Ein paar Tage nach der Lösung des Falles verließ Sylvie Gamelin Manor House. Das Angebot ihrer Mutter - der Schlüssel zum Haus in London - schlug sie aus und zog statt dessen in ein anonymes Hotel in Victoria. Einen ganzen Monat verließ sie nur selten ihr Zimmer, ruhte sich aus, besuchte hin und wieder das Hotel-Restaurant und stattete dem Anwalt der Familie einen Besuch ab.
Die Enthüllungen über Arthur Craigie (sie konnte es sich nicht angewöhnen, ihn als jemand anderen zu sehen) hatten sie sehr schockiert. Obgleich Sylvie seine Verwandlung - die vor ihrem Zusammentreffen stattgefunden hatte - als echt empfand, gelang es ihr nicht, seine Lehren so unkritisch und mit der gleichen Bewunderung wie früher zu betrachten, was die aus seinem Tod resultierenden Verlustgefühle nur noch zu verstärken schien. Andererseits war ihre Verwirrung so groß, daß sie nicht in der Lage war, ernsthaft um ihn zu trauern.
Die Einsamkeit im Hotel half ihr, all die verschiedenartigen Gefühle zu verarbeiten. Ganz allmählich lernte sie, den wahren Wert der Einblicke zu schätzen, die der Meister ihr vermittelt hatte und die von der Beschaffenheit seines Charakters nicht geschmälert wurden. Und sie spürte auch, daß die im Verlauf der Meditationen gemachten Erfahrungen nichts mit maßloser Selbstüberschätzung zu tun hatten. Diese Erfahrungen waren echte, wenn auch unergründliche Bekräftigungen für die Richtigkeit ihrer Entscheidung. Sie hatte einen Lebensweg gewählt, der Spiritualität nicht ausschloß.
In dieser Zeit erhielt sie einen Brief von Willoughby Greatorex, in dem der Anwalt sie schriftlich um einen Besuch bat. .Etwas widerwillig folgte sie dieser Aufforderung, in der ErWartung, von ihm onkelhaft über die Zukunft ihres Treuhandvermögens beraten zu werden. Tatsächlich beabsichtigte er, Sylvie das Testament ihres Vaters vorzulesen. Guy hatte alles, was er vor seinem Tod besessen hatte, seiner Tochter vermacht. Die Nachricht war keine Neuigkeit. Dennoch bestürzte es sie, daß er genau so verfahren war. Ehe sie sich verabschiedete, händigte Sir Willoughby ihr einen großen Briefumschlag mit den Worten aus, es wäre der ausdrückliche Wunsch ihres Vaters gewesen, daß sie ihn erhielt. Den Inhalt kannte er nicht.
Im Hotelzimmer verstaute Sylvie den Briefumschlag in der hintersten Schrankecke und versuchte ihn zu vergessen. Sie brauchte keine weiteren Erinnerungen an ihren Vater. Eine Sache, die sie im Verlauf ihrer einsamen Introspektion immer wieder beschäftigte, war das Wissen, daß ihr Vater in dem Glauben gestorben war, daß sie ihn für schuldig hielt an der Ermordung von Arthur Craigie. Mehrere Male hatte sie, ruhig auf dem Bett sitzend und darum bemüht, Ordnung in ihre wirren Gedanken zu bringen, mit geschlossenen Augen den Versuchunternommen, mit ihm »Verbindung aufzunehmen«. Dabei war ihr vor lauter Konzentration stets ganz schwindlig geworden. All ihre mentalen Anstrengungen erwiesen sich als vergebliche Liebesmüh. Da Guy unerreichbar blieb, erfuhr er nicht, wie sehr seine Tochter ihr Verhalten bereute.
Einige Tage später öffnete sie den Briefumschlag und leerte den Inhalt aufs Bett. Sie hatte damit gerechnet, Versicherungspolicen, Aktien und Wertpapiere zu finden und nicht Fotos, abgerissene Eintrittskarten, Programme und ein paar gefaltete Briefseiten. Zögernd griff sie nach dem obersten Blatt Papier und strich es glatt.
