Die Geschichte jedes Teils der Erde besteht wie das Leben eines Soldaten aus langen Phasen der Langeweile und kurzen Zeiten des Schreckens.
Derek V. Ager, britischer Geologe
13. Peng!
Dass mit der Erde unter Manson, Iowa, etwas nicht stimmte, wusste man schon lange. Im Jahr 1912 berichtete ein Arbeiter, der für die städtische Wasserversorgung einen Brunnen bohrte, es seien zahlreiche seltsam geformte Steine zum Vorschein gekommen - »kristalline Trümmerbrekzien mit geschmolzener Matrix« und »umgewälztes flaches Auswurfgestein«, wie ein offizieller Bericht es später nannte.1 Auch das Wasser war eigenartig - fast so weich wie Regenwasser. Natürliche Vorkommen von weichem Wasser hatte man in Iowa bis dahin noch nie gefunden.
Die ungewöhnlichen Steine und das seidenweiche Wasser von Manson erregten zwar Neugier, aber es sollten noch 41 Jahre vergehen, bis eine Arbeitsgruppe der University of Iowa sich aufraffte und der Gemeinde im Nordwesten des Bundesstaates, die mittlerweile eine Kleinstadt mit ungefähr 2000 Einwohnern war, einen Besuch abstattete. Im Jahr 1953, nach einer Serie von Versuchsbohrungen, gelangten die Geologen der Universität übereinstimmend zu der Ansicht, es handle sich in der Tat um eine Anomalie. Die Verformung des Gesteins führte man auf eine vorzeitliche, nicht näher beschriebene Vulkantätigkeit zurück. Damit befanden sich die Wissenschaftler in Übereinstimmung mit der Lehrmeinung ihrer Zeit, aber es war ungefähr so falsch, wie eine geologische Aussage überhaupt nur sein kann.
Die große Umwälzung in der geologischen Vergangenheit von Manson hatte ihren Ursprung nicht im Erdinneren, sondern mindestens 150 Millionen Kilometer davon entfernt. Irgendwann in sehr ferner Vergangenheit, als das Gebiet sich am Rande eines flachen Meeres befand, raste ein Gesteinsbrocken von ungefähr zweieinhalb Kilometern Durchmesser und einem Gewicht von zehn Milliarden Tonnen mit etwa 200-facher Schallgeschwindigkeit durch die Atmosphäre und schlug ganz plötzlich mit nahezu unvorstellbarer Gewalt auf der Erde ein. An der Stelle, wo sich heute Manson befindet, tat sich ein Loch von fünf Kilometern Tiefe und mehr als 30 Kilometern Durchmesser auf. Der Kalkstein, dem Iowa ansonsten sein hartes, kalkhaltiges Wasser verdankt, wurde hinweggefegt, und an seine Stelle trat das erschütterte Muttergestein, das dem Bohrarbeiter 1912 so rätselhaft erschien.
Der Einschlag von Manson war das Größte, was sich jemals auf dem Gebiet der heutigen Vereinigten Staaten ereignete. Das Größte überhaupt. Zu allen Zeiten. Er hinterließ einen so gewaltigen Krater, dass man von seinem Rand aus nur bei klarem Wetter gerade eben die gegenüberliegende Seite sehen konnte. Der Grand Canyon sieht daneben klein und unbedeutend aus. Pech für sensationshungrige Schaulustige: In den darauf folgenden 2,5 Millionen Jahren füllten Eisschichten durch ihr Kommen und Gehen den Manson-Krater bis zum Rand mit Gletscherschutt und schliffen ihn glatt, sodass die Landschaft in Manson und im Umkreis von vielen Kilometern heute flach wie eine Tischplatte ist. Das ist natürlich der Grund, warum niemand etwas vom Manson-Krater wusste.
In der Bibliothek der Kleinstadt zeigt man dem Besucher mit Vergnügen eine Sammlung von Zeitungsartikeln und eine Kiste voller Bohrkerne aus einem Forschungsprojekt von 1991/92. Wenn man sie sehen will, muss man zwar fragen, aber dann werden sie auch mit großem Eifer herausgeholt. Ständig ausgestellt ist nichts, und nirgendwo in der Stadt gibt es irgendeinen historischen Anhaltspunkt.
Für die meisten Bewohner von Manson war das größte Ereignis aller Zeiten ein Tornado, der 1979 die Hauptstraße verwüstete und das Geschäftsviertel in Trümmer legte. Die flache Landschaft hat unter anderem den Vorteil, dass man Gefahren schon lange im Voraus kommen sieht. Praktisch die ganze Stadt versammelte sich an einem Ende der Hauptstraße und sah eine halbe Stunde lang zu, wie der Tornado näher kam. Alle hofften, er werde abdrehen, und als das nicht geschah, brachten sie sich klugerweise in Sicherheit. Aber vier Menschen waren leider nicht schnell genug und kamen ums Leben. Heute werden in Manson jedes Jahr im Juni eine Woche lang die »Crater Days« gefeiert - dies hatte man sich einfallen lassen, damit die Menschen den unglückseligen Jahrestag vergessen. Mit dem Krater haben sie in Wirklichkeit nichts zu tun. Wie man Kapital aus einer Einschlagstelle ziehen soll, die man nicht sehen kann, hat noch niemand herausgefunden.
»Ganz selten kommen Leute und fragen, wohin sie fahren sollen, um den Krater zu sehen. Wir müssen ihnen erklären, dass es nichts zu sehen gibt«, sagt Anna Schlapkohl, die freundliche städtische Bibliothekarin. »Dann reisen sie wieder ab und sind ein wenig enttäuscht.« Aber die meisten Menschen, auch der größte Teil der Bewohner Iowas, haben nie etwas von dem Krater in Manson gehört. Selbst den Geologen ist er kaum eine Fußnote wert. Nur während einer kurzen Zeit in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts war Manson, geologisch betrachtet, der aufregendste Ort der Welt.
Die Geschichte beginnt Anfang der fünfziger Jahre, als ein begabter junger Geologe namens Eugene Shoemaker den Meteor Crater in Arizona besichtigte. Heute ist dieser Krater die berühmteste Einschlagstelle der Erde und eine beliebte Touristenattraktion. Damals jedoch zog er nur wenige Besucher an, und nach dem wohlhabenden Bergbauingenieur Daniel M. Barringer, der dort 1903 seine Claims abgesteckt hatte, wurde er häufig auch als Barringer-Krater bezeichnet. Barringer glaubte, der Krater sei durch einen Meteor von zehn Millionen Tonnen entstanden, der viel Eisen und Nickel mitbrachte, und er rechnete zuversichtlich damit, er könne mit der Förderung dieser Metalle ein Vermögen verdienen. Da er nicht wusste, dass der Meteor und alle seine Bestandteile bei dem Einschlag verdampft sein mussten, vergeudete er riesige Geldbeträge und die nächsten 26 Jahre mit dem Graben von Stollen, die nichts zu Tage brachten.
Nach heutigen Maßstäben war die Kraterforschung zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch nicht sonderlich hoch entwickelt, um es vorsichtig auszudrücken. Der führende Fachmann jener Frühzeit, G. K. Gilbert von der Columbia University, ahmte die Auswirkungen von Einschlägen nach, indem er Glasmurmeln in eine Schüssel mit Haferflocken fallen ließ.4 (Aus Gründen, über die ich keine näheren Angaben machen kann, führte Gilbert diese Experimente nicht in einem Labor an der Universität durch, sondern in einem Hotelzimmer.5) Aus den Ergebnissen zog er irgendwie den Schluss, die Mondkrater seien tatsächlich durch Einschläge entstanden - schon das zu jener Zeit eine radikale Idee -, die auf der Erde aber nicht. Noch nicht einmal so weit mochten die meisten Wissenschaftler gehen. In ihren Augen waren die Mondkrater ein Beleg für alte Vulkane und sonst gar nichts. Die wenigen Krater, die auf der Erde noch zu erkennen waren (die meisten waren durch Erosion verschwunden), führte man in der Regel auf andere Ursachen zurück, oder man betrachtete sie als seltene Zufallserscheinungen.
Als Shoemaker nach Arizona kam, galt der Meteor Crater allgemein als das Ergebnis einer unterirdischen Dampfexplosion. Shoemaker hatte keine Ahnung von unterirdischen Dampfexplosionen - das war auch nicht möglich, denn es gibt sie nicht -, aber dafür wusste er alles über die Auswirkungen oberirdischer Detonationen. Nach dem College war es eine seiner ersten beruflichen Tätigkeiten gewesen, auf dem Nukleartestgelände von Yucca Flats in Nevada die Explosionsringe zu untersuchen. In Arizona gelangte er wie vor ihm schon Barringer zu der Erkenntnis, dass nichts am Meteor Crater auf Vulkantätigkeit schließen ließ; dafür gab es aber große Mengen anderen Materials - vor allem ungewöhnlich feinkörnige Silikat- und Magnetitmineralien -, die auf den Einschlag eines Himmelskörpers hindeuteten. Er war fasziniert und beschäftigte sich von nun an in seiner Freizeit mit dem Thema.
Zusammen mit seinem Mitarbeiter David Levy sowie zunächst mit seiner Kollegin Eleanor Helin und später mit seiner Frau Carolyn machte Shoemaker sich an eine systematische Übersichtsuntersuchung des inneren Sonnensystems. Jeden Monat verbrachten sie eine Woche am Palomar-Observatorium in Kalifornien und suchten nach Objekten - insbesondere Asteroiden -, die auf ihren Bahnen die Umlaufbahn der Erde kreuzen mussten.
»Als wir anfingen, hatte man in der gesamten Geschichte der Astronomie nur wenig mehr als ein Dutzend solcher Dinger entdeckt«, berichtete Shoemaker einige Jahre später in einem Fernsehinterview.6 Dann fügte er hinzu: »Im 20. Jahrhundert hatten die Astronomen das Sonnensystem im Wesentlichen aufgegeben. Ihre Aufmerksamkeit richtete sich nur noch auf die Sterne und die Galaxien.«
Shoemaker und seine Kollegen stellten fest, dass es dort draußen mehr - viel mehr - Gefahren gibt, als man sich jemals hätte träumen lassen.
Wie allgemein bekannt ist, sind Asteroiden nichts anderes als Gesteinsbrocken, die in lockerer Anordnung in einem Gürtel zwischen Mars und Jupiter um die Sonne kreisen. In Zeichnungen werden sie immer dicht gedrängt dargestellt, in Wirklichkeit ist das Sonnensystem aber recht geräumig, und jeder Asteroid hat im Durchschnitt rund eineinhalb Millionen Kilometer Abstand von seinem nächsten Nachbarn. Wie viele Asteroiden durch den Weltraum taumeln, kann niemand auch nur annähernd angeben, aber vermutlich liegt ihre Zahl nicht unter einer Milliarde. Nach heutiger Kenntnis sind sie wahrscheinlich Planeten, die es nie ganz geschafft haben, weil die ungeheuer starke Gravitation des Jupiter sie daran gehindert hat und bis heute hindert, sich zu größeren Objekten zusammenzulagern.
Als die Asteroiden im 19. Jahrhundert entdeckt wurden -den ersten fand der Sizilianer Giuseppe Piazzi am ersten Tag des Jahrhunderts -, hielt man sie für Planeten, und die beiden ersten taufte man auf die Namen Ceres und Pallas. Erst der Astronom William Herschel wies mit mehreren geistreichen Gedankengängen nach, dass sie nicht einmal annähernd die Größe von Planeten erreichen. Deshalb bezeichnete er sie als Asteroiden - das lateinische Wort bedeutet »sternähnlich« . Es ist eigentlich ein unglücklich gewählter Begriff, denn Asteroiden sind alles andere als Sterne. Heute spricht man zutreffender manchmal auch von Planetoiden.
Das Aufspüren von Asteroiden wurde seit 1800 zu einer beliebten Tätigkeit, und am Ende des 19. Jahrhunderts kannte man etwa 1000 solcher Objekte. Das Problem war nur, dass niemand sie systematisch erfasste. Anfang des 20. Jahrhunderts konnte man in vielen Fällen nicht mehr wissen, ob man einen neuen Asteroiden im Visier hatte, oder ob er früher schon einmal beobachtet wurde und dann in Vergessenheit geraten war. Mittlerweile war auch die Astrophysik so weit vorangekommen, dass kaum noch ein Astronom sein Leben den profanen, steinernen Planetoiden widmen wollte. Nur wenige, unter ihnen insbesondere der in den Niederlanden geborene Gerard Kuiper, nach dem der Kuiper-Kometengürtel benannt ist, interessierten sich überhaupt noch für das Sonnensystem. Durch seine Arbeiten am McDonald Observatory in Texas, die später von anderen am Minor Planet Center in Cincinnati und am Spacewatch-Projekt in Arizona fortgeführt wurden, schrumpfte die lange Liste der verlorenen Asteroiden allmählich, bis man am Ende des 20. Jahrhunderts nur noch für einen bekannten Asteroiden keine Erklärung hatte. Das Objekt mit dem Namen 719 Albert war im Oktober 1911 das letzte Mal beobachtet worden und dann 89 Jahre lang aus dem Blickfeld verschwunden, bis man es im Jahr 2000 schließlich wieder dingfest machen konnte.
Was die Asteroidenforschung angeht, war das 20. Jahrhundert also eigentlich nur eine Übung in Buchhalterei. Erst seit wenigen Jahren sind die Astronomen damit beschäftigt, auch die übrige Asteroidengemeinschaft zu beobachten und zu zählen. Im Juni 2001 hatte man 26000 derartige Objekte benannt und identifiziert, die Hälfte davon erst in den vorangegangenen zwei Jahren.9 Da es insgesamt bis zu einer Milliarde sind, hat das Zählen gerade erst begonnen.
In gewisser Hinsicht ist das aber auch bedeutungslos. Ein Asteroid wird durch die Identifizierung nicht ungefährlich. Selbst wenn man jedem Asteroiden im Sonnensystem einen Namen gegeben hätte und über seine
Umlaufbahn Bescheid wüsste, könnte niemand etwas darüber aussagen, welche Störungen ihn möglicherweise in unserer Richtung ablenken. Schon die Bewegungen des Gesteins auf der Oberfläche unseres eigenen Planeten können wir nicht voraussagen. Über das Verhalten von Objekten, die im Weltraum treiben, sind nicht einmal begründete Vermutungen möglich. Selbst wenn wir einem Asteroiden einen Namen gegeben haben, sind wir höchstwahrscheinlich nicht zu weiteren Aussagen über ihn in der Lage.
Man kann sich die Erdumlaufbahn als eine Art Autobahn vorstellen, auf der unser Planet das einzige Fahrzeug ist; häufig gehen aber Fußgänger über die Straße, die nicht wissen, dass man sich umsehen muss, bevor man die Fahrbahn betritt. Mindestens 90 Prozent dieser Fußgänger kennen wir nicht. Wir wissen nicht, wo sie wohnen, wie ihr Tagesablauf aussieht, wie oft sie uns in die Quere kommen. Nur eines ist klar: Irgendwann, in nicht genau bekannten Abständen, trotten sie über die Straße, auf der wir mit mehr als 100000 Stundenkilometern dahinrasen.10 Oder, wie Steven Ostro vom Jet Propulsion Laboratory es formulierte: »Angenommen, man könnte auf einen Knopf drücken und damit alle Asteroiden erleuchten, die größer als etwa zehn Meter sind und die Umlaufbahn der Erde kreuzen - dann würde man am Himmel mehr als 100 Millionen solcher Objekte sehen.« Kurz gesagt, würden wir dann am Himmel nicht ein paar 1000 weit entfernte, blinzelnde Sterne erkennen, sondern Millionen und Abermillionen Objekte, die uns viel näher sind und auf zufälligen Bahnen wandern - »und alle können mit der Erde zusammenstoßen, alle wandern mit unterschiedlicher Geschwindigkeit und auf geringfügig unterschiedlichen Bahnen über den Himmel. Es wäre zutiefst beunruhigend.« 11 Nun ja, wir sollten beunruhigt sein, weil es so ist. Wir sehen es nur nicht.
Insgesamt glaubt man - und das ist wirklich nur eine Vermutung, die sich aus der Fortschreibung der Kraterbildung auf dem Mond ergibt -, dass rund 2000 Asteroiden, die mit ihrer Größe unser zivilisiertes Dasein gefährden könnten, regelmäßig unsere Umlaufbahn kreuzen. Aber schon ein kleineres Objekt, das beispielsweise so groß wie ein Haus ist, kann eine ganze Stadt zerstören. Die Zahl dieser Winzlinge, deren Bahn die unsere kreuzt, geht mit ziemlicher Sicherheit in die Hunderttausende und vielleicht sogar in die Millionen. Ihnen auf der Spur zu bleiben, ist so gut wie unmöglich.
Den ersten entdeckte man erst 1991, und das, nachdem er bereits vorübergezogen war. Er erhielt den Namen 1991 BA, und man bemerkte ihn, als er in einem Abstand von rund 170000 Kilometern an uns vorüberzog - nach kosmischen Maßstäben entspricht das einer Gewehrkugel, die den Ärmel durchschlägt, ohne den Arm zu treffen. Zwei Jahre später verfehlte uns ein anderer, etwas größerer Asteroid um nur 150000 Kilometer - es war die nächste Begegnung, die bisher aufgezeichnet wurde. Auch ihn sah man erst, als er bereits vorübergeflogen war, das heißt, er wäre ohne Vorwarnung gekommen. Glaubt man einem Artikel von Timothy Ferris im New Yorker, ereignen sich solche Beinahe-Zusammenstöße vermutlich zwei- bis dreimal in der Woche, und immer bleiben sie unbemerkt.
Ein Objekt von 100 Metern Durchmesser wird von erdgebundenen Teleskopen erst wenige Tage vor dem Einschlag erfasst, und auch das nur, wenn das Teleskop zufällig darauf ausgerichtet ist - was wahrscheinlich nicht der Fall sein wird, weil selbst heute nur eine bescheidene Zahl von Fachleuten nach solchen Objekten sucht. Nach einem interessanten Vergleich ist die Zahl der Menschen, die auf der ganzen Welt aktiv nach Asteroiden suchen, kleiner als die Belegschaft eines typischen McDonalds-Restaurants. (In Wirklichkeit ist sie heute ein wenig höher, allerdings nur geringfügig.)
Während Gene Shoemaker bestrebt war, die Menschen für die potenziellen Gefahren des inneren Sonnensystems zu sensibilisieren, nahm in Italien eine andere Entwicklung ihren Lauf, die auf den ersten Blick nichts damit zu tun hatte. Auslöser waren die Arbeiten eines jungen Geologen vom Lamont Doherty Laboratory an der Columbia University. Anfang der siebziger Jahre arbeitete Walter Alvarez im Freiland, und zwar in der malerischen Bottaccione-Schlucht nicht weit von dem Bergstädtchen Gubbio in Umbrien. Dort interessierte er sich besonders für ein schmales Band aus rötlichem Lehm, das zwei alte Kalksteinschichten trennte, die eine aus der Kreidezeit, die andere aus dem Tertiär. Diese Trennlinie, die in der Geologie KT-Grenze genannt wird, kennzeichnet den Zeitpunkt vor 65 Millionen Jahren, als die Dinosaurier und ungefähr die Hälfte aller anderen Tierarten der Erde sehr plötzlich aus den Fossilfunden verschwanden. Alvarez fragte sich, ob die dünne, etwa einen halben Zentimeter dicke Lehmschicht vielleicht einen Hinweis darauf enthielt, was die Ursache dieses dramatischen erdgeschichtlichen Augenblickes gewesen sein könnte.
Was das Aussterben der Dinosaurier anging, war die herkömmliche Lehrmeinung zu jener Zeit noch die gleiche wie ein Jahrhundert zuvor, in den Tagen von Charles Lyell: Danach waren die Dinosaurier im Laufe von mehreren Millionen Jahren verschwunden. Die geringe Dicke der Lehmschicht legte jedoch die Vermutung nahe, dass zumindest in Umbrien ein abrupteres Ereignis im Spiel war. Leider gab es in den siebziger Jahren noch keine Methoden, mit denen man hätte feststellen können, wie lange die Ablagerung eines solchen Sediments dauert.
Wäre alles normal verlaufen, hätte Alvarez die Frage sicher auf sich beruhen lassen müssen, aber glücklicherweise verfügte er über konkurrenzlos gute Beziehungen zu jemandem außerhalb seines Fachgebiets, der ihm helfen konnte. Dieser Jemand war sein Vater Luis, ein angesehener Kernphysiker, der ein Jahrzehnt zuvor den Physik-Nobelpreis erhalten hatte. Er war der Begeisterung seines Sohnes für Gestein immer ein wenig spöttisch begegnet, aber diese Fragestellung faszinierte ihn. Ihm kam die Idee, Staub aus dem Weltraum könnte die Antwort bringen.
Jedes Jahr sammeln sich auf der Erde rund 30000 Tonnen »sphärische Partikel aus dem Kosmos« - man kann auch einfach Weltraumstaub sagen. Auf einen Haufen zusammengefegt, wäre das eine ganze Menge, aber wenn man es auf dem gesamten Erdball verteilt, ist es unendlich wenig. In diesem dünnen Staubschleier befinden sich auch exotische chemische Elemente, die auf der Erde nur in sehr geringen Mengen vorkommen. Eines davon ist das Iridium, das im Weltraum in tausendmal größerer Menge vorhanden ist als in der Erdkruste (vermutlich weil der größte Teil des Iridiums in den Erdkern abgesunken ist, als unser Planet noch jung war).
Alvarez wusste, dass Frank Asaro, ein Kollege am Lawrence Berkeley Laboratory in Kalifornien, eine neue Methode entwickelt hatte, mit der er die chemische Zusammensetzung von Lehm sehr genau messen konnte. Dazu bediente er sich eines Vorganges, der als Neutronenaktivierungsanalyse bezeichnet wird: Man bombardiert die Materialprobe mit Neutronen aus einem kleinen Kernreaktor und misst sehr genau die Gammastrahlung, die das Material daraufhin abgibt. Es ist eine ausgesprochen heikle Arbeit. Zuvor hatte Asaro das Verfahren zur Analyse von Keramikscherben benutzt, aber Alvarez hatte die Idee, damit die Menge eines exotischen Elements in den Bodenproben seines Sohnes zu messen und das Ergebnis mit der jährlich abgelagerten Menge zu vergleichen; auf diese Weise, so seine Überlegung, konnte man herausfinden, wie lange die Entstehung der Bodenproben gedauert hatte. An einem Nachmittag im Oktober 1977 kamen Luis und Walter Alvarez bei Asaro zu Besuch und fragten ihn, ob er für sie die erforderlichen Untersuchungen durchführen wolle.
Es war eine dreiste Anfrage. Asaro sollte monatelang an geologischen Materialproben äußerst mühsame Messungen vornehmen, nur um das zu bestätigen, was von vornherein auf der Hand zu liegen schien: dass die dünne Lehmschicht sich so schnell gebildet hatte, wie man auf Grund ihrer geringen Dicke annehmen musste. Dass aus seinen Untersuchungen dramatische neue Erkenntnisse erwachsen würden, erwartete sicher niemand.
»Nun ja, sie waren sehr liebenswürdig und überzeugend«, erinnerte sich Asaro 2002 in einem Interview.14 »Außerdem schien es eine interessante Aufgabe zu sein, also willigte ich ein, es zu versuchen. Leider hatte ich auch eine Menge andere Arbeit, und deshalb dauerte es acht Monate, bevor ich dazu kam.« Er blätterte in seinen Notizen aus jener Zeit. »Am 21. Juni 1978 um 13:45 Uhr steckten wir eine Probe in den Detektor. Die Analyse lief 224 Minuten, und wir konnten erkennen, dass wir interessante Ergebnisse erhalten würden. Also schalteten wir das Gerät aus und sahen nach.«
Das Ergebnis war tatsächlich so unerwartet, dass alle drei Wissenschaftler zuerst glaubten, es müsse falsch sein. Die Iridiummenge in Alvarez’ Proben lag um mehr als das 300-fache über dem Normalwert - weit höher, als sie jemals prophezeit hätten. In den folgenden Monaten arbeiteten Asaro und seine Kollegin Helen Michel manchmal bis zu 30 Stunden ohne Pause ( »Wenn man einmal angefangen hatte, konnte man nicht mehr aufhören«, erklärte Asaro): Immer wieder analysierten sie Material, und immer wieder erhielten sie das gleiche Ergebnis. Bei der Untersuchung anderer Proben - aus Dänemark, Spanien, Frankreich, Neuseeland und der Antarktis - stellte sich heraus, dass die Iridiumablagerungen weltweit verbreitet und überall stark erhöht waren, manchmal bis zum 500-fachen der üblichen Menge. Dieser erstaunliche Maximalwert war eindeutig durch irgendein großes, plötzliches Ereignis entstanden, vermutlich durch eine riesige Katastrophe.
Nach langem Nachdenken gelangten Vater und Sohn Alvarez zu einer Erklärung, die zumindest ihnen als die plausibelste erschien: Danach war die Erde von einem Asteroiden oder Kometen getroffen worden.
Der Gedanke, dass die Erde möglicherweise von Zeit zu Zeit verheerenden Einschlägen ausgesetzt ist, war nicht ganz so neu, wie heute manchmal behauptet wird. Schon 1942 hatte der Astrophysiker Ralph B. Baldwin von der Northwestern University in einem Artikel für die Zeitschrift Populär Astronomy eine solche Möglichkeit in Erwägung gezogen.15 (Er veröffentlichte den Aufsatz dort, weil keine Fachzeitschrift ihn angenommen hatte.) Und auch mindestens zwei angesehene Wissenschaftler, der Astronom Ernst Öpik sowie der Chemiker und Nobelpreisträger Harold Urey, hatten ebenfalls zu verschiedenen Zeitpunkten solche Vorstellungen vertreten. Selbst unter Paläontologen waren sie nicht unbekannt. M. W. de Laubenfels, ein Professor an der Oregon State University, hatte bereits 1956 im Journal of Paleontology die Alvarez-Theorie vorweggenommen und die Vermutung geäußert, der Einschlag eines Himmelskörpers könne den Dinosauriern einen tödlichen Schlag versetzt haben.16 Im Jahr 1970 brachte Dewey J. McLaren, damals Präsident der American Paleontological Society, auf der Jahrestagung seiner Gesellschaft den Gedanken ins Gespräch, ein Einschlag aus dem Weltraum könne die Ursache für ein früheres Aussterbe-Ereignis in einer Epoche namens Frasnium gewesen sein.17
Sogar Hollywood, so schien es, wollte unterstreichen, wie wenig originell die Idee zu jener Zeit bereits war: Ein Studio produzierte 1979 einen Film mit dem Titel Meteor ( »Es ist fünf Meilen breit ... Es kommt mit 30000 Meilen in der Stunde - und nirgendwo kann man sich verstecken ...« ). In den Hauptrollen: Henry Fonda, Natalie Wood, Karl Malden und ein sehr großer Stein.
Deshalb hätte es eigentlich keine Überraschung sein dürfen, als Vater und Sohn Alvarez in der ersten Woche des Jahres 1980 auf einer Tagung der American Association for the Advancement of Science ihre Überzeugung äußerten, die Dinosaurier seien nicht im Laufe mehrerer Millionen Jahre durch einen langsamen, unaufhaltsam fortschreitenden Prozess ausgestorben, sondern sehr plötzlich durch ein einziges katastrophales Ereignis.
Es war dennoch ein Schock. Überall, insbesondere aber in der Paläontologengemeinde, wurde die Ansicht als empörende Ketzerei empfunden.
»Nun ja, man muss daran denken, dass wir auf diesem Gebiet Amateure waren«, erinnert sich Asaro. »Walter war Geologe und auf Paläomagnetismus spezialisiert, Luis war Physiker, und ich war Kernchemiker. Und jetzt erzählten wir den Paläontologen, wir hätten ein Problem gelöst, an dem sie seit über einem Jahrhundert herumrätselten. Eigentlich ist es nicht weiter verwunderlich, dass sie sich unsere Antwort nicht sofort zu Eigen machten.« Und Luis Alvarez scherzte: »Man hatte uns ertappt, wie wir ohne Lizenz Paläontologie praktizierten.«
Die Theorie vom Meteoriteneinschlag hatte aber auch auf einer tieferen, grundsätzlicheren Ebene etwas Entsetzliches. Seit Lyells Zeit gehörte die Vorstellung, dass alle Prozesse auf der Erde sehr langsam ablaufen, zu den Grundfesten der Naturgeschichte. In den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts war die Katastrophentheorie schon so lange aus der Mode, dass sie buchstäblich undenkbar war. Die Idee von einem verheerenden Einschlag richtete sich »gegen die wissenschaftliche Religion« der meisten Geologen, wie Eugene Shoemaker es formulierte.
Auch die Tatsache, dass Luis Alvarez gegenüber den Paläontologen und ihren Beiträgen zu den naturwissenschaftlichen Kenntnissen offen eine verächtliche Haltung an den Tag legte, machte die Sache nicht gerade einfacher. »Sie sind wirklich keine guten Wissenschaftler. Sie sind eher wie Briefmarkensammler«, schrieb er in einem Artikel der New York Times, der noch heute schmerzt.
Gegner der Alvarez-Theorie lieferten jede Menge anderer Erklärungen für die Iridiumablagerungen - unter anderem wurde behauptet, sie seien durch länger anhaltende Vulkanausbrüche in Indien entstanden -, vor allem aber beharrten sie darauf, es gebe keinen Beweis, dass die Dinosaurier an der Iridium-Grenzlinie plötzlich aus den Fossilfunden verschwinden. Einer der engagiertesten Gegner war Charles Officer vom Dartmouth College. Er blieb bei seiner Ansicht, das Iridium sei durch Vulkantätigkeit abgelagert worden, obwohl er in einem Zeitungsinterview einräumen musste, dass er dafür keinen echten Beleg hatte.19 Noch 1988 gab mehr als die Hälfte der amerikanischen Paläontologen in einer Umfrage an, sie seien nach wie vor der Ansicht, dass das Aussterben der Dinosaurier nichts mit dem Einschlag eines Asteroiden oder Kometen zu tun habe.
Und gerade der Beleg, der die Theorie der Alvarez’ am nachdrücklichsten unterstützt hätte, war der einzige, den sie nicht besaßen: die Einschlagstelle. Hier hatte Eugene Shoemaker seinen großen Auftritt. Er besaß eine Verbindung nach Iowa - seine Schwiegertochter unterrichtete an der Universität des Bundesstaates - und kannte aus seinen eigenen Untersuchungen den Krater von Manson. Ihm war es zu verdanken, dass sich nun alle Blicke auf Iowa richteten.
Das Fachgebiet der Geologie hatte von Ort zu Ort einen unterschiedlichen Charakter. In Iowa, einem flachen und im Hinblick auf die Gesteinsschichtungen relativ gleichförmigen Staat, geht es unter den Geologen vergleichsweise behäbig zu. Es gibt weder Hochgebirgs-gipfel noch Gletscher, welche die Landschaft planieren, keine großen Öl- oder Edelmetall-Lagerstätten, keine Spur von Lavaströmen. Als Geologe in Diensten des Bundesstaates Iowa verbringt man die Arbeitszeit zum größten Teil damit, Gülle-Bewirtschaftungspläne zu prüfen, die von allen »geschlossenen Nutztierzuchtbetrieben« - normale Menschen sprechen von Schweinezüchtern - in regelmäßigen Abständen erstellt werden müssen. Es gibt in Iowa 15 Millionen Schweine und damit auch eine Menge Gülle, die bewirtschaftet werden muss. Ich will mich darüber überhaupt nicht lustig machen - es ist eine lebenswichtige Arbeit, die viel Fachkunde verlangt; durch sie bleibt das Trinkwasser in Iowa sauber -, aber sie ist auch mit noch so viel gutem Willen nicht das Gleiche, als wenn man am Pinatubo den fliegenden Lavabrocken ausweichen muss oder in Gletscherspalten des Grönlandeises nach vorzeitlichen Quarzbrocken sucht, die möglicherweise Lebewesen enthalten. Man kann sich also durchaus vorstellen, welche Aufregung sich im Umweltministerium von Iowa breit machte, als Geologen aus der ganzen Welt Mitte der achtziger Jahre ihre Aufmerksamkeit auf Manson und seinen Krater richteten.
Die Trowbridge Hall in Iowa City ist ein roter Backsteinbau aus der Zeit der Jahrhundertwende. Hier ist das geowissenschaftliche Institut der University of Iowa untergebracht, und ganz oben, in einer Art Dachstube, arbeiten die Geologen des Umweltministeriums von Iowa. Heute kann sich niemand mehr erinnern, wann - und noch viel weniger warum - die staatlichen Geologen sich in einem Universitätsgebäude einquartierten, aber man hat den Eindruck, dass die Räume nur widerwillig zur Verfügung gestellt wurden: Die Büros sind eng, die Decken sind niedrig, und der Zugang ist schwierig. Wenn man den Weg erklärt bekommt, rechnet man fast damit, dass man über ein Dachsims klettern und durch ein Fenster einsteigen muss.
Hier oben verbrachten Ray Anderson und Brian Witzke ihr Berufsleben zwischen unordentlichen Papierstapeln, Fachzeitschriften, aufgerollten Lageplänen und massiven Gesteinsproben. (Geologen sind nie um einen Briefbeschwerer verlegen.) Um in solchen Räumen irgendetwas zu finden - einen freien Stuhl, eine Kaffeetasse, ein klingelndes Telefon -, muss man grundsätzlich erst irgendwelche Papierstapel bewegen.
»Plötzlich standen wir im Mittelpunkt«, erzählt mir Anderson, als ich ihn und Witzke an einem trüben, regnerischen Vormittag im Juni in ihrem Büro aufsuche. Bei der Erinnerung leuchten seine Augen auf. »Es war eine großartige Zeit.« 22
Ich erkundige mich nach Gene Shoemaker, der zu jener Zeit offenbar allgemein verehrt wurde. »Das war einfach ein toller Kerl«, erwidert Witzke ohne zu zögern. »Hätte es ihn nicht gegeben, wäre die ganze Sache nicht von der Stelle gekommen. Trotz seiner Unterstützung dauerte es noch zwei Jahre, bis alles lief. Bohrungen sind teuer -damals kostete ein Meter ungefähr 100 Dollar, heute ist es noch mehr. Und wir mussten bis in fast 1000 Meter Tiefe vorstoßen.«
»Manchmal auch noch mehr«, fügt Anderson hinzu.
»Manchmal auch noch mehr«, stimmt Witzke zu. »Und das an mehreren Orten. Es ging also um eine Menge Geld. Sicher um mehr, als unser Etat hergab.«
Deshalb einigten sich die Iowa Geological Survey und die U. S. Geological Survey auf ein Gemeinschaftsprojekt.
»Jedenfalls glaubten wir, es sei ein Gemeinschaftsprojekt«, sagt Anderson mit einem schwachen, gequälten Lächeln.
»Für uns war es ein echter Lernprozess«, fährt Witzke fort.
»Damals lief in der Wissenschaft tatsächlich eine Menge Mist - die Leute brachten Befunde, die einer ernsthaften Überprüfung nicht immer standhielten.« Ein solcher Augenblick kam auf der Jahrestagung 1985 der American Geophysical Union: Dort gaben Glenn Izett und C. L. Pillmore von der U. S. Geological Survey bekannt, der Krater von Manson habe genau das richtige Alter und könne daher mit dem Aussterben der Dinosaurier in Zusammenhang stehen.23 Die Erklärung stieß bei der Presse auf großes Interesse, aber leider war sie voreilig. Bei genauerer Überprüfung der Daten stellte sich heraus, dass der Manson-Krater nicht nur zu klein war, sondern auch neun Millionen Jahre zu alt.
Von diesem Rückschlag für ihre Karriere erfuhren Anderson und Witzke, als sie zu einer Tagung nach South Dakota kamen. Kollegen traten mit mitfühlenden Blicken auf sie zu und sagten:
»Wir haben gehört, Sie haben Ihren Krater verloren.« Erst dadurch hörten sie, dass Izett und die anderen Wissenschaftler der USGS kurz zuvor genauere Zahlen vorgelegt hatten, aus denen sich ergab, dass Manson nicht der gesuchte Einschlagkrater sein konnte.
»Es war schon erstaunlich«, erinnert sich Anderson. »Ich meine, wir hatten dieses Ding, das war wirklich wichtig, und plötzlich hatten wir es nicht mehr. Aber noch schlimmer war eine andere Erkenntnis: Die Leute, die angeblich mit uns zusammenarbeiteten, hatten es nicht einmal nötig gehabt, uns ihre neuen Befunde mitzuteilen.«
»Warum nicht?«
Er zuckt die Achseln. »Wer weiß? Aber jedenfalls war es ein gutes Beispiel dafür, wie unangenehm Wissenschaft werden kann, wenn man auf einer gewissen Ebene angelangt ist.«
Die Suche verlagerte sich. Einer der Beteiligten, Alan Hildebrand von der University of Arizona, traf 1990 zufällig mit einem Journalisten des Houston Chronicle zusammen, der etwas über eine große, unerklärliche, ringförmige Gesteinsformation von 194 Kilometern Durchmesser und fast 50 Kilometern Tiefe wusste. Sie befand sich bei Chicxulub auf der mexikanischen Halbinsel Yucatan, in der Nähe der Stadt Progreso und rund 1000 Kilometer südlich von New Orleans. Entdeckt worden war sie 1952 von der mexikanischen Ölgesellschaft Pemex - übrigens im gleichen Jahr, in dem auch Gene Shoemaker zum ersten Mal den Meteor
Crater in Arizona besucht hatte -, aber die Geologen des Unternehmens waren entsprechend der allgemeinen Lehrmeinung ihrer Zeit zu der Ansicht gelangt, die Formation sei vulkanischen Ursprungs. Hildebrand reiste in das Gebiet und war sich sehr schnell sicher, dass sie ihren Krater gefunden hatten. Anfang 1991 war in den Augen fast aller Fachleute schlüssig nachgewiesen, dass es sich bei Chicxulub um die Einschlagstelle handelt.
Aber viele Beteiligte begriffen immer noch nicht ganz, welche Wirkung ein solcher Einschlag haben kann. Stephen Jay Gould berichtet in einem seiner Essays: »Ich kann mich noch gut erinnern, dass ich anfangs stark an den Auswirkungen eines solchen Ereignisses zweifelte ... warum sollte ein zehn Kilometer großer Himmelskörper eine solche Katastrophe auf einem Planeten anrichten, dessen Durchmesser mehr als 12000 Kilometer beträgt?«
Angenehm war, dass sich bald darauf eine natürliche Gelegenheit ergab, die Theorie zu überprüfen: Die Shoemakers und Levy entdeckten den Kometen Shoemaker-Levy 9 und erkannten sehr schnell, dass er in Richtung des Jupiter unterwegs war. Zum ersten Mal würden Menschen zu Zeugen eines kosmischen Zusammenstoßes werden - und mit dem neuen Hubble-Weltraumteleskop war er sehr gut zu beobachten. Wie Curtis Peebles berichtet, hatten die meisten Astronomen keine großen Erwartungen, insbesondere da es sich bei dem Kometen nicht um eine zusammenhängende Kugel handelte, sondern um eine Kette aus einundzwanzig Bruchstücken. Einer schrieb: »Nach meinem Gefühl wird der Jupiter diese Kometen schlucken und dabei nicht einmal rülpsen.« 26 Eine Woche vor dem Einschlag brachte die Wissenschaftszeitschrift Nature einen Artikel mit der Überschrift »Das große Fiasko steht bevor«. Darin prophezeite sie, der Einschlag werde nicht mehr sein als ein Meteorschauer.
Das Ereignis begann am 16. Juli 1994, setzte sich eine Woche lang fort und war bei weitem größer, als irgendjemand - vielleicht mit Ausnahme von Gene Shoemaker - erwartet hatte. Ein Bruchstück, das als »Nucleus G« bezeichnet wurde, schlug mit der Energie von ungefähr sechs Millionen Megatonnen ein - dem 75fachen aller Atomwaffen auf der Erde. Nucleus G hatte nur die Größe eines kleinen Berges, aber auf der Jupiteroberfläche riss er Wunden von der Größe der Erde. Für jede Kritik an der Alvarez-Theorie war es der Todesstoß.
Luis Alvarez erfuhr von der Entdeckung des Kraters in Chicxulub und von dem Shoemaker-Levy-Kometen nichts mehr: Er starb 1988. Auch Shoemaker wurde nicht alt. Am dritten Jahrestag des Einschlages auf dem Jupiter befand er sich mit seiner Frau im australischen Outback, wo die beiden jedes Jahr nach Einschlagstellen suchten. Auf einer unbefestigten Straße in der Tanami-Wüste -normalerweise einem der einsamsten Gebiete auf Erden -fuhren sie gerade über eine leichte Anhöhe, als ihnen ein anderes Fahrzeug entgegenkam. Shoemaker war sofort tot, seine Frau wurde verletzt.28 Ein Teil seiner Asche reiste mit der Raumsonde »Lunar Prospector« zum Mond, der Rest wurde rund um den Meteor Crater verstreut.
Anderson und Witzke besaßen nun zwar nicht mehr den Krater, der die Dinosaurier das Leben gekostet hatte, »aber wir haben immer noch den größten und besterhaltenen Einschlagkrater auf dem US-amerikanischen Festland«, sagt Anderson. (Um die Spitzenstellung des Manson-Kraters zu bewahren, muss man sprachlich ein wenig spitzfindig sein: Andere Krater - insbesondere der von Chesapeake Bay, in dem man 1994 eine Einschlagstelle erkannte - sind größer, aber sie liegen entweder vor der Küste oder sind stark verformt.) »Chicxulub ist unter zwei oder drei Kilometern Kalkstein begraben und liegt zum größten Teil vor der Küste. Deshalb ist es schwierig, ihn zu untersuchen«, fährt Anderson fort. »Manson dagegen ist wirklich gut zugänglich. Gerade weil er immer zugedeckt war, ist er noch verhältnismäßig unberührt.«
Ich frage ihn, wie viel Vorwarnzeit uns wohl bleibt, wenn heute ein ähnlicher Brocken auf uns zusteuert.
»Ach, vermutlich überhaupt keine«, erwidert Anderson kess.
»Mit bloßem Auge ist er erst zu sehen, wenn er sich erhitzt, und das geschieht erst dann, wenn er in die Atmosphäre eintritt, also vermutlich ungefähr eine Sekunde vor dem Einschlag. Wir reden hier über ein Objekt, das zehnmal schneller ist als die schnellste Gewehrkugel. Wenn es nicht irgendjemand vorher im Teleskop gesehen hat - und das ist keineswegs sicher -, würde es uns völlig überraschen.«
Wie hart ein solches Objekt auftrirrt, hängt von vielen Faktoren ab, von Eintrittswinkel, Geschwindigkeit und Flugbahn, von der Richtung der Kollision - ob das Objekt genau von oben oder von der Seite kommt -, von Masse und Dichte des Himmelskörpers und vielem anderen. Nichts davon können wir nach so vielen Millionen Jahren noch mit Sicherheit feststellen. Etwas anderes aber können die Wissenschaftler tun, und das haben Anderson und White auch getan: Sie haben die Einschlagstelle vermessen und daraus die freigesetzte Energiemenge berechnet. Auf diese Weise gelangt man zu einem plausiblen Szenario, nach dem das Ereignis abgelaufen sein dürfte - oder, beängstigender, nach dem es wieder ablaufen könnte.
Ein Asteroid oder Komet, der mit kosmischer Geschwindigkeit unterwegs ist, würde so schnell in die Erdatmosphäre eintreten, dass die Luft vor ihm nicht ausweichen kann und wie in einer Fahrradpumpe zusammengepresst wird. Wie jeder weiß, der schon einmal eine solche Pumpe bedient hat, wird komprimierte Luft sehr schnell heiß. Die Temperatur unterhalb des Objekts würde auf bis zu 60000 Grad ansteigen, das Zehnfache der Temperatur an der Oberfläche der Sonne. In dem Augenblick, wenn der Meteor in unserer Atmosphäre angelangt ist, würde alles, was ihm im Weg steht -Menschen, Häuser, Fabriken, Autos - verbrennen und verschwinden wie Zellophan in einer Kerzenflamme.
Eine Sekunde nach dem Eintritt in die Atmosphäre würde der Meteorit auf die Erdoberfläche treffen, wo die Menschen einen Augenblick zuvor noch ihren normalen Tätigkeiten nachgegangen sind. Der Meteorit selbst würde sofort verdampfen, aber der Aufschlag würde 1000 Kubikkilometer Gestein, Erde und überhitzte Gase in die Luft schleudern. In einem Umkreis von rund 250 Kilometern würden alle Lebewesen, die noch nicht durch die Hitze beim Eintritt ums Leben gekommen sind, durch die Explosion getötet. Von der Einschlagstelle würde sich fast mit Lichtgeschwindigkeit eine Druckwelle in sämtliche Richtungen ausbreiten und alles hinwegfegen, was vor ihr liegt.
Für die Beobachter außerhalb der unmittelbaren Zerstörungszone wäre ein blendender Lichtblitz - der hellste, den menschliche Augen jemals gesehen haben -das erste Anzeichen der Katastrophe. Eine oder zwei Minuten später würde sich ein apokalyptischer Anblick von unvorstellbarer Großartigkeit bieten: eine brodelnde Wand aus Dunkelheit, die bis zum Himmel reicht, das gesamte Blickfeld ausfüllt und mit mehreren 1000 Stundenkilometern wandert. Da sie sich mit einem Vielfachen der Schallgeschwindigkeit bewegt, wäre ihre Ankunft von gespenstischer Stille begleitet. Wer sich beispielsweise in Omaha oder Des Moines in einem Hochhaus befindet und in die richtige Richtung blickt, würde einen bestürzenden Schleier des Durcheinanders sehen, auf den die sofortige Vernichtung folgt.
Nach wenigen Minuten wären in einem Gebiet von Denver bis Detroit, das auch Chicago, St. Louis, Kansas City, die Zwillingsstädte St. Paul und Minneapolis umfasst - also kurz gesagt, im gesamten mittleren Westen der USA - fast alle Gebäude plattgewalzt oder in Flammen aufgegangen, und nahezu alle Lebewesen wären tot. Noch 1500 Kilometer entfernt würden Menschen umgeworfen und von einem Hagel aus fliegenden Gegenständen aufgeschlitzt oder erschlagen. Erst in noch größerem Abstand würde die Zerstörungswirkung allmählich nachlassen.
Und das ist nur die erste Druckwelle. Wie groß die Zerstörungen wären, kann man nur vermuten, aber in jedem Fall kämen sie plötzlich und hätten weltweite Ausmaße. Der Einschlag würde mit ziemlicher Sicherheit eine ganze Serie verheerender Erdbeben auslösen. Überall auf der Erde würden Vulkane zu grummeln beginnen und Feuer speien. Flutwellen würden sich aufbauen und an weit entfernten Küsten riesige Zerstörungen anrichten. Innerhalb einer Stunde würden schwarze Wolken den ganzen Planeten einhüllen, überall würden glühende Steine und andere Trümmer herabregnen und große Teile der Erdoberfläche in Brand setzen. Nach Schätzungen wären am Ende des ersten Tages bereits eineinhalb Milliarden Menschen tot. Durch die gewaltigen Störungen in der Ionosphäre würden weltweit die Kommunikationsverbindungen zusammenbrechen, sodass die Überlebenden keine Ahnung mehr hätten, was in anderen Regionen vor sich geht. Es würde auch kaum eine Rolle spielen. Flüchten, so ein Kommentator, würde bedeuten, dass man statt des schnellen den langsamen Tod wählt. Die Zahl der Opfer würde durch alle nur denkbaren Ausweichbewegungen kaum beeinflusst, denn die Fähigkeit der Erde, Leben zu erhalten, wäre ganz allgemein vermindert.30
Ruß und Asche vom Einschlag und den nachfolgenden Bränden würden die Sonne sicher einige Monate, vielleicht auch mehrere Jahre lang verdunkeln und die biologischen Wachstumskreisläufe unterbrechen. Im Jahr 2001 analysierten Wissenschaftler am California Institute of Technology Heliumisotope aus Sedimenten, die vom Einschlag an der KT-Grenze übrig geblieben waren. Dabei stellte sich heraus, dass das Weltklima ungefähr 10000 Jahre lang beeinträchtigt war. Der Befund sprach wieder einmal für die Vorstellung, dass die Dinosaurier nach erdgeschichtlichen Maßstäben sehr schnell und auf dramatische Weise ausstarben. Wie gut - und ob überhaupt - die Menschheit mit einem solchen Ereignis zurechtkäme, können wir nur vermuten.
Und wie gesagt: Aller Wahrscheinlichkeit nach käme es ohne Vorwarnung buchstäblich aus heiterem Himmel.
Aber nehmen wir einmal an, wir hätten das Objekt kommen sehen. Was würden wir tun? Allgemein nimmt man an, wir würden einen Atomsprengkopf in den Weltraum jagen, der es in Stücke reißt. Aber diese Idee hat ihre Probleme. Zunächst einmal weist John S. Lewis darauf hin, dass unsere Waffen nicht für den Einsatz im Weltraum konstruiert sind. Sie entwickeln nicht genügend Schub, um das Schwerefeld der Erde zu verlassen, und selbst wenn das gelänge, besäßen sie keinen Mechanismus, mit dem man sie Zigmillionen Kilometer durch den Weltraum steuern könnte. Und noch weniger können wir wie in dem Film Armageddon eine Schiffsladung voller Weltraumcowboys beauftragen, die Sache für uns zu erledigen; wir besitzen nicht einmal mehr eine Rakete, die stark genug ist, um einen Menschen auf den Mond zu transportieren. Das letzte Modell, das dazu in der Lage war, die Saturn V, wurde schon vor Jahren ausgemustert und nie ersetzt. Wir könnten auch nicht schnell eine neue bauen, denn die Pläne für die Startvorrichtungen der Saturn-Raketen wurden im Rahmen eines Hausputzes bei der NASA vernichtet.
Und selbst wenn wir irgendwie einen Atomsprengkopf zum Asteroiden bringen und ihn zertrümmern könnten, wird er mit großer Wahrscheinlichkeit nur zu einer Kette kleinerer Stücke werden, die nacheinander bei uns einschlagen wie Shoemaker-Levy 9 auf dem Jupiter - nur mit dem Unterschied, dass die Brocken jetzt stark radioaktiv wären. Nach Ansicht des Asteroidenfachmannes Tom Gehrels von der University of Arizona würde selbst eine Vorwarnzeit von einem Jahr nicht ausreichen, um geeignete Maßnahmen zu ergreifen. Größer ist jedoch die Wahrscheinlichkeit, dass wir jedes Objekt - auch einen Kometen - erst sehen würden, wenn es nur noch sechs Monate von uns entfernt ist, und das wäre viel zu spät. Shoemaker-Levy 9 umkreiste den Jupiter schon seit 1929 auf einer verdächtigen Bahn, aber es dauerte über ein halbes Jahrhundert, bis ihn jemand bemerkte.34
Interessant ist noch etwas anderes: Da solche Dinge sehr schwierig und meist nur mit einer großen Fehlerspanne zu berechnen sind, wüssten wir selbst dann, wenn ein Objekt auf uns zusteuert, erst ganz am Ende - während der letzten Wochen -, ob mit Sicherheit eine Kollision bevorsteht. Vorher würden wir uns während der Annäherung in einer Art Trichter der Unsicherheit befinden. Es wären mit Sicherheit die interessantesten Monate der Weltgeschichte. Und man stelle sich nur die Party vor, wenn die Kollision ausbleibt!
»Wie oft kommen Einschläge wie der von Manson vor?«, frage ich Anderson und Witzke, bevor ich mich verabschiede.
»Ach, im Durchschnitt ungefähr alle Million Jahre«, erwidert Witzke.
»Und denken Sie daran«, fügt Anderson hinzu, »das hier war ein relativ unbedeutendes Ereignis. Wissen Sie, wie viele biologische Arten durch den Einschlag von Manson ausgestorben sind?«
»Keine Ahnung.«
»Keine«, erklärt er mit seltsam zufriedenem Gesicht. »Keine Einzige.«
Aber natürlich, so fügen beide eilig und mehr oder weniger gleichzeitig hinzu, habe es auf der Erde die gerade beschriebenen schrecklichen Zerstörungen gegeben, und in mehreren 100 Kilometern Umkreis um die Einschlagstelle sei alles vernichtet worden. Aber das Leben ist zäh, und als der Rauch sich verzog, gab es aus allen biologischen Arten so viele Überlebende, dass keine auf Dauer verschwand.
Die gute Nachricht lautet offenbar: Es muss schon entsetzlich viel passieren, damit eine Spezies ausgelöscht wird. Die schlechte: Auf die gute Nachricht kann man sich nicht verlassen. Und noch schlimmer ist, dass wir eigentlich gar nicht in den Weltraum blicken müssen, um schreckliche Gefahren zu finden. Wie wir noch sehen werden, hält auch die Erde selbst eine Fülle von Bedrohungen für uns bereit.
14. Feuer von unten
Im Sommer 1971 erkundete der junge Geologe Mike Voorhies ein Stück Weideland im Osten Nebraskas, nicht weit von der Kleinstadt Orchard, wo er aufgewachsen war. Während er durch einen Graben mit steilen Böschungen ging, sah er über sich im Gebüsch einen seltsamen Schimmer. Als er hochgeklettert war und sich die Sache genauer ansah, fand er den hervorragend erhaltenen Schädel eines jungen Nashorns, den starker Regen kurz zuvor freigelegt hatte.
Wie sich herausstellte, befand sich wenige Meter weiter eine der ungewöhnlichsten Fossillagerstätten, die man jemals in Nordamerika entdeckt hatte. Ein ausgetrocknetes Wasserloch war zum Massengrab für eine Fülle von Tieren geworden - Nashörner, zebraähnliche Pferde, Säbelzahnhirsche, Kamele, Schildkröten. Alle waren vor knapp 12 Millionen Jahren - zu einer Zeit, die in der Geologie als Miozän bezeichnet wird - durch eine rätselhafte Katastrophe ums Leben gekommen. Nebraska war damals eine riesige, warme Ebene, ganz ähnlich wie heute die Serengeti in Afrika. Als man die Tiere fand, waren sie unter einer bis zu drei Meter dicken Schicht aus Vulkanasche begraben. Das Rätselhafte dabei: Es gibt in Nebraska keine Vulkane und hat auch nie welche gegeben.
Heute trägt die Stelle, wo Voorhies seine Entdeckung machte, den Namen Ashfall Fossil Beds State Park. Es gibt hier ein schickes neues Besucherzentrum und ein Museum, das die geologischen Verhältnisse des Bundesstaates und die Geschichte der Fossillagerstätten auf wohl überlegte Weise präsentiert. Zu dem Besucherzentrum gehört auch ein Labor mit gläsernen Wänden, wo die Besucher zusehen können, wie Paläontologen die Knochen reinigen. An dem Morgen, als ich hier zu Besuch bin, arbeitet ein einziger Mann ganz allein in dem Labor: ein fröhlicher, grauhaariger Bursche im blauen Arbeitshemd. Es ist Mike Voorhies - ich kenne ihn aus der Fernsehdokumentation der BBC, in der er mitgewirkt hat. Der Ashfall Fossil Beds State Park hat nicht übermäßig viele Besucher - dazu ist seine Lage zu abgeschieden -, und Voorhies hat ganz offensichtlich Spaß daran, mich herumzuführen. Er zeigt mir die Stelle oberhalb des sechs Meter tiefen Grabens, wo er seine Entdeckung gemacht hat.
»Es war ein blöder Ort, um nach Knochen zu suchen«, sagt er fröhlich. »Aber ich habe gar nicht nach Knochen gesucht. Eigentlich wollte ich damals eine geologische Karte des Ostens von Nebraska zeichnen, und deshalb habe ich nur herumgestöbert. Wenn ich nicht diesem Graben gefolgt wäre, und wenn der Regen nicht kurz zuvor den Schädel freigelegt hätte, wäre ich vorbeigelaufen, und man hätte das alles nicht gefunden.« 1 Er zeigt auf einen überdachten Verschlag, in dem die wichtigste Ausgrabungsstelle liegt. Dort hat man ein riesiges Durcheinander von etwa 200 Tieren gefunden.
Ich frage ihn, warum es ein blöder Ort für die Suche nach Knochen war. »Nun ja, wenn man nach Knochen sucht, braucht man eigentlich frei liegendes Gestein. Deshalb findet Paläontologie meist in heißen, trockenen Regionen statt. Dort gibt es nicht etwa mehr Knochen, aber man hat eine bessere Chance, sie ausfindig zu machen. In einer Umgebung wie hier« - er macht mit dem Arm eine weit ausholende Bewegung über die riesige, eintönige Prärie - »weiß man überhaupt nicht, wo man anfangen soll. Da draußen könnten wirklich tolle Sachen liegen, aber die Oberfläche bietet keinen Anhaltspunkt, wo man am besten mit der Suche beginnt.«
Anfangs glaubte man, die Tiere seien lebendig begraben worden, und das schrieb Voorhies 1981 auch in einem Artikel des National Geographie Magazine. »In dem Bericht wurde die Stelle als >Pompeji der prähistorischen Tiere< bezeichnet«, erklärt er mir, »aber das war ein unglücklicher Name, denn kurz danach wurde uns klar, dass die Tiere durchaus nicht plötzlich gestorben waren. Sie litten alle an der so genannten hypertrophen pulmonalen Osteodystrophie - die bekommt man, wenn man viel körnige Asche einatmet. Und sie müssen viel davon aufgenommen haben, denn die Asche lag über Hunderte von Kilometern in einer meterdicken Schicht.« Er hebt einen grauen, lehmartigen Erdbrocken auf und zerkrümelt ihn in meine Hand. Es fühlt sich pulverig, aber auch ein wenig wie Sand an. »Übles Zeug, wenn man es einatmen muss«, fährt er fort. »Es ist zwar sehr feinkörnig, aber die Körner sind auch scharf. Jedenfalls sind die Tiere hier zu der Wasserstelle gekommen, vermutlich um ihren Durst zu löschen, und dann sind sie elend gestorben. Die Asche muss alles kaputtgemacht haben. Sie hat das ganze Gras unter sich begraben, alle Blätter bedeckt und das Wasser zu einem ungenießbaren grauen Schlamm gemacht. Das war sicher alles andere als angenehm.«
In dem BBC-Bericht hatte es sich so angehört, als seien derart große Aschevorkommen in Nebraska eine Überraschung. In Wirklichkeit wusste man schon lange, dass dort viel Asche abgelagert war. Seit fast einem Jahrhundert baute man sie ab und stellte daraus Scheuerpulver wie Comet und Ajax her. Aber seltsamerweise hatte sich nie jemand die Frage gestellt, woher die ganze Asche eigentlich stammte.
»Es ist ein bisschen peinlich«, sagt Voorhies mit einem kurzen Lächeln, »aber das erste Mal habe ich darüber nachgedacht, als der Redakteur von National Geographie mich nach der Herkunft der Asche fragte. Ich musste gestehen, dass ich es nicht wusste. Niemand wusste es.«
Voorhies schickte Proben an Kollegen im gesamten Westen der Vereinigten Staaten und fragte sie, ob sie daran irgendetwas wiedererkannten. Mehrere Monate später nahm der Geologe Bill Bonnichsen vom Idaho Geological Survey Kontakt mit ihm auf und erklärte, die Asche stimme mit einer vulkanischen Ablagerung an einem Ort namens Bruneau-Jarbidge im Südwesten von Idaho überein. Die Tiere in den Ebenen Nebraskas waren durch einen Vulkanausbruch ums Leben gekommen, dessen Ausmaße bis dahin undenkbar erschienen - er war so gewaltig, dass er 1500 Kilometer entfernt, im Osten von Nebraska, eine drei Meter hohe Ascheschicht hinterlassen hatte. Wie sich herausstellte, liegt unter dem Westen der Vereinigten Staaten ein riesiger Magmaherd, ein Zentrum der Vulkanaktivität, das vor rund 600000 Jahren mit seinem Ausbruch eine riesige Katastrophe auslöste. Der letzte Ausbruch liegt also etwas mehr als 600000 Jahre zurück. Den Magmaherd gibt es immer noch. Heute heißt er Yellowstone-Nationalpark.
Über das, was sich unter unseren Füßen abspielt, wissen wir verblüffend wenig. Es ist ein bemerkenswerter Gedanke: Autos von Ford rumpelten über die Straßen und Baseball-Clubs traten schon in den World Series gegeneinander an, bevor wir wussten, dass die Erde einen Kern hat. Und die Vorstellung, dass die Kontinente auf der Erdoberfläche driften wie Seerosenblätter auf dem Wasser, ist erst seit einer Generation Allgemeingut. »So seltsam dies auch erscheinen mag«, schrieb Richard Feynman, »wir verstehen die Verteilung von Materie im Inneren der Sonne weit besser als das Erdinnere.« 3
Die Entfernung von der Oberfläche zum Mittelpunkt der Erde beträgt gut 6400 Kilometer - keine besonders große Strecke.4 Würde man ein Loch bis zum Mittelpunkt bohren und einen Backstein hineinfallen lassen, so würde er Berechnungen zufolge nach nur 45 Minuten unten ankommen (dort hätte er allerdings kein Gewicht mehr, weil die Schwerkraft der Erde nicht mehr nur unter ihm, sondern über ihm und um ihn herum ist). Bisher haben wir aber nur wahrhaft bescheidene Versuche unternommen, in Richtung des Mittelpunkts vorzudringen. Die eine oder andere Goldmine in Südafrika ist bis zu drei Kilometer tief, die meisten Bergwerke liegen aber nicht mehr als 400 Meter unter der Oberfläche. Wäre die Erde ein Apfel, hätten wir damit noch nicht einmal die Schale durchstoßen. Wir sind sogar nicht einmal annähernd so weit.
Bis vor einem knappen Jahrhundert wussten auch die kenntnisreichsten wissenschaftlichen Köpfe über das Erdinnere nicht mehr als ein Bergmann: Man kann ein Stück weit durch Erde graben, dann trifft man auf Gestein, und das war’s. Erst 1906 fiel dem irischen Geologen Richard Dixon Oldham nach einem Beben in Guatemala bei der Analyse von Erdbebenwellen auf, dass manche Stoßwellen bis zu einer Stelle tief im Inneren der Erde vorgedrungen und dann in einem Winkel abgeprallt waren, als wären sie auf eine Art Barriere gestoßen. Daraus zog er den Schluss, dass die Erde einen Kern haben muss. Drei Jahre später untersuchte der kroatische Seismologe Andrija Mohorovicic die Messkurven von einem Erdbeben in Zagreb, und dabei bemerkte er eine ähnlich seltsame Ablenkung, die aber in weit geringerer Tiefe stattgefunden hatte. Damit hatte er die Grenze zwischen der Erdkruste und der unmittelbar darunter liegenden Schicht, dem Erdmantel, gefunden; diese Zone ist seitdem als Mohorovicic-Diskontinuität oder kurz Moho bekannt.
Allmählich kristallisierte sich eine vage Vorstellung von der Schichtstruktur des Erdinneren heraus - aber sie war wirklich nur vage. Erst 1936 entdeckte die dänische Wissenschaftlerin Inge Lehmann bei der Untersuchung der Seismogramme von Erdbeben in Neuseeland, dass der Kern zwei Teile hat: einen inneren, der nach heutiger Kenntnis fest ist, und einen äußeren (denjenigen, den Oldham entdeckt hatte), der vermutlich flüssig ist und von dem das Magnetfeld der Erde ausgeht.
Ungefähr zur gleichen Zeit, als Lehmann die seismischen Wellen von Erdbeben untersuchte und damit unsere Grundkenntnisse über das Erdinnere erweiterte, entwickelten zwei Geologen am California Institute of Technology eine Methode, um verschiedene Erdbeben zu vergleichen. Sie hießen Charles Richter und Beno Gutenberg, aber aus Gründen, die nichts mit Fairness zu tun haben, wurde ihr Maßstab sofort ausschließlich Richter-Skala genannt. (Es lag auch nicht an Richter. Er war ein bescheidener Mensch und bezeichnete die Skala selbst nie mit seinem Namen; stattdessen sprach er immer nur von »der Größenskala« 5.)
Die Richter-Skala wurde von Nichtwissenschaftlern fast immer missverstanden, heute vielleicht etwas weniger als am Anfang: Damals wollten Besucher, die Richter in seinem Arbeitszimmer aufsuchten, häufig die berühmte Skala sehen, die sie für eine Art Maschine hielten. In Wirklichkeit ist sie natürlich mehr ein Gedanke als ein Gegenstand, ein willkürliches Maß für die Erschütterungen der Erde, wie man sie an der Oberfläche messen kann. Sie steigt logarithmisch an: Ein Beben der Stärke 7,3 ist fünfzigmal stärker als eines der Stärke 6,3 und tausendmal stärker als eines, bei dem der Wert 5,3 gemessen wird.6
Für die Stärke von Erdbeben gibt es zumindest theoretisch keine Obergrenze - und übrigens auch keine Grenze nach unten. Die Skala ist nur ein Maß für die Kraft, sagt aber nichts über Zerstörungen aus. Ein Beben der Stärke 7, das sich tief im Erdmantel ereignet -beispielsweise in 600 Kilometer Tiefe -, richtet an der Oberfläche vielleicht überhaupt keinen Schaden an; ein wesentlich kleineres dagegen, das nur sieben Kilometer unter der Oberfläche abläuft, ist möglicherweise mit verheerenden, weiträumigen Zerstörungen verbunden. Viel hängt auch von der Art des Unterbodens, von der Dauer des Bebens, von Häufigkeit und Schwere der Nachbeben sowie von den physikalischen Gegebenheiten in dem betroffenen Gebiet ab. Aus allen diesen Gründen sind die erschreckendsten Erdbeben nicht unbedingt die stärksten, auch wenn die Kraft natürlich eine wichtige Rolle spielt.
Das größte Erdbeben seit der Erfindung der Skala fand (je nachdem, welcher Quelle man Glauben schenkt) entweder im März 1964 im Prince William Sound vor Alaska statt - es erreichte den Wert 9,2 auf der RichterSkala - oder aber 1960 im Pazifik vor der Küste Chiles, wo anfangs die Stärke 8,6 gemessen wurde, die aber manche maßgeblichen Institutionen (darunter die United States Geological Survey) später auf wahrhaft gewaltige 9,5 korrigierten. Wie man schon an dieser Tatsache ablesen kann, ist die Messung von Erdbeben nicht immer exakte Wissenschaft, insbesondere wenn man Messwerte aus abgelegenen Gegenden interpretieren muss. So oder so hatten beide Erdbeben riesige Ausmaße. Das Beben von 1960 richtete nicht nur an der gesamten Küste Südamerikas umfangreiche Schäden an, sondern es setzte auch eine ungeheure Flutwelle in Gang, die 10000 Kilometer weit über den Pazifik rollte, bis sie schließlich die Innenstadt von Hilo auf Hawaii hinwegfegte, 500 Gebäude zerstörte und 60 Menschen tötete.
Ähnliche Überflutungen forderten im weit entfernten Japan und auf den Philippinen sogar noch mehr Opfer.
Was aber die reine gezielte Zerstörung angeht, war eines der heftigsten Erdbeben in historischer Zeit jenes, das am Allerheiligentag (dem 1. November) 1755 die portugiesische Hauptstadt Lissabon erschütterte und weitgehend dem Erdboden gleichmachte. Kurz vor zehn Uhr morgens erlebte die Stadt plötzlich einen seitlichen Ruck, der nach heutigen Schätzungen die Stärke 9,0 hatte, und dann wurde sie volle sieben Minuten lang durchgeschüttelt. Das Beben war so stark, dass das Wasser aus dem Hafen der Stadt strömte und als 15 Meter hohe Welle zurückkehrte, die ebenfalls zur Zerstörung beitrug. Als die Bewegung schließlich nachließ, konnten die Überlebenden sich nur über drei ruhige Minuten freuen, dann kam der zweite Stoß, der nur geringfügig schwächer war als der erste. Ein dritter und letzter folgte zwei Stunden später. Am Ende waren 60000 Menschen tot, und im Umkreis von mehreren Kilometern lag praktisch kein Stein mehr auf dem anderen. Im Vergleich dazu war das Erdbeben von 1906 in San Francisco mit einer Stärke von schätzungsweise 7,8 auf der Richter-Skala und einer Dauer von weniger als 30 Sekunden ein relativ kleines Ereignis.
Erdbeben kommen recht häufig vor. Jeden Tag ereignen sich irgendwo auf der Erde durchschnittlich zwei Beben mit einer Stärke von mindestens 2,0 - genug, damit alle Menschen in der Nähe einen ordentlichen Stoß verspüren. Zwar beobachtet man eine Häufung in bestimmten Regionen - insbesondere rund um den Pazifik -, Erdbeben können aber fast überall auftreten. In den Vereinigten Staaten sind nur Florida, der Osten von Texas und der Norden des Mittleren Westens fast immun - jedenfalls bisher. Neuengland erlebte in den letzten 200 Jahren zwei Beben der Stärke 6,0 oder größer. Im April 2002 erschütterte ein Beben der Stärke 5, l die Region nicht weit vom Lake Champlain an der Grenze der Bundesstaaten New York und Vermont. Es richtete im näheren Umkreis umfangreiche Schäden an, und wie ich aus eigener Anschauung bestätigen kann, fielen noch in New Hampshire Bilder von den Wänden und Kinder aus dem Bett.
Der häufigste Typ von Erdbeben entsteht, wenn zwei tektonische Platten zusammentreffen, wie in Kalifornien entlang der San-Andreas-Störung. Schieben die Platten sich gegeneinander, baut sich eine Spannung auf, bis beide mit einem Ruck nachgeben. Je mehr Zeit zwischen zwei Erdbeben vergeht, desto größer ist in der Regel die angestaute Spannung, und desto höher ist demnach auch die Wahrscheinlichkeit für einen starken Erdstoß. Besonders beunruhigend ist dies im Falle Tokios. Bill McGuire, ein Gefahrenexperte am Londoner University College, bezeichnet die japanische Hauptstadt als »Stadt, die auf ihren Tod wartet« 8 (eine Formulierung, die man sicher nicht in Touristenprospekten finden wird). Tokio steht auf der Grenze zwischen drei tektonischen Platten, und das in einem Land, das ohnehin für seinen geologisch unruhigen Untergrund bekannt ist. In böser Erinnerung ist das Jahr 1995, als die knapp 500 Kilometer westlich gelegene Großstadt Kobe von einem Beben der Stärke 7,2 betroffen war, bei dem 6394 Menschen ums Leben kamen. Der Schaden wurde damals auf 99 Milliarden Dollar geschätzt. Aber das war noch gar nichts - nun ja, oder jedenfalls relativ wenig - im Vergleich zu dem, was Tokio möglicherweise noch bevorsteht.
Die japanische Hauptstadt war schon einmal Schauplatz eines der verheerendsten Erdbeben der Neuzeit. Am 1. September 1923, kurz vor zwölf Uhr mittags, wurde die Stadt von dem so genannten Großen Kanto-Beben erschüttert, das über zehntausendmal stärker war als das Beben von Kobe. Es forderte 200000 Todesopfer. Seit jener Zeit herrscht in Tokio geradezu gespenstische Ruhe, das heißt, unter der Oberfläche bauen sich seit 80 Jahren Spannungen auf. Irgendwann werden sie sich lösen. Im Jahr 1923 hatte Tokio rund drei Millionen Einwohner, heute sind es fast 30 Millionen. Niemand macht sich die Mühe, die Zahl der möglichen Todesopfer zu schätzen, aber der potenzielle wirtschaftliche Schaden wurde mit bis zu sieben Billionen Dollar beziffert.9
Noch beunruhigender, weil weniger gut bekannt und überall jederzeit möglich, sind die selteneren Erdbeben, die sich innerhalb einzelner tektonischer Platten entladen. Sie ereignen sich weitab von den Plattengrenzen und sind deshalb völlig unvorhersehbar. Und da ihr Ausgangspunkt in viel größerer Tiefe liegt, pflanzen sie sich häufig auch über viel größere Gebiete fort. Berüchtigt war beispielsweise eine Serie von drei Beben, die sich im Winter 1811/12 in New Madrid im US-Bundesstaat Missouri ereignete. Es begann am 16. Dezember kurz nach Mitternacht. Die Bewohner erwachten zunächst vom panischen Geschrei des Viehs (dass Tiere vor einem Erdbeben nervös werden, ist kein Ammenmärchen, sondern eine gut belegte Tatsache, auch wenn niemand den genauen Grund kennt), und dann folgte ein gewaltiges, brechendes Geräusch, das tief aus der Erde kam. Die Bewohner stürzten aus ihren Häusern und wurden Zeugen, wie das Land sich in bis zu einem Meter hohen Wellen bewegte. Spalten von mehreren Metern Tiefe öffneten sich, und stechender Schwefelgeruch erfüllte die Luft. Das Beben dauerte vier Minuten und richtete die üblichen, verheerenden materiellen Schäden an. Unter den Augenzeugen war der Künstler John James Audubon, der sich zufällig gerade in der Gegend aufhielt. Das Beben pflanzte sich mit derartiger Kraft in alle Richtungen fort, dass es noch im fast 700 Kilometer entfernten Cincinnati im US-Staat Ohio die Schornsteine umstürzen ließ, und zumindest nach einem Bericht »zerstörte es die Schiffe in den Häfen an der Ostküste und ... ließ sogar Gerüste einstürzen, die man in Washington, D. C., rund um das Kapitol errichtet hatte«.10 Am 23. Januar und 4. Februar folgten weitere, ähnlich starke Beben. Seitdem ist in New Madrid alles ruhig geblieben -was aber nicht verwunderlich ist, denn soweit man weiß, haben sich solche Episoden nie zweimal am gleichen Ort abgespielt. Nach heutiger Kenntnis ereignen sie sich ebenso zufällig wie Blitze. Das nächste Beben könnte unter Chicago, Paris oder Kinshasa stattfinden. Man kann darüber nicht einmal Vermutungen anstellen. Und was ist die Ursache für derart gewaltige Störungen innerhalb einer Platte? Irgendein Vorgang tief in der Erde. Viel mehr wissen wir nicht.
In den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts waren die Wissenschaftler wegen ihrer mangelnden Kenntnisse über das Erdinnere so frustriert, dass sie sich entschlossen, etwas Grundlegendes herauszufinden. Genauer gesagt, kamen sie auf die Idee, durch den Meeresboden (die kontinentale Kruste erschien ihnen zu dick) eine Bohrung bis zur Moho-Diskontinuität zu treiben und so Proben aus dem Erdmantel zu gewinnen, die sie dann nach Belieben untersuchen konnten. Dahinter stand der Gedanke, man müsse etwas über die verschiedenen Gesteine im Erdinneren wissen, um so ihre gegenseitigen Wechselwirkungen zu verstehen und daraus möglicherweise Vorhersagen über Erdbeben und andere unangenehme Ereignisse abzuleiten.
Wie nicht anders zu erwarten, wurde das Projekt unter dem Namen Mohole (Moho-Loch) bekannt, und es endete mit einem Debakel.11 Man wollte einen Bohrer vor der Küste Mexikos mehr als 4000 Meter tief im Pazifik versenken und dann durch das Krustengestein bohren, das dort mit etwas über 5000 Metern relativ dünn ist. Von einem Schiff auf hoher See aus zu bohren, »gleicht dem Versuch, von der obersten Etage des Empire State Building aus mit einem Spaghetti ein Loch in den Bürgersteig von New York zu bohren«, wie ein Meeresforscher es formulierte. Alle Versuche endeten mit Fehlschlägen. Die tiefste Bohrung kam über 183 Meter nicht hinaus, und aus dem Mohole wurde das NoHole. Im Jahr 1966 hatte man genug von ständig steigenden Kosten und ausbleibenden Ergebnissen: Der amerikanische Kongress stellte das Vorhaben ein.
Vier Jahre später entschlossen sich sowjetische Wissenschaftler, an Land ihr Glück zu versuchen. Sie entschieden sich für eine Stelle auf der Kola-Halbinsel in Russland, nicht weit von der finnischen Grenze. Als sie an die Arbeit gingen, hatten sie vor, die Bohrung bis in eine Tiefe von 15 Kilometern zu treiben. Das erwies sich als unerwartet schwierig, aber die Sowjets waren von lobenswerter Hartnäckigkeit. Als sie 19 Jahre später schließlich aufgaben, waren sie bis in eine Tiefe von 12262 Metern vorgedrungen. Wenn man bedenkt, dass die Erdkruste nur rund 0,3 Prozent des Volumens unseres Planeten ausmacht und dass das Loch auf der KolaHalbinsel diese Kruste noch nicht einmal zu einem Drittel durchdrungen hatte, können wir kaum behaupten, wir hätten das Erdinnere erobert.
Interessanterweise erlebten die Wissenschaftler aber schon mit diesem bescheidenen Loch jede Menge Überraschungen. Auf Grund seismischer Untersuchungen waren sie mit ziemlicher Sicherheit davon überzeugt, dass sie bis in eine Tiefe von 4700 Metern auf Sedimentgestein stoßen würden, gefolgt von Granit auf den nächsten 2300 Metern und dann von Basalt. Als es so weit war, stellte sich heraus, dass das Sedimentgestein um 50 Prozent dicker war, als man erwartet hatte, und die Basaltschicht fand man überhaupt nicht. Außerdem war es dort unten viel wärmer, als irgendjemand angenommen hatte: In 10000 Metern Tiefe herrschten bereits 180 Grad Celsius, fast das Doppelte der vorhergesagten Temperatur. Am überraschendsten aber war, dass das Gestein in dieser Tiefe mit Wasser gesättigt war - das hatte nun wirklich niemand für möglich gehalten.
Da wir nicht ins Erdinnere blicken können, müssen wir uns anderer Methoden bedienen; in den meisten Fällen handelt es sich dabei um die Interpretation von Wellen, die durch die Erde gewandert sind. Einige Kenntnisse über den Erdmantel stammen auch aus den so genannten Kimberlit-Schloten, in denen die Diamanten entstehen.14 Tief in der Erde findet eine Explosion statt, die eigentlich eine Kanonenkugel aus Magma mit Überschallgeschwindigkeit in Richtung der Oberfläche abfeuert. Das geschieht rein zufällig. Gerade während Sie dieses Buch lesen, könnte hinter Ihrem Haus ein Kimberlit-Schlot explodieren. Da das Material aus großer Tiefe - bis zu 200 Kilometern - stammt, bringt es alle möglichen Dinge mit, die an der Oberfläche oder in ihrer Nähe normalerweise nicht zu finden sind, beispielsweise ein als Peridotit bezeichnetes Gestein, Olivinkristalle und ganz gelegentlich, ungefähr in einem unter 100 Schloten, Diamanten. Das Material, das die Schlote ausstoßen, enthält eine Menge Kohlenstoff, der aber zum größten Teil verdampft oder sich in Graphit verwandelt. Nur in seltenen Fällen schießt ein Schwall genau mit der richtigen Geschwindigkeit nach oben und kühlt sich ausreichend schnell ab, sodass er zum Diamanten wird. Ein solcher Schlot machte Johannesburg zur Welt-Hauptstadt des Diamantenbergbaus, aber es könnte auch andere, noch größere geben, die wir nur nicht kennen. Die Geologen wissen, dass es irgendwo im Nordosten des US-Bundesstaates Indiana Anhaltspunkte für einen Schlot oder eine Gruppe von Schloten von wahrhaft gewaltigen Ausmaßen gibt. An verschiedenen Stellen in dieser Region hat man Diamanten von bis zu 20 Karat gefunden, aber die Ursprungsstelle konnte bisher niemand ausfindig machen. Nach Ansicht von John McPhee könnte sie wie der Krater von Manson in Iowa unter Gletscherschutt begraben liegen oder sich unter den Großen Seen befinden.
Was wissen wir denn nun eigentlich über das Erdinnere? Die Antwort: sehr wenig. Allgemein sind sich die Fachleute einig, dass die Welt unter unseren Füßen aus vier Schichten besteht: einer äußeren Kruste aus Gestein, einem Mantel aus zähflüssigem Gestein, einem flüssigen* äußeren Kern und einem festen inneren Kern. Wir wissen, dass an der Oberfläche die Silikate vorherrschen, die relativ leicht sind und deshalb nicht allein die
* Hier die Ausmaße der einzelnen Schichten für jene, die sich ein genaueres Bild vom Erdinneren machen möchten (Zahlen sind jeweils Durchschnittswerte): Kruste bis 40 Kilometer, oberer Mantel 40 bis 400 Kilometer, Übergangszone zwischen oberem und unterem Mantel 400 bis 650 Kilometer, unterer Mantel 650 bis 2700 Kilometer. Dann folgt von 2700 bis 2890 Kilometer die »D«-Schicht (eine Übergangszone), von 2890 bis 5150 Kilometer die äußere Schale des Kerns und von 5150 bis 6378 Kilometer der eigentliche Kern.
Gesamtdichte des Planeten ausmachen können. Im Inneren muss sich demnach schwereres Material befinden. Weiterhin wissen wir, dass es irgendwo im Erdinneren einen dichten Gürtel aus flüssigen metallischen Elementen geben muss, der das Erdmagnetfeld erzeugt. Bis hierher herrscht allgemein Einigkeit. Alles, was darüber hinausgeht - die Wechselbeziehungen zwischen den Schichten, die Ursachen ihres Verhaltens und ihr Verhalten in der Zukunft -, ist zumindest mit einer gewissen Unsicherheit behaftet, und ganz allgemein sind die Ungewissheiten groß.
Selbst der einzige Teil, den wir sehen können, die Kruste, ist Gegenstand einer recht hitzigen Debatte. In fast allen Lehrbüchern der Geologie kann man nachlesen, die kontinentale Kruste sei unter den Meeren fünf bis zehn Kilometer, unter den Kontinenten rund 40 Kilometer und unter hohen Gebirgen bis 70 Kilometer dick, aber in diesem allgemeinen Rahmen beobachtet man zahlreiche rätselhafte Schwankungen. Unter dem Gebirge der Sierra Nevada beispielsweise hat die Kruste nur eine Dicke von 25 bis 40 Kilometern - warum, weiß niemand. Nach allen Gesetzmäßigkeiten der Geophysik müsste die Sierra Nevada eigentlich versinken, als stünde sie auf Treibsand.16 (Und manche Fachleute glauben auch, dass es so ist.)
In der Frage, wie und wann die Erde mit ihrer Kruste ausgestattet wurde, sind die Geologen in zwei große Lager gespalten: Die einen glauben, es sei sehr plötzlich in der Frühzeit der Erdgeschichte geschehen, nach Ansicht der anderen bildete sich die Kruste erst sehr viel später und ganz allmählich. Solche Themen sind sehr gefühlsbeladen. Richard Armstrong von der Yale University formulierte Anfang der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts eine Theorie der frühzeitigen Entstehung und musste dann den Rest seiner Berufslaufbahn darauf verwenden, sich mit den Vertretern anderer Ansichten auseinander zu setzen. Er starb 1991 an Krebs, aber kurz vor seinem Tod »holte er in einer australischen geowissenschaftlichen Fachzeitschrift zu einem polemischen Rundumschlag gegen seine Kritiker aus und warf ihnen vor, sie verbreiteten Märchen«, so ein Artikel der Zeitschrift Earth aus dem Jahr 1998. Und ein Kollege berichtete: »Er starb als verbitterter Mensch.«
Die Kruste und ein Teil des äußeren Mantels werden gemeinsam auch als Lithosphäre bezeichnet (von griechisch lithos, Stein). Sie schwimmt auf einer weicheren Gesteinsschicht, der Asthenosphäre (von den griechischen Ausdrücken für »ohne Kraft« ), aber solche Begriffe sind nie ganz zufrieden stellend. wenn man sagt, dass die Lithosphäre auf der Asthenosphäre schwimmt, denkt man an ein leichtes Schweben, das es in diesem Ausmaß in Wirklichkeit nicht gibt. Ähnlich irreführend ist es auch, wenn man sich vorstellt, Gestein würde so fließen, wie wir es von anderen Materialien auf der Erdoberfläche kennen.
Gestein ist zwar zähflüssig, aber nur ungefähr in dem gleichen Umfang wie Glas. Auch wenn man es nicht sieht, fließt Glas unter dem unbarmherzigen Zug der Schwerkraft ständig abwärts. Eine wirklich alte Fensterscheibe, die man aus einer europäischen Kathedrale entnimmt, ist am unteren Ende stets merklich dicker als oben. Von dieser Art des »Fließens« ist hier die Rede. Der Stundenzeiger einer Uhr bewegt sich ungefähr zehntausendmal schneller als das »fließende« Gestein des Erdmantels.
Dabei handelt es sich nicht nur um seitliche Bewegungen, mit denen die Platten der Erdkruste über die Oberfläche treiben, sondern sie verlaufen auch auf und ab: Das Gestein steigt und fällt unter dem Einfluss eines Umwälzungsprozesses, den man als Konvektion bezeichnet. Zu dem Schluss, dass es einen solchen Vorgang geben muss, gelangte der exzentrische Graf von Rumford erstmals gegen Ende des 18. Jahrhunderts. 60 Jahre später äußerte ein englischer Geistlicher namens Osmond Fisher die weitsichtige Vermutung, das Erdinnere könne so flüssig sein, dass sein Inhalt sich hin und her bewege, aber bis diese Idee eine größere Anhängerschaft fand, sollte noch viel Zeit vergehen.19
Als den Geophysikern um 1970 klar wurde, welche Umwälzungen sich da unten abspielen, war das ein ziemlicher Schock. Shawna Vogel formuliert es in dem Buch Naked Earth. The New Geophysics so: »Es war, als hätten die Wissenschaftler Jahrzehnte damit zugebracht, die Schichten der Erdatmosphäre - Troposphäre, Stratosphäre und so weiter - gegeneinander abzugrenzen, um dann plötzlich festzustellen, dass es auch so etwas wie den Wind gibt.« 20
Wie tief die Konvektion hinabreicht, ist immer noch umstritten. Nach Ansicht mancher Fachleute beginnt sie in einer Tiefe von einigen hundert Kilometern, andere geben 3000 Kilometer an. Nach Angaben von Donald Trefil besteht das Problem darin, »dass es zwei Gruppen von Daten gibt, die aus unterschiedlichen Fachgebieten stammen und nicht miteinander zu vereinbaren sind«. Die Geochemiker behaupten, bestimmte Elemente auf der Erdoberfläche könnten nicht aus dem oberen Mantel stammen, sondern müssten ihren Ursprung in tieferen Schichten haben. Deshalb müsse sich das Material aus oberem und unterem Mantel hin und wieder vermischen. Die Seismologen dagegen beharren darauf, es gebe keine Indizien, die eine solche Ansicht stützen.
Deshalb kann man nur eines mit Sicherheit sagen: Wenn wir immer weiter in Richtung des Erdmittelpunkts vordringen, verlassen wir an irgendeiner nicht ganz genau bestimmten Stelle die Asthenosphäre und treten in den eigentlichen Mantel ein. Angesichts der Tatsache, dass er 82 Prozent des Volumens der Erde und 65 Prozent ihrer Masse ausmacht, zieht der Mantel relativ wenig Aufmerksamkeit auf sich, insbesondere weil die Vorgänge, für die sich Wissenschaftler und Laienpublikum gleichermaßen interessieren, sich entweder (wie der Magnetismus) in größerer Tiefe oder (wie beispielsweise die Erdbeben) dichter unter der Oberfläche abspielen. Wir wissen, dass der Mantel bis in einer Tiefe von rund 160 Kilometern vorwiegend aus einem als Peridotit bezeichneten Gestein besteht, aber was das Material in dem Bereich jenseits davon betrifft, herrscht Unsicherheit. Nach einem Bericht in dem Fachblatt Nature scheint es sich jedenfalls nicht um Peridotit zu handeln. Viel mehr wissen wir nicht.
Unter dem Mantel liegen die beiden Schichten des Kerns: der feste innere und der flüssige äußere Kern. Wie man sich leicht vorstellen kann, verfügen wir nur über indirekte Erkenntnisse, aber immerhin kann man in diesem Bereich einige vernünftige Vermutungen anstellen. So weiß man beispielsweise, dass am Erdmittelpunkt ein derart hoher Druck herrscht - er ist etwa drei Millionen Mal höher als an der Oberfläche -, dass Gestein dort in jedem Fall fest wird. Außerdem kann man aus der Erdgeschichte (und anderen Indizien) ableiten, dass der innere Kern seine Wärme sehr gut festhält. Es ist zwar eigentlich nur eine Vermutung, aber man nimmt an, dass die Temperatur im Kern über vier Milliarden Jahre hinweg nur um rund 110 Grad Celsius gesunken ist. Wie hoch die Temperatur im Erdkern liegt, weiß niemand genau; die Schätzungen reichen von 3900 bis 7200 Grad - damit wäre er ungefähr so heiß wie die Oberfläche der Sonne.
Über den äußeren Kern weiß man in vielerlei Hinsicht weniger gut Bescheid, aber es herrscht allgemein Einigkeit, dass er flüssig ist und dass hier das Magnetfeld seinen Ursprung hat. Im Jahr 1949 stellte Edward Crisp Bullard von der Universität Cambridge die Theorie auf, dass dieser flüssige Teil des Erdkerns durch seine besondere Art der Drehung zu einer Art Elektromotor wird, der das Magnetfeld der Erde erzeugt. Nach dieser Vorstellung verhalten sich die flüssigen Substanzen in der Erde, die sich durch Konvektion bewegen, in gewisser Weise wie der Strom in einem Draht. Was sich dabei im Einzelnen abspielt, weiß man nicht, aber man ist sich ziemlich sicher, dass es mit der Rotation des Erdkerns und seinem flüssigen Zustand zu tun hat. Himmelskörper, die keinen flüssigen Kern besitzen, wie beispielsweise Mond und Mars, haben auch kein Magnetfeld.
Bekannt ist auch, dass die Stärke des Erdmagnetfeldes sich ab und an verändert: Zur Zeit der Dinosaurier war es bis zu dreimal so stark wie heute.24 Darüber hinaus wissen wir, dass seine Richtung durchschnittlich rund alle 500000 Jahre wechselt, wobei sich hinter diesem Durchschnittswert aber ein starkes Maß an Unberechenbarkeit verbirgt. Die letzte Umkehrung liegt etwa 750000 Jahre zurück. Manchmal bleibt die Orientierung des Magnetfeldes mehrere Millionen Jahre lang gleich - die längste derartige Phase erstreckte sich anscheinend über 37 Millionen Jahre -, zu anderen Zeiten wechselte sie jeweils schon nach 20000 Jahren. Insgesamt haben in den letzten 100 Millionen Jahren ungefähr 200 derartige Umkehrungen stattgefunden, aber was die Ursachen angeht, haben wir nicht einmal eine vernünftige Ahnung. Das Phänomen wurde als »die größte unbeantwortete Frage der Geowissenschaften« bezeichnet.26
Möglicherweise erleben wir auch gerade jetzt eine solche Umkehrung. Das Magnetfeld der Erde hat sich allein in den letzten 100 Jahren um bis zu sechs Prozent abgeschwächt. Jede derartige Verminderung des Magnetfeldes ist vermutlich etwas Schlechtes, denn Magnetismus hält nicht nur Notizen am Kühlschrank fest und sorgt dafür, dass Kompassnadeln in die richtige Richtung zeigen, sondern er ist für uns lebenswichtig. Im Weltraum gibt es eine Fülle schädlicher kosmischer Strahlungen, und ohne magnetischen Schutz würden diese Strahlen unseren Körper durchdringen und die Information in großen Teilen unserer DNA unleserlich machen. Solange das Magnetfeld funktioniert, hält es die Strahlen in sicherer Entfernung von der Erdoberfläche und lenkt sie in die so genannten Van-Allen-Gürtel, zwei Zonen im Weltraum nicht weit von unserem Planeten. Außerdem treten sie mit Teilchen in den oberen Atmosphäreschichten in Wechselwirkung und erzeugen so die zauberhaften Lichtschleier, die wir unter dem Namen Nord- und Südlicht kennen.
Interessanterweise hat unser Unwissen seine Ursache zu einem großen Teil darin, dass man sich traditionell wenig Mühe gegeben hat, die Erforschung der Vorgänge über und innerhalb der Erde zu koordinieren. Oder, wie Shawna Vogel es formuliert: »Geologen und Geophysiker besuchen kaum einmal dieselben Tagungen, und ebenso selten arbeiten sie gemeinsam an den gleichen Fragestellungen.«
Vielleicht nirgendwo zeigt sich unser unzulängliches Wissen über die Dynamik im Erdinneren so deutlich wie in der Tatsache, dass es uns kalt erwischt, wenn sie sich bemerkbar macht. Wohl kaum ein anderes Ereignis war deshalb eine so heilsame Erinnerung an die Grenzen unserer Kenntnisse wie der Ausbruch des Mount St. Helens im US-Bundesstaat Washington im Jahre 1980.
Damals hatte es in den zusammenhängenden 48 Bundesstaaten der USA seit über 65 Jahren keinen Vulkanausbruch mehr gegeben. Die staatlichen Vulkanologen, die das Verhalten des St. Helens überwachen und vorhersagen sollten, hatten nur auf Hawaii aktive Vulkane gesehen, und wie sich herausstellte, war das keineswegs das Gleiche.
Das unheilvolle Grummeln des Mount St. Helens begann am 20. März. Eine Woche später spie er bis zu 100-mal am Tag Magma aus, allerdings nur in bescheidenen Mengen. Außerdem wurde er ständig von Erdbeben erschüttert. Man evakuierte die Menschen und brachte sie in eine Entfernung von 13 Kilometern, die man für sicher hielt. Als die Aktivität sich verstärkte, wurde der St. Helens zur Attraktion für Touristen aus der ganzen Welt. Die Zeitungen gaben täglich Tipps, von welchen Stellen aus man den besten Blick hatte. Immer wieder flogen Fernsehteams mit Hubschraubern zum Gipfel und man sah sogar Menschen, die auf den Berg kletterten. An einem Tag umkreisten über 70 Helikopter und Kleinflugzeuge den Gipfel. Aber als ein Tag nach dem anderen verging, ohne dass sich aus dem Grummeln etwas Dramatