Natur und Naturgesetze lagen in dunkler Nacht, Gott sprach: Newton sei! Und sie strahlten voll Pracht.
Alexander Pope
4. Das Maß der Dinge
Wenn man nach der ungemütlichsten wissenschaftlichen Exkursion aller Zeiten sucht, ist die Peru-Expedition der französischen Akademie der Wissenschaften im Jahr 1735 sicher keine schlechte Wahl. Unter Leitung des Gewässerkundlers Pierre Bougouer und des mathematisch ausgebildeten Soldaten Charles Marie de La Condamine reiste eine Gruppe von Wissenschaftlern und Abenteurern durch das südamerikanische Land, um quer durch die Anden Entfernungen durch Triangulation zu messen.
Damals hatte sich gerade überall der starke Wunsch breit gemacht, die Erde zu verstehen - man wollte wissen, wie alt und wie groß sie ist, welchen Platz sie im Weltraum einnimmt und wie sie entstanden ist. Die französische Expedition sollte einen alten Streit um den Erdumfang beilegen und zu diesem Zweck die Länge eines Grades an einem Meridian messen (der 1/360 des Erdumfanges darstellt). Dazu hatte sie eine Linie von Yaroqui bei Quito bis kurz hinter Cuenca im heutigen Ecuador ausgewählt, eine Entfernung von rund 320 Kilometern.
Fast von Anfang an ging alles Mögliche schief, manchmal auf spektakuläre Weise. In Quito fühlten sich die Einheimischen offenbar von den Besuchern provoziert, und ein Steine werfender Mob jagte sie aus der Stadt. Wenig später wurde der Expeditionsarzt wegen eines Missverständnisses um eine Frau ermordet. Der Botaniker wurde wahnsinnig. Andere starben am Fieber oder durch Stürze. Das Expeditionsmitglied mit dem dritthöchsten Rang, ein Mann namens Pierre Godin, brannte mit einer Dreizehnjährigen durch und war nicht mehr zur Rückkehr zu bewegen.
Irgendwann musste die Gruppe ihre Arbeiten für acht Monate einstellen, während La Condamine nach Lima fuhr, um Schwierigkeiten mit den staatlichen Genehmigungen auszuräumen. Schließlich kam es so weit, dass er und Bougouer nicht mehr miteinander sprachen und sich weigerten, zusammenzuarbeiten. Wohin die schrumpfende Gruppe auch kam, überall begegneten ihr die Behörden mit tiefem Misstrauen: Die Beamten konnten einfach nicht glauben, dass ein Trupp französischer Wissenschaftler um die halbe Welt reiste, nur um die Welt zu vermessen. Es erschien ihnen völlig sinnlos. Auch zweieinhalb Jahrhunderte später ist es eine durchaus vernünftige Frage: Warum stellten die Franzosen ihre Messungen nicht in Frankreich an und ersparten sich damit die ganzen Mühen und Unannehmlichkeiten ihres Anden-Abenteuers?
Die Antwort ergibt sich teilweise aus der Beobachtung, dass Wissenschaftler - insbesondere solche aus Frankreich - sich die Sache im 18. Jahrhundert nur in den seltensten Fällen einfach machten, wenn es eine Alternative von absurder Schwierigkeit gab; teilweise liegt sie aber auch in einem praktischen Problem, mit dem der englische Astronom Edmond Halley es viele Jahre zuvor zum ersten Mal zu tun gehabt hatte, lange bevor Bougouer und La Condamine auch nur davon geträumt hatten, nach Südamerika zu fahren, und erst recht lange bevor sie einen stichhaltigen Grund dafür hatten.
Halley war eine Ausnahmegestalt. Im Laufe seiner langen, ergiebigen Laufbahn war er Kapitän zur See, Kartograf, Professor für Geometrie an der Universität Oxford, stellvertretender Aufseher der königlichen Münze, königlicher Astronom und Erfinder der Tiefsee-Taucherglocke.1 Er verfasste maßgebliche Werke über Magnetismus, Gezeiten und die Bewegungen der Planeten, äußerte sich aber auch freundlich über die Wirkungen des Opiums. Er erfand Wetterkarten und versicherungsstatistische Tabellen, schlug Methoden vor, mit denen man das Alter der Erde und ihre Entfernung von der Sonne ermitteln konnte, und entwickelte sogar ein praktikables Verfahren, um Fische außerhalb der Saison frisch zu halten. Nur eines tat er interessanterweise nicht: Er entdeckte nicht den Kometen, der seinen Namen trägt. Vielmehr erkannte er nur, dass es sich bei dem Kometen, den er 1682 beobachtete, um denselben handelte, den andere bereits 1456, 1531 und 1607 gesehen hatten. Zum Halleyschen Kometen wurde er erst 1758, 16 Jahre nach seinem Tod.
Bei allen seinen Leistungen bestand Halleys größter Beitrag zum Wissen der Menschheit aber wahrscheinlich einfach darin, dass er sich an einer bescheidenen wissenschaftlichen Wette mit zwei anderen Geistesgrößen seiner Zeit beteiligte: mit Robert Hooke, der vielleicht vor allem deshalb in Erinnerung blieb, weil er als Erster eine Zelle beschrieb, und mit dem großen, ehrwürdigen Sir Christopher Wren, der - was heute kaum noch jemand weiß - eigentlich an erster Stelle Astronom und nur nebenbei Architekt war. Als Halley, Hooke und Wren 1683 in London gemeinsam zu Abend aßen, kamen sie auf die Bewegungen der Himmelskörper zu sprechen. Man wusste bereits, dass die Planeten auf einer besonderen, als Ellipse bezeichneten ovalen Bahn kreisen - »einer sehr speziellen, präzisen Kurve«, um Richard Feynman zu zitieren -, aber den Grund dafür kannte niemand. Wren setzte großzügig einen Preis von 40 Schilling (damals mehrere Wochenlöhne) für denjenigen der drei Männer aus, der eine Lösung fand.
Hooke war dafür bekannt, dass er häufig den Verdienst für Ideen beanspruchte, die nicht unbedingt seine eigenen waren; nun behauptete er, er habe das Problem bereits gelöst, könne aber seine Erkenntnisse jetzt nicht mitteilen, und zwar aus einem höchst interessanten, fantasievollen Grund: Er würde sonst anderen die Befriedigung nehmen, die Antwort selbst zu entdecken. Stattdessen wolle er sie »eine gewisse Zeit lang geheim halten, damit andere wissen, wie sie es einzuschätzen haben«. Wenn er darüber hinaus noch über die Angelegenheit nachdachte, hinterließ er keine Spuren seiner Bemühungen. Halley dagegen war nun versessen darauf, eine Antwort zu finden. Das ging so weit, dass er im folgenden Jahr sogar nach Cambridge reiste und an der dortigen Universität kühn den Mathematikprofessor am Lukas-Lehrstuhl, Isaac Newton, fragte, ob er nicht helfen könne.
Newton war entschieden eine seltsame Gestalt - über alle Maßen intelligent, aber auch eigenbrötlerisch, humorlos, empfindlich bis an die Grenze des Verfolgungswahns, von berühmter Zerstreutheit (wenn er morgens die Füße aus dem Bett bewegt hatte, blieb er angeblich manchmal stundenlang sitzen, weil eine plötzliche Welle von Gedanken ihn an seinen Platz fesselte) und fähig zu verblüffend seltsamen Verhaltensweisen. Er hatte sein eigenes Labor gebaut - es war das erste in Cambridge -, aber dort widmete er sich dann höchst bizarren Experimenten. Einmal führte er sich eine Ahle - eine lange Nadel, wie sie zum Nähen von Leder verwendet wird - in die Augenhöhle ein und schob sie »zwischen mein Auge und den Knochen so nahe an die Rückseite des Auges, wie ich konnte«, einfach weil er wissen wollte, welche Wirkung es hatte.4 Wundersamerweise hatte es überhaupt keine Wirkung -jedenfalls keine, die von Dauer war. Bei einer anderen Gelegenheit schaute er in die Sonne, solange er es aushielt - dieses Mal wollte er wissen, wie sich dies auf sein Sehvermögen auswirken würde. Wieder blieben Newton dauerhafte Schäden erspart, aber er musste sich mehrere Tage lang in einem abgedunkelten Zimmer aufhalten, bevor seine Augen ihm verziehen.
Aber über solchen seltsamen Ansichten und Launen schwebte der Geist eines überragenden Genies - das allerdings selbst dann häufig eine Neigung zu Absonderlichkeiten zeigte, wenn sich seine Tätigkeit auf hergebrachten Pfaden bewegte. Als Student frustrierten ihn die Grenzen der herkömmlichen Mathematik, woraufhin er ein ganz neues Gebiet erfand, die Infinitesimalrechnung, von der er aber siebenundzwanzig Jahre lang niemandem etwas erzählte.5 Mit seinen Arbeiten zur Optik revolutionierte er unsere Kenntnisse über das Licht, und damit legte er auch die Grundlagen für die Wissenschaft der Spektroskopie, aber auch hier entschloss er sich, drei Jahrzehnte lang niemandem die Ergebnisse mitzuteilen.
Bei aller Intelligenz machte echte Naturwissenschaft jedoch nur einen Teil von Newtons Interessengebieten aus. Mindestens die Hälfte seines Arbeitslebens widmete er der Alchemie und abgelegenen religiösen Themen. Dabei handelte es sich nicht nur um Spielerei, sondern um tiefe Überzeugungen. Er war heimlicher Anhänger der Arianer, einer gefährlich ketzerischen Sekte, nach deren wichtigster Glaubensüberzeugung es keine heilige Dreifaltigkeit gab (was nicht einer gewissen Ironie entbehrt, da Newton in Cambridge am Trinity College tätig war). Endlose Stunden brachte er damit zu, den Grundriss des untergegangenen salomonischen Tempels in Jerusalem zu studieren (wobei er sich selbst das Hebräische beibrachte, um besser in den Urtexten stöbern zu können); Newton glaubte, dort seien mathematische Hinweise auf den Zeitpunkt der zweiten Wiederkehr Christi und das Ende der Welt verborgen. Mit ebenso glühender Überzeugung war er ein Anhänger der Alchemie. Der Wirtschaftswissenschaftler John Keynes ersteigerte 1936 bei einer Auktion eine Kiste mit Papieren von Newton und musste zu seinem Erstaunen feststellen, dass sie sich in ihrer überwältigenden Mehrzahl nicht mit Optik oder der Planetenbewegung beschäftigten, sondern mit engstirnigen Bestrebungen, unedle Metalle in edle zu verwandeln. Als man in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts eine Haarsträhne von Newton analysierte, fand man Quecksilber, ein Element, für das sich Alchemisten, Hutmacher und Thermometerhersteller interessierten, sonst aber so gut wie niemand - und die Konzentration lag um das 40-fache über dem natürlichen Wert. Da ist es vielleicht kein Wunder, dass er morgens manchmal das Aufstehen vergaß.
Was Halley im Einzelnen von Newton wollte, als er ihn im August 1684 unangemeldet aufsuchte, können wir nur vermuten. Aber dank der Aufzeichnungen eines NewtonVertrauten namens Abraham DeMoivre besitzen wir einen Bericht über eine der wichtigsten Begegnungen in der Wissenschaftsgeschichte:
Im Jahr 1684 kam Dr. Halley zu Besuch nach Cambridge, und nachdem sie eine gewisse Zeit zusammen verbracht hatten, fragte ihn der Dr., wie nach seiner Ansicht die Kurve aussehen müsse, welche die Planeten beschreiben, wenn man unterstellt, dass die Anziehungskraft der Sonne umgekehrt proportional zum Quadrat ihrer Entfernung ist.
Damit spielte er auf das Gesetz der umgekehrten Quadrate an, ein mathematisches Prinzip, das nach Halleys Überzeugung den Kern der Erklärung bilden musste, auch wenn er bisher nicht genau wusste, wie.
Sir Isaac erwiderte sofort, es müsse eine Ellipse sein. Von Freude und Verblüffung überwältigt, fragte ihn der Dr., woher er das wisse. »Nun«, erwiderte er, »das habe ich berechnet.« Woraufhin Dr. Halley ihn unverzüglich nach seiner Berechnung fragte. Sir Isaac suchte zwischen seinen Papieren, konnte sie aber nicht finden.
Das war schon erstaunlich - als ob jemand erklärt, er habe ein Heilmittel gegen Krebs gefunden, könne sich aber nicht erinnern, wo er die Formel gelassen habe. Auf Halleys Drängen hin erklärte Newton sich einverstanden, die Berechnungen noch einmal vorzunehmen und einen Aufsatz darüber zu schreiben.
Das Versprechen hielt er auch, aber er beließ es nicht dabei. Nachdem er sich zwei Jahre zu intensivem Nachdenken und Schreiben zurückgezogen hatte, verfasste er endlich sein Meisterwerk, die Philosophiae naturalis principia mathematica oder Mathematische Grundlagen der Naturphilosophie, besser bekannt als Principia.
Nur sehr selten - in der gesamten Geschichte waren es nur wenige Male - gelingt dem Geist eines Menschen eine so scharfsinnige, unerwartete Beobachtung, dass andere sich nicht entscheiden können, was verblüffender ist: die Tatsache selbst oder der Gedanke daran. In einem solchen Augenblick entstanden die Principia. Durch sie wurde Newton mit einem Schlag berühmt. Während seines ganzen restlichen Lebens überhäufte man ihn mit Beifall und Ehrungen; unter anderem war er in Großbritannien der Erste, der wegen einer wissenschaftlichen Leistung zum Ritter geschlagen wurde. Selbst der große deutsche Mathematiker Gottfried von Leibniz, mit dem Newton lange und erbittert über das Erstlingsrecht an der Erfindung der Infinitesimalrechnung stritt, hielt dessen Beiträge zur Mathematik für ebenso bedeutend wie sämtliche früheren Arbeiten zusammen.6 »Näher kann kein Sterblicher den Göttern kommen«, schrieb Halley in einer Stimmung, die sich auch bei seinen Zeitgenossen und vielen späteren Menschen widerspiegelte.
Die Principia wurden zwar auch als »eines der unverständlichsten Bücher aller Zeiten« bezeichnet (Newton machte es absichtlich so schwierig, damit er nicht von mathematischen »Dilettanten« belästigt wurde, wie er sie nannte), aber für alle, die seinen Gedankengängen folgen konnten, waren sie ein helles Licht im Dunkel. Er lieferte darin nicht nur mathematische Erklärungen für die Umlaufbahn der Himmelskörper, sondern identifizierte auch die Anziehungskraft, die sie überhaupt erst in Bewegung bringt: die Gravitation. Plötzlich erschienen alle Bewegungen im Universum sinnvoll.
Das Kernstück der Principia waren die drei Newtonschen Bewegungsgesetze (die sehr verkürzt aussagen: Jedes Ding bewegt sich in der Richtung, in die es gestoßen wird; es bewegt sich in gerader Linie, bis irgendeine Kraft es abbremst oder ablenkt; und zu jeder Aktion gibt es eine ebenso große, entgegengesetzte Reaktion) und sein allgemeines Gravitationsgesetz. Nach diesem Gesetz übt jedes Objekt im Universum auf jedes andere eine Anziehungskraft aus. Unter Umständen merkt man das nicht, aber alles um uns herum - Wände, Zimmerdecke, Lampe oder Katze - zieht uns mit einem eigenen schwachen (wirklich sehr schwachen) Gravitationsfeld an. Ebenso ziehen wir alle anderen Dinge an. Newton erkannte, dass die Anziehungskraft zwischen zwei beliebigen Gegenständen proportional zur Masse dieser Gegenstände ist und sich »umgekehrt proportional zum Quadrat des Abstands verändert«, um noch einmal Feynman zu zitieren. Oder anders ausgedrückt: Verdoppelt man die Entfernung zwischen zwei Gegenständen, ist die Anziehungskraft zwischen ihnen viermal schwächer. Dies lässt sich mit der Formel
ausdrücken. Sie ist natürlich weit von allem entfernt, was für die meisten von uns praktische Bedeutung hat, aber zumindest können wir beurteilen, dass sie von eleganter Kompaktheit ist. Ein paar kurze Multiplikationen, eine einfache Division, und voilà, schon kennen wir an jedem beliebigen Ort unsere Schwerkraftverhältnisse. Es war das erste wahrhaft allgemein gültige Naturgesetz, das ein menschlicher Geist jemals formulierte, und aus diesem Grund steht Newton in so ungeheuer hohem Ansehen.
Die Entstehung der Principia entbehrte nicht einer gewissen Dramatik. Gerade als die Arbeit sich der Vollendung näherte, gerieten Newton und Hooke zu Halleys Entsetzen in Streit über das Erstlingsrecht für das Gesetz der umgekehrten Quadrate, und Newton weigerte sich, den entscheidenden dritten Band freizugeben, ohne den die beiden ersten kaum einen Sinn machten. Erst nach hektischer Pendeldiplomatie und freigebig eingesetzten Schmeicheleien gelang es Halley schließlich, dem launischen Professor sein letztes Buch abzuluchsen.
Aber auch damit war Halleys Trauma noch nicht ganz vorüber. Die Royal Society hatte zugesagt, das Werk zu veröffentlichen, aber jetzt zog sie sich unter dem Vorwand finanzieller Schwierigkeiten zurück. Im Jahr zuvor hatte die Gesellschaft einen kostspieligen Fehlschlag namens Die Geschichte der Fische finanziert, und nun ging man davon aus, dass für ein Buch über mathematische Prinzipien nicht gerade glänzende Marktchancen bestanden. Daraufhin zahlte Halley, der nicht über große Finanzmittel verfügte, die Veröffentlichung aus eigener Tasche. Newton trug, wie es seine Gewohnheit war, nichts dazu bei.9 Noch schlimmer wurde die Sache, weil Halley zu jener Zeit gerade die Stellung als Schriftführer der Gesellschaft angenommen hatte, und nun setzte man ihn davon in Kenntnis, die Gesellschaft könne es sich nicht länger leisten, ihm das versprochene Gehalt von 50 Pfund im Jahr zu bezahlen. Stattdessen erhielt er sein Salär in Form von Exemplaren der Geschichte der Fische.10
Newtons Gesetze erklärten vieles - das Auf und Ab der Gezeiten in den Ozeanen, die Planetenbewegungen, die Bahn einer Kanonenkugel, bevor sie zu Boden fallt, oder die Tatsache, dass wir nicht in den Weltraum geschleudert werden, obwohl die Erde mit mehreren hundert* Stundenkilometern rotiert. Deshalb dauerte es eine gewisse Zeit, bis man sich über alle Folgerungen im Klaren war. Eine Erkenntnis war aber fast über Nacht heftig umstritten.
Damit meine ich die Vorstellung, dass die Erde nicht ganz rund ist. Nach Newtons Theorie sollte die durch die
* Die Geschwindigkeit hängt dabei vom Aufenthaltsort ab: Am Äquator liegt sie bei über 1600 Stundenkilometern, an den Polen bei Null.
Erddrehung entstehende Zentrifugalkraft an den Polen für eine leichte Abflachung und am Äquator für eine Ausbeulung sorgen, sodass der Planet ein wenig abgeplattet aussieht. Demnach ist ein Breitengrad in Italien nicht genauso lang wie in Schottland, sondern seine Länge wird mit zunehmender Entfernung von den Polen immer geringer. Das war natürlich eine unangenehme Erkenntnis für jene, die sich mit ihren Messungen auf die Annahme von einer vollkommenen Kugelform der Erde stützten - das heißt für alle.
Schon seit einem halben Jahrhundert versuchte man, die Größe der Erde zu ermitteln, und zwar vor allem mit Hilfe immer genauerer Messungen. Einen der ersten derartigen Versuche unternahm der englische Mathematiker Richard Norwood. Er war als junger Mann mit einer Taucherglocke, die nach dem Vorbild von Halleys Gerät konstruiert war, auf die Bermudas gereist. Dort wollte er Perlen vom Meeresboden einsammeln und damit ein Vermögen verdienen. Das Vorhaben scheiterte, weil es keine Perlen gab, und ohnehin funktionierte die Taucherglocke nicht, aber Norwood war nicht der Typ, der eine Erfahrung ungenutzt gelassen hätte. Die Bermudas waren bei den Seeleuten im 17. Jahrhundert dafür bekannt, dass man sie nur schwer aufspüren konnte. Der Ozean war groß, die Inseln waren klein, und die Navigationsinstrumente reichten bei weitem nicht aus, um mit dieser Diskrepanz fertig zu werden. Nicht einmal über die Länge einer Seemeile war man sich einig. Auf dem weiten Ozean vervielfachte sich schon der kleinste Rechenfehler, sodass Schiffe ein Ziel von der Größe der Bermudas häufig um riesige Entfernungen verfehlten. Norwood, der sich anfangs für Trigonometrie und damit auch für Winkel begeistert hatte, wollte in der Seefahrt ein wenig mehr mathematische Strenge anwenden und entschloss sich deshalb, die Länge eines Breitengrades zu berechnen.
Als Ausgangspunkt wählte er den Londoner Tower: Er stellte sich mit dem Rücken gegen die Mauer und marschierte von dort im Laufe von zwei Jahren entschlossen bis ins 335 Kilometer nördlich gelegene York. Unterwegs legte er immer wieder ein Stück Kette aus und vermaß es, wobei er peinlich genaue Korrekturen für das Auf und Ab des Geländes sowie für die Kurven der Straße anbrachte. Zuletzt maß er den Winkel des Sonnenstandes am gleichen Datum und zur gleichen Tageszeit wie bei seiner ersten Messung ein Jahr zuvor in London. Daraus, so seine Überlegung, konnte er die Länge eines Winkelgrades entlang des Meridians und somit auch den Gesamtumfang der Erde berechnen. Es war ein fast lächerlich ehrgeiziges Vorhaben - eine Abweichung um winzige Bruchteile eines Grades musste dazu führen, dass das Ergebnis um viele Meilen daneben lag -, aber Norwood gab stolz bekannt, sein Resultat sei »bis auf eine winzige Kleinigkeit« richtig11 - genauer gesagt, bis auf etwa 550 Meter. Er kam auf eine Strecke von 110,72 Kilometern je Winkelgrad.
The Seaman’s Practice, Norwoods Meisterwerk über Navigation, erschien 1637 und fand sofort eine begeisterte Anhängerschaft. Es erlebte siebzehn Auflagen und war 25 Jahre nach seinem Tod immer noch in Druck. Norwood kehrte mit seinen Angehörigen auf die Bermudas zurück, wurde dort ein erfolgreicher Plantagenbesitzer und widmete seine Freizeit der ersten großen Liebe seines Lebens: der Trigonometrie. Er lebte noch 38 Jahre, und man würde gern berichten, dass er in dieser Zeit ein glücklicher, angesehener Mann war. Aber das stimmt nicht. Auf der Überfahrt von England wurden seine beiden kleinen Söhne in einer Kabine mit dem Geistlichen Nathaniel White untergebracht, und dort verursachten sie bei dem jungen Vikar irgendwie ein derartiges Trauma, dass dieser den Rest seiner Laufbahn zum größten Teil darauf verwendete, Norwood auf jede nur denkbare Weise zu verfolgen u nd zu piesacken.
Auch Norwoods beide Töchter bereiteten ihrem Vater Kummer, indem sie schlechte Ehen eingingen. Einer der Ehemänner, der vermutlich von dem Vikar aufgestachelt war, brachte vor Gericht ständig kleine Anklagen gegen Norwood vor, bereitete ihm auf diese Weise viel Verdruss und nötigte ihn mehrfach zu Reisen quer über die Bermudas, um sich zu verteidigen. In den fünfziger Jahren des 17. Jahrhunderts schließlich fanden auf Bermuda Hexenprozesse statt, und Norwood hatte während seiner letzten Lebensjahre schwere Befürchtungen, man könne seine Aufsätze über Trigonometrie mit ihren fremdartigen Symbolen für einen Briefwechsel mit dem Satan halten, sodass ihm eine grauenvolle Hinrichtung drohte. Heute wissen wir über Norwood sehr wenig, und vielleicht hatte er diese unglücklichen letzten Jahre tatsächlich verdient. Sicher ist nur, dass er sie durchlebte.
Mittlerweile war Frankreich zur treibenden Kraft für die Berechnung des Erdumfangs geworden. Dort entwickelte der Astronom Jean Picard eine eindrucksvolle, komplizierte Methode zur Triangulation mit Quadranten, Pendeluhren, Zenitsektoren und Teleskopen (mit denen er die Bewegung der Jupitermonde beobachtete). Nachdem Picard zwei Jahre lang triangulierend durch Frankreich gezogen war, gab er 1669 ein genaueres Messergebnis für das Winkelgrad bekannt: 110,46 Kilometer. Die Messung war in Frankreich Anlass zu großem Stolz, aber sie beruhte auf der Annahme, die Erde sei eine vollkommene Kugel - und nun behauptete Newton, das sei sie nicht.
Nach Picards Tod wurde die Sache noch komplizierter:
Giovanni Cassini und sein Sohn Jacques wiederholten Picards Experimente in einem größeren Gebiet und gelangten zu dem Ergebnis, die Erde sei nicht am Äquator dicker, sondern an den Polen - Newton habe also nicht nur Unrecht, sondern es sei genau umgekehrt. Daraufhin sah sich die Akademie der Wissenschaften veranlasst, Bougouer und La Condamine nach Südamerika zu schicken, damit sie dort neue Messungen anstellten. Sie entschieden sich für die Anden, weil sie nur durch Messungen in der Nähe des Äquators feststellen konnten, ob es dort tatsächlich eine Abweichung von der Kugelform gab, und weil sie sich überlegt hatten, dass die Berge ihnen gute Sichtlinien verschaffen würden. In Wirklichkeit war das Gebirge in Peru aber fast ständig in Wolken gehüllt, sodass die Arbeitsgruppe häufig wochenlang warten musste, bevor sie einen Tag lang freie Sicht hatten. Dazu kam noch, dass sie sich eines der schwierigsten Gelände auf der ganzen Erde ausgesucht hatten. Die Peruaner bezeichnen ihre Landschaft als muy accidentado - »sehr unfallträchtig« - und das stimmt sicher auch. Die Franzosen mussten nicht nur einige der anspruchsvollsten Berge der Welt besteigen - Berge, die sogar ihren Maultieren verschlossen blieben -, sondern um überhaupt dorthin zu gelangen, mussten sie reißende Flüsse durchqueren, sich mit der Machete ihren Weg durch den Dschungel bahnen und viele Kilometer hoch gelegener Steinwüsten überwinden. Und das fast ausschließlich in nicht kartierten Gebieten, die weit von jedem Nachschub entfernt waren. Aber wenn Bougouer und La Condamine eine herausragende Eigenschaft hatten, dann war es ihre Hartnäckigkeit, und sie hielten neuneinhalb lange, grausige, sonnendurchglühte Jahre an ihrem Vorhaben fest. Kurz vor Abschluss des Projekts erfuhren sie, nach den Befunden einer zweiten französischen Expedition, die in Nordskandinavien eigene Messungen vorgenommen hatte (und sich dort ebenfalls mit beträchtlichen Unannehmlichkeiten auseinander setzen musste, von nassen Sümpfen bis zu gefährlichen Eisschollen), dass ein Grad an den Polen tatsächlich länger sei, wie Newton es vorhergesagt hatte. Am Äquator gemessen, war der Umfang der Erde um 43 Kilometer größer als bei einer Messung über die Pole.
Bougouer und La Condamine hatten also fast zehn Jahre lang für ein Ergebnis gearbeitet, das sie eigentlich gar nicht finden wollten, und nun erfuhren sie auch noch, dass sie nicht die Ersten waren, die es gefunden hatten. Entmutigt schlossen sie ihre Arbeiten ab und bestätigten mit ihren Ergebnissen, dass die andere französische Expedition Recht gehabt hatte. Anschließend - sie sprachen immer noch nicht miteinander - kehrten sie zur Küste zurück und fuhren auf verschiedenen Schiffen nach Hause.
Newton hatte in seinen Principia auch vorausgesagt, ein neben einem Berg aufgehängtes Bleilot werde sich leicht in Richtung des Berges neigen, weil es nicht nur von der Schwerkraft der Erde, sondern auch von der Gravitation des Berges angezogen wird. Das war mehr als nur eine Kuriosität: Wenn man die Ablenkung genau messen und die Masse des Berges herausfinden konnte, ließ sich daraus die allgemeine Gravitationskonstante berechnen, ein grundlegender Wert der Gravitation, der als G bezeichnet wird. Mit ihrer Hilfe lässt sich dann die Masse der Erde bestimmen.
Bougouer und La Condamine hatten dies am Chimborazo in Peru versucht, waren aber sowohl wegen technischer Schwierigkeiten als auch wegen ihrer eigenen Streitigkeiten gescheitert. Die Idee blieb 30 weitere Jahre unbeachtet, bis der königliche englische Astronom Nevil Maskelyne sie wieder aus der Versenkung holte. In dem bekannten Buch Längengrad von Dava Sobel wird Maskelyne als Dummkopf und Bösewicht dargestellt, der das überragende Können des Uhrmachers John Harrison nicht anerkennt. Vielleicht stimmt dieses Bild, aber wir verdanken Maskelyne andere Dinge, die in dem Buch nicht erwähnt werden, nicht zuletzt eine funktionierende Methode, um das Gewicht der Erde zu ermitteln. Wie er richtig erkannte, besteht das Hauptproblem darin, dass man einen Berg mit einer so regelmäßigen Form finden muss, dass man seine Masse beurteilen kann.
Auf sein Drängen hin beauftragte die Royal Society einen verlässlichen Mann, eine Rundreise um die britischen Inseln zu unternehmen und nach einem geeigneten Berg zu suchen. Maskelyne kannte genau den Richtigen für diese Aufgabe: den Astronomen und Landvermesser Charles Mason. Maskelyne und Mason hatten sich elf Jahre zuvor angefreundet, als sie damit beschäftigt waren, ein höchst bedeutsames astronomisches Ereignis zu messen: den Durchgang des Planeten Venus vor der Sonne. Der unermüdliche Edmund Halley hatte schon einige Jahre zuvor die Idee geäußert, man solle einen solchen Durchgang von verschiedenen Punkten auf der Erde messen und mit Hilfe der Triangulation die Entfernung zur Sonne berechnen; auf dieser Grundlage konnte man dann die Abstände zu allen anderen Objekten im Sonnensystem ermitteln.
Leider ereignen sich Venusdurchgänge nur in unregelmäßigen Abständen. Sie kommen paarweise mit einem Abstand von acht Jahren vor, aber dann bleiben sie 100 Jahre oder länger aus, und während Halleys Lebenszeit gab es keinen einzigen. ’ Aber die Idee schwelte weiter, und als 1761, fast zwei Jahrzehnte nach Halleys Tod, der nächste Durchgang bevorstand, war die wissenschaftliche Welt vorbereitet - und zwar besser als bei jedem astronomischen Ereignis zuvor.
Mit der typischen Leidensfähigkeit jener Zeit machten sich Wissenschaftler an mehr als 100 Orte rund um den Erdball auf den Weg: nach Sibirien, China, Südafrika und Indonesien, in die Wälder von Wisconsin und an viele andere Stellen. Frankreich schickte 32 Beobachter, 18 weitere kamen aus Großbritannien, andere stammten aus Schweden, Russland, Italien, Deutschland, Irland und anderen Ländern.
Es war das erste internationale wissenschaftliche Gemeinschaftsunternehmen aller Zeiten, und fast überall traten Probleme auf. Viele Beobachter wurden durch Kriege, Krankheiten oder Schiffbruch aufgehalten. Andere gelangten zwar an ihren Bestimmungsort, als sie aber ihre Gepäckkisten öffneten, fanden sie ihre Instrumente beschädigt oder von der tropischen Hitze verbogen vor. Wieder einmal war anscheinend den Franzosen das Schicksal beschieden, dass die am spektakulärsten vom Pech verfolgten Teilnehmer aus ihren Reihen stammten. Jean Chappe verwendete mehrere Monate darauf, mit Pferdewagen, Booten und Schlitten nach Sibirien zu reisen, wobei er seine empfindlichen Instrumente vor jedem gefährlichen Holpern bewahrte, aber dann musste er feststellen, dass die letzte, entscheidende Etappe durch angeschwollene Flüsse versperrt war - eine Folge des ungewöhnlich heftigen Frühjahrsregens. Als die Einheimischen nun sahen, wie Chappe seltsame
* Der nächste Durchgang findet am 8. Juni 2004 statt, ein zweiter folgt im Jahr 2012. Im 20. Jahrhundert gab es keinen.
Instrumente zum Himmel richtete, machten sie ihn sehr schnell für die Überschwemmung verantwortlich. Er kam zwar mit dem Leben davon, brachte aber keine brauchbaren Messergebnisse mit.
Noch mehr Pech hatte Guillaume Le Gentil, dessen Erlebnisse Timothy Ferris in seinem Buch Kinder der Milchstraße hervorragend beschrieben hat. Le Gentil wollte den Durchgang in Indien beobachten und machte sich ein Jahr vorher in Frankreich auf den Weg, aber wegen verschiedener Pannen war er am Tag des Ereignisses immer noch auf See, und das war so ungefähr der schlechteste Ort - ununterbrochene Messungen sind auf einem schwankenden Schiff völlig unmöglich.
Aber Le Gentil ließ sich nicht abschrecken: Er setzte seine Reise nach Indien fort und wollte dort auf den nächsten Durchgang im Jahr 1769 warten. Nachdem ihm nun acht Jahre für die Vorbereitungen blieben, errichtete er eine erstklassige Beobachtungsstation; er prüfte immer wieder seine Instrumente und versetzte alles in einen Zustand der vollkommenen Bereitschaft. Als er am Tag des zweiten Durchganges, dem 4. Juni 1769, morgens aufwachte, war schönes Wetter, aber gerade als die Venus sich vor die Sonne schob, wurde diese von einer Wolke verdeckt, die fast während der gesamten Dauer des Durchganges - drei Stunden, 14 Minuten und sieben Sekunden - nicht mehr von der Stelle wich.
Ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen, packte Le Gentil seine Instrumente ein und machte sich zum nächsten Hafen auf, aber unterwegs zog er sich eine Ruhrerkrankung zu, die ihn fast ein Jahr lang ans Bett fesselte. Immer noch geschwächt, ging er schließlich an Bord eines Schiffes, das in einem Sturm vor der afrikanischen Küste fast untergegangen wäre. Als er endlich, elfeinhalb Jahre nach seiner Abreise, unverrichteter Dinge wieder nach Hause kam, musste er feststellen, dass seine Angehörigen ihn in Abwesenheit für tot erklärt und mit Begeisterung sein Anwesen geplündert hatten.
Im Vergleich dazu hatten die 18 weit verstreuten britischen Beobachter nur mit relativ geringfügigen Enttäuschungen zu kämpfen. Mason geriet an einen jungen Landvermesser namens Jeremiah Dixon und kam anscheinend gut mit ihm zurecht, denn die beiden gingen eine dauerhafte Partnerschaft ein. Sie hatten die Anweisung, nach Sumatra zu reisen und dort den Durchgang aufzuzeichnen, aber schon nach einer Nacht auf See wurde ihr Schiff von einer französischen Fregatte angegriffen. (Zwischen den Wissenschaftlern herrschte zwar ein Geist der internationalen Zusammenarbeit, zwischen einzelnen Staaten aber keineswegs.) In einer Notiz an die Royal Society teilten Mason und Dixon mit, es sei auf hoher See offensichtlich entsetzlich gefährlich, und sie fragten an, ob man nicht vielleicht das ganze Unternehmen abblasen sollte.14 Als Antwort erhielten sie sehr schnell eine eisige Verneinung. Darin wurde betont, man habe sie bereits entlohnt, die Nation und wissenschaftliche Welt zählten auf sie, und wenn sie nicht weiterarbeiteten, würden sie ihren Ruf ein für alle Mal verlieren. Kleinlaut segelten sie weiter, aber unterwegs hörten sie, Sumatra sei den Franzosen in die Hände gefallen. Deshalb beobachteten sie den Durchgang vom Kap der Guten Hoffnung aus. Auf dem Rückweg machten sie bei dem einsamen Außenposten St. Helena im Atlantik Station, und dort trafen sie mit Maskelyne zusammen, dessen Beobachtungen durch eine Wolkendecke vereitelt worden waren. Mason und Maskelyne gingen eine dauerhafte Freundschaft ein und zeichneten während mehrerer glücklicher Wochen, die allerdings möglicherweise nur von geringfügigem Nutzen waren, die Gezeitenströmungen auf.
Wenig später kehrte Maskelyne nach England zurück und wurde dort königlicher Astronom, während Mason und Dixon - jetzt offenbar abgeklärter - sich für viele lange und häufig gefährliche Jahre zu Vermessungsarbeiten auf eine 390 Kilometer lange Strecke in der amerikanischen Wildnis begaben, um Grenzstreitigkeiten zwischen den Besitzungen von William Penn und Lord Baltimore sowie ihren jeweiligen Kolonien Pennsylvania und Maryland beizulegen. Das Ergebnis war die berühmte Mason-Dixon-Linie, die später als Grenze zwischen Sklavenhalter- und Freistaaten große symbolische Bedeutung erlangte. (Die Grenzziehung war zwar ihre Hauptaufgabe, sie nahmen aber auch mehrere astronomische Vermessungen vor, darunter die genaueste Messung eines Winkelgrades auf dem Meridian, die es in ihrem Jahrhundert gab - eine Leistung, die ihnen in England weit mehr Ruhm einbrachte als die Beendigung eines Grenzkonflikts zwischen eingebildeten Aristokraten.)
Wieder in Europa, waren Maskelyne sowie seine Kollegen in Deutschland und Frankreich zu der Schlussfolgerung gezwungen, dass die Messungen des Venusdurchganges von 1761 im Wesentlichen ein Fehlschlag waren. Ein Problem bestand paradoxerweise darin, dass es zu viele Beobachtungen gab, und wenn man sie zusammenstellte, ergaben sich häufig unlösbare Widersprüche. Die wirklich erfolgreiche Aufzeichnung eines Venusdurchganges blieb einem kaum bekannten, in Yorkshire geborenen Kapitän namens James Cook vorbehalten, der das Ereignis 1769 von einem sonnenbeschienenen Hügel auf Tahiti aus beobachtete, um dann im weiteren Verlauf Australien zu kartieren und für die britische Krone zu vereinnahmen. Als er zurückkehrte, verfügte man über so viele Erkenntnisse, dass der französische Astronom Joseph Lalande die mittlere Entfernung von der Erde zur Sonne auf etwas mehr als 150 Millionen Kilometer berechnen konnte. (Bei zwei weiteren Durchgängen im 19. Jahrhundert konnten die Astronomen den Abstand mit 149,59 Millionen Kilometern bestimmen, ein Wert, der seither Gültigkeit hat. Heute wissen wir, dass der genaue Abstand 149.597.870,691 Kilometer beträgt.) Endlich hatte die Erde eine Position im Weltraum.
Was Mason und Dixon anging, so kehrten sie als Helden der Wissenschaft nach England zurück und beendeten aus unbekannten Gründen ihre Partnerschaft. Angesichts der Tatsache, dass man im Zusammenhang mit entscheidenden wissenschaftlichen Ereignissen des 18. Jahrhunderts immer wieder auf ihre Namen stößt, wissen wir über beide erstaunlich wenig. Es gibt von ihnen keine Bilder und nur wenige schriftliche Erwähnungen. Interessanterweise schreibt das Dictionary of National Biography über Dixon, er sei »angeblich in einem Kohlebergwerk geboren worden«,15 aber dann überlässt man es der Fantasie des Lesers, sich plausible Umstände zur Erklärung dieser Behauptung auszudenken, und anschließend heißt es nur noch, er sei 1777 in Durham gestorben. Abgesehen von seinem Namen und der langjährigen Verbindung mit Mason wissen wir nichts über ihn.
Auch Mason tritt nur geringfügig stärker aus dem Schatten der Geschichte. Bekannt ist, dass er 1772 auf Maskelynes Geheiß den Auftrag übernahm, einen geeigneten Berg für das Experiment mit der gravitationsbedingten Ablenkung zu finden, und dass er anschließend ausführlich berichtete, der gesuchte Berg liege mitten im schottischen Hochland unmittelbar über dem Loch Tay und trage den Namen Schiehallion. Dennoch war er nicht dazu zu bewegen, dort einen ganzen Sommer mit Vermessungsarbeiten zu verbringen. Ins Freiland begab er sich nie mehr. Der nächste Bericht über ihn stammt aus dem Jahr 1786: Damals tauchte er ganz plötzlich und auf geheimnisvolle Weise mit seiner Frau und acht Kindern in Philadelphia auf, wo er offenbar am Rande völliger Armut lebte. In Amerika war er nicht mehr gewesen, seit er 18 Jahre zuvor seine Vermessungsarbeiten abgeschlossen hatte, und es ist kein Grund bekannt, warum er sich dort aufhielt - er hatte weder Freunde noch Geldgeber, die ihn aufgenommen hätten. Einige Wochen später war er tot.
Nachdem Mason es abgelehnt hatte, den Berg zu vermessen, fiel diese Aufgabe an Maskelyne. Er richtete sich im Sommer 1774 vier Monate lang in einem Zelt in einer abgelegenen schottischen Bergschlucht ein und leitete dort eine ganze Mannschaft von Landvermessern, die von allen nur denkbaren Standpunkten aus Hunderte von Messungen vornahmen. Um aus den vielen Zahlen die Masse des Berges zu ermitteln, waren langwierige Berechnungen erforderlich, für die man einen Mathematiker namens Charles Hutton einstellte. Die Landvermesser hatten auf einer Landkarte eine Fülle von Messwerten eingetragen, von denen jeder die Höhenlage eines Punktes am Berg oder in seiner Umgebung bezeichnete.
Eigentlich war es nur ein verwirrender Zahlenfriedhof, aber Hutton bemerkte, dass alles viel geordneter aussah, wenn er Punkte gleicher Höhe mit Bleistiftlinien verband.
Auf diese Weise konnte er sich sofort einen Eindruck von der gesamten Form und den Steigungen des Berges verschaffen. Er hatte die Höhenlinien erfunden.
Ausgehend von seinen Messungen am Schiehallion berechnete Hutton die Masse der Erde mit 5000 Millionen Millionen Tonnen, und daraus konnte er auch für die Masse aller anderen größeren Objekte im Sonnensystem, einschließlich der Sonne selbst, vernünftige Schätzungen ableiten. Aus diesem einen Experiment erfuhren wir also etwas über die Masse der Erde, der Sonne, des Mondes, der anderen Planeten und deren Monde. Und nebenbei fielen noch die Höhenlinien ab - kein schlechtes Ergebnis für die Arbeit eines einzigen Sommers.
Dennoch waren nicht alle mit der Ausbeute zufrieden. Das Experiment am Schiehallion hatte einen wichtigen Schwachpunkt: Man konnte nicht zu einer zuverlässigen Zahl gelangen, ohne über die tatsächliche Dichte des Berges Bescheid zu wissen. Hutton war bequemlichkeitshalber davon ausgegangen, dass der Berg wie gewöhnliches Gestein ungefähr die 2,5-fache Dichte von Wasser hatte, aber das war eigentlich nicht mehr als eine einigermaßen vernünftige Vermutung.16
Mit diesem Thema beschäftigte sich jemand, von dem man es kaum erwartet hätte: John Michell, ein
Landpfarrer, der in dem einsamen Dorf Thornhill in Yorkshire seinen Dienst versah. Trotz seiner isolierten und relativ bescheidenen Stellung war Michell einer der großen wissenschaftlichen Denker des 18. Jahrhunderts, der deshalb auch großes Ansehen genoss.
Neben vielem anderen fiel ihm die Wellennatur von Erdbeben auf, er unternahm zahlreiche originelle Forschungsarbeiten rund um Magnetismus und Gravitation, und - besonders bemerkenswert - er dachte 200 Jahre früher als alle anderen an die Möglichkeit, es könne schwarze Löcher geben, ein Gedankensprung, zu dem nicht einmal Newton fähig war. Als der in Deutschland geborene Musiker William Herschel zu der Erkenntnis gelangte, dass das wahre Interesse in seinem Leben der Astronomie galt, wandte er sich an Michell und ließ sich von ihm den Bau von Teleskopen erklären - eine Hilfeleistung, der die Planetenforschung bis heute viel zu verdanken hat.
Aber die fantasievollste und folgenschwerste Leistung von Michell war ein von ihm entworfener und gebauter Apparat, mit dem man die Masse der Erde messen konnte. Leider starb er, bevor er die Experimente ausführen konnte, und sowohl die Idee als auch die erforderliche Ausrüstung gingen an den hochintelligenten, aber auch überaus zurückhaltenden Londoner Wissenschaftler Henry Cavendish über.
Über Cavendish allein könnte man ein ganzes Buch schreiben. Er stammte aus höchst privilegierten Kreisen -seine Großväter waren die Herzöge von Devonshire und Kent - und war der begabteste englische Wissenschaftler seiner Zeit, aber auch der seltsamste. Er litt, wie einer seiner wenigen Biografen es ausdrückte, an Schüchternheit »in einem Ausmaß, das an Krankheit grenzte«. Jeder zwischenmenschliche Kontakt verursachte ihm tiefstes Unbehagen.
Als er einmal seine Haustür öffnete, stand ihm ein österreichischer, gerade aus Wien angereister Bewunderer gegenüber. Der aufgeregte Österreicher begann sofort, mit
* Herschel war 1781 der erste Wissenschaftler der Neuzeit, der einen Planeten entdeckte. Er wollte ihn nach dem britischen König auf den Namen George taufen, wurde aber überstimmt. Seitdem heißt der Planet Uranus.
Lobeshymnen loszuplappern. Wenige Augenblicke lang nahm Cavendish die Komplimente auf wie Keulenschläge, aber dann hielt er es nicht mehr aus und flüchtete über den Kiesweg zum Gartentor hinaus, wobei er die Haustür weit offen ließ. Erst einige Stunden später ließ er sich dazu bewegen, auf sein Anwesen zurückzukehren. Selbst die Haushälterin verkehrte nur brieflich mit ihm.
Manchmal wagte er sich zwar durchaus in Gesellschaft -insbesondere besuchte er gern die wöchentlichen wissenschaftlichen Abendgesellschaften des großen Naturforschers Sir Joseph Banks -, aber den anderen Gästen war immer klar, dass man Cavendish unter keinen Umständen ansprechen oder auch nur ansehen durfte. Wer sich für seine Meinung interessierte, erhielt den Rat, sich wie zufällig in seiner Nähe herumzutreiben und »wie ins Leere zu reden«.19 Handelte es sich um wissenschaftlich stichhaltige Äußerungen, kam dann möglicherweise eine gemurmelte Antwort, aber in den meisten Fällen war nur ein verärgertes Quieken zu hören (er hatte offensichtlich eine sehr hohe Stimme), und wenn man sich dann umdrehte, blickte man tatsächlich ins Leere, während Cavendish sich in eine ruhigere Ecke flüchtete.
Mit seinem Reichtum und seinen Einsamkeitsbestrebungen verwandelte Cavendish sein Haus in ein großes Labor, wo er ungestört in allen Ecken der Physik herumstöbern konnte -er beschäftigte sich mit Elektrizität, Wärme, Gravitation, Gasen und allem, was mit der Zusammensetzung der Materie zu tun hatte. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts interessierten sich Menschen mit naturwissenschaftlichen Neigungen brennend für die physikalischen Eigenschaften grundlegender Dinge - insbesondere der Gase und der Elektrizität -, und sie erkannten allmählich immer deutlicher, was man mit diesen Dingen anfangen kann, wobei allerdings häufig mehr Begeisterung als Vernunft im Spiel war. In Amerika setzte Benjamin Franklin in einem berühmten Experiment sein Leben aufs Spiel, als er im Gewitter einen Drachen steigen ließ. In Frankreich untersuchte ein Chemiker namens Pilatre de Rozier die Brennbarkeit von Wasserstoff, indem er seinen Mund mit dem Gas füllte und es dann in eine offene Flamme blies; damit bewies er mit einem Schlag, dass Wasserstoff tatsächlich brennbar ist und dass Augenbrauen nicht unbedingt ein unverzichtbarer Bestandteil eines Gesichtes sind. Cavendish setzte sich in seinen Experimenten selbst immer stärkeren elektrischen Schlägen aus und führte dabei sorgfältige Aufzeichnungen über die zunehmenden Schmerzen, bis er seine Schreibfeder nicht mehr halten konnte und manchmal sogar das Bewusstsein verlor.
Im Laufe seines langen Lebens machte Cavendish eine Reihe bahnbrechender Entdeckungen - unter anderem war er der Erste, der Wasserstoff in reiner Form darstellte und ihn mit Sauerstoff reagieren ließ, sodass Wasser entstand. Aber fast nichts, was er tat, entbehrte einer gewissen Seltsamkeit. Zur ständigen Empörung seiner Wissenschaftlerkollegen spielte er in seinen Veröffentlichungen häufig auf die Ergebnisse zweideutiger Experimente an, von denen er niemandem etwas erzählt hatte. In seiner Geheimniskrämerei ähnelte er nicht nur Newton, sondern er legte es aktiv darauf an, diesen zu übertreffen. Seine Experimente zur elektrischen Leitfähigkeit waren ihrer Zeit um ein Jahrhundert voraus, blieben aber leider auch unbekannt, bis dieses Jahrhundert vorüber war. Seine Leistungen blieben sogar in ihrer Mehrzahl bis Ende des 19. Jahrhunderts unentdeckt - erst dann machte sich der Physiker James Clerk Maxwell aus Cambridge an die Aufgabe, Cavendishs Aufzeichnungen wissenschaftlich aufzuarbeiten, und zu jener Zeit hatten bereits in fast allen Fällen andere das Verdienst eingestrichen.
Neben vielem anderen - und ohne jemandem etwas davon zu sagen - entdeckte oder postulierte Cavendish den Energieerhaltungssatz, das Ohmsche Gesetz, Daltons Gesetz der Partialdrücke, Richters Gesetz der umgekehrten Proportionen, Charles’ Gasgesetz und die Prinzipien der elektrischen Leitfähigkeit. Und das ist nur ein Teil seiner Leistungen. Nach Angaben des Wissenschaftshistorikers J. G. Crowther »nahm er auch die Arbeiten von Kelvin und G. H. Darwin über die Verlangsamung der Erddrehung durch die Reibung der Gezeiten und die 1915 veröffentlichte Entdeckung von Larmor über die Auswirkungen lokaler Abkühlung in der Atmosphäre vorweg ... aber auch die Arbeiten von Pickering über gefrierende Mischungen und einen Teil der Arbeiten von Rooseboom über heterogene Gleichgewichte«. Und schließlich hinterließ er Anhaltspunkte, die unmittelbar zur Entdeckung der Edelgase führten - manche Elemente aus dieser Gruppe sind so schwer fassbar, dass das letzte erst 1962 dingfest gemacht wurde. Besonders interessant ist in unserem Zusammenhang jedoch Cavendishs letztes bekanntes Experiment: Im Spätsommer 1797, mit 67 Jahren, wandte er seine Aufmerksamkeit den Kisten mit Ausrüstungsgegenständen zu, die ihm John Michell -anscheinend einfach aus wissenschaftlichem Respekt -hinterlassen hatte.
Zusammengebaut sah Michells Apparat ganz ähnlich aus wie eine ins 18. Jahrhundert versetzte BodybuildingMaschine. Sie war eine Konstruktion aus Gewichten, Gegengewichten, Pendeln, Drehachsen und Drahtseilen. Kernstück der Maschine waren zwei Bleikugeln von jeweils knapp 160 Kilo, die neben zwei kleineren Kugeln aufgehängt waren. Damit sollte gemessen werden, wie stark die kleineren Kugeln durch die Gravitation der größeren abgelenkt werden, sodass man zum ersten Mal jene schwer fassbare Größe dingfest machen konnte, die als Gravitationskonstante bekannt ist. Mit ihrer Hilfe konnte man dann das Gewicht (oder genauer gesagt, die Masse)* der Erde berechnen.
Da die Gravitation sowohl die Planeten in ihren Umlaufbahnen hält als auch fallende Gegenstände mit einem Knall landenlässt, halten wir sie meist für eine starke Kraft, aber das stimmt eigentlich nicht. Stark ist sie nur in einem gewissermaßen kollektiven Sinn, wenn ein sehr massereiches Objekt, beispielsweise die Sonne, ein anderes massereiches Objekt wie die Erde festhält. Im kleineren Maßstab ist die Gravitation außerordentlich schwächlich. Jedes Mal, wenn wir ein Buch vom Tisch nehmen oder eine Münze vom Boden aufheb en, überwinden wir mühelos die gesamte Schwerkraft eines ganzen Planeten. Auf einem solchen Federgewichtsniveau wollte Cavendish die Gravitation messen.
Das entscheidende Wort hieß Empfindlichkeit. In dem Raum mit dem Apparat durfte nicht die geringste Störung auftreten; deshalb postierte Cavendish sich im Nachbarzimmer und stellte seine Beobachtungen mit einem Teleskop an, mit dem er durch ein kleines Loch blickte. Es waren unglaublich heikle Arbeiten mit 17 raffinierten, gekoppelten Messungen, und bis zu ihrem endgültigen Abschluss verging fast ein Jahr. Als er seine Berechnungen
* Für den Physiker sind Masse und Gewicht zwei ganz verschiedene Dinge. Die Masse eines Gegenstandes bleibt immer gleich, sein Gewicht dagegen verändert sich, je nachdem, wie weit er vom Mittelpunkt eines Planeten oder eines anderen großen Objektes entfernt ist. Ein Mensch, der zum Mond fliegt, ist dort viel leichter, hat aber nach wie vor die gleiche Masse. Auf der Erde kann man Masse und Gewicht unter allen praktischen Gesichtspunkten gleichsetzen und deshalb auch beide Begriffe zumindest außerhalb des Schulunterrichts als gleichbedeutend ansehen.
schließlich beendet hatte, gab Cavendish bekannt, die Erde wiege ein wenig mehr als 13000000000000000000000 englische Pfund oder sechs Milliarden Billionen Tonnen, um eine moderne Maßeinheit zu verwenden.
Heute stehen den Wissenschaftlern so genaue Apparate zur Verfügung, dass sie das Gewicht einer einzigen Bakterienzelle feststellen können, und die Anzeige ist so empfindlich, dass sie noch beeinflusst wird, wenn jemand in 25 Metern Entfernung gähnt, aber Cavendishs Messungen von 1797 konnten sie nicht nennenswert verbessern. Nach der derzeit besten Schätzung wiegt die Erde 5,9725 Milliarden Billionen Tonnen, was im Vergleich zu Cavendishs Befunden nur einer Abweichung von etwa einem Prozent entspricht. Interessanterweise war das alles nur eine Bestätigung für Schätzungen, die Newton schon 110 Jahre vor Cavendish ohne den geringsten experimentellen Beleg vornahm.
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wussten die Wissenschaftler also über Form und Abmessungen der Erde sowie über ihre Entfernung von der Sonne und den Planeten sehr genau Bescheid, und Cavendish hatte das Gewicht beigetragen, ohne sein Haus auch nur zu verlassen. Man könnte sich also vorstellen, dass es auch relativ einfach war, das Alter der Erde zu ermitteln. Schließlich lag das notwendige Material den Wissenschaftlern buchstäblich zu Füßen. Irrtum. Menschen spalteten das Atom und erfanden Fernsehen, Nylon und löslichen Kaffee, bevor sie das Alter ihres eigenen Planeten herausgefunden hatten.
Um die Gründe zu verstehen, müssen wir in den Norden nach Schottland reisen, und dabei begegnet uns zunächst ein hochintelligenter, geradezu genialer Mann, von dem nur die wenigsten schon einmal gehört haben. Er hatte kurz zuvor eine neue Wissenschaft erfunden: die Geologie.
5. Die Steineklopfer
Zur gleichen Zeit, als Henry Cavendish in London seine Experimente beendete, war 600 Kilometer entfernt, in Edinburgh, mit dem Tod von James Hutton ebenfalls ein Schlusspunkt erreicht. Für Hutton war das natürlich unerfreulich, aber für die Wissenschaft brachte es großen Nutzen: Es eröffnete einem Mann namens John Playfair die Möglichkeit, Huttons Arbeit umzuschreiben, ohne dass er sich vor Peinlichkeiten fürchten musste.
Hutton war allen Berichten zufolge ein Mann der scharfsinnigen Erkenntnis und der lebhaften Unterhaltungen, ein blendender Gesellschafter und völlig konkurrenzlos, wenn es darum ging, jene geheimnisvollen, langsamen Vorgänge zu verstehen, die unseren Planeten geformt haben.1 Leider lag es ihm aber nicht, seine Gedanken in einer Form niederzuschreiben, die andere auch nur ansatzweise verstehen konnten. Er war, wie ein Biograf mit fast hörbarem Seufzen feststellte, »nahezu bar jeder rhetorischen Errungenschaften«.2 Fast jede Zeile, die er zu Papier brachte, war eine Einladung zum Schlafen. So heißt es beispielsweise in seinem 1795 erschienenen Meisterwerk A Theory of the Earth with Proofs and Illustrations über ... irgendetwas:
Die Welt, welche wir bewohnen, besteht aus den Materialien, nicht aus der Erde, die der unmittelbare Vorgänger der Gegenwart war, sondern aus der Erde, welche wir in aufsteigender Linie von der Gegenwart als die dritte betrachten und die dem Land, welches über der Oberfläche des Meeres war, vorausgingen, während unser gegenwärtiges Land unter dem Wasser der Meere lag.
Fast völlig ohne fremde Hilfe begründete Hutton auf höchst intelligente Weise die Wissenschaft der Geologie und verwandelte unsere gesamte Vorstellung von der Erde. Hutton wurde 1726 als Sohn einer wohlhabenden schottischen Familie geboren und erfreute sich einer materiellen Sorglosigkeit, durch die er einen großen Teil seines Lebens in einem genial weit gefassten Bogen aus leichter Arbeit und geistigem Vorankommen verbringen konnte. Er studierte Medizin, aber sie war nicht nach seinem Geschmack, und so wandte er sich der Landwirtschaft zu, die er auf dem Familienanwesen in Berwickshire auf eine lockere, wissenschaftliche Art betrieb. Als er 1768 von Ackerbau und Viehzucht genug hatte, zog er nach Edinburgh und gründete dort eine erfolgreiche Firma, die Salmiak aus Ruß herstellte. Außerdem widmete er sich verschiedenen wissenschaftlichen Tätigkeiten. Edinburgh war zu jener Zeit ein Zentrum des geistigen Lebens, und Hutton schwelgte in den anregenden Möglichkeiten der Stadt. Er wurde zum führenden Mitglied einer Institution namens Oyster Club, wo er die Abende in der Gesellschaft von Männern wie dem Wirtschaftswissenschaftler Adam Smith, dem Chemiker Joseph Black und dem Philosophen David Hume verbringen konnte, und gelegentlich kamen auch flotte Burschen wie Benjamin Franklin und James Watt zu Besuch.
Wie es der Tradition seiner Zeit entsprach, interessierte sich Hutton für fast alles von der Mineralogie bis zur Metaphysik. Er experimentierte mit Chemikalien, entwickelte Methoden für Kohlebergbau und Kanalbau, besichtigte Salzbergwerke, spekulierte über die Mechanismen der Vererbung, sammelte Fossilien, entwickelte Theorien über Regen, die Zusammensetzung der Luft sowie die Bewegungsgesetze und vieles andere. Sein ganz besonderes Interesse jedoch galt der Geologie.
Über eine der Fragen, die in jenem Zeitalter der Forschungsbesessenheit großes Interesse erregten, rätselte man schon seit sehr langer Zeit: Warum findet man auf Bergen so häufig uralte Muschelschalen und andere Fossilien von Meerestieren? Wie um alles in der Welt sind sie dorthin gekommen? Unter jenen, die eine Antwort zu haben glaubten, gab es zwei Lager. Nach Überzeugung der einen, als Neptunisten bekannten Gruppe konnte man alles auf der Erde, auch Muschelschalen an unglaublich hoch gelegenen Orten, mit dem steigenden und fallenden Meeresspiegel erklären. Diese Partei war der Ansicht, Berge, Hügel und andere Geländemerkmale seien so alt wie die Erde selbst und würden sich nur dann verändern, wenn sie in Phasen der weltweiten Überschwemmungen vom Wasser überspült wurden.
Die Gegenposition vertraten die Plutonisten. Ihnen war aufgefallen, dass Vulkane, Erdbeben und andere Triebkräfte das Antlitz der Erde ständig veränderten, ohne dass die Launen der Meere dazu das Geringste beitrugen. Außerdem stellten die Plutonisten lästige Fragen wie die, wo das Wasser denn blieb, wenn gerade keine Überschwemmung herrschte. Wenn es irgendwann in so großer Menge vorhanden war, dass es sogar die Alpen bedeckte, wo blieb es dann in ruhigen Zeiten wie der jetzigen? Nach ihrer Ansicht waren nicht nur auf der Erdoberfläche, sondern auch im Erdinneren weit reichende Kräfte am Werk. Andererseits konnten sie aber nicht überzeugend erklären, woher die vielen Muschelschalen kamen.
Als Hutton über solche Themen nachgrübelte, gewann er eine Reihe außergewöhnlicher Erkenntnisse. Auf seinem eigenen Acker konnte er sehen, dass Boden durch die Erosion von Gestein entsteht und dass die Teilchen dieses Bodens ständig von Bächen und Flüssen weggeschwemmt und anderswo wieder abgelagert werden. Setzte dieser Vorgang sich bis zu seinem natürlichen Ende fort, dann, so seine Erkenntnis, wäre die Erde irgendwann ziemlich glatt geschliffen. In Wirklichkeit waren aber überall um ihn herum Berge. Offensichtlich musste ein weiterer Prozess ablaufen, der in irgendeiner Form für Erneuerung und Hebung sorgte, der neue Hügel und Berge entstehen ließ, damit der Kreislauf sich fortsetzen konnte. Die Fossilien von Meerestieren auf den Bergen waren nach seiner Vorstellung nicht bei Überschwemmungen abgelagert worden, sondern mit den Bergen selbst in die Höhe gestiegen. Außerdem gelangte er zu dem Schluss, dass Hitze aus dem Erdinneren die Triebkraft war, die neues Gestein sowie ganze Kontinente entstehen ließ und die Gebirge emportrieb. Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass die Geologen erst 200 Jahre später, als die Theorie der Plattentektonik sich durchsetzte, wirklich begriffen, was Hutton erkannt hatte. Vor allem aber legten Huttons Überlegungen die Vermutung nahe, dass erdgeschichtliche Vorgänge riesige Zeiträume beanspruchen, weit mehr, als man sich jemals hätte träumen lassen. Seine Erkenntnisse reichten aus, um unsere Vorstellungen von der Erde völlig zu verändern.
Im Jahr 1785 ließ Hutton seine Gedanken in einen langen Aufsatz einfließen, der bei mehreren aufeinander folgenden Sitzungen der Royal Society of Edinburgh verlesen wurde. Er blieb fast unbeachtet. Die Gründe sind nicht schwer zu erkennen. Seinem Publikum präsentierte er unter anderem Folgendes:
In dem einen Fall liegt die formende Ursache in dem Körper, welcher abgetrennt wird; denn nachdem der Körper durch Wärme angeregt wurde, geschieht es durch die Reaktion der richtigen Materie im Körper, dass die Kluft entsteht, welche die Gesteinsader bildet. Im anderen Fall ist die Ursache wiederum äußerlicher Natur in Beziehung zu dem Körper, in dem sich die Kluft bildet. Es gab höchst gewaltsame Brüche und Risse; aber die Ursache gilt es noch zu suchen; sie scheint nicht in der Ader zu liegen; denn es ist nicht jeder Bruch und jede Verschiebung des festen Körpers unserer Erde, in der sich Mineralien oder die eigentlichen Substanzen der Mineraladern finden.
Es braucht wohl nicht besonders betont zu werden, dass niemand im Publikum auch nur die geringste Ahnung hatte, wovon er eigentlich redete. Von seinen Freunden zu einer Erweiterung seiner Theorie ermutigt und in der rührenden Hoffnung, er werde durch den erweiterten Umfang irgendwie zu mehr Klarheit gelangen, arbeitete Hutton während der nächsten zehn Jahre an seinem Hauptwerk, das 1795 schließlich in zwei Bänden erschien. Die beiden Bücher umfassten zusammen nahezu 1000 Seiten und waren - wirklich bemerkenswert - noch schlechter, als selbst seine pessimistischsten Freunde gefürchtet hatten. Von allem anderen abgesehen, bestand das fertige Werk fast zur Hälfte aus Zitaten französischer Autoren in ihrer Ursprungssprache.4 Ein dritter Band war so reizlos, dass er erst 1899 veröffentlicht wurde, mehr als 100 Jahre nach Huttons Tod, und der vierte und letzte Band erschien überhaupt nie.5 Huttons Theory of the Earth ist ein aussichtsreicher Kandidat für den Titel des am wenigsten gelesenen bedeutenden Wissenschaftswerks (oder zumindest würde es ihn erhalten, wenn es nicht auch viele andere gäbe). Selbst Charles Lyell, der größte Geologe des folgenden Jahrhunderts, der eigentlich alles las, musste eingestehen, dass er an Huttons Werk gescheitert war.6
Glücklicherweise hatte Hutton einen treuen Freund und Helfer in Gestalt des Mathematikprofessors John Playfair von der Universität Edinburgh. Playfair konnte nicht nur geschliffene Prosa schreiben, sondern dank vieler Jahre in Huttons Dunstkreis verstand er in den meisten Fällen sogar, was dieser sagen wollte. Im Jahr 1802, fünf Jahre nach Huttons Tod, veröffentlichte er unter dem Titel Illustrations of the Huttonian Theory of the Earth eine vereinfachte Erklärung der Prinzipien seines Freundes. Das Buch wurde von allen, die sich für Geologie interessierten, freudig begrüßt. Ihre Zahl war zwar 1802 noch gering, aber das sollte sich ändern - und wie!
Im Winter 1807 versammelten sich im Freimaurerlokal von Long Acre im Londoner Covent Garden dreizehn Geistesverwandte und gründeten einen Gesellschaftsklub namens Geological Society. Sie wollten sich einmal im Monat treffen und bei ein paar Gläschen Madeira sowie einem gemütlichen Abendessen neue Ideen über Geologie austauschen. Um jene abzuschrecken, die ausschließlich mit geistigen Gütern gesegnet waren, wurde der Preis für die Mahlzeit auf horrende 15 Schilling festgelegt. Bald zeigte sich jedoch, dass ein Bedarf für eine stärker institutionalisierte Einrichtung bestand, mit einer ständig besetzten Zentrale, wo die Mitglieder sich treffen und über neue Entdeckungen diskutieren konnten. In knapp zehn Jahren wuchs die Mitgliederzahl auf 400 - natürlich ausschließlich Männer gehobenen Standes -, und die Geological Society drohte, die Royal Society als wichtigste wissenschaftliche Gesellschaft des Landes in den Schatten zu stellen.
Die Mitglieder trafen sich von November bis Juni zweimal im Monat, danach begaben sich praktisch alle den Sommer über zu Arbeiten ins Freiland. Dabei gilt es zu bedenken, dass es sich nicht um Personen mit finanziellen Interessen an Mineralien handelte, ja meist waren sie noch nicht einmal Akademiker, sondern einfach feine Herren, die so viel Geld und Zeit hatten, dass sie ihrem Hobby auf mehr oder weniger professionellem Niveau frönen konnten. Im Jahr 1830 waren es bereits 745 Personen - etwas Ähnliches sollte die Welt nie wieder erleben.
Man kann es sich heute kaum vorstellen, aber die Geologie war im 19. Jahrhundert so aufregend und schlug die Menschen dermaßen in ihren Bann, wie es keiner anderen Wissenschaft zuvor oder danach jemals wieder gelang. Das 1839 erschienene Werk The Silurian System von Roderick Murchison, eine schwerfällige, gewichtige Untersuchung über einen als Grauwacke bezeichneten Gesteinstyp, wurde sofort zum Bestseller; obwohl ein Exemplar acht Guineen kostete und obwohl es nach wahrhaft Hutton’scher Art eigentlich unlesbar war, erlebte es schnell hintereinander vier Auflagen. (Selbst ein Murchison-Anhänger räumte ein, dass es ihm »völlig an literarischem Reiz mangelte«.9) Und als der große Charles Lyell 1841 nach Amerika reiste, um in Boston eine Vortragsreihe zu halten, drängte sich ein Publikum von 3000 Menschen im Lowell Institute, um sich seine langatmigen Beschreibungen mariner Zeolithe oder seismischer Verwerfungen in der Kampania anzuhören.
In der gesamten neuzeitlichen Welt, insbesondere aber in Großbritannien, machten sich gelehrte Männer in ländliche Gebiete auf den Weg, um ein wenig »Steine zu klopfen«, wie sie es nannten. Es galt als ernsthafte Beschäftigung, und entsprechend würdig kleideten sie sich mit Zylinder und dunklem Anzug. Eine Ausnahme machte nur der Geistliche William Buckland aus Oxford: Er hatte die Gewohnheit, seine Freilandarbeit im Professorentalar auszuführen.
Die Tätigkeit zog viele ungewöhnliche Gestalten an, nicht zuletzt den bereits erwähnten Murchison, der ungefähr die ersten 30 Jahre seines Lebens damit zugebracht hatte, im Galopp hinter Füchsen herzu jagen oder fliegerisch angeschlagene Vögel mit Schrotladungen in Wolken fliegender Federn zu verwandeln, ohne aber eine geistige Beweglichkeit an den Tag zu legen, die über die Anforderungen beim Lesen der Times oder beim Kartenspiel hinausgegangen wäre. Dann entdeckte er sein Interesse an Gestein und wurde mit atemberaubender Geschwindigkeit zu einer der großen Gestalten im geologischen Denken.
Dann gab es da Dr. James Parkinson, der auch einer der ersten Sozialisten war und zahlreiche provokative Streitschriften mit Titeln wie »Revolution ohne Blutvergießen« verfasst hatte. Er war 1794 in eine leicht hirnrissig klingende »Kindergewehr-Verschwörung« verwickelt - König George III. sollte mit einem Giftpfeil getötet werden, den man ihm in den Hals schießen wollte, als er in seiner Theaterloge saß.10 Parkinson wurde zum Verhör vor die Berater des Königs zitiert und wäre um ein Haar in Ketten nach Australien deportiert worden, bevor man die Anklage in aller Stille fallen ließ. Nachdem er sich eine etwas konservativere Lebenseinstellung zu Eigen gemacht hatte, interessierte er sich für Geologie und wurde zum Gründungsmitglied der Geological Society. Außerdem verfasste er das bahnbrechende geologische Werk Organic Remains of a Former World, das ein halbes Jahrhundert lang im Druck war. Ärger machte er nie mehr. Heute kennen wir ihn vor allem wegen seiner bahnbrechenden Untersuchung des Leidens, das damals »Schüttellähmung« genannt wurde, seither aber unter dem Namen Parkinson-Krankheit bekannt ist.11 (Es gab noch einen anderen kleinen Grund, warum Parkinson hätte berühmt werden können. Er war 1785 der vermutlich einzige Mensch aller Zeiten, der bei einer Tombola ein naturhistorisches Museum gewann. Das Museum am Londoner Leicester Square war von Sir Ashton Lever gegründet worden, der über seinem ungehemmten Sammeltrieb für Naturwunder Bankrott gegangen war. Parkinson behielt das Museum bis 1805; dann konnte er es nicht mehr finanzieren, und die Sammlung wurde aufgelöst und verkauft.)
Charakterlich nicht ganz so ungewöhnlich, aber einflussreicher als alle anderen zusammen war Charles Lyell. Er war in Huttons Todesjahr nur rund 110 Kilometer von diesem entfernt in dem Dorf Kinnordy geboren worden. Obwohl also von Geburt her Schotte, wuchs er ganz im Süden Englands im New Forest von Hampshire auf, denn seine Mutter hielt alle Schotten für schwächliche Trunkenbolde. Wie es bei wissenschaftlich gebildeten Gentlemen im 19. Jahrhundert üblich war, stammte Lyell aus angenehm wohlhabenden, geistig anspruchsvollen Kreisen. Sein Vater, der ebenfalls Charles hieß, genoss den ungewöhnlichen Ruf, ein führender Fachmann für den Dichter Dante sowie für Moose zu sein. (Nach ihm ist Orthotrichum lyelli benannt, auf dem wohl fast jeder, der ländliche Gegenden in England besucht, schon einmal gesessen hat.) Vom Vater übernahm Lyell das ausgeprägte Interesse an Naturgeschichte, aber erst in Oxford, wo er dem Zauber des Reverend William Buckland - der mit dem Talar - verfiel, entwickelte sich bei dem jungen Lyell das lebenslange Engagement für die Geologie.
Buckland war so etwas wie ein liebenswürdiger Kauz. Er hatte einige echte Leistungen vorzuweisen, in Erinnerung blieb er aber vor allem durch seine Exzentrizität. Insbesondere war er dafür bekannt, dass er eine ganze Menagerie wilder Tiere besaß, manche davon groß und gefährlich, die frei in seinem Haus und Garten herumliefen; außerdem hatte er den Wunsch, jedes Tier der Schöpfung wenigstens einmal zu essen. Je nach Laune und Verfügbarkeit ließ Buckland seinen Gästen gebratene Meerschweinchen, Mäuse im Bierteig, gegrillte Igel oder gekochte südostasiatische Meeresschnecken vorsetzen. Buckland fand an allen etwas Gutes, außer am gemeinen Gartenmaulwurf, den er für ekelhaft erklärte. Da ließ es sich fast nicht vermeiden, dass er auch zur führenden Autorität für Koprolithen - versteinerte Exkremente -wurde, und er ließ sich einen Tisch bauen, der ausschließlich aus von ihm gesammelten Exemplaren solcher Versteinerungen bestand.
Selbst wenn Buckland ernsthafte Wissenschaft betrieb, legte er ein einzigartiges Verhalten an den Tag. Eines Nachts wurde seine Frau unsanft aus dem Schlaf gerissen, weil ihr Mann sie schüttelte und aufgeregt schrie: »Mein Liebling, ich glaube, die Fußabdrücke von Cheirotherium müssen die einer Schildkröte sein.« Gemeinsam eilten sie im Nachthemd in die Küche. Mrs. Buckland stellte aus Mehl eine Paste her und verteilte sie auf dem Tisch, während der Geistliche die Schildkröte der Familie holte. Sie setzten das Tier in die Paste, trieben es vorwärts und stellten zu ihrem Entzücken fest, dass ihre Fußabdrücke tatsächlich sehr gut zu denen des Fossils passten, das Buckland zuvor untersucht hatte. Charles Darwin bezeichnete Buckland als Hanswurst, aber Lyell fand ihn offenbar anregend und mochte ihn so sehr, dass die beiden 1824 gemeinsam eine Rundreise durch Schottland unternahmen. Kurz danach entschloss sich Lyell, seine Juristenlaufbahn aufzugeben und sich ganz der Geologie zu widmen.
Lyell war stark kurzsichtig und litt fast sein ganzes Leben lang an einem schmerzhaften Schielen, was ihm ein gequältes Aussehen verlieh. (Am Ende erblindete er völlig.) Ein wenig seltsam war auch, dass er auf Sitz- oder Liegemöbeln häufig eine sehr eigenartige Position einnahm, wenn er sich seinen Gedanken hingab - dann legte er sich beispielsweise quer über zwei Stühle oder »ließ den Kopf auf dem Sitz eines Stuhles ruhen, während er aufstand« (so eine Formulierung seines Freundes Darwin).14 Wenn er in Gedanken versunken war, rutschte er auf seinem Stuhl häufig so weit nach vorn, dass das Gesäß fast den Fußboden berührte.15 Die einzige echte berufliche Anstellung, die Lyell in seinem Leben innehatte, war die eines Professors für Geologie am Londoner King’s College von 1831 bis 1833. Ungefähr zu dieser Zeit verfasste er auch sein Werk The Principles of Geology, dessen drei Bände zwischen 1830 und 1833 erschienen. Darin festigte und verfeinerte er in vielerlei Hinsicht die Gedanken, die Hutton eine Generation zuvor als Erster formuliert hatte. (Lyell hatte Huttons Buch zwar nie im Original gelesen, dafür aber eifrig Playfairs überarbeitete Version studiert.)
In der Zeit zwischen Hutton und Lyell war in der Geologie eine neue Meinungsverschiedenheit aufgebrochen, die den alten Konflikt zwischen Neptuniern und Plutoniern im Wesentlichen verdrängt hatte, aber häufig mit ihm verwechselt wird. Jetzt stritt man um Katastrophentheorie oder Uniformitarianismus -abschreckende Begriffe für eine wichtige Diskussion, die sich über viele Jahre hinzog. Die Überzeugung der Katastrophentheoretiker wurde schon in ihrer Bezeichnung deutlich: Sie glaubten, die Erde werde durch plötzliche, katastrophale Ereignisse geformt, vor allem durch Überschwemmungen - das ist der Grund, warum Katastrophentheorie und Neptunismus vielfach fälschlich in einen Topf geworfen werden. Besonders angenehm war die Katastrophentheorie für Geistliche wie Buckland, denn mit ihrer Hilfe konnte man die biblische Sintflut in ernsthafte wissenschaftliche Erörterungen einbinden. Nach Ansicht der Uniformitarianisten dagegen spielen sich Veränderungen auf der Erde ganz allmählich ab, und fast alle Vorgänge ereignen sich sehr langsam über ungeheure Zeiträume hinweg. Der Vater dieser Vorstellung war eigentlich nicht Lyell, sondern Hutton, aber Lyells Werke fanden wesentlich mehr Leser, und deshalb wurde er in den Augen der meisten Menschen damals wie heute zum Urheber des modernen geologischen Gedankengebäudes.16
Lyell glaubte an einheitliche, stetige Veränderungen auf der Erde - danach lässt sich alles, was in der Vergangenheit jemals geschehen ist, mit heute noch laufenden Vorgängen erklären. Lyell und seine Anhänger lehnten die Katastrophentheorie nicht nur ab, sondern sie verabscheuten sie sogar. Die Katastrophentheoretiker hielten jedes Aussterben für den Teil einer Kette, in der Tiere immer wieder ausgerottet und durch neue ersetzt wurden -eine Ansicht, die der Naturforscher T. H. Huxley einmal spöttisch mit einer Serie von Doppelsiegen im Kartenspiel verglich, an deren Ende die Spieler den Tisch umstürzen und nach einem neuen Blatt rufen. Es war eine allzu bequeme Methode, das Unbekannte zu erklären. »Nie war ein Dogma mehr darauf berechnet, der Trägheit Vorschub zu leisten und die scharfe Schneide der Neugier stumpf zu machen«, wetterte Lyell.
Aber auch Lyells Ansicht hatte beträchtliche Schwächen. Er konnte nicht überzeugend erklären, wie Gebirge entstehen, und die Gletscher als Ursache des Wandels übersah er völlig.19 Auch die von Louis Agassiz geäußerte Idee von Eiszeiten - vom »Einfrieren des Globus«, wie er es abschätzig nannte - lehnte er ab, und er war zuversichtlich, man werde Säugetiere »in den ältesten fossiltragenden Schichten finden«. Lyell hatte etwas gegen die Vorstellung, Tiere und Pflanzen könnten ganz plötzlich vernichtet werden, und stattdessen glaubte er, alle großen Tiergruppen - Säugetiere, Reptilien, Fische und so weiter - hätten seit Anbeginn der Zeiten nebeneinander existiert. In allen diesen Punkten sollte er später widerlegt werden.
Dennoch kann man Lyells Einfluss gar nicht hoch genug einschätzen. Seine Principles of Geology erlebten noch zu seinen Lebzeiten zwölf Auflagen und enthielten Gedanken, die das geologische Denken bis weit ins 20. Jahrhundert hinein prägten. Darwin hatte die erste Auflage auf seiner Reise mit der Beagle dabei und schrieb anschließend: »Es war das große Verdienst der Principles, dass sie die ganze Geisteshaltung veränderten, sodass man einen Gegenstand selbst dann teilweise durch Lyells Augen sah, wenn er selbst diesen nie zu Gesicht bekommen hatte.« 22 Kurz gesagt, war Lyell für Darwin wie für viele seiner Zeitgenossen fast eine göttliche Gestalt. Lyells starker Einfluss war noch in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts zu spüren: Als die Geologen damals nur einen Teil seiner Lehre aufgeben mussten, um sich mit der Theorie des Aussterbens durch Meteoriteneinschläge anzufreunden, hätte es ihnen fast das Genick gebrochen. Aber das ist ein anderes Kapitel.
Vorerst gab es in der Geologie noch viel zu klären, und das ging nicht immer reibungslos. Man hatte von Anfang an versucht, Gesteine nach der Zeit ihrer Ablagerung einzuteilen, aber häufig gab es verbitterte Meinungsverschiedenheiten um die Frage, wo man die Grenzen ziehen sollte - nirgendwo wurde das so deutlich wie bei der langjährigen Debatte, die als große DevonKontroverse bekannt wurde. Die Frage wurde aufgeworfen, als der Geistliche Adam Sedgwick aus Cambridge für das Kambrium eine Gesteinsschicht beanspruchte, die nach Ansicht von Roderick Murchison eindeutig zum Silur gehörte. Die Diskussion tobte über Jahre hinweg und wurde äußerst hitzig. »De la Beche ist ein dreckiger Hund«, schrieb Murchison in einem seiner typischen Wutanfälle an einen Freund.
Einen Eindruck von der gefühlsmäßigen Heftigkeit kann man sich verschaffen, wenn man sich die Titel der einzelnen Kapitel in dem Buch The Great Devonian Controversy von Martin J. S. Rudwick ansieht, das einen ausgezeichneten, erschütternden Bericht über das Thema enthält. Es beginnt ganz harmlos mit Überschriften wie »Arena einer Diskussion unter Gentlemen« und »Erforschung der Grauwacke«, aber dann geht es weiter mit »Angriff und Verteidigung der Grauwacke«, »Erneute Beweise und Widerlegungen«, »Verbreitung hässlicher Gerüchte«, »Weaver widerruft seine Ketzerei«, »Ein Provinzler wird in die Schranken gewiesen« und (falls noch Zweifel bestehen sollten, dass es sich um einen Krieg handelte) »Murchison eröffnet den Rheinland-Feldzug«. Der Streit wurde 1879 endgültig beigelegt, und zwar durch einen einfachen Ausweg: Man definierte eine neue Periode, das Ordovizium, das zwischen den beiden anderen eingefügt wurde.
Da die Briten in den Anfangsjahren am aktivsten waren, herrschen Namen von der Insel im biologischen Wörterbuch vor. Die Epoche des Devon ist natürlich nach der gleichnamigen englischen Grafschaft benannt, Kambrium kommt vom römischen Namen für Wales, Ordovizium und Silur erinnern an die alten walisischen Stämme der Ordovizen und Siluren. Aber mit dem Aufschwung der geologischen Forschung in anderen Ländern wurde auch die Herkunft der Namen vielfältiger. Die Jurazeit wurde nach dem Juragebirge an der Grenze zwischen Frankreich und der Schweiz benannt, das Perm erinnert an die gleichnamige russische Provinz im Ural. Die Kreidezeit verdanken wir einem belgischen Geologen mit dem flotten Namen J. J. d’Omalius d’Halloy.
Ursprünglich wurde die Erdgeschichte in vier Phasen eingeteilt: Primär, Sekundär, Tertiär und Quartär. Das System war so ordentlich, dass es nicht von Dauer sein konnte: Schon wenig später nahmen die Geologen weitere Unterteilungen vor, während andere verworfen wurden. Primär und Sekundär wurden völlig ungebräuchlich, das Quartär dagegen behielten einige bei, während andere es aufgaben. Heute ist nur das Tertiär noch eine überall anerkannte Bezeichnung, es stellt allerdings nicht mehr irgendeine dritte Periode dar.
Für die Phase seit dem Dinosaurierzeitalter führte Lyell in seinen Principles weitere Einheiten ein, die als Epochen oder Serien bezeichnet wurden, so beispielsweise das Pleistozän ( »das Neueste« ), das Pliozän ( »das Neuere« ), das Miozän ( »das mäßig Neue« ) und das liebenswert unbestimmte Oligozän (das »nur ein wenig Neue« ). Als Endung hatte Lyell ursprünglich »-synchronous« vorgesehen, sodass sich gebundene Bezeichnungen wie Meiosynchron und Pleiosynchron ergeben hätten. Aber der einflussreiche Geistliche William Whewell erhob aus etymologischen Gründen Einwände und schlug stattdessen »-eous« als Änderung vor, was zu Meioneous, Pleioneous und so weiter geführt hätte. Die Änderungen auf »-cene« (deutsch »-zän« ) waren also eine Art Kompromiss.
Heute unterteilt man die Erdgeschichte ganz allgemein zunächst einmal in vier große Abschnitte: Präkambrium, Paläozoikum (nach dem griechischen »altes Leben« ), Mesozoikum ( »mittleres Leben« ) und Känozoikum ( »neues Leben« ). Diese vier Ären gliedern sich dann in ein Dutzend bis 20 Untergruppen, die in der Regel als Perioden, manchmal aber auch als Systeme bezeichnet werden. Die meisten davon sind ebenfalls einigermaßen* gut bekannt: Kreide, Jura, Trias, Silur und so weiter.
Dann folgen Lyells Epochen - Pleistozän, Miozän und so weiter -, die aber nur auf die jüngsten (paläontologisch allerdings sehr reichhaltigen) 65 Millionen Jahre angewandt werden, und schließlich gelangen wir zu zahlreichen feineren Unterteilungen, die als Stadien oder Zeitalter bezeichnet werden. Die meisten davon sind nach Orten benannt, und das fast immer auf merkwürdige Weise: Illinoium, Desmoinesium, Croixium,
Kimmeridgium und so immer weiter. Ihre Zahl beläuft sich nach Angaben von John McPhee insgesamt auf »zigdutzend«. Wer nicht gerade die Geologie als Beruf wählt, wird zu seinem Glück wahrscheinlich nie wieder etwas von ihnen hören.
Noch verwirrender wird die Angelegenheit, weil die Stadien oder Zeitalter in Nordamerika andere Namen tragen als in Europa und sich oft auch zeitlich nur grob überschneiden. Das nordamerikanische Stadium des Cincinnatian fällt zum größten Teil mit dem Ashgillium in Europa zusammen, aber ein kleines Stück des geringfügig älteren Caradocium gehört auch noch dazu.
Unterschiede gibt es darüber hinaus auch von Lehrbuch zu Lehrbuch und von einem Autor zum nächsten: Manche Experten unterscheiden in neuerer Zeit sieben Epochen, andere geben sich mit vier zufrieden. In manchen Büchern fehlen auch Tertiär und Quartär, und an ihre Stelle treten unterschiedlich lange Zeiträume namens Paläogen und Neogen. Andere unterteilen das Präkambrium in ein sehr altes Archäum und ein etwas neueres Proterozoikum. Manchmal werden auch Känozoikum, Mesozoikum und Paläozoikum unter dem Begriff Phanerozoikum zusammengefasst.
Und das alles gilt nur für die zeitliche Einteilung. Gesteine unterteilt man in ganz andere Einheiten, die als Systeme, Serien und Stadien bezeichnet werden. Außerdem unterscheidet man zwischen früh und spät (womit die Zeit gemeint ist) sowie zwischen oberen und unteren Gesteinsschichten. Das alles mag dem Laien schrecklich verwirrend erscheinen, für einen Geologen können sich aber daran die Leidenschaften entzünden. »Mag dies auch nur ein Problem für Spezialisten sein, so habe ich dennoch erwachsene Männer vor Wut schäumen sehen über diese - metaphorisch gesprochen -Millisekunde in der Geschichte des Lebens«, schrieb der britische Paläontologe Richard Fortey im Zusammenhang mit einem Streit um die Abgrenzung zwischen Kambrium und Ordovizium, der sich im 20. Jahrhundert lange hinzog.28
Heute können wir wenigstens raffinierte Datierungsverfahren in die Waagschale werfen. Den Geologen des 19. Jahrhunderts blieb nichts als hoffnungsvolles Raten. Sie waren damals in einer frustrierenden Situation: Zwar konnte man die verschiedenen Gesteine und Fossilien entsprechend ihrem Alter in der richtigen Reihenfolge anordnen, aber man hatte keine Ahnung, wie hoch dieses Alter eigentlich war. Als Buckland über die Datierung eines IchthyosaurusSkeletts spekulierte, konnte er lediglich die Vermutung anstellen, das Tier habe irgendwann vor 10000 oder mehr als 10000 mal 10000 Jahren gelebt.29
Aber obwohl es keine zuverlässige Methode zur Datierung der Zeitalter gab, herrschte kein Mangel an Personen, die es versuchen wollten. Einen der bekanntesten frühen Versuche unternahm 1650 der Erzbischof James Ussher von der Church of Ireland: Er gelangte nach sorgfältigem Studium der Bibel und anderer historischer Quellen in einem umfangreichen Werk namens Annals of the Old Testament zu dem Schluss, die Erde sei am Mittag des 23.
Oktober 4004 v. Chr. erschaffen worden, eine Behauptung, über die sich Historiker und Lehrbuchautoren
* seither immer wieder lustig gemacht haben.
Nebenbei bemerkt: Hartnäckig - auch in vielen seriösen Büchern - hält sich der Mythos, Usshers Ansichten hätten das wissenschaftliche Denken bis weit ins 19. Jahrhundert hinein geprägt, und erst Lyell habe die Sache zurechtgerückt. Ein typisches Beispiel aus einem populärwissenschaftlichen Buch, das in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts erschien, zitiert Stephen Jay Gould in seinem Werk Die Entdeckung der Tiefenzeit:
»Bis zum Erscheinen von Lyells Buch akzeptierten die meisten denkenden Menschen die Vorstellung, dass die Erde jung sei ...« In Wirklichkeit stimmt das nicht. Martin J. S. Rudwick formuliert es so: »Kein Geologe aus irgendeinem Land, dessen Arbeiten von anderen Geologen ernst genommen wurden, vertrat einen zeitlichen Ablauf innerhalb der Grenzen, die durch eine wörtliche Auslegung des Ersten Buches Mose vorgegeben waren.«
Selbst der Reverend Buckland, eine fromme Seele, wie sie nur das 19. Jahrhundert hervorbringen konnte, wies darauf hin, dass die Bibel an keiner Stelle berichtet, Gott habe Himmel und Erde am ersten Tag erschaffen; es heißt dort vielmehr nur, er habe sie »am Anfang« gemacht.33 Dieser Anfang konnte sich nach seiner Überlegung über »Millionen und Abermillionen von Jahren« hingezogen haben. Alle waren sich einig, dass die Erde sehr alt ist. Die Frage war nur: Wie alt?
Einer der besseren frühen Versuche, den Entstehungszeitpunkt unseres Planeten zu ermitteln, stammte von dem stets zuverlässigen Edmond Halley: Er schlug 1715 vor, man solle die gesamte Salzmenge in den Weltmeeren durch die Menge dividieren, die jedes Jahr hinzukommt; auf diese Weise, so seine Überlegung, könnte man herausfinden, seit wie vielen Jahren es die Ozeane bereits gibt, und damit hätte man eine ungefähre Vorstellung vom Alter der Erde. Es war eine reizvolle Logik, aber leider wusste niemand, wie viel Salz die Meere enthielten oder wie viel jedes Jahr hinzukam, und damit war das Experiment nicht durchführbar.
Den ersten Versuch einer Messung, den man entfernt als wissenschaftlich bezeichnen könnte, unternahm der Franzose Georges-Louis Leclerc, Comte de Buffon, in den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts. Man wusste schon seit langem, dass die Erde beträchtliche Wärmemengen abstrahlt - das erkennt jeder, der sich einmal in ein Kohlebergwerk begibt -, aber man hatte keine Möglichkeit, den Umfang dieser Abstrahlung abzuschätzen. In seinen Experimenten erhitzte Buffon Metallkugeln bis zur Weißglut, und dann schätzte er die Geschwindigkeit des Wärmeverlustes ab, indem er sie beim Abkühlen (und anfangs wahrscheinlich sehr vorsichtig) berührte. Auf diese Weise gelangte er für das Alter der Erde zu einer Schätzung zwischen 75000 und 168000 Jahren.34 Damit lag er natürlich bei weitem zu niedrig, aber es war dennoch eine radikale Vorstellung, für deren Verbreitung Buffon mit der Exkommunikation bedroht wurde. Der Pragmatiker entschuldigte sich sofort für seine gedankenlose Ketzerei, wiederholte aber in späteren Schriften fröhlich seine ursprünglichen Behauptungen.
Mitte des 19. Jahrhunderts waren die meisten gebildeten Menschen davon überzeugt, dass die Erde mindestens einige Millionen Jahre alt ist, vielleicht sogar einige Zigmillionen, viel mehr aber auch nicht. Deshalb sorgte Charles Darwin 1859 für eine große Überraschung, als er in seiner Entstehung der Arten verkündete, die geologischen Entstehungsprozesse im Weald - einer Region im Süden Englands, zu der Kent, Surrey und Sussex gehören - hätten insgesamt 306.662.400 Jahre in Anspruch genommen.35 Diese Behauptung war schon wegen ihrer verblüffenden Genauigkeit bemerkenswert, insbesondere aber weil sie ein Schlag ins Gesicht der * herrschenden Lehre über das Alter der Erde war. In der Folgezeit wurde darüber so heftig gestritten, dass Darwin sie aus der dritten Auflage seines Buches entfernte. Im Kern blieb das Problem aber bestehen. Darwin und seine Geologenfreunde waren darauf angewiesen, dass die Erde alt ist, aber niemand kannte einen Weg, um ihr wahres Alter zu bestimmen.
Darwin und der Fortschritt hatten Pech: Die Frage weckte das Interesse des großen Lord Kelvin (der damals bei aller unzweifelhaften Größe noch einfach William Thomson hieß; in den Adelsstand wurde er erst 1892 erhoben, als er 68 Jahre war und fast am Ende seiner Laufbahn stand; ich
* Darwin liebte genaue Zahlenangaben. In einer späteren Arbeit behauptete er, in einem Acre (4046,8 m2) englischen Ackerbodens seien im Durchschnitt 53767 Würmer zu finden.
werde den Namen aber hier, wie es allgemein üblich ist, auch rückwirkend verwenden). Kelvin war eine der ungewöhnlichsten Gestalten des 19. Jahrhunderts, ja eigentlich sogar aller Jahrhunderte. Der deutsche Wissenschaftler Hermann von Helmholtz, selbst geistig alles andere als minderbemittelt, schrieb einmal, Kelvin habe mit Abstand die größte Intelligenz, Klugheit und geistige Beweglichkeit aller Menschen, die ihm jemals begegnet seien.36 »Neben ihm fühlte ich mich manchmal richtig hölzern«, fügte er ein wenig niedergeschlagen hinzu.
Solche Gefühle sind nur allzu verständlich: Kelvin war tatsächlich eine Art Supermann des viktorianischen Zeitalters. Er wurde 1824 in Belfast geboren; sein Vater, Mathematikprofessor an der Royal Academical Institution, zog wenig später nach Glasgow. Dort erwies sich der kleine Kelvin als ein solches Wunderkind, dass er im zarten Alter von zehn Jahren an der Universität Glasgow aufgenommen wurde. Mit Anfang zwanzig hatte er bereits an Hochschulen in London und Paris studiert, in Cambridge ein Examen gemacht (er gewann auch die Preise der dortigen Universität für Rudern und Mathematik, und nebenbei fand er noch die Zeit, eine Musikgesellschaft zu gründen), man hatte ihn zum Mitglied des Peterhouse (eines besonders angesehenen Colleges in Cambridge) gewählt, und er hatte (auf Französisch und Englisch) ein Dutzend Aufsätze über reine und angewandte Mathematik geschrieben, die von so atemberaubender Originalität waren, dass er sie anonym veröffentlichen musste, um seinen Vorgesetzten Peinlichkeiten zu ersparen. Mit 22 kehrte er an die Universität Glasgow zurück und übernahm dort eine Professur für Naturphilosophie, eine Stellung, die er während der nächsten 53 Jahre behielt.
Im Laufe seiner langen Karriere (er starb erst 1907 mit 83 Jahren) schrieb er 661 wissenschaftliche Artikel, sammelte 69 Patente (durch die er zu üppigem Reichtum gelangte) und wurde in fast allen Teilgebieten der Physik zu einer angesehenen Gestalt. Neben vielem anderen schlug er eine Methode vor, die unmittelbar zur Erfindung von Kühlmaschinen führte; er entwickelte die absolute Temperaturskala, die heute noch seinen Namen trägt, erfand Verstärker, mit deren Hilfe man Telegramme über Ozeane hinweg versenden konnte, und sorgte für unzählige Verbesserungen in Schifffahrt und Navigation, von der Erfindung eines allgemein beliebten Schiffskompasses bis zum ersten Tiefenecholot. Und das waren nur seine praktischen Errungenschaften.
Ebenso revolutionär waren Kelvins theoretischen Arbeiten über Elektromagnetismus, Thermodynamik und
* die Wellentheorie des Lichts. Er hatte nur eine große
* Insbesondere verfeinerte er den Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik. Eine Erörterung dieser Gesetze würde allein ein ganzes Buch füllen; um einen Eindruck davon zu vermitteln, zitiere ich hier nur eine prägnante Zusammenfassung des Chemikers P. W. Atkins: »Es gibt vier Gesetze. Das dritte davon, der Zweite Hauptsatz, wurde als Erstes entdeckt; das erste, der Nullte Hauptsatz, wurde als Letztes formuliert; der erste kam als Zweiter; und der dritte ist vielleicht nicht einmal ein Naturgesetz in dem gleichen Sinne wie die anderen.« Ganz kurz zusammengefasst, besagt der Zweite Hauptsatz, dass immer ein wenig Energie verloren geht. Ein Perpetuum mobile kann es nicht geben, denn selbst wenn eine Maschine noch so effizient arbeitet, verliert sie immer Energie, sodass sie letztlich zum Stillstand kommt. Nach dem Ersten Hauptsatz kann Energie nicht neu erschaffen werden, und der Dritte besagt, dass die Temperatur nicht bis zum absoluten Nullpunkt sinken kann; ein wenig Restwärme bleibt immer übrig. Wie Dennis Overbye feststellt, kann man die drei Hauptsätze manchmal scherzhaft so formulieren: Erstens - du kannst nicht gewinnen; zweitens - du kannst kein Unentschieden erreichen; und drittens - du kannst aus dem Spiel nicht ausscheiden.
Schwäche, und die bestand darin, dass er das Alter der Erde nicht richtig berechnen konnte. Die Frage nahm ihn in der zweiten Hälfte seiner Laufbahn stark in Anspruch, aber er kam dem richtigen Ergebnis nie auch nur nahe. Den ersten Versuch unternahm er 1862 in einem Aufsatz für die populäre Zeitschrift Macmillans: Darin äußerte er die Vermutung, die Erde sei 98 Millionen Jahre alt, aber vorsichtshalber räumte er ein, die Zahl könne auch nur bei 20 Millionen Jahren liegen oder aber 400 Millionen Jahre betragen. Mit bemerkenswerter Klugheit gestand er, seine Berechnungen könnten falsch sein, wenn »die große Fundgrube der Schöpfung noch Quellen zugänglich macht, die uns bisher nicht bekannt sind« - aber es war ganz deutlich, dass er so etwas für unwahrscheinlich hielt.
Im Laufe der Zeit äußerte Kelvin immer selbstbewusstere Behauptungen, die immer weniger stimmten. Er revidierte seine Schätzungen ständig nach unten: Aus dem Höchstwert von 400 Millionen Jahren wurden 100 Millionen, dann 50 Millionen und 1897 schließlich nur noch 24 Millionen Jahre. Damit verfolgte Kelvin keine bösen Absichten. Man konnte einfach mit keinem der damals bekannten physikalischen Vorgänge erklären, wie ein Körper von der Größe der Sonne länger als ein paar Zigmillionen Jahre leuchten konnte, ohne dass der Brennstoff zur Neige ging. Daraus ergab sich die Schlussfolgerung, dass die Sonne und ihre Planeten zwangsläufig relativ jung sein mussten. Es stellte sich nur das Problem, dass fast alle Fossilfunde dem widersprachen, und im 19. Jahrhundert gab es plötzlich jede Menge Fossilfunde.
6.
Wissenschalt, rot an Zähnen und Klauen
Im Jahr 1787 fand irgendjemand - wer es genau war, ist heute anscheinend vergessen - an einer Stelle namens Woodbury Creek in New Jersey einen riesigen Ober-chenkelknochen, der aus einem Bachufer ragte. Der Knochen gehörte ganz offensichtlich nicht zu einer heute lebenden Tierart, und erst recht nicht zu einer, die in New Jersey vorkam. Nach dem wenigen, was wir heute wissen, war es vermutlich der Knochen eines Hadrosauriers, das heißt eines großen Dinosauriers mit Entenschnabel. Aber von Dinosauriern wusste man zu jener Zeit noch nichts.
Man schickte den Knochen an Dr. Caspar Wistar, den führenden Anatomen des Landes, und der beschrieb ihn im Herbst des gleichen Jahres in Philadelphia bei einer Tagung der American Philosophical Society.1 Leider erkannte er aber in keiner Weise die Bedeutung des Knochens, sondern machte nur ein paar vorsichtige, wenig anregende Bemerkungen über seine ungeheure Größe. Damit verpasste er die Gelegenheit, ein halbes Jahrhundert vor allen anderen zum Entdecker der Dinosaurier zu werden. Der Knochen weckte so wenig Interesse, dass man ihn in einem Magazin unterbrachte, und schließlich verschwand er völlig. Der erste Dinosaurier, der gefunden wurde, ging also auch als Erster wieder verloren.
Dass der Knochen kein größeres Interesse weckte, ist ein durchaus nicht geringes Rätsel, denn er tauchte zu einer Zeit auf, als eine Welle der Begeisterung über die Reste großer, vorzeitlicher Tiere durch Amerika schwappte.
Auslöser der Aufregung war eine seltsame Behauptung des großen französischen Naturforschers Comte de Buffon, der uns mit seinen erhitzten Kugeln schon im vorherigen Kapitel begegnet ist: Danach waren die Lebewesen Amerikas denen der Alten Welt in nahezu jeder Hinsicht unterlegen. Amerika, so schrieb Buffon in seiner riesigen, hoch angesehenen Histoire Naturelle, sei ein Land der stehenden Gewässer, des unfruchtbaren Bodens und der kleinen, kraftlosen Tiere, deren Konstitution durch die »giftigen Dämpfe« aus faulenden Sümpfen und lichtlosen Wäldern geschwächt werde. In einem solchen Umfeld fehlte angeblich sogar den einheimischen Indianern die Lebenskraft. Klugerweise nur am Rande meinte Buffon: »Sie haben weder Bart noch Körperbehaarung und keine Leidenschaft für die Frauen. Ihre Fortpflanzungsorgane sind klein und schwächlich.«
Buffons Behauptungen wurden von anderen Autoren überraschend eifrig unterstützt, insbesondere von jenen, deren Erkenntnisse nicht durch tatsächliche Vertrautheit mit dem Land komplizierter gemacht wurden. Ein Niederländer namens Corneille de Pauw gab in einem beliebten Werk mit dem Titel Recherches Philosophiques sur les Américains bekannt, die männlichen amerikanischen Ureinwohner seien nicht nur wenig leistungsfähig, was die Fortpflanzung angehe, sondern ihnen fehle die Manneskraft so stark, »dass sie sogar Milch in den Brüsten haben«. Derartige Ansichten erfreuten sich durchaus einer gewissen Dauerhaftigkeit und waren wörtlich oder sinngemäß bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts in vielen europäischen Büchern zu finden.
Wie nicht anders zu erwarten, wurden solche Verleumdungen in Amerika mit Empörung aufgenommen. Thomas Jefferson nahm in seinen Notes on the State of Virginia eine wütende (und wenn man den Zusammenhang nicht kennt, ganz und gar verblüffende) Erwiderung auf und veranlasste seinen Freund, den General John Sullivan aus New Hampshire, 20 Soldaten in die Wälder des Nordens zu entsenden: Sie sollten dort einen männlichen Elch finden, den man Buffon als Beweis für Größe und Majestät der amerikanischen Vierbeiner vorführen konnte. Die Männer brauchten zwei Wochen, bis sie ein geeignetes Exemplar ausfindig gemacht hatten. Aber dem Elch, den sie schließlich erlegten, fehlten die eindrucksvollen Hörner, die Jefferson verlangt hatte; deshalb schickte Sullivan klugerweise das Geweih eines Hirsches mit und schlug vor, man solle es stattdessen an dem toten Tier anbringen. Wer sollte das in Frankreich schon bemerken?
Mittlerweile hatten Naturforscher in Philadelphia - der Stadt Wistars - damit begonnen, die Knochen eines riesigen, elefantenähnlichen Tiers zusammenzusetzen, das anfangs als »das große amerikanische Unbekannte« bezeichnet wurde; später erkannte man darin - nicht ganz richtig - eine Form des Mammuts. Die ersten derartigen Knochen hatte man an einem Ort namens Big Bone Lick in Kentucky entdeckt, bald kamen sie aber auch an vielen anderen Stellen ans Licht. Amerika, so schien es nun, war einst die Heimat einer Tierart von wahrhaft beträchtlicher Größe gewesen, und damit würde man sicher Buffons törichte gallische Behauptungen widerlegen können.
In ihrem eifrigen Bemühen, Größe und Aggressivität des Unbekannten zu beweisen, schossen die amerikanischen Naturforscher offensichtlich ein wenig über das Ziel hinaus. Sie überschätzten seine Ausmaße um den Faktor sechs und statteten es mit Furcht erregenden Klauen aus, die in Wirklichkeit von einem in der Nähe ausgegrabenen Riesenfaultier der Gattung Megalonyx stammte. Bemerkenswerterweise gelangten sie zu der Überzeugung, das Tier habe »die Beweglichkeit und Wildheit des Tigers« besessen, und in ihren Zeichnungen sprang es von Felsblöcken aus mit der Anmut einer Raubkatze seine Beute an. Als man die ersten Stoßzähne entdeckte, fügte man sie zwanghaft auf alle möglichen fantasievollen Arten in den Kopf des Tieres ein. In einer Rekonstruktion standen die Stoßzähne sogar auf dem Kopf und sahen aus wie die Reißzähne einer Säbelzahnkatze, was dem Tier das gewünschte, aggressive Aussehen verlieh. Ein anderer Wissenschaftler ordnete die Stoßzähne so an, dass sie nach hinten gebogen waren; dahinter stand die faszinierende Theorie, das Tier habe im Wasser gelebt und sich mit ihrer Hilfe beim Dösen an Bäumen festgehakt. Die wichtigste Erkenntnis über das Unbekannte bestand jedoch darin, dass es offensichtlich ausgestorben war - und diese Tatsache führte Buffon vergnügt als Beweis an, dass es doch zweifellos degeneriert war.
Buffon starb 1788, aber die Kontroverse schwelte weiter. Im Jahr 1795 gelangte eine Knochensammlung nach Paris, wo sie von dem emporstrebenden Star der Paläontologie untersucht wurde, dem jugendlichen, aristokratischen Georges Cuvier. Dieser hatte sein Umfeld bereits damit verblüfft, dass er einen Haufen einzelner Knochen nahm und sie auf geniale Weise zu vernünftigen Formen zusammensetzte. Angeblich konnte er auf Grund eines einzigen Zahnes oder eines kleinen Stücks Kiefer das ganze Aussehen und Wesen eines Tieres beschreiben, und gleichzeitig nannte er häufig auch Gattung und Art. Als Cuvier erkannte, dass in Amerika bisher noch niemand die schwerfällige Bestie formal beschrieben hatte, holte er es nach, und damit wurde er zu ihrem offiziellen Entdecker. Er bezeichnete das Tier als Mastodon (was - ein wenig unerwartet - »Brustwarzenzahn« bedeutet).
Durch den Streit angeregt, schrieb Cuvier 1796 einen bahnbrechenden Aufsatz mit dem Titel »Bemerkung über die Arten lebender und fossiler Elefanten«. Darin formulierte er zum ersten Mal ausdrücklich eine Theorie des Aussterbens.4 Nach seiner Überzeugung erlebte die Erde hin und wieder globale Katastrophen, bei denen ganze Gruppen von Lebewesen ausgerottet wurden. Für gläubige Menschen, darunter auch Cuvier selbst, ergaben sich aus dieser Vorstellung unangenehme Folgerungen, denn sie unterstellte der Vorsehung eine unerklärliche Gleichgültigkeit. Zu welchem Zweck erschuf Gott die Tier- und Pflanzenarten, wenn er sie später wieder hinwegfegte? Die Idee widersprach dem Glauben an die große Seinskette, wonach die Welt genau geordnet war, sodass jedes Lebewesen seinen Platz und sein Ziel hatte, die es auch schon immer besessen hatte und immer behalten würde. Für Jefferson war es beispielsweise ein unerträglicher Gedanke, dass ganze biologische Arten einfach verschwinden können (oder - was auf das Gleiche hinausläuft - sich in der Evolution weiterentwickeln).5 Als man ihm nun den Gedanken nahe brachte, es könne von wissenschaftlichem und politischem Wert sein, eine Expedition mit der Erforschung des Inneren von Amerika jenseits des Mississippi zu beauftragen, griff er die Idee begeistert auf, hoffte er doch, die furchtlosen Abenteurer würden Herden gesunder Mastodons und anderer riesiger Tiere finden, die in den üppigen Ebenen grasten. Zum leitenden Naturforscher der Expedition ernannte Jefferson seinen Privatsekretär und Vertrauten Meriwether Lewis. Und als Berater, der ihm sagen sollte, wonach er im Hinblick auf lebende und ausgestorbene Tiere Ausschau zu halten hatte, wurde kein Geringerer als Caspar Wistar ernannt.
Im gleichen Jahr - und sogar im gleichen Monat -, als der aristokratische, gefeierte Cuvier in Paris seine Theorien über das Aussterben vortrug, gewann ein Engländer von wesentlich zweifelhafterem Ruf auf der anderen Seite des Ärmelkanals eine Erkenntnis über den Wert von Fossilien, die ebenfalls dauerhaften Einfluss haben sollte. William Smith war ein junger Bauleiter am Somerset Coal Canal. Am Abend des 5. Januar 1796 saß er in Somerset in einer Kutscherkneipe und schrieb die Gedanken nieder, auf die sich später sein Ruf gründen sollte.6 Um Gesteine zu deuten, braucht man ein Mittel, um Zusammenhänge herzustellen, eine Grundlage, damit man behaupten kann, jenes Karbongestein aus Devon sei jünger als ein anderes aus dem Kambrium, das in Wales gefunden wurde. Smith erkannte, dass die Antwort in den Fossilien liegt. Mit jeder neuen Gesteinsschicht verschwanden bestimmte Fossilienarten, andere dagegen fanden sich auch in nachfolgenden Schichten. Indem man feststellte, welche Arten in welcher Schicht auftreten, konnte man die Altersverhältnisse der Gesteine an jedem beliebigen Ort bestimmen. Vor dem Hintergrund seiner Kenntnisse als Landvermesser ging Smith sofort daran, eine Karte der Gesteinsschichten in Großbritannien zu zeichnen, die nach vielen Entwürfen 1815 schließlich erschien und zu einem Grundstein der modernen Geologie wurde. (Umfassend wiedergegeben ist die Geschichte in Simon Winchesters populärwissenschaftlichem Buch Eine Karte verändert die Welt.)
Aber nachdem Smith zu dieser Erkenntnis gelangt war, zeigte er sich seltsam desinteressiert an der Frage, warum die Gesteinsschichten so und nicht anders übereinander lagen. »Ich habe davon abgelassen, über die Herkunft der Schichten zu rätseln, und gebe mich damit zufrieden, dass es so und nicht anders ist«, hielt er fest. »Das Warum und Wozu zu erkunden, liegt nicht in der Domäne eines Mineralsuchers.« 7
Smith’ Kenntnisse über die Gesteinsschichten ließen das Aussterben moralisch noch fragwürdiger erscheinen. Zunächst einmal bestätigten sie, dass Gott nicht nur gelegentlich, sondern immer wieder Lebewesen ausgelöscht hatte. Damit erschien Er nicht nur achtlos, sondern richtig bösartig. Außerdem zog dieses Wissen die unangenehme Notwendigkeit nach sich, zu erklären, warum manche Arten weggefegt wurden, während andere ungehindert über mehrere Zeitalter fortdauern konnten. Offensichtlich war es häufiger zum Aussterben gekommen, als es sich mit einer einzigen biblischen Sintflut erklären ließ. Cuvier löste das Problem zu seiner eigenen Zufriedenheit mit der Vermutung, das Erste Buch Mose beschreibe nur die letzte Überflutung. Anscheinend sei Gott daran gelegen gewesen, Moses nicht mit Berichten über frühere, bedeutungslose AussterbeEreignisse abzulenken oder zu beunruhigen.
In den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts hatten Fossilien also eine gewisse unausweichliche Wichtigkeit erlangt, und das lässt Wistars Unfähigkeit, die Bedeutung dieses Dinosaurierknochens zu erkennen, noch unglücklicher erscheinen. Jedenfalls tauchten plötzlich überall Knochen auf. Für die Amerikaner ergaben sich noch mehrere weitere Gelegenheiten, die Entdeckung der Dinosaurier für sich in Anspruch zu nehmen, aber sie ließen sie jedes Mal ungenutzt verstreichen. Im Jahr 1806 durchquerten Lewis und Clark mit ihrer Expedition die Formation des Hell Creek in Montana, ein Gebiet, wo Fossilsammler später buchstäblich über Dinosaurierknochen stolperten, und sie untersuchten sogar einen Gegenstand, bei dem es sich eindeutig um einen im Gestein eingebetteten Dinosaurierknochen handelte, wussten aber nichts damit anzufangen.9 Andere fossile Knochen und Fußabdrücke fand man im Tal des Connecticut River in Neuengland, nachdem ein Bauernjunge namens Plinus Moody an einem Felsvorsprung bei South Hadley in Massachusetts auf urzeitliche Hinterlassenschaften gestoßen war. Zumindest einige davon sind heute noch vorhanden, insbesondere die Knochen eines Anchisaurus, die sich in der Sammlung des Peabody Museums an der Yale University befinden. Die Funde von 1818 waren die ersten Dinosaurierknochen, die man untersuchte und aufbewahrte, aber um was es sich dabei handelte, wurde leider erst 1855 klar. Im Jahr 1818 starb auch Caspar Wistar, aber er sicherte sich unerwarteterweise eine gewisse Unsterblichkeit, weil ein Botaniker namens Thomas Nuttall einen hübschen Kletterstrauch nach ihm benannte. Manche puristisch veranlagten Botaniker bestehen noch heute darauf, ihn wistaria zu schreiben.
Zu jener Zeit stammten die wichtigsten Impulse für die Paläontologie aus England. Bei Lyme Regis an der Küste von Dorset fand ein ungewöhnliches Kind namens Mary Anning - sie war elf, zwölf oder dreizehn Jahre alt, je nachdem, welchen Bericht man liest - im Jahr 1812 ein seltsames, fossiles Seeungeheuer von etwa fünf Meter Länge; das Fossil - es ist heute unter dem Namen Ichthyosaurus bekannt - lag in den steilen, gefährlichen Klippen am Ärmelkanal.
Damit begann eine bemerkenswerte Laufbahn. Anning sammelte während ihrer nächsten 35 Lebensjahre Fossilien, die sie an Besucher verkaufte. (Häufig wird sie auch als Anlass für den Zungenbrecher »she sells seashells on the seashore« genannt.)10 Anning fand auch den ersten Plesiosaurus (ein weiteres Seeungeheuer) sowie einen der ersten und besten Pterodactyla. Streng genommen, handelte es sich bei keinem der Funde um Dinosaurier, aber das spielte zu jener Zeit keine große Rolle, denn damals wusste noch niemand, was ein Dinosaurier eigentlich ist. Viel wichtiger war die Erkenntnis, dass die Welt einst Tiere beherbergte, die mit allen heutigen Formen keine große Ähnlichkeit hatten.
Annings Begabung bestand nicht nur darin, dass sie Fossilien leicht entdeckte - in dieser Hinsicht machte es ihr kein anderer nach -, sondern sie konnte die Funde auch mit der gebotenen Vorsicht unbeschädigt aus dem Boden holen. Wer jemals die Möglichkeit hat, den Saal mit urzeitlichen Meeresreptilien im Londoner Natural History Museum zu besichtigen, sollte die Gelegenheit unbedingt beim Schopfe packen; nirgendwo sonst bekommt man ein Gespür für Umfang und Schönheit der Leistungen dieser jungen Frau, die unter nahezu unerträglichen Bedingungen praktisch ohne Hilfe und mit den einfachsten Werkzeugen arbeitete.11 Allein auf den Plesiosaurier verwendete sie zehn Jahre geduldiger Ausgrabungen. Obwohl Anning keinerlei Ausbildung hatte, konnte sie sogar fachlich richtige Zeichnungen und Beschreibungen für Wissenschaftler anfertigen. Aber trotz all dieser Fähigkeiten waren bedeutsame Funde selten, und sie verbrachte fast ihr ganzes Leben in Armut.
Wohl kaum eine andere Gestalt in der Geschichte der Paläontologie wurde so ungerechtfertigt übersehen wie Mary Anning, aber es gab in der Tat einen, der ihr in dieser Hinsicht schmerzlich nahe kam. Er hieß Gideon Algernon Mantell und war Landarzt in Sussex.
Der schlaksige Mantell vereinigte in sich alle möglichen Schwächen - er war eitel, introvertiert, eingebildet und achtlos gegenüber seiner Familie -, aber es gab wohl nie einen engagierteren Amateurpaläontologen. Außerdem hatte er das Glück, dass seine Frau zu ihm hielt und aufmerksam war. Im Jahr 1822 - er war gerade bei einem Patienten in einer ländlichen Gegend von Sussex auf Hausbesuch - machte Mrs. Mantell auf einem Fahrweg in der Nähe einen kleinen Spaziergang. In einem Kieshaufen, den man dort zum Auffüllen von Schlaglöchern aufgeschüttet hatte, fand sie etwas Seltsames: einen braunen, gebogenen Stein ungefähr von der Größe einer kleinen Walnuss. Da sie das Interesse ihres Mannes für Fossilien kannte und dachte, sie könnte es hier mit einem solchen zu tun haben, nahm sie den Fund mit. Mantell erkannte darin sofort einen fossilen Zahn, und nach kurzer Untersuchung war er sicher, dass er von einem Pflanzen fressenden, sehr großen Reptil stammte, das mindestens sechs Meter lang war und in der Kreidezeit gelebt hatte. Damit hatte er in allen Punkten Recht, aber es waren kühne Behauptungen, denn etwas Ähnliches hatte noch nie jemand gesehen oder sich auch nur ausgemalt.
Mantell war sich bewusst, dass sein Fund alles auf den Kopf stellen konnte, was man bisher über die Vergangenheit zu wissen glaubte. Sein Freund, der Reverend William Buckland - der mit dem Talar und dem experimentellen Appetit - riet ihm, äußerst vorsichtig zu sein, und deshalb suchte er drei Jahre lang mit peinlicher Sorgfalt nach weiteren Belegen, die seine Schlussfolgerungen stützen konnten. Er schickte den Zahn nach Paris zu Cuvier und fragte den berühmten Franzosen nach seiner Meinung, aber der tat ihn als Zahn eines Flusspferdes ab. (Später entschuldigte sich Cuvier in aller Form für diesen ganz untypischen Fehler.) Eines Tages, als Mantell im Londoner Hunterian Museum arbeitete, kam er mit einem anderen Wissenschaftler ins Gespräch, und der erklärte, der Zahn sehe ganz ähnlich aus wie bei den von ihm untersuchten Tieren, den südamerikanischen Iguana-Echsen. Ein eilig angestellter Vergleich bestätigte die Ähnlichkeit. So wurde Mantells Tier zum Iguanodon, benannt nach einer tropischen Echse, mit der es nicht im Entferntesten verwandt war.
Jetzt bereitete Mantell einen Vortrag vor, den er bei der Royal Society halten wollte. Leider stellte sich aber heraus, dass man in einem Steinbruch in Oxfordshire bereits einen anderen Dinosaurier gefunden hatte, der kurz zuvor offiziell beschrieben worden war - von dem Reverend Buckland, der ihn gedrängt hatte, sich bei der Arbeit Zeit zu lassen. Es war der Megalosaurus; den Namen hatte Buckland ihm auf Vorschlag seines Freundes Dr. James Parkinson gegeben, des späteren Radikalen und Namenspatrons für die Parkinson-Krankheit. Wie bereits erwähnt wurde, war Buckland in erster Linie Geologe, und das zeigte sich auch in seinen Arbeiten am Megalosaurus. In seinem Bericht für die Transactions of the Geological Society of London stellte er fest, die Zähne des Tieres seien nicht wie bei den Echsen unmittelbar mit dem Kieferknochen verbunden, sondern sie steckten nach Art der Krokodile in eigenen Höhlungen. Aber als Buckland diese Aussage machte, war ihm nicht klar, was sie bedeutete: Megalosaurus war ein ganz neuer Typus von Tieren. Sein Bericht ließ wenig Scharfsinn oder neue Einsichten erkennen, aber immerhin war es die erste veröffentlichte Beschreibung eines Dinosauriers; deshalb stand Buckland die Anerkennung als Entdecker dieser vorzeitlichen Abstammungslinie von Lebewesen zu und nicht Mantell, der sie weit eher verdient hätte.
Ohne zu wissen, dass Enttäuschungen zum herausragenden Merkmal seines Lebens werden sollten, setzte Mantell die Fossilsuche fort und fand 1833 einen weiteren Riesen, den Hylaeosaurus. Andere kaufte er von Steinbrucharbeitern und Bauern, bis er schließlich über die vermutlich größte Fossilsammlung Großbritanniens verfügte. Mantell war ein hervorragender Arzt und ein ebenso begabter Knochensammler, aber es gelang ihm nicht, beiden Talenten gerecht zu werden. Als seine Sammelwut wuchs, vernachlässigte er seine ärztliche Praxis immer stärker. Sein Haus in Brighton war schon bald von oben bis unten voller Fossilien, die auch den größten Teil seines Einkommens verschlangen. Von dem Rest flossen erhebliche Beträge in die Subskription der Veröffentlichung von Büchern, für deren Besitz sich nur die wenigsten interessierten. Von den 1827 erschienenen Illustrations of the Geology of Sussex wurden 50 Exemplare verkauft, und er blieb auf einem Defizit von 300 Pfund sitzen - für die damalige Zeit eine unangenehm hohe Summe.
Mit einer gewissen Verzweiflung kam Mantell auf die Idee, sein Haus zum Museum zu machen und Eintrittsgelder zu verlangen; dabei erkannte er erst zu spät, dass ein solches kaufmännisches Verhalten sein Ansehen als Gentleman untergraben würde, von seinem Ruf als Wissenschaftler ganz zu schweigen, weshalb er den Besuchern gestattete, sein Haus umsonst zu besichtigen. Woche für Woche kamen sie zu Hunderten, was sowohl seine Praxis als auch sein häusliches Leben beeinträchtigte. Schließlich musste er den größten Teil seiner Sammlung verkaufen, um seine Schulden bezahlen zu können.14 Wenig später verließ ihn seine Frau und nahm die vier Kinder mit.
Aber bemerkenswerterweise hatten seine Schwierigkeiten damit gerade erst begonnen.
In dem Bezirk Sydenham im Süden von London, am so genannten Crystal Palace Park, bietet sich ein seltsamer, in Vergessenheit geratener Anblick: Hier stehen die weltweit ersten lebensgroßen Modelle von Dinosauriern. Heutzutage kommt kaum jemand hierher, aber früher waren sie eine der beliebtesten Attraktionen in der britischen Hauptstadt - eigentlich war es sogar, wie Richard Fortey feststellt, der erste Themenpark der Welt.15 Vieles an den Modellen stimmt nicht ganz. Der Daumen des Iguanodon sitzt wie ein Stachel auf der Nase, und das Tier steht auf vier stämmigen Beinen, sodass es wie ein recht kräftiger, seltsam überdimensionierter Hund aussieht. (In Wirklichkeit schlich das Iguanodon nicht auf allen vieren herum, sondern es ging aufrecht.) Wer diese eigenartigen, schwerfälligen Tiermodelle heute betrachtet, kommt kaum auf die Idee, dass sie früher tatsächlich Streit und Verbitterung auslösten. Vielleicht kein anderes Objekt der Naturgeschichte stand so im Mittelpunkt hitziger, lang anhaltender Streitigkeiten wie jene Familie urzeitlicher Tiere, die wir Dinosaurier nennen.
Zu der Zeit, als die Dinosauriermodelle gebaut wurden, lag Sydenham am Stadtrand von London, und der geräumige Park galt als idealer Ort für den Wiederaufbau des berühmten Kristallpalastes, einer Konstruktion aus Glas und Gusseisen, die den Mittelpunkt der Weltausstellung von 1851 gebildet hatte und natürlich Pate für den Namen des neuen Parks stand. Die aus Beton modellierten Dinosaurier stellten eine Art zusätzliche Attraktion dar. Am Silvesterabend 1853 fand im Inneren des unfertigen Iguanodon ein berühmtes Abendessen für 21 angesehene Wissenschaftler statt. Gideon Mantell, der Mann, der das Iguanodon gefunden und identifiziert hatte, war nicht unter ihnen. Den Vorsitz führte der größte Star in der jungen Wissenschaft der Paläontologie. Er hieß Richard Owen und hatte zu jener Zeit bereits mehrere produktive Jahre darauf verwendet, Gideon Mantell das Leben zur Hölle zu machen.
Owen war in Lancaster im Norden Englands aufgewachsen und hatte eine Ausbildung als Arzt hinter sich. Er war der geborene Anatom und widmete sich seinen Untersuchungen so hingebungsvoll, dass er sich manchmal sogar illegal Gliedmaßen, Organe und andere Körperteile von Leichen besorgte, die er dann mit nach Hause nahm und in seiner Freizeit sezierte.16
Einmal hatte er einen Beutel dabei, in dem sich der kurz zuvor amputierte Kopf eines farbigen afrikanischen Seemannes befand; Owen glitt auf einem feuchten Kiesel aus und musste entsetzt zusehen, wie der Kopf die Straße hinunter und durch eine offene Haustür rollte, um drinnen in der Diele liegen zu bleiben. Wie die Bewohner reagierten, als ein Kopf ohne Körper vor ihre Füße rollte, kann man sich leicht ausmalen. Vermutlich waren sie mit ihren Erkenntnissen noch nicht sehr weit gediehen, als einen Augenblick später ein junger Mann mit bedeutungsvollem Blick hereingestürmt kam, wortlos den Kopf aufhob und wieder auf die Straße eilte.
Im Jahr 1825, mit nur 21 Jahren, zog Owen nach London. Wenig später erhielt er eine Stelle am Royal College of Surgeons, wo er die umfangreiche, aber ungeordnete Sammlung medizinischer und anatomischer Gegenstände neu organisieren sollte. Die meisten Stücke hatte John Hunter der Institution hinterlassen, ein angesehener Chirurg und unermüdlicher Sammler medizinischer Kuriositäten, aber sie waren nie katalogisiert oder geordnet worden, insbesondere weil die Papiere, in denen die Bedeutung jedes einzelnen Stücks erklärt wurde, kurz nach Hunters Tod verloren gegangen waren.
Owen machte sich mit Organisationstalent und logischem Denken schnell einen Namen. Gleichzeitig erwies er sich als konkurrenzloser Anatom, dessen Gespür für Rekonstruktionen fast an das des großen Cuvier in Paris heranreichte. Er wurde ein solcher Experte für die Anatomie der Tiere, dass man ihm ein Vorkaufsrecht für alle Exemplare einräumte, die im Londoner Zoologischen Garten starben, und diese wurden zur Untersuchung stets in sein Haus gebracht. Einmal kam seine Frau nach Hause und fand ein kürzlich verstorbenes Nashorn vor, das die ganze Diele ausfüllte. Schnell wurde er zum führenden Fachmann für alle lebenden und ausgestorbenen Tiere, von Schnabeltieren, Ameisenigeln und anderen kurz zuvor entdeckten Beuteltieren bis hin zu dem unglückseligen Dodo und den Moas, ausgestorbenen Riesenvögeln, die früher Neuseeland bevölkert hatten und von den Maoris gejagt wurden, bis sie ausgerottet waren. Er beschrieb als Erster den Archäopteryx, den man 1861 in Bayern entdeckt hatte, und als Erster verfasste er einen offiziellen Nachruf auf den Dodo. Insgesamt schrieb er 600 anatomische Fachaufsätze - eine wahrhaft üppige Produktion.
In Erinnerung blieb Owen aber vor allem durch seine Erforschung der Dinosaurier. Er war es, der 1841 den Begriff dinosauria prägte. Er bedeutet »schreckliche Echse« und war ein seltsam unzutreffender Name. Wie wir heute wissen, waren die Dinosaurier durchaus nicht schrecklich - manche waren nicht größer als Kaninchen und vermutlich äußerst scheu -, und außerdem waren sie ganz eindeutig keine Echsen, denn die gehören in Wirklichkeit zu einer um 30 Millionen Jahre älteren Abstammungslinie.19 Owen war sich sehr wohl bewusst, dass es sich bei den Tieren um Reptilien handelte, und ihm stand dafür auch das hervorragend geeignete griechische Wort herpeton zur Verfügung, aber aus irgendeinem Grund entschloss er sich, ihn nicht zu benutzen. Ein anderer Fehler war angesichts der wenigen Funde, die man zu seiner Zeit kannte, eher verzeihlich: Die Dinosaurier stellen in Wirklichkeit nicht eine, sondern zwei Reptilienordnungen dar, die Vogelbecken-Dinosaurier oder Ornithischia und die Echsenbecken-Dinosaurier oder Saurischia.20
Owen war weder im Aussehen noch im Temperament ein attraktiver Mann. Ein Foto, das in seinen mittleren Jahren aufgenommen wurde, zeigt einen mageren, mürrischen Menschen, der den Bösewicht in einem viktorianischen Melodram abgeben könnte, mit langen, schütteren Haaren und hervorquellenden Augen - ein Gesicht, das einem Baby Angst machen könnte. Sein Verhalten war kühl und anmaßend, und er hatte keine Skrupel, seinen Ehrgeiz durchzusetzen. Soweit man weiß, war er auch der einzige Mensch, den Darwin wirklich nicht leiden konnte. Selbst Owens eigener Sohn (der sich kurz danach das Leben nahm) sprach von der »beklagenswerten Herzenskälte« seines Vaters.
Aber wegen seiner unbestrittenen Begabung als Anatom kam Owen selbst mit den offenkundigsten Unredlichkeiten ungeschoren davon. Als der Naturforscher T. H. Huxley 1857 die neueste Auflage von Churchill’s Medical Dictionary durchblätterte, fiel ihm auf, dass Owen dort als Professor für Vergleichende Anatomie und Physiologie an der staatlichen Bergbauschule aufgeführt war, worüber Huxley sich sehr wunderte - es war nämlich seine eigene Position. Als er nachforschte, wie das Churchill’s einen derart schweren Fehler begehen konnte, erfuhr er, Dr. Owen selbst habe der Redaktion die Informationen gegeben. Zur gleichen Zeit ertappte ein Naturforscher namens Hugh Falconer seinen Kollegen Owen dabei, wie er eine von Falconers Entdeckungen für sich beanspruchte. Andere warfen ihm vor, er habe sich Fundstücke ausgeliehen und dies später geleugnet. Außerdem wurde Owen in einen verbitterten Streit mit dem Zahnarzt der Königin verwickelt - hier ging es um das Erstlingsrecht für eine Theorie, die mit der Physiologie der Zähne zu tun hatte.
Ohne Zögern verfolgte er alle, die er nicht mochte. In der Frühzeit seiner Laufbahn nutzte Owen seinen Einfluss bei der Zoological Society, damit ein junger Mann namens Robert Grant ausgeschlossen wurde, der sich nur eines hatte zu Schulden kommen lassen: sich ebenfalls als viel versprechender Anatom zu erweisen. Zu seinem Erstaunen musste Grant erleben, dass ihm der Zugang zu den anatomischen Materialien verwehrt wurde, die er für seine Forschungen brauchte. Nachdem er auf diese Weise an der Fortsetzung seiner Arbeiten gehindert war, geriet er, verständlicherweise mutlos geworden, in Vergessenheit.
Aber niemand hatte so unter Owens unfreundlicher Aufmerksamkeit zu leiden wie der unglückselige Gideon Mantell, der immer stärker zur tragischen Gestalt wurde. Nachdem er seine Frau, seine Kinder, seine Arztpraxis und den größten Teil seiner Fossilsammlung verloren hatte, zog er nach London. Dort war Mantell 1841 - in dem schicksalsträchtigen Jahr, als Owen für die Benennung und Identifizierung der Dinosaurier den größten Ruhm einheimste - in einen schrecklichen Unfall verwickelt. Als er in einer Kutsche den Clapham Common überquerte, stürzte er aus irgendeinem Grund von seinem Sitz, verfing sich im Geschirr der Pferde und wurde von den panisch verängstigten Tieren im Galopp über den unebenen Boden geschleift. Nach dem Vorfall litt er an einer gebeugten Haltung, Körperbehinderungen und chronischen Schmerzen - der Schaden an der Wirbelsäule war nicht wieder gutzumachen.
Owen schlug Kapital aus Mantells geschwächtem Zustand und ging systematisch daran, die Beiträge des Konkurrenten aus den Aufzeichnungen zu tilgen. Er taufte biologische Arten um, denen Mantell schon Jahre zuvor einen Namen gegeben hatte, und beanspruchte ihre Entdeckung für sich. Mantell bemühte sich, weiterhin Forschung zu betreiben, aber Owen sorgte mit seinem Einfluss bei der Royal Society dafür, dass seine Aufsätze in den meisten Fällen abgelehnt wurden. Im Jahr 1852, als Mantell die Schmerzen und Demütigungen nicht mehr ertragen konnte, nahm er sich das Leben. Seine geschädigte Wirbelsäule wurde entnommen und an das Royal College of Surgeons geschickt, wo sie - Ironie des Schicksals - in die Obhut von Richard Owen kam, der das Hunterian Museum der Hochschule leitete.
Aber auch damit waren die Beleidigungen noch nicht zu Ende. Kurz nach Mantells Tod erschien in der Literary Gazette ein auffallend hartherziger Nachruf. Darin wurde Mantell als mittelmäßiger Anatom bezeichnet, dessen bescheidene Beiträge zur Paläontologie durch einen »Mangel an exakten Kenntnissen« eingeschränkt worden seien. Der Nachruf sprach ihm sogar die Entdeckung des Iguanodon ab und schrieb sie stattdessen Cuvier, Owen und anderen zu. Der Artikel war zwar nicht unterzeichnet, aber der Stil wies auf Owen hin, und in der wissenschaftlichen Welt zweifelte niemand daran, wer der Autor war.
Als es so weit war, holten Owens Unbotmäßigkeiten ihn aber allmählich ein. Der Niedergang begann, als ein Komitee der Royal Society - ganz zufällig war er der Vorsitzende dieses Gremiums - die Entscheidung traf, ihm die höchste Ehrung der Gesellschaft zu verleihen, die Royal Medal. Anlass war ein Aufsatz, den er über die Belemniten geschrieben hatte, eine Gruppe ausgestorbener Weichtiere. Wie Deborah Cadbury aber in Dinosaurierjäger, einer ausgezeichneten historischen Beschreibung der Epoche, schildert, basierte diese Arbeit »jedoch nicht ganz so auf eigenen Forschungsergebnissen, wie es den Anschein hatte«.25 Wie sich herausstellte, hatte ein Amateur-Naturforscher namens Channing Pearce die Belemniten schon vier Jahre früher entdeckt, und über den Fund war bei einer Tagung der Geological Society auch ausführlich berichtet worden. Owen hatte an der Tagung teilgenommen, erwähnte sie aber nicht, als er der Royal Society seinen eigenen Bericht vorlegte - und darin taufte er das Tier durchaus nicht zufällig sich selbst zu Ehren auf den Namen Belemnites owenii. Anschließend durfte er die Royal Medal zwar behalten, aber die Episode hinterließ selbst bei seinen wenigen verbliebenen Anhängern einen dauerhaften Schatten auf seinem Ruf.
Huxley gelang es schließlich, Owen das Gleiche anzutun, was dieser vielen anderen angetan hatte: Er ließ ihn aus den Vorständen der Zoological und Royal Society abwählen. Als letzte Demütigung für Owen erhielt Huxley auch die Stellung als Hunterian Professor am Royal College of Surgeons.
Wichtige Forschungsarbeiten unternahm Owen nie wieder, aber die zweite Hälfte seiner Laufbahn widmete er einer untadeligen Tätigkeit, für die wir ihm alle dankbar sein können. Er wurde 1856 Leiter der naturgeschichtlichen Abteilung des Britischen Museums, und in dieser Position wurde er zur Triebkraft bei der Schaffung des Londoner Natural History Museum. Der großartige, allgemein beliebte neugotische Bau in South Kensington wurde 1880 eröffnet und ist in erster Linie seinen Visionen zu verdanken.
Vor Owens Zeit dienten Museen fast ausschließlich den Bedürfnissen und der Erbauung der Elite, und selbst die erhielt nur unter Schwierigkeiten Zutritt. In der Anfangszeit des Britischen Museums mussten potenzielle Besucher einen schriftlichen Antrag stellen und sich einer kurzen Befragung unterziehen, in der festgestellt werden sollte, ob sie sich überhaupt für den Besuch eigneten. War diese Prüfung zur Zufriedenheit ausgefallen, mussten sie ein zweites Mal wiederkommen und sich die Eintrittskarte holen - und bei einem dritten Besuch schließlich durften sie die Schätze des Museums betrachten. Auch dabei wurden sie gruppenweise geführt, allein herumzuspazieren war nicht gestattet. Owen wollte alle einlassen, ja sogar Arbeiter sollten ermutigt werden, das Museum abends zu besuchen; die Räumlichkeiten sollten zum größten Teil für öffentliche Ausstellungen verwendet werden. Er äußerte sogar die radikale Idee, an jedem Museumsstück eine Beschriftung anzubringen, damit die Besucher einschätzen konnten, was sie eigentlich sahen. Damit brachte er sich - was vielleicht ein wenig erstaunlich ist - in Gegensatz zu T. H. Huxley, nach dessen Ansicht Museen vor allem Forschungsinstitute sein sollten. Indem Owen das Natural History Museum zu einer Einrichtung für die breite Bevölkerung machte, veränderte er unsere gesamten Vorstellungen davon, wozu Museen da sind.
Aber auch dieser allgemeine Altruismus gegenüber seinen Mitmenschen hielt Owen nicht davon ab, weiterhin persönliche Rivalitäten zu pflegen. In einer seiner letzten Amtshandlungen setzte er sich gegen den Vorschlag ein, eine Statue zur Erinnerung an Charles Darwin zu errichten. In diesem Fall schlugen seine Bemühungen fehl, aber er brachte es tatsächlich zu einem gewissen verspäteten, unbeabsichtigten Triumph. Sein Denkmal bietet heute im Treppenhaus der Haupthalle des Natural History Museum einen majestätischen Anblick, Darwin und T. H. Huxley dagegen wurden an eine unauffällige Stelle im Café des Museums abgeschoben, wo sie gewichtig auf Menschen mit Teetassen und Marmeladengebäck herabblicken.
Nun könnte man mit Fug und Recht vermuten, dass Richard Owens kleinliche Rivalitäten den Tiefpunkt in der Paläontologie des 19. Jahrhunderts darstellten, aber in Wirklichkeit sollte noch Schlimmeres nachkommen, und zwar diesmal von Übersee. In Amerika entwickelte sich in den letzten Jahrzehnten des Jahrhunderts eine Konkurrenz, die vielleicht nicht ganz so destruktiv, aber noch Aufsehen erregender und giftiger war. Die Kontrahenten waren zwei eigenwillige, erbarmungslose Männer: Edward Drinker Cope und Othniel Charles Marsh.
Die beiden hatten vieles gemeinsam. Sie waren gehässig, zielstrebig, egozentrisch, streitlustig, eifersüchtig, misstrauisch und stets unglücklich. Gemeinsam veränderten sie die Welt der Paläontologie ein für alle Mal.
Anfangs waren sie Freunde und gegenseitige Bewunderer, die sogar fossile Arten nach dem jeweils anderen benannten, und 1868 verbrachten sie eine angenehme Woche zusammen. Dann aber ging irgendetwas zwischen ihnen schief - was es war, kann niemand ganz genau sagen -, und im folgenden Jahr hatte sich eine Feindschaft entwickelt, die im Laufe der nächsten dreißig Jahre zu einem alles umfassenden Hass heranwachsen sollte. Man kann vermutlich ohne weiteres behaupten, dass nie wieder zwei Menschen in den Naturwissenschaften sich gegenseitig so verabscheuten.
Marsh, acht Jahre älter als Cope, war ein zurückhaltender Bücherwurm mit kurz gestutztem Bart und gewandtem Auftreten. Er begab sich nur selten ins Freiland, und wenn er dort war, fand er kaum etwas Bedeutsames. Als er einmal die berühmten Dinosaurierfelder von Como Bluff in Wyoming besuchte, bemerkte er nicht einmal die Knochen, die nach den Worten eines Historikers »überall herumlagen wie Baumstämme«.29 Aber er verfügte über die Mittel, um fast alles zu kaufen, was er sich wünschte. Zwar stammte er aus bescheidenen Verhältnissen - sein Vater war Bauer im Bundesstaat New York -, aber sein Onkel war der ungeheuer reiche und außergewöhnlich nachsichtige Finanzexperte George Peabody. Als Marsh ein Interesse für Naturgeschichte zeigte, ließ Peabody für ihn in Yale ein Museum bauen und stellte ihm so viele Mittel zur Verfügung, dass Marsh es mit fast allem füllen konnte, was seine Fantasie hergab.
Cope wurde unmittelbar in privilegierten Verhältnissen geboren - sein Vater war ein reicher Geschäftsmann in Philadelphia - und war der bei weitem Abenteuerlustigere der beiden. Im Sommer 1876, als George Armstrong Custer und seine Soldaten am Little Big Horn in Montana niedergemetzelt wurden, war Cope nicht weit davon entfernt auf Knochensuche. Als man ihn darauf hinwies, es sei vermutlich nicht sonderlich klug, gerade jetzt im Land der Indianer auf Schatzsuche zu gehen, dachte Cope kurz nach und entschloss sich dann, weiterzumachen. Seine Glückssträhne war einfach zu gut. Irgendwann stieß er auf eine Gruppe misstrauischer Crow-Indianer, aber die konnte er auf seine Seite ziehen, indem er mehrmals sein künstliches Gebiss herausnahm und wieder einsetzte.
Ungefähr zehn Jahre lang äußerte sich die Abneigung zwischen Marsh und Cope vor allem in Form kleiner Sticheleien, aber 1877 nahm sie heftigere Ausmaße an. In diesem Jahr fand Arthur Lakes, ein Lehrer aus Colorado, bei einer Wanderung mit einem Freund in der Nähe von Morrison mehrere Knochen. Lakes erkannte sofort, dass sie von einem »riesigen Saurier« stammten, und schickte klugerweise sowohl an Marsh als auch an Cope einige Fundstücke. Der entzückte Cope ließ Lakes hundert Dollar für seinen Aufwand zukommen und bat ihn, niemandem etwas von der Entdeckung zu sagen, insbesondere nicht Marsh. Verwirrt wandte sich Lakes nun an Marsh und bat ihn, die Knochen an Cope weiterzugeben. Marsh tat es auch, aber es war ein Affront, den er nie mehr vergessen sollte.31
Mit diesem Ereignis begann ein Krieg zwischen den beiden, der zunehmend verbittert, heimtückisch und häufig mit lächerlichen Mitteln geführt wurde. Manchmal ließen sie sich sogar so weit herab, dass die Grabungsarbeiter des einen Steine auf die des anderen warfen. Cope wurde einmal dabei ertappt, wie er sich mit dem Brecheisen an Kisten zu schaffen machte, die Marsh gehörten. Sie beleidigten einander in gedruckter Form und überhäuften die Befunde des jeweils anderen mit Hohn und Spott. Vielleicht kein zweites Mal wurde wissenschaftlicher Fortschritt so schnell und erfolgreich durch persönliche Empfindlichkeiten vorangetrieben. Während der nächsten Jahre sorgten die beiden gemeinsam dafür, dass die Zahl der bekannten Dinosaurierarten in Amerika von neun auf fast 150 wuchs. Fast jeder Dinosaurier, den ein normaler Mensch beim Namen nennen kann - Stegosaurus, Brontosaurus, Diplodocus, Triceratops - wurde entweder [1] von Cope oder von Marsh entdeckt. Leider arbeiteten aber beide in fahrlässiger Eile, und deshalb bemerkten sie häufig nicht, dass eine angeblich neue Entdeckung bereits bekannt war. Gemeinsam schafften sie es, eine Art namens Uintatherium anceps nicht weniger als 22 Mal zu »entdecken«.34 Das von ihnen angerichtete Durcheinander in der Klassifizierung zu ordnen dauerte Jahre. Manche Einteilungen sind bis heute noch nicht geklärt.
Das größere wissenschaftliche Erbe der beiden hinterließ Cope. Mit atemberaubendem Fleiß schrieb er im Laufe seiner Laufbahn ungefähr 1400 Fachaufsätze, und er beschrieb fast 1300 neue Arten von Fossilien (nicht nur Dinosaurier, sondern Lebewesen aus allen möglichen Gruppen) - in beiden Fällen mehr als doppelt so viel wie Marsh. Wahrscheinlich hätte Cope sogar noch mehr geschafft, wenn es mit ihm nicht in höherem Alter rapide bergab gegangen wäre. Er hatte 1875 ein Vermögen geerbt, das er aber unklug in Silber anlegte und völlig verlor. Am Ende wohnte er, umgeben von Büchern, Papieren und Knochen, in einem einzigen Zimmer in einer Pension in Philadelphia. Marsh dagegen beschloss sein Leben in einem prachtvollen Haus in New Haven. Cope starb 1897, Marsh zwei Jahre später.
Bei Cope entwickelte sich in seinen letzten Jahren noch eine andere interessante Leidenschaft. Er hatte ernsthaft den Wunsch, sich zum Typusexemplar des Homo sapiens erklären zu lassen - das heißt, seine Knochen sollten zum offiziellen Maßstab für die menschliche Spezies werden. Normalerweise werden die ersten Knochen, die man findet, zum Typusexemplar einer Spezies, aber da es keine ersten Knochenfunde des Homo sapiens gab, klaffte hier eine Lücke, und die wollte Cope schließen. Es war ein seltsamer, eitler Wunsch, aber niemand fand ein stichhaltiges Argument, um ihn abzulehnen. Zu diesem Zweck vermachte Cope seine Knochen dem Wistar Institute, einer Wissenschaftsinstitution in Philadelphia, die von den Nachkommen des offenbar allgegenwärtigen Caspar Wistar finanziert wurde. Aber nachdem man seine Knochen präpariert und zusammengefügt hatte, stellte sich unglücklicherweise heraus, dass sie Anzeichen einer beginnenden Syphilis erkennen ließen, und das war wohl kaum ein Merkmal, das man beim Typusexemplar der eigenen Spezies konservieren wollte. Also verschwanden Copes Testament und seine Knochen in aller Stille in den Archiven. Ein Typusexemplar für den Jetztmenschen gibt es bis heute nicht.
Wie erging es den anderen Mitspielern in dem Drama? Owen starb 1892, wenige Jahre vor Cope und Marsh. Buckland war am Ende geistesgestört und verbrachte seine letzten Tage als menschliches Wrack in einem Heim in Clapham, nicht weit von der Stelle, wo Mantell seinen entsetzlichen Unfall erlebt hatte. Mantells verbogene Wirbelsäule war fast 100 Jahre lang im Hunterian Museum ausgestellt, bevor eine deutsche Bombe sie im Zweiten Weltkrieg in gnädige Vergessenheit beförderte. Was von Mantells Sammlung nach seinem Tod noch übrig war, ging an seine Kinder; sein Sohn Walter nahm einen großen Teil davon mit nach Neuseeland, wohin er 1840 auswanderte. Walter wurde in der neuen Heimat zu einer angesehenen Persönlichkeit und übernahm schließlich das Amt des Ministers für die Angelegenheiten der Eingeborenen. Im Jahr 1865 stiftete er die schönsten Stücke aus der Sammlung seines Vaters, darunter den berühmten Iguanodonzahn, dem Colonial Museum (heute Museum of New Zealand) in Wellington, wo sie seither aufbewahrt werden. Der Iguanodonzahn, mit dem alles begann und den man durchaus als den wichtigsten Zahn der Paläontologie bezeichnen kann, ist heute allerdings nicht mehr ausgestellt.
Natürlich war die Suche nach Dinosauriern mit dem Tod der großen Dinosaurierexperten des 19. Jahrhunderts nicht zu Ende. Eigentlich hatte sie sogar gerade erst begonnen. Im Jahr 1898, dem Jahr zwischen den Todesjahren von Cope und Marsh, entdeckte man an einer Stelle namens Bone Cabin Quarry, nur wenige Kilometer von Marshs wichtigsten Fundstellen bei Como Bluff in Wyoming entfernt, einen neuen Schatz. Er war weit größer als alles, was man bis dahin gefunden hatte: In den Bergen wurden durch Verwitterung Hunderte fossiler Knochen freigelegt. Ihre Zahl war so groß, dass jemand daraus sogar eine Hütte gebaut hatte - daher der Name des Ortes. Schon in den ersten beiden Jahren wurden rund 45 Tonnen vorzeitliche Knochen ausgegraben, und weitere folgten in den nächsten sechs Jahren.
So kam es, dass die Paläontologen zu Beginn des 20. Jahrhunderts buchstäblich tonnenweise urzeitliche Knochen durchstöbern konnten. Dabei stellte sich nur das Problem, dass man immer noch keine Ahnung hatte, wie alt die Knochen eigentlich waren. Noch schlimmer war, dass das allgemein anerkannte Alter der Erde keine Erklärung für die vielen Äonen, Zeitalter und Epochen bot, die es in der Vergangenheit offensichtlich gegeben hatte. Wenn die Erde wirklich nur rund 20 Millionen Jahre alt war, wie der große Lord Kelvin steif und fest behauptete, mussten ganze Ordnungen urzeitlicher Tiere praktisch in einem erdgeschichtlichen Augenblick gekommen und wieder gegangen sein. Es erschien schlicht und einfach unsinnig.
Neben Kelvin beschäftigten sich auch andere Wissenschaftler mit der Frage, und ihre Befunde ließen die Ungewissheit nur noch wachsen. Der angesehene Geologe Samuel Haughton vom Trinity College in Dublin nannte für das Alter der Erde eine Schätzung von 2,3 Milliarden Jahren - weit mehr, als alle anderen bisher vorgeschlagen hatten. Als man ihn darauf aufmerksam machte, rechnete er auf Grund derselben Befunde noch einmal neu und gelangte zu einer Schätzung von 153 Millionen Jahren. John Joly, der ebenfalls am Trinity College arbeitete, versuchte es noch einmal mit Edmond Halleys Idee vom Salz in den Ozeanen, aber seine Methode stützte sich auf so viele falsche Voraussetzungen, dass er hoffnungslos daneben lag. Er berechnete das Alter der Erde auf 89 Millionen Jahre - ein Wert, der zwar hübsch nahe an Kelvins Annahme lag, leider aber weit von der Realität entfernt war.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war die Verwirrung perfekt: Je nachdem, in welchem Lehrbuch man nachschlug, erfuhr man für die Zahl der Jahre, die zwischen uns und den Anfängen des komplexen Lebens im Kambrium stehen, einen Wert von drei Millionen, 18 Millionen, 600 Millionen, 794 Millionen oder 2,4 Milliarden - oder irgendeine andere Zahl innerhalb dieses Spektrums. Noch 1910 lag das Alter der Erde nach einer der anerkanntesten Schätzungen - sie stammte von dem Amerikaner George Becker - bei nur 55 Millionen Jahren.
Gerade als alles hoffnungslos verworren zu sein schien, erschien eine weitere außergewöhnliche Gestalt auf der Bildfläche und brachte ein neues Verfahren mit: Ernest Rutherford, ein selbstbewusster, hochintelligenter Bauernsohn aus Neuseeland. Er legte praktisch unbestreitbare Indizien dafür vor, dass die Erde mindestens mehrere hundert Millionen Jahre alt war, vielleicht auch noch viel älter.
Mit seinen Belegen stützte er sich bemerkenswerterweise auf die Alchemie - sie war zwar natürlich, nahe liegend, wissenschaftlich glaubwürdig und ganz und gar nicht okkult, aber eben doch Alchemie. Es stellte sich heraus, dass Newton gar nicht so Unrecht gehabt hatte. Wie es im Einzelnen dazu kam - das ist eine eigene Geschichte.
7. Elemente der Materie
Häufig wird gesagt, die Chemie als ernsthafte, angesehene Wissenschaft habe ihren Anfang 1661 genommen, als Robert Boyle aus Oxford sein Werk The Sceptical Chymist herausbrachte, das zum ersten Mal zwischen Chemikern und Alchemisten unterschied. In Wirklichkeit war es ein langsamer und häufig ungeordneter Wandel. Im 18. Jahrhundert konnten Gelehrte sich seltsamerweise in beiden Lagern wohl fühlen - so wie der Deutsche Johann Becher, der mit seiner Physica Subterranea ein unvergleichliches Werk über Mineralogie schrieb, gleichzeitig aber auch überzeugt war, mit dem richtigen Ausgangsmaterial könne er sich unsichtbar machen.1
Wie eigenartig und häufig vom Zufall geprägt die chemische Wissenschaft in ihren Anfangstagen war, wird vielleicht an nichts anderem so deutlich wie an einer Entdeckung, die ein Deutscher namens Henning Brand 1675 machte. Brand war zu der Überzeugung gelangt, man könne aus menschlichem Urin irgendwie Gold destillieren. (Für diese Schlussfolgerung spielte die ähnliche Farbe offenbar durchaus eine Rolle.) Also sammelte er fünfzig Eimer mit Urin, die er monatelang in seinem Keller aufbewahrte. Mit verschiedenen geheimnisvollen Methoden machte er aus dem Urin zunächst eine stinkende Paste und dann eine durchsichtige, wachsartige Substanz. Gold kam dabei natürlich nicht heraus, aber es ereignete sich etwas Eigenartiges und höchst Interessantes. Die Substanz begann nach einiger Zeit zu leuchten. Und wenn sie mit Luft in Berührung kam, fing sie häufig von selbst Feuer.
Geschäftstüchtigen Zeitgenossen entging natürlich nicht, welche kommerziellen Möglichkeiten in der Substanz steckten, die nach den griechischen und lateinischen Wortbestandteilen für »Lichtträger« schon bald als Phosphor bezeichnet wurde, aber die Herstellung war so schwierig, dass sich die Nutzung nicht lohnte. Eine Unze Phosphor wurde für sechs Guineas verkauft - in heutiger Währung knapp 600 Euro - und war damit teurer als Gold.2
Zur Gewinnung des Rohstoffs griff man zunächst auf Soldaten zurück, aber für die industrielle Produktion waren sie sicher keine geeignete Quelle. In den fünfziger Jahren des 18. Jahrhunderts entwickelte der schwedische Chemiker Karl Scheele ein Verfahren, mit dem sich Phosphor in großen Mengen und ohne den Schmutz und Gestank von Urin herstellen ließ. Vor allem wegen dieser Errungenschaft wurde Schweden damals zu einem führenden Herstellungsland für Streichhölzer und ist es bis heute geblieben.
Scheele war ein außergewöhnlicher, aber auch außergewöhnlich glückloser Mann. Obwohl er nur ein armer Apotheker war und kaum über hoch entwickelte Apparate verfügte, entdeckte er acht Elemente - Chlor, Fluor, Mangan, Barium, Molybdän, Wolfram, Stickstoff und Sauerstoff-, aber keine dieser Leistungen wurde ihm angerechnet. In allen Fällen wurden seine Befunde entweder übersehen oder erst dann publiziert, als ein anderer unabhängig die gleiche Entdeckung gemacht hatte. Außerdem stieß er auf viele nützliche Verbindungen, so auf Ammoniak, Glyzerin und Gerbsäure, und er erkannte als Erster die kommerziellen Möglichkeiten, die im Chlor als Bleichmittel steckten -alles bahnbrechende Befunde, mit denen andere sehr reich wurden.
Scheele hatte nur eine nennenswerte Schwäche: Er bestand darauf, den Geschmack aller Substanzen festzustellen, mit denen er arbeitete, darunter so berüchtigte, unangenehme Stoffe wie Quecksilber und Blausäure (ebenfalls eine seiner Entdeckungen), eine Verbindung von so berühmt starker Giftwirkung, dass Erwin Schrödinger sie 150 Jahre später als geeignetes Gift für ein berühmtes Gedankenexperiment wählte (siehe Seite 190). Scheeles Unbesonnenheit wurde ihm schließlich zum Verhängnis. Im Jahr 1786 - er war erst 43 Jahre alt - fand man ihn tot an seinem Arbeitstisch auf, umgeben von verschiedenen giftigen Chemikalien, von denen jede einzelne die Ursache für den verblüfften, endzeitlichen Ausdruck auf seinem Gesicht sein konnte.
Wenn andere Menschen gerecht wären und Schwedisch sprächen, wäre Scheele allgemeiner Beifall sicher gewesen. So aber ging das Verdienst zum größten Teil an berühmtere Chemiker, die meisten von ihnen aus angelsächsischen Ländern. Scheele entdeckte 1772 den Sauerstoff, aber aus verschiedenen herzzerreißend komplizierten Gründen konnte er seinen Aufsatz nicht rechtzeitig veröffentlichen. Stattdessen wurde die Entdeckung Joseph Priestley zuerkannt, der das gleiche Element unabhängig von Scheele ebenfalls gefunden hatte, allerdings erst im Sommer 1774, also viel später. Noch bemerkenswerter war, dass dem Schweden auch das Verdienst für die Entdeckung des Chlors versagt blieb. Fast alle Lehrbücher schreiben sie auch heute noch Humphry Davy zu, der das Gas tatsächlich fand, allerdings erst 36 Jahre später.
In dem Jahrhundert, das Newton und Boyle von Scheele, Priestley und Henry Cavendish trennte, war die Chemie weit vorangekommen, aber ein langer Weg lag auch noch vor ihr. Bis in die letzten Jahre des 18. Jahrhunderts (und was Priestley anging, auch noch ein wenig darüber hinaus) suchten die Wissenschaftler überall nach Dingen, die es nicht gab, und manchmal glaubten sie sogar, sie hätten tatsächlich etwas gefunden: vergiftete Lüfte, phlogiston-freie Meeressäuren, Phloxine, Ausdünstungen der Erde und vor allem das Phlogiston, eine Substanz, die das aktive Prinzip der Verbrennung sein sollte. Und irgendwo zwischen alledem, so glaubte man, lag der geheimnisvolle élan vital, die Kraft, die unbelebte Gegenstände zum Leben erweckt. Wo man diese rätselhafte Essenz suchen sollte, wusste niemand genau, aber zweierlei erschien plausibel: dass man sie mit einem elektrischen Schlag zum Leben erwecken kann (eine Vorstellung, die Mary Shelley in ihrem Roman Frankenstein sehr wirkungsvoll ausnutzte) und dass sie in manchen Substanzen enthalten ist, in anderen aber nicht, sodass sich zwei Zweige der Chemie ergaben - die organische (mit den Stoffen, in denen die Lebenskraft enthalten sein sollte) und die anorganische (mit allen anderen).4
Um die Chemie in die Neuzeit zu führen, war eine Gestalt mit neuen Einsichten notwendig, und die kam aus Frankreich. Sein Name war Antoine-Laurent Lavoisier. Er wurde 1743 geboren und gehörte dem niederen Adel an (sein Vater hatte für die Familie einen Titel gekauft). Im Jahr 1768 erwarb er einen Gewinn bringenden Anteil an der so genannten Ferme Générale ( »Generalfarm« ), einer zutiefst verhassten Institution, die im Namen der Regierung Steuern und Abgaben einzog. Lavoisier selbst war zwar allen Berichten zufolge nachsichtig und gerecht, aber die Organisation, für die er arbeitete, hatte keine dieser Eigenschaften: Sie belegte nicht die Reichen, sondern nur die Armen mit Steuern, und das oft sehr willkürlich. Für Lavoisier hatte die Institution ihren Reiz, weil sie ihm die finanziellen Mittel verschaffte, mit denen er seiner wichtigsten Leidenschaft nachgehen konnte: der Wissenschaft. Seine persönlichen Einnahmen erreichten auf dem Höhepunkt 150000 Livres im Jahr - nach heutiger Währung wohl um die 25 Millionen Euro.5
Drei Jahre nachdem er diese lukrative Berufslaufbahn eingeschlagen hatte, heiratete er die 14-jährige Tochter eines Vorgesetzten.6 In dieser Ehe hatten sich zwei Geistes- und Seelenverwandte gefunden. Madame Lavoisier war von überragender Intelligenz und arbeitete schon bald produktiv mit ihrem Mann zusammen. Trotz seiner beruflichen Belastung und zahlreicher gesellschaftlicher Verpflichtungen gelang es ihnen an den meisten Tagen, sich fünf Stunden lang der Wissenschaft zu widmen - zwei am frühen Morgen und drei am Abend, sowie den ganzen Sonntag, den sie als ihren jour de bonheur (Tag des Glücks) bezeichneten. Irgendwie fand Lavoisier auch noch die Zeit, die Schießpulvervorräte zu verwalten, den Bau einer Mauer rund um Paris zur Abwehr von Schmugglern zu beaufsichtigen, bei der Entwicklung des metrischen Systems mitzuwirken und als Mitverfasser des Handbuches Méthode de Nomenclature Chimique tätig zu werden, das geradezu den Rang einer Bibel hatte, als man sich auf die Namen der Elemente einigen musste.
Als führendes Mitglied der Académie Royale des Sciences wurde auch von ihm erwartet, dass er ein begründetes, aktives Interesse an allen aktuellen Themen zeigte - an Hypnose, der Gefängnisreform, der Atmung der Insekten, der Wasserversorgung von Paris. Bis 1780 war Lavoisier zu einer derart angesehenen Persönlichkeit geworden, dass er sich einige abfällige Bemerkungen über eine neue Theorie der Verbrennung gestattete, die ein hoffnungsvoller junger Wissenschaftler der Akademie vorgelegt hatte. Die Theorie war tatsächlich falsch, aber der Wissenschaftler vergab ihm nie mehr. Sein Name war Jean-Paul Marat.
Nur eines entdeckte Lavoisier nie: ein neues Element. Zu einer Zeit, als scheinbar jeder mit einem Glaskolben, ein wenig Feuer und ein paar interessanten Pulvern auf etwas Neues stoßen konnte - und als bezeichnenderweise zwei Drittel der Elemente noch nicht entdeckt waren -, fand Lavoisier kein einziges.9 Das lag sicherlich nicht daran, dass es ihm an Glaskolben gemangelt hätte. In seinem Privatlabor, das in einem fast absurden Ausmaß das Beste seiner Zeit war, besaß Lavoisier 13000 solcher Gefäße.
Stattdessen ging er von den Entdeckungen anderer aus und erkannte, welchen Sinn sie hatten. Er verwarf das Phlogiston und die üblen Lüfte. In Sauerstoff und Wasserstoff erkannte er das, was sie wirklich sind, und gab ihnen ihre heutigen Namen. Kurz gesagt, führte er wissenschaftliche Strenge, Klarheit und Methodik in die Chemie ein.
Dabei kam ihm seine raffinierte Ausrüstung tatsächlich sehr zugute. Jahrelang hatten er und Madame Lavoisier äußerst genaue Untersuchungen angestellt, die sehr exakte Messungen erforderten. So stellten sie beispielsweise fest, dass ein rostender Metallgegenstand nicht leichter wird, wie man bis dahin stets angenommen hatte, sondern dass sein Gewicht zunimmt - eine ungewöhnliche Entdeckung. Wenn der Gegenstand rostete, zog er also irgendwie die Teilchen eines Elements aus der Luft an. Damit war zum ersten Mal klar, dass Materie sich zwar umwandeln, aber nicht verschwinden kann. Wenn wir dieses Buch jetzt verbrennen, verwandelt sich seine Materie in Asche und Rauch, aber die Gesamtmenge des Materials im Universum bleibt gleich. Dieses so genannte Masseerhaltungsgesetz war völlig revolutionär. Leider fiel es aber zeitlich mit einer anderen Revolution - der Französischen - zusammen, und dieses eine Mal stand Lavoisier völlig auf der falschen Seite.
Er gehörte nicht nur der verhassten Ferme Générale an, sondern er hatte auch begeistert die Mauer gebaut, die Paris einschloss - ein so übel beleumundetes Bauwerk, dass es von den aufständischen Bürgern als Erstes angegriffen wurde. Im Jahr 1791 schlug Marat, jetzt eine Führungsgestalt in der Nationalversammlung, daraus Kapital: Er denunzierte Lavoisier und erklärte, dessen Tod am Galgen sei überfällig. Wenig später wurde die Ferme Générale aufgelöst. Nicht lange danach wurde Marat in der Badewanne von einer verbitterten jungen Frau namens Charlotte Corday ermordet, aber da war es für Lavoisier schon zu spät.
Im Jahr 1793 legte die ohnehin bereits heftige Schreckensherrschaft noch einmal einen Gang zu. Im Oktober schickte man Marie Antoinette auf die Guillotine. Im folgenden Monat - Lavoisier und seine Frau schmiedeten gerade sehr verspätete Pläne, sich nach Schottland abzusetzen - wurde der Chemiker festgenommen. Im Mai stellte man ihn und 31 Kollegen aus der Ferme Générale vor das Revolutionsgericht (über dessen Gerichtssaal eine Büste von Marat thronte). Acht Angeklagte wurden freigesprochen, aber Lavoisier und die anderen brachte man sofort zur Place de la Revolution (der heutigen Place de la Concorde), wo die meistbeschäftigte französische Guillotine stand. Lavoisier musste zusehen, wie sein Schwiegervater enthauptet wurde, dann stieg er selbst nach oben und ergab sich seinem Schicksal. Noch nicht einmal drei Monate später, am 27. Juli, wurde auch Robespierre auf die gleiche Weise und am gleichen Ort beseitigt, und die Schreckensherrschaft nahm ein schnelles Ende.
100 Jahre nach seinem Tod errichtete man Lavoisier in Paris ein Denkmal, das vielfach bewundert wurde, bis irgendjemand darauf hinwies, dass es ihm überhaupt nicht ähnlich sah. Auf Nachfragen räumte der Bildhauer ein, er habe den Kopf des Mathematikers und Philosophen Marquis de Condorcet verwendet - den er offenbar noch auf Vorrat hatte - und dabei gehofft, es werde niemand bemerken, oder wenn es jemand bemerkte, werde es ihn nicht kümmern. In dem zweiten Punkt behielt er Recht. Die Statue des Lavoisier-Condorcet-Zwitters durfte noch ein weiteres halbes Jahrhundert stehen bleiben. Erst im Zweiten Weltkrieg wurde sie eines Morgens abgeholt und als Alteisen eingeschmolzen.10
Anfang des 19. Jahrhunderts kam in England die Mode auf, Stickoxid (Lachgas) zu inhalieren, nachdem man entdeckt hatte, dass dies »von einem höchst angenehmen Gefühl« begleitet war.11 Während der nächsten 50 Jahre war es unter jungen Menschen die Modedroge. Auch eine wissenschaftliche Gesellschaft, die Askesian Society, beschäftigte sich eine Zeit lang mit kaum etwas anderem.
Die Theater veranstalteten »Lachgasabende«, bei denen Freiwillige sich mit einem kräftigen Zug des Gases erfrischen konnten und zur Belustigung des Publikums herumtorkelten.
Erst 1846 gelang es jemandem, eine praktische Anwendung für das Stickoxid zu finden: als Narkosemittel. Niemand kann sagen, wie viele zigtausend Menschen unter dem Messer der Chirurgen unnötig Schmerzen litten, weil niemand an die nahe liegendste praktische Anwendung des Gases gedacht hatte.
Mit diesem Beispiel möchte ich deutlich machen, dass die Chemie, die im 18. Jahrhundert so weit vorangekommen war, in den ersten Jahrzehnten des 19. viel von ihrem Einfluss verlor, ganz ähnlich, wie es der Geologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts erging.
Teilweise hatte dies mit der beschränkten Ausrüstung zu tun - so gab es beispielsweise bis zur zweiten Hälfte des Jahrhunderts keine Zentrifugen, was für viele Experimente eine schwerwiegende Einschränkung darstellte -, es hatte aber auch gesellschaftliche Gründe. Chemie galt ganz allgemein als Wissenschaft für Geschäftsleute, für jene, die mit Kohle, Pottasche und Farbstoffen arbeiteten; wahre Gentlemen dagegen fühlten sich eher zu Geologie, Naturgeschichte und Physik hingezogen. (Auf dem europäischen Festland galt das etwas - aber nur etwas -weniger als in Großbritannien.) Aufschlussreich ist vielleicht, dass eine der wichtigsten Entdeckungen des Jahrhunderts, die Brown’sche Bewegung, mit der die Beweglichkeit der Moleküle nachgewiesen wurde, nicht von einem Chemiker stammte, sondern von dem schottischen Botaniker Robert Brown. (Brown beobachtete 1827, dass winzige, im Wasser schwebende Pollenkörner unendlich lange in Bewegung blieben, ganz gleich, wie viel Zeit er ihnen ließ, um zur Ruhe zu kommen. Die Ursache dieser ständigen Bewegung - sie entsteht durch die Wirkung unsichtbarer Moleküle - war lange ein Rätsel.13)
Alles wäre vielleicht noch viel schlimmer gekommen, hätte es nicht die Ausnahmegestalt des Grafen von Rumford gegeben. Anders als sein großartiger Titel vermuten lässt, wurde er 1753 in Woburn in Massachusetts schlicht als Benjamin Thompson geboren. Er war von Anfang an energisch und ehrgeizig, »hübsch in Gesicht und Körperbau«, gelegentlich wagemutig und höchst intelligent, aber völlig unbeeinflusst von Skrupeln und ähnlichen unbequemen Dingen. Mit 19 heiratete er eine 14 Jahre ältere reiche Witwe, aber als in den Kolonien die Revolution ausbrach, schlug er sich unklugerweise auf die Seite der Loyalen, für die er eine Zeit lang spionierte. Als er im Schicksalsjahr 1776 »wegen lauwarmer Einstellungen in Sachen Freiheit« 14 festgenommen werden sollte, verließ er Frau und Kind und flüchtete vor einem königsfeindlichen Mob, der mit Eimern voll heißem Teer und Säcken voller Federn hinter ihm her war, um ihn allen Ernstes damit zu schmücken.
Thompson entkam zunächst nach England und dann nach Deutschland, wo er bei der bayerischen Regierung als Militärberater tätig war. Dort beeindruckte er die Behörden so, dass man ihn 1791 zum Grafen von Rumford des Heiligen Römischen Reiches ernannte. In München plante und baute er auch den berühmten Englischen Garten.
Zwischen allen diesen Unternehmungen fand er noch die Zeit, eine ganze Menge handfeste Wissenschaft zu betreiben. Er wurde zur weltweit führenden Autorität für Thermodynamik und klärte als Erster die Gesetzmäßigkeiten der Konvektion von Flüssigkeiten und des Kreislaufs der Meeresströmungen auf.
Außerdem erfand er mehrere nützliche Gegenstände, darunter eine Kaffeemaschine, Kälteschutzunterwäsche und eine Art von Feuerstellen, die noch heute als Rumford-Kamine bekannt sind. Im Jahre 1805, während eines Frankreichurlaubs, machte er Madame Lavoisier den Hof, der Witwe von Antoine-Laurent, die er schließlich auch heiratete. Es war aber keine glückliche Ehe, und sie trennten sich bald darauf. Rumford blieb in Frankreich, und als er dort 1814 starb, stand er bei allen außer seinen früheren Ehefrauen in hohem Ansehen.
Dass wir ihn hier erwähnen, hat aber einen anderen Grund: 1799, während eines relativ kurzen Zwischenspiels in London, gründete er die Royal Institution, eine der vielen wissenschaftlichen Gesellschaften, die Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts überall in Großbritannien entstanden. Eine Zeit lang war sie nahezu die einzige angesehene Organisation, die aktiv die junge Wissenschaft der Chemie unterstützte, und das war fast ausschließlich einem hochintelligenten jungen Mann namens Humphry Davy zu verdanken, der kurz nach der Gründung der Gesellschaft zu ihrem Chemieprofessor ernannt wurde und mit seinen hervorragenden Vorträgen wie auch mit produktiven Experimenten schnell zu Ruhm und Ansehen gelangte.
Kurz nachdem Davy seine Stelle angetreten hatte, stellte er ein neues Element nach dem anderen vor: Kalium, Natrium, Magnesium, Calcium, Strontium und Aluminium. Dass er so viele neue Elemente entdeckte, lag weniger an seiner wirklich großen Klugheit als vielmehr an einer von ihm entwickelten, genialen Methode, elektrischen Strom auf eine geschmolzene Substanz einwirken zu lassen - die Chemiker sprechen von Elektrolyse. Insgesamt fand er ein Dutzend Elemente, ein Fünftel der zu seiner Zeit bekannten Gesamtzahl. Davy hätte noch weit mehr schaffen können, aber leider entwickelte sich bei ihm schon in jungen Jahren ein hartnäckiger Hang zu den flüchtigen Freuden des Stickoxids. Er wurde von dem Gas derart abhängig, dass er es sich (ganz buchstäblich) drei- oder viermal am Tag »reinzog«. 1829 kam er vermutlich aus diesem Grund ums Leben.
Glücklicherweise waren anderswo aber auch nüchternere Charaktere am Werk. Der mürrische Quäker John Dalton erklärte 1808 zum ersten Mal, was ein Atom ist (ein Fortschritt, mit dem wir uns in Kürze noch ausführlicher befassen werden), und 1811 machte ein Italiener mit dem wohlklingenden Namen Lorenzo Romano Amadeo Carlo Avogadro, Graf von Quarequa und Cerreto, eine Entdeckung, die sich auf lange Sicht als höchst bedeutungsvoll erweisen sollte: Zwei gleiche Volumina beliebiger Gase, die den gleichen Druck und die gleiche Temperatur haben, enthalten stets die gleiche Anzahl von Molekülen.
An dem Avogadro-Prinzip, wie es schon bald genannt wurde, ist zweierlei bemerkenswert. Erstens bot es eine Grundlage, auf der man Größe und Gewicht von Atomen genauer bestimmen konnte. Mit Hilfe von Avogadros Berechnungen konnten die Chemiker schließlich unter anderem herausfinden, dass ein typisches Atom einen Durchmesser von 0,00000008 Zentimetern hat und damit wirklich sehr klein ist.15 Und zweitens wusste fast 50 Jahre lang so gut wie niemand etwas von Avogadros erfreulich * einfachem Prinzip.
Unter anderem lag das daran, dass Avogadro selbst ein zurückhaltender Mensch war - er arbeitete allein, korrespondierte kaum mit Wissenschaftlerkollegen, veröffentlichte nur wenige Aufsätze und besuchte keine Tagungen. Darüber hinaus gab es aber auch keine Tagungen, an denen er hätte teilnehmen können, und nur wenige chemische Fachzeitschriften für Veröffentlichungen. Das ist recht bemerkenswert. Die Industrielle Revolution wurde in erheblichem Umfang durch die Entwicklung der Chemie vorangetrieben, und doch gab es jahrzehntelang kaum eine organisierte chemische Wissenschaft.
Die Londoner Chemical Society wurde erst 1841 gegründet und gab seit 1848 regelmäßig eine Zeitschrift heraus; zu dieser Zeit waren die meisten anderen Wissenschaftsgesellschaften in Großbritannien - die Geological, Geographical, Zoological, Horticultural und Linnean Society (die beiden letzten für Naturforscher und Botaniker) - schon mindestens 20 Jahre alt, in vielen Fällen aber auch viel älter. Das konkurrierende Institute of Chemistry entstand sogar erst 1877, ein Jahr nach der Gründung der American Chemical Society. Da die Organisation in der Chemie so langsam voranschritt, wurde die Nachricht über Avogadros bahnbrechende Entdeckung von 1811 erst auf dem ersten internationalen Chemikerkongress, der 1860 in Karlsruhe stattfand, allgemein bekannt gemacht.
Da die Chemiker so lange isoliert gearbeitet hatten, kristallisierten sich auch erst allmählich anerkannte Konventionen heraus. Noch bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts bedeutete die Formel H2O2 für manche Chemiker Wasser, für andere aber Wasserstoffperoxid, und C2H4 konnte entweder für Ethylen oder für Sumpfgas stehen. Es gab kaum ein Molekül, das überall die gleiche Bezeichnung trug.
Ebenso verwendeten die Chemiker eine verwirrende Vielfalt von Symbolen und Abkürzungen, viele davon eigene Erfindungen. Für die dringend notwendige Ordnung sorgte der Schwede J. J. Berzelius mit der Vorschrift, man solle die Elemente mit Abkürzungen auf Grundlage ihrer griechischen oder lateinischen Namen bezeichnen. Das ist der Grund, warum Eisen die chemische Bezeichnung Fe trägt (vom lateinischen ferrum) und warum Silber Ag heißt (vom lateinischen argentum). Dass viele andere Abkürzungen auch mit den englischen Namen der Elemente übereinstimmen - N für nitrogen (Stickstoff), O für oxygen (Sauerstoff), H für hydrogen (Wasserstoff) - liegt nicht daran, dass das Englische damals schon eine Sonderstellung eingenommen hätte, sondern nur an seinen lateinischen Wurzeln. Um die Zahl der Atome in einem Molekül anzugeben, verwendete Berzelius eine hochgestellte Zahl (zum Beispiel H O). Später wurde es ohne besonderen Grund üblich, tiefgestellte Zahlen zu schreiben: H2O.16
Aber trotz solcher Versuche, Ordnung zu schaffen, herrschte in der Chemie während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein ziemliches Durcheinander. Deshalb waren alle hocherfreut, als 1869 ein eigenwilliger, verschroben aussehender Professor der Universität von St. Petersburg berühmt wurde. Sein Name: Dmitrij Iwanowitsch Mendelejew.
Mendelejew wurde 1834 in Tobolsk im äußersten Westen Sibiriens als Sohn einer gebildeten, einigermaßen wohlhabenden und sehr großen Familie geboren - sie war so groß, dass die Geschichtsforschung den Überblick darüber verloren hat, wie viele Mendelejews es eigentlich gab: Manche Quellen berichten von 14 Kindern, andere von 17. Immerhin sind sich aber alle einig, dass Dmitrij der Jüngste war. Das Glück war der Familie nicht immer hold. Schon als Dmitrij noch ein kleiner Junge war, erblindete sein Vater, der den Posten des Dorfschulmeisters bekleidete, und seine Mutter musste arbeiten gehen. Sie war sicher eine außergewöhnliche Frau und leitete schließlich eine profitable Glasfabrik. Bis 1848 ging alles gut, aber dann brannte die Fabrik ab, und in der Familie zog Armut ein. Dennoch war Mutter Mendelejew entschlossen, ihrem Jüngsten eine gute Ausbildung zu ermöglichen, und so schlug sie sich mit dem kleinen Dmitrij 6500 Kilometer weit nach St. Petersburg durch -das entspricht der Entfernung von London nach Äquatorialguinea. Dort brachte sie ihn am pädagogischen Institut unter. Durch die Anstrengung erschöpft, starb sie wenig später.
Mendelejew schloss pflichtschuldigst sein Studium ab und erhielt schließlich eine Stelle an der Universität der Stadt. Dort arbeitete er als fähiger, aber nicht sonderlich hervorragender Chemiker. Bekannt war er weniger wegen seiner wissenschaftlichen Begabung als vielmehr wegen seines wilden Haar- und Bartwuchses, den er nur einmal im Jahr stutzen ließ.
Im Jahr 1869 jedoch, mit 35 Jahren, machte er sich eingehend Gedanken darüber, wie man die Elemente anordnen kann. Zu jener Zeit gab es zwei verbreitete Methoden, die Elemente einzuteilen: entweder nach dem Atomgewicht (wobei man das Avogadro-Prinzip anwandte) oder auf Grund gemeinsamer Eigenschaften (beispielsweise je nachdem, ob es sich um Metalle oder Gase handelte). Mendelejews bahnbrechende Errungenschaft war die Erkenntnis, dass man beide Prinzipien in einer einzigen Tabelle vereinigen kann.
Wie so oft in der Wissenschaft, so wurde auch dieses Prinzip eigentlich schon vorweggenommen: Wie der englische Amateurwissenschaftler John Newlands drei Jahre zuvor deutlich gemacht hatte, wiederholen sich bestimmte Eigenschaften der Elemente in jeder achten Position, wenn man sie nach ihrem Atomgewicht anordnet - es ergibt sich also eine gewisse Harmonie. Newlands gab diesem Prinzip, dessen Zeit noch nicht gekommen war, den nicht ganz klugen Namen »Oktavengesetz« in Anlehnung an die Anordnung der Oktaven auf einer Klaviertastatur.19 Vielleicht lag es an Newlands’ Darstellung - jedenfalls galt die Idee grundsätzlich als lächerlich, und man machte sich allgemein darüber lustig. Auf Tagungen wurde er von humoristisch veranlagten Zuhörern gefragt, ob seine Elemente nicht eine kleine Melodie spielen könnten. Newland gab entmutigt auf, vertrat seine Idee nicht weiter und verschwand kurz darauf völlig von der Bildfläche.
Mendelejew ging ein wenig anders vor: Er ordnete die Elemente in Siebenergruppen an, hielt sich dabei aber im Wesentlichen an das gleiche Prinzip. Plötzlich schien es eine ausgezeichnete, wunderbar nahe liegende Idee zu sein. Da die Eigenschaften sich periodisch wiederholen, wurde seine Erfindung unter dem Namen Periodensystem bekannt.
Angeregt wurde Mendelejew angeblich durch das Kartenspiel, das allgemein unter dem Namen Patience bekannt ist. Darin ordnet man die Karten waagerecht nach der Farbe und senkrecht nach der Zahl an. Nach einem entfernt ähnlichen System stellte er die Elemente in waagerechten Reihen zusammen, die er als Perioden bezeichnete, und in senkrechten Spalten, die er Gruppen nannte. Dabei zeigten sich sofort zwei Verwandtschaftsbeziehungen: die eine, wenn man von oben nach unten las, die andere von rechts nach links. Kupfer steht über dem Silber, und Silber steht über dem Gold, weil alle drei als Metalle chemisch verwandt sind; Helium, Neon und Argon dagegen stehen als Gase in einer anderen senkrechten Spalte. (Fachlich korrekt müsste man sagen: Die Anordnung erfolgt auf Grund der Elektronenvalenzen, aber wer das verstehen will, muss sich bei der Abendschule einschreiben.) Die waagerechten Reihen dagegen enthalten die Elemente in aufsteigender Reihenfolge nach der Zahl der Protonen in ihren Atomkernen, das heißt nach ihrer so genannten Ordnungszahl.
Auf den Aufbau der Atome und die Bedeutung der Protonen werden wir in einem späteren Kapitel zu sprechen kommen; vorerst reicht es, wenn wir das Ordnungsprinzip verstehen: Ein Wasserstoffatom enthält nur ein Proton, hat deshalb die Ordnungszahl l und steht in der Tabelle an erster Stelle; das Uran mit seinen 92 Protonen ist fast am Ende angesiedelt und trägt die Ordnungszahl 92. In diesem Sinn ist Chemie, wie Philip Ball deutlich gemacht hat, wirklich nur eine Frage des Zählens. (Nebenbei bemerkt: Die Ordnungszahl ist nicht mit dem Atomgewicht zu verwechseln, das die Gesamtzahl der Protonen und Neutronen in den Atomen eines Elements angibt.) Immer noch gab es vieles, was man nicht wusste oder verstand. Der Wasserstoff ist im Universum das häufigste Element, und doch hatte noch weitere 30 Jahre niemand eine Ahnung, dass es ihn gab. Helium, das zweithäufigste Element, war erst im Jahr vorher entdeckt worden - über seine Existenz hatte man zuvor nicht einmal Vermutungen angestellt -, und das nicht auf der Erde, sondern auf der Sonne. Dort hatte man es während einer Sonnenfinsternis mit dem Spektroskop nachgewiesen, und deshalb erinnert sein Name an den griechischen Sonnengott Helios. In reiner Form dargestellt wurde es erst 1895. Aber immerhin: Dank Mendelejews Erfindung stand die Chemie jetzt auf einem sicheren Fundament.
Für die meisten Menschen ist das Periodensystem im abstrakten Sinn etwas Schönes, aber für Chemiker brachte es sofort eine Ordnung und Klarheit mit sich, die man gar nicht hoch genug einschätzen kann. »Das Periodensystem der chemischen Elemente ist zweifellos das eleganteste Ordnungsdiagramm, das jemals entwickelt wurde«, schrieb Robert E. Krebs in seinem Buch The History and Use of Our Earth’s Chemical Elements, und ähnliche Einschätzungen findet man in praktisch allen heutigen Büchern über die Geschichte der Chemie.
Heute kennen wir »ungefähr 120« Elemente22; 92 davon kommen in der Natur vor, ein paar Dutzend weitere wurden im Labor erzeugt. Die wirkliche Zahl ist ein wenig umstritten, denn die schweren, synthetisch hergestellten Elemente existieren nur wenige Millionstelsekunden, und in manchen Fällen streiten die Chemiker darüber, ob sie nun wirklich nachgewiesen wurden oder nicht. Zu Mendelejews Zeit kannte man erst 63 Elemente, und seine Klugheit bestand unter anderem in der Erkenntnis, dass die Elemente, über die man damals Bescheid wusste, nicht das vollständige Bild ausmachten, sondern dass noch viele Puzzlesteine fehlten. Seine Tabelle sagte erfreulich genau voraus, wo neue Elemente einzuordnen waren, wenn man sie entdeckte.
Übrigens weiß niemand genau, wie hoch die Zahl der Elemente noch steigen kann: Alles, was über das Atomgewicht 168 hinausgeht, gilt als »reine Spekulation«. Aber was man auch findet, es wird mit Sicherheit fein säuberlich in Mendelejews großes Schema passen.
Eine letzte große Überraschung hielt das 19. Jahrhundert noch für die Chemiker bereit. Es begann 1896, als Henri Becquerel in Paris ein Paket mit Uransalzen in einer Schublade achtlos auf eine eingepackte Fotoplatte legte. Als er die Platte einige Zeit später herausnahm, musste er zu seiner Überraschung feststellen, dass das Salz darauf eine Schwärzung hinterlassen hatte, ganz als ob man die Platte dem Licht ausgesetzt hätte. Die Salze gaben also irgendeine Art von Strahlung ab.
Nachdem Becquerel über die Bedeutung seiner Beobachtung nachgedacht hatte, tat er etwas sehr Seltsames: Er übergab das Thema zur weiteren Untersuchung an eine Doktorandin. Glücklicherweise handelte es sich bei der Studentin um die kürzlich nach Frankreich ausgewanderte Polin Marie Curie. In Zusammenarbeit mit ihrem Mann Pierre, den sie kurz zuvor geheiratet hatte, stellte sie fest, dass bestimmte Gesteinstypen ständig ungewöhnlich große Energiemengen abstrahlen, ohne dass sich ihre Größe oder sonst eine erkennbare Eigenschaft verändert. Was die Curies nicht wissen konnten - und was niemand wusste, bevor Einstein es im darauf folgenden Jahrzehnt erklärte: In dem Gestein verwandelte sich Masse auf äußerst effiziente Weise in Energie. Marie Curie taufte das Phänomen auf den Namen »Radioaktivität«. Im Laufe ihrer Arbeiten fanden die Curies auch zwei neue Elemente: das Polonium, das sie nach ihrem Heimatland benannten, und das Radium. Im Jahr 1903 erhielt das Ehepaar Curie zusammen mit Becquerel den Nobelpreis für Physik. (Marie Curie erhielt 1911 noch einen zweiten Nobelpreis, dieses Mal in Chemie; damit war sie die Einzige, die jemals mit den Preisen für Chemie und Physik ausgezeichnet wurde.)
An der McGill University in Montreal interessierte sich jetzt der junge, in Neuseeland geborene Ernest Rutherford für die neuen radioaktiven Substanzen. Mit seinem Kollegen Frederick Soddy entdeckte er, dass in diesen kleinen Materiemengen gewaltige Energiereserven gebunden sind und dass der radioaktive Zerfall dieser Reserven die Wärme der Erde zum größten Teil erklären kann. Außerdem fanden sie heraus, dass die radioaktiven Elemente sich bei ihrem Zerfall in andere Elemente verwandeln - ein Uranatom kann beispielsweise am nächsten Tag zu einem Bleiatom geworden sein. Das war eine wahrhaft außergewöhnliche Entdeckung. Es war schlicht und einfach Alchemie; niemand hätte sich je träumen lassen, dass so etwas ganz natürlich und von selbst stattfinden kann.
Der stets pragmatische Rutherford erkannte als Erster, dass in alledem wertvolle praktische Anwendungsmöglichkeiten steckten. Ihm fiel auf, dass immer die gleiche Zeit - die berühmte Halbwertszeit - verstreicht, bis eine bestimmten Probe radioaktiven Materials zur Hälfte zerfallen ist, und dass man diese konstante, zuverlässige Zerfallsgeschwindigkeit als Uhr benutzen kann. Wenn man weiß, wie viel Strahlung das Material heute abgibt und wie schnell es zerfällt, kann man zurückrechnen und so sein Alter bestimmen. Er untersuchte ein Stück Pechblende (das wichtigste Uranerz) und gelangte zu einem Alter von 700 Millionen Jahren -weit mehr, als die meisten seiner Zeitgenossen der Erde als Lebensdauer zugestehen mochten.
Im Frühjahr 1904 reiste Rutherford nach London und hielt einen Vortrag bei der Royal Institution, jener altehrwürdigen Organisation, die der Graf von Rumford 105 Jahre zuvor gegründet hatte, in einer Puder- und Perückenzeit, die jetzt im Vergleich zur hemdsärmeligen Deftigkeit der späten viktorianischen Ära unendlich weit entfernt schien. Rutherford sollte über seine neue Theorie des radioaktiven Zerfalls berichten, und dazu brachte er auch ein Stück Pechblende mit. Taktvoll - der betagte Kelvin war anwesend, allerdings nicht immer ganz wach -bemerkte Rutherford, Kelvin selbst habe gesagt, dass die Entdeckung einer neuen Wärmequelle seine Berechnungen über den Haufen werfen würde. Diese neue Quelle hatte Rutherford gefunden. Dank der Radioaktivität konnte die Erde viel älter sein als die 24 Millionen Jahre, die Kelvins Berechnungen zuließen - und selbstverständlich war sie es auch.
Kelvin strahlte über Rutherfords respektvolle Worte, rückte aber in Wahrheit nicht von seiner Meinung ab. Er erkannte die neuen Zahlen nie an und war bis zu seinem Tod überzeugt, seine Arbeiten über das Alter der Erde seien sein klügster und wichtigster Beitrag zur Wissenschaft - weit bedeutsamer als seine Erkenntnisse in der Thermodynamik.
Wie die meisten wissenschaftlichen Umwälzungen, so wurden auch Rutherfords neue Erkenntnisse nicht sofort überall anerkannt. John Joly aus Dublin behauptete noch in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts steif und fest, die Erde sei nicht älter als 89 Millionen Jahre, und nahm diese Ansicht auch mit ins Grab. Andere machten sich Sorgen, Rutherford habe ihnen jetzt vielleicht zu viel Zeit zugestanden. Aber auch mit der radiometrischen Datierung, wie man die Zerfallsmessung jetzt nannte, sollten noch Jahrzehnte ins Land gehen, bevor man sich dem wahren Alter der Erde bis auf etwa eine Milliarde Jahre genähert hatte. Die Wissenschaft war auf der richtigen Spur, hatte aber noch einen langen Weg vor sich.
Kelvin starb 1907, im gleichen Jahr wie Dmitrij Mendelejew.
Dieser hatte wie Kelvin seine produktive Phase längst hinter sich, aber seine letzten Jahre waren von weitaus weniger Gelassenheit geprägt. Mendelejew wurde mit zunehmendem Alter immer exzentrischer und schwieriger; unter anderem erkannte er weder die Existenz der Strahlung an noch die Entdeckung der Elektronen oder andere neue Erkenntnisse. In den letzten Jahrzehnten seines Lebens stürmte er auch häufig überall in Europa wütend aus Labors und Hörsälen. Im Jahr 1955 wurde das Element Nummer 101 zu seinen Ehren auf den Namen Mendelevium getauft. »Im Gegensatz zu seinen Leistungen, die bis heute Bestand haben, ist es ein instabiles Element«, wie Paul Strathern dazu anmerkt.
Die Strahlung zog natürlich immer weitere Kreise, ganz buchstäblich und auf eine Art, mit der niemand gerechnet hatte. Schon in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts waren bei Pierre Curie eindeutige Anzeichen der Strahlenkrankheit zu erkennen, insbesondere ein dumpfer Gliederschmerz und chronisches Unwohlsein, und die Beschwerden wären sicher auf unangenehme Weise fortgeschritten. Genau werden wir es nie wissen, denn er kam 1906 ums Leben, als ihn beim Überqueren einer Straße in Paris eine Kutsche überfuhr.
Die mittlerweile hoch angesehene Marie Curie arbeitete zeitlebens weiter auf dem Gebiet und war unter anderem 1914 an der Gründung des berühmten Radiuminstituts der Pariser Universität beteiligt. Trotz ihrer beiden Nobelpreise wurde sie nie in die Akademie der Wissenschaften gewählt, vor allem weil sie nach Pierres Tod ein Verhältnis mit einem verheirateten Physiker anfing, bei dem die Diskretion so wenig gewahrt blieb, dass es selbst in Frankreich zum Skandal wurde - zumindest in den Augen der alten Männer, die in der Akademie das Sagen hatten, aber das ist vielleicht eine andere Geschichte.
Lange Zeit nahm man an, eine so wundersame Energie wie die Radioaktivität müsse nützlich sein. Hersteller von Zahnpasta und Abführmitteln setzten ihren Produkten jahrelang radioaktives Thorium zu, und mindestens bis Ende der zwanziger Jahre wiesen das Glen Springs Hotel in der Region der Finger Lakes im US-Bundesstaat New York (und zweifellos auch viele andere) stolz auf die therapeutischen Wirkungen ihrer »radioaktiven Mineralquellen« hin. Erst 1938 wurden radioaktive Zusätze in Konsumartikeln verboten. Für Marie Curie war es zu jener Zeit bereits viel zu spät: Sie starb 1934 an Leukämie. In Wirklichkeit ist die Strahlung so heimtückisch und dauerhaft, dass man Curies Papiere aus den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts und sogar ihre Kochbücher noch heute nicht anfassen darf. Ihre Labortagebücher werden in Schachteln mit Bleieinlage aufbewahrt, und wer sie sehen will, muss Schutzkleidung anlegen.29
Durch die hingebungsvolle, unwissentlich riskante Arbeit der ersten Atomwissenschaftler stellte sich in den Anfangsjahren des 20. Jahrhunderts heraus, dass die Erde zweifellos ein ehrwürdiges Alter hat. Aber noch ein halbes Jahrhundert wissenschaftlicher Forschung musste vergehen, bevor man verlässliche Kenntnisse darüber hatte, wie alt sie nun wirklich ist. Gleichzeitig begann auch in der Wissenschaft eine neue Ära: das Atomzeitalter.