Es war ein Schulreport aus dem Winterhalbjahr 1983. Und noch viel, viel mehr lag auf der Bettdecke. Tausend kleine Erinnerungen bis zu dem Jahr, in dem sie von zu Hause fortgegangen war. Außerdem ein paar Zeichnungen, Karten, wissenschaftliche Skizzen und ein mit Spitze verzierter Kragen, auf dem »S.G.« gestickt war. Da waren Notenblätter und ein Stück, »The Robin’s Return«, das wild mit einem Filzstift vollgekritzelt war. Eine von einem Gummiband zusammengehaltene Haarlocke. Sie erinnerte sich, wie sie - als ihr die Haare bis zur Taille reichten - darauf bestanden hatte, sie schneiden zu lassen, nur weil ihr Vater betont hatte, wie sehr ihm ihre langen Haare gefielen. Ihr Blick fiel auf zwei Tickethälften auf einer Postkarte mit einem Gorilla, auf der »Unser Tag im Zoo« geschrieben stand.
Sie arbeitete sich durch, las nicht alles, warf auf manches nur einen kurzen Blick. Ganz allmählich, Stück um Stück, erfaßte sie das Ausmaß seiner Einsamkeit, seines seelischen Leids, verglich beides mit ihren eigenen Gefühlen. Zuunterst lag ein kleiner, zugeklebter Umschlag, auf dem ihr Name stand. Mit diesem Brief bat er um Vergebung. Der Schreiber war sich darüber im klaren, daß seine Zuneigungsäußerungen nicht willkommen waren, aber nun, da er nicht mehr unter den Lebenden weilte, konnte seine Liebe vielleicht im nachhinein angenommen, akzeptiert werden. Er wünschte ihr alles Glück der Welt. Sie war die einzige, unverdiente Freude seines Lebens, und er war stets ihr ergebener Vater gewesen.
Sylvie hielt das Blatt Papier lange in der Hand. Saß vollkommen reglos auf dem Bett, bis das Zimmer im Dunkeln lag, bis ihr Profil sich wie ein Scherenschnitt gegen den orangeroten Schein der Straßenlaternen abzeichnete. Sie fühlte sich in die Enge getrieben, merkte, wie Wut in ihr aufstieg bei der Erinnerung an die Jahre der Entfremdung. Der Brief und der herzzerreißende Berg Andenken warfen ein anderes Licht auf die Beachtung, die er ihr geschenkt hatte, auf seine Bemühungen, die sie früher als gehässig und autoritär empfunden hatte. Sie entsann sich, wie er in einem Türeingang gegenüber ihrer Wohnung gelauert und versucht hatte, sich zu verstecken, wenn sie herauskam, während sie sich lautstark über sein Verhalten beklagt hatte.
Nun fragte sie sich, was an seinem Verhalten eigentlich so schlimm, so unerträglich gewesen war. Er hatte sie vernachlässigt, wie das zweifellos zahllose andere vielbeschäftigte Väter auch taten. Später versuchte er, diesen Fehler wiedergutzumachen, und übertrieb dabei so sehr, wie er das in allen anderen Lebensbereichen auch tat, seiner Natur entsprechend. Das Blatt Papier in den zitternden Händen haltend, wunderte sich Sylvie, wie leicht es ihr gefallen war, ihm gegenüber ihr Herz zu verschließen.
Der Meister hatte einmal gesagt: »Wagt den Versuch, euch in der Ewigkeit kennenzulernen.« Sie hatte erst gar nicht versucht, ihren Vater kennenzulernen. Jetzt blieb ihr nur noch dieser Brief und die Möglichkeit, über all die verpaßten Gelegenheiten zu lamentieren. Diese Gedanken setzten ihr so sehr zu, daß sie das Hotel verließ, um durch die umliegenden Straßen zu spazieren. Gelbes Laub säumte die Bürgersteige. Ihre Umgebung, die Menschen, denen sie begegnete, nahm sie kaum wahr. Kurz ruhte sie sich auf einer Bank aus, ehe sie mit schnellen Schritten weitermarschierte. Erst als sie völlig erschöpft war, kehrte sie in ihr Hotel zurück und legte sich schlafen. Einmal ging sie in den Park und verbrachte den ganzen Nachmittag versteckt hinter Büschen, bemüht, an nichts zu denken, nur langsam und regelmäßig zu atmen, wie man es sie gelehrt hatte, doch ohne Erfolg. Linderung war ihr nicht beschieden. Reue, jenes erstickende und sterile Gefühl, bemächtigte sich ihrer, raubte der Gegenwart Licht und Wärme, verweigerte ihr die Hoffnung auf eine friedliche Zukunft.
Des öfteren kam sie an Eccleston Square 58 vorbei. Irgendwann fiel ihr auf, daß dort die Buddhistische Gesellschaft ansässig war. Weitere Wochen verstrichen, ehe sie läutete und die glänzende schwarze Tür öffnete. Nach dem ersten Besuch schaute sie fast jeden Nachmittag vorbei, verbrachte etwas Zeit in der Bibliothek, las und genoß vor allem die Stille. Anfänglich vermied sie es, die geschnitzte Rupa anzusehen, die sie an die groteske Auseinandersetzung auf Manor House erinnerte. Doch je öfter sie kam, desto heimischer fühlte sie sich. Allmählich verblaßten die Bilder der Vergangenheit.
Sie begann den samstäglichen Meditationskurs zu besuchen und schloß sich der wöchentlich stattfindenden Diskussionsgruppe an, zu der einmal Thannisara, eine buddhistische Nonne, eingeladen wurde. Deren Aura konzentrierter Aufmerksamkeit, ihre Grazie, Warmherzigkeit und die Tatsache, daß sie so häufig lachte, all das faszinierte Sylvie. So beschloß sie, ein paar Tage in Amaravati zu verbringen, einem buddhistischen Kloster unweit von Great Gaddesden, dem die Nonne angehörte.
Nach mehreren Aufenthalten dieser Art kaufte sie in der Nähe ein kleines Cottage, verbrachte viel Zeit in Amaravati und wuchs nach und nach in die Rolle der weltlichen Helferin hinein. Sie machte sich in der Küche oder den Gärten nützlich. Am Tag der offenen Tür half sie, sich um die Kinder zu kümmern. Mit der Zeit verschmolz ihr Innen- und Außenleben harmonisch mit dem der spirituellen Gemeinschaft, was ihr eine gewisse Zufriedenheit verschaffte.
Einmal pro Woche traf sie sich zu einem Gespräch mit Schwester Thannisara. Im Verlauf dieser Stunden wurde Sylvie so etwas wie ein spezieller Dispens gewährt, in denen sie entweder mit sich selbst hart ins Gericht ging oder anderen die Schuld an ihrer gegenwärtigen Misere gab. Immer und immer wieder pflügte sie denselben Acker, bis die Worte null und nichtig wurden und wie kalte Asche in ihrem Mund lagen.
Die Schuldgefühle ließen nach. Ihre Gedanken wurden klarer, die Wunden schlossen sich. Die Vergangenheit verlor zusehends die Macht über sie. Irgendwann überlegte sie, ihre Mutter zu besuchen. Der Heilungsprozeß brachte es mit sich, daß sie immer seltener an Andrew Carter dachte. Sechs Monate später war die Erinnerung an ihn vollends Verblaßt.
In bezug auf Ken und Heather, was gibt es da zu sagen, was der Leser (vorausgesetzt, er oder sie besitzt einen Fernsehapparat) nicht schon wüßte? Möglicherweise genügen ein paar Einzelheiten zu ihrem Abschied von Manor House. Am Morgen nach Tim Rileys Tod packten sie ihre Koffer.
Die Beavers erschienen zum Frühstück und verharrten mit gesenkten Köpfen, eingefallenen Schultern und zusammengepreßten Handflächen auf dem glatten Steinboden. Sie erklärten, sie hätten seit ihrem fehlerhaften Betragen nicht mehr schlafen können und kämpften seither mit so schlimmen Schuldgefühlen, daß sie keine andere Möglichkeit sahen, als für immer von Manor House wegzugehen.
Die anderen widersprachen ihnen. Boten Vergebung an, ohne Bedingungen daran zu knüpfen. Ken rief: »Feuerkohlen!«, ließ sich aber nicht dazu bewegen, seine Entscheidung zu revidieren. Sie packten ihre wenigen Habseligkeiten zusammen und waren innerhalb einer Stunde verschwunden. Als Ken die Kieszufahrt runterhoppelte, schien sich sogar der Gips für sein Betragen zu schämen. Sie schauten nicht zurück.
Am darauffolgenden Wochenende erschien in News of the World (die während der Abendmeditation auf der Terrasse angerufen und den Preis des Daily Pitch verdoppelt hatte) der erste Teil ihrer Exklusivstory. Nichts wurde ausgelassen. Statt dessen floß eine Menge ein, das nichts mit der Realität zu tun hatte.
Auf Heathers Venusbesuche wurde ausführlich eingegangen. Des weiteren auf die Unterstützung der Götter und anderer kleiner Luftgeister, die ihr halfen, ihren alltäglichen Pflichten nachzugehen. All dies wurde unter der Überschrift »Elementargeister, mein lieber Watson« präsentiert. Zwei Wochen später wurde das Ehepaar zu Wogan eingeladen in der Annahme, sie wären genau die Richtigen, um sich auf ihre Kosten lustig zu machen. Nun, dieser Schuß ging sozusagen nach hinten los, denn mitten in der Sendung verfiel Ken urplötzlich in Trance und channelte Hilarion und die Kristallinen Horden mit solch dynamischer Autorität, daß die Telefonleitungen auf der Stelle heißliefen, weil unzählige Anrufer ein Wochenende buchen wollten. Als die ersten Nachrichten von der anderen Seite eintrafen (von Cosmo Lang, dem letzten Erzbischof von Canterbury, der sich für seine Rolle bei der Unterdrückung des Kirchenberichtes über Spiritualität und Kommunikation entschuldigte), herrschte im Studio helle Aufregung.
Danach war alles nur noch eine Frage der Zeit. Wenige Tage später hatte Baz Badaistan, der - was das Rühren der Werbetrommel anging - hinter Malcolm McLaren den zweiten Platz einnahm, Ken und Heather unter seine Fittiche genommen. Es dauerte nicht lange, und sie besuchten landauf, landab ausgebuchte Häuser. Wie gewöhnlich wurden die Sitzungen mit einer Demonstration von Heathers Heilkünsten beendet. Mit einem himmlischen Lächeln auf den Lippen legte sie die Fingerspitzen auf die Stirn des Bittstellers, der dann obligatorisch in Kens ausgebreitete Arme fiel. Fielen die Kandidaten nicht von allein nach hinten, übte Heather mit den Fingern so lange Druck aus, bis sie nachgaben.
Ihre Fernsehsendung The Perfect Medium, in der das Publikum stets mit einbezogen wurde, war von Anfang an ein Riesenerfolg. Ken und Heather erschienen in mit Edelsteinen besetzten, bestickten Kaftanen auf der Bühne, versuchten lachend auf dem Karmischen Klapometer die Astralpunkte des anderen zu übertreffen und übertrafen damit auch noch die Einschaltquoten von Coronation Street. Am Ende der Sendung klimperte Heather auf einem Instrument und gab irgendein Lied zum besten. »Versprüh etwas Äther und lächle, lächle, lächle« stand bald auf Platz eins der Hitparade.
Trotz ihrer Entschlossenheit, sich nicht von materiellem Wohlstand und irdischem Denken verführen zu lassen, häuften die Beavers so viel Krimskrams an, daß sie eine Penthousewohnung mit fünf Zimmern auf der Canary Wharf kaufen mußten, um all ihre weltlichen Güter verstauen zu können. Eine Haushälterin und eine Sekretärin organisierten ihren Alltag, da Ken und Heather zu stark beansprucht von kosmischen Dekreten und Vorahnungen, Geschäftstreffen und Plänen für eine zweite Fernsehserie waren, um sich mit alltäglichen Problemen zu belasten. Für das kommende Jahr wurden Europa und die Vereinigten Staaten anvisiert.
76 Beauclerc Gardens, W11, war ein hohes, schmales, vier? stockiges Gebäude mit wunderschönen schmiedeeisernen Balkons, deren Geländer an New Orleans erinnerten. Da es Indigoblau angestrichen war und eine strahlend gelbe Sonne vom Dach lächelte, konnte man es nicht übersehen.
Das Haus gehörte The Lodge of the Golden Windhorse, einer Organisation, die sich der Meditation und Heilung verschrieben hatte und von den anderen Bewohnern von Holland Park unisono als gewöhnlich abgestempelt wurde. Das Örtchen Compton Dando hingegen, wo die Kommune zuvor ihre Zelte aufgeschlagen hatte, hatte sich über deren Weggang gefreut. Ein, zwei Dorfbewohner hatten sich sogar dazu herabgelassen, sich vor Freude zu bekreuzigen, als die Umzugswagen kamen.
Das neue Haus wurde folgendermaßen genutzt: Im Keller gab es zwei Räume, die für Beratungen, Therapien und Workshops genutzt wurden. Im Erdgeschoß befanden sich der Empfang, ein Buchgeschäft und eine Bibliothek. Im ersten Stock lagen die Behandlungszimmer und im oberen Stockwerk die Privaträume, zu denen ein großes, bequemes Wohnzimmer und ein winziges Schlafzimmer mit einer Dusche und einer kleinen Küchenzeile gehörten.
Janet lebte in dieser extra für sie umgebauten Wohnung, die ihr kostenlos überlassen worden war. Dafür mußte sie fünfundzwanzig Stunden die Woche Büroarbeit leisten. Tatsächlich arbeitete Janet viel mehr, nachdem sie entdeckt hatte, daß sie Talent für diese Aufgabe hatte und der Job ihr Spaß machte. Mit der Präzision eines Schiffskapitäns herrschte sie über ihr Empfangsbüro, ein hübsches Zimmer mit hohen Decken und voller Blumen. Bislang hatte sie sich nachdrücklich geweigert, eine bezahlte Aushilfskraft einzustellen. Auf ihrer mit Leder bezogenen Schreibtischplatte standen drei Telefone und ein Computer. An der Wand hingen Poster kommender Veranstaltungen und ein großer, mit bunten Stecknadelköpfen gespickter Kalender.
An ihrer neuen Aufgabe überraschte Janet am meisten, mit welcher Selbstverständlichkeit sie sich um den Empfang kümmerte, Menschen begegnete, Informationen weitergab, Vorschläge zu Kursen und Behandlungsmethoden erteilte. Natürlich spielte sie eine Rolle. Die wahre Janet (die alte Janet) stand daneben, beobachtete sie mit verständnislosem Kopfschütteln und wäre diesem Anspruch nie gerecht geworden. Die neue Janet schüttelte ebenfalls den Kopf, weil sie Tweedröcke, Seidenpullover und glatte enge Hosen trug und sich einen neuen Haarschnitt zugelegt hatte... Diese Veränderung hatte sie Felicity zu verdanken, die taktvoll darauf hingewiesen hatte, daß Kordhosen und eine wilde Haarmähne eventuell nicht das richtige Outfit für eine Empfangssekretärin waren.
Mittlerweile ging Janet häufig aus. Kurz nach ihrem Umzug nach London hatte sie sich davor gefürchtet, das Haus zu verlassen, aus Angst, Trixie über den Weg zu laufen. (Slough war nicht allzu weit entfernt.) Als sie dann endlich einkaufen ging, »begegnete« ihr Trixie bei jeder Gelegenheit wenigstens einmal. Einmal lief sie sogar einem blonden Mädchen mit einer Baskenmütze hinterher, folgte ihr durch das gesamte C-&-A-Gebäude, bis das Mädchen, das natürlich nicht Trixie war, drohte, den Geschäftsführer zu rufen.
Nach einer Weile ließ ihre Anspannung nach. Sah sie jemanden, der eine vage Ähnlichkeit mit ihrer ehemaligen Freundin hatte, schaute sie in die andere Richtung. Oder wechselte gar die Straßenseite, um eine Begegnung zu vermeiden. Die Zeit ermöglichte ihr eine gesündere Perspektive auf ihre frühere Zuneigung. Sie verstand, was für eine pathetische Figur sie damals abgegeben haben mußte, und zuckte angesichts der Erinnerung innerlich zusammen. Der Alltag bereitete ihr immer noch nicht die Freude, nach der sie sich sehnte, und sie hielt beharrlich an der Überzeugung fest, daß ihr dies niemals vergönnt sein würde. Dennoch war sie nicht unglücklich und verspürte manchmal so etwas wie Zufriedenheit.
Zwischen ihr und Felicity bahnte sich zögernd so etwas wie eine Freundschaft an. Hin und wieder plauderten sie miteinander, manchmal recht lange über philosophische Fragen, die Felicity verwirrten und auf die Janet keine Antworten hatte« Im Frühling besuchten sie gemeinsam eine Theatervorstellung im Park, und ein paar Wochen später schlug Janet ein Konzert in der Festival Hall vor. Sie wählte eine Vorstellung aus, die für ihren persönlichen Geschmack im Grunde genommen zu leichtfüßig war, aber Felicity kannte sich mit klassischer Musik nicht aus, und Janet wollte verhindern, sie vor den Kopf zu stoßen. Insofern freute sie sich um so mehr, daß Felicity eine Vorliebe für Palestrina zum Ausdruck brachte, nachdem sie sich verschiedene Kassetten und CDs ausgeborgt hatte. Einmal aßen sie zusammen zu Abend, saßen hinterher auf Janets Eisenbalkon, genossen die Abenddämmerung und hörten sich Missa Brevis an.
Felicitys Äußeres hatte sich stark verändert. Sie war etwas fülliger geworden. Ihr Haar, nun sich selbst überlassen, hatte die Farbe von Zinn angenommen und wurde zu einem schlichten Zopf zusammengefaßt. Ihre seelische Transformation war zwar beständig, ging aber zögernd vonstatten und gab manchmal Anlaß zur Besorgnis. Wann immer Felicity jedoch zu taumeln drohte, was eigentlich immer der Fall war, fing die gute May sie auf.
Die beiden Frauen teilten sich ein Haus zwei Türen weiter die Straße hinunter, das mit dem erzielten Erlös aus dem Verkauf von Manor House angeschafft worden war. Die Veräußerung des Anwesens hatte mehr als eine Million Pfund eingebracht, von denen vierhunderttausend sicher und ethisch vertretbar investiert worden waren. Die Zinsen gewährleisteten tägliche Ausgaben, mäßige Gehälter, weitere Projekte und die finanzielle Unterstützung Bedürftiger. Alle vier Mitglieder der Organisation hatten sich darauf geeinigt, daß bei bestimmten Gelegenheiten praktische Hilfe sinnvoller war als alles andere. Es kam durchaus vor, daß ihre Freundlichkeit ausgenutzt wurde, was allerdings keinen Einfluß auf ihre Großzügigkeit und ihren guten Willen hatte und vor allem in keinem Verhältnis zu den jüngst gemachten Erfahrungen stand.
Arno bewohnte eine Gartenwohnung in dem anderen Haus und hatte sich eine elegante Katze mit Schildpattzeichnung zugelegt. Zu seiner Überraschung und Erleichterung hatte das Geständnis seiner unsterblichen Liebe nicht zu einer Verbannung aus Mays Nähe geführt. Als er ernsthaft und unterwürfig gelobte, sich zurückzuhalten und sie nie wieder mit seinen Gefühlen zu belästigen, schalt sie ihn nur sanft. Zuerst legte er ihre Reaktion als Mitleid aus, zumal er immer noch Schmerzen litt, seit die Spitze ihres geliebten Cellos durch seinen Fuß gestoßen war. Doch im Verlauf späterer Unterhaltungen kam heraus, daß sie ihm seit längerem zugetan war.
Ungefähr ein Jahr später, an dem Tag, an dem diese Geschichte endet, versammelten sich vier Leute im Standesamt von Chelsea. Felicity in einem bodenlangen, regenbogenfarbenen Kleid, Janet in hellvioletter Seide mit einem Strauß Teerosen in der Hand. Arno trug seinen besten Anzug, der frisch gebügelt worden war und nun glänzte. In der Armbeuge der strahlenden Braut lag ein riesiges Blumenbouquet in allen Blauschattierungen.
Eine schimmernde Gestalt aus weißem Satin und Spitze, das Haupt gekrönt von einem Kranz aus Orangenblüten und einem gebauschten Schleier, schwebte über den Läufer, um an Arnos Seite stehenzubleiben, der sein Kinn mit dem frisch mit Henna gefärbten Bart triumphierend neigte.
Fünf Minuten später war alles vorbei. Jeder küßte jeden, und ein über alle Maßen glücklicher Bräutigam führte seine ihm rechtmäßig angetraute Gattin nach draußen. May Cuttle (Sternenname »Pacifica«) war von nun an und für immer May Gibbs. Und Arnos Walkürenkönigin.