Gewandes bewegte sich nicht mehr.
»Es hat funktioniert.« Mit strahlender Miene wandte Arno sich an die anderen. »Es geht ihr besser.«
Während er redete, öffnete May die Augen, gähnte unverhohlen und setzte sich auf. »Mein Gott! Das war bislang mein aufregendstes Abenteuer, glaube ich. Was, gütiger Gott, soll denn das?«
»Wir dachten, dir wäre kalt.«
»Du hast am ganzen Leib gezittert.«
»Unsinn. In diesem Zelt war es brütend heiß. Wenn jemand das Licht einschaltet, werde ich euch davon berichten.«
Christopher kam ihrer Bitte nach. Im hellen Raum begannen die Menschen, ihre Sachen aufzuheben und sie wieder anzuziehen. May rief ihrem Mentor zu: »Nun, Meister, das war ja eine ziemliche -« Sie brach ab und stieß einen markerschütternden Schrei aus, woraufhin die anderen sich umdrehten und in die gleiche Richtung blickten wie sie.
Der Meister stand vor seinem Stuhl. Langsam und augenscheinlich mit großer Mühe hob er den rechten Arm. Streckte die Finger aus, fiel ganz grazil mit einer halben Drehung, so daß er mit dem Gesicht nach oben aufschlug. Sein weißes Haar ergoß sich über den graubeigen Teppich. Wie gekreuzigt lag er da, mit ausgebreiteten Armen. In seiner Brust steckte ein Messer. Nur das Heft schaute heraus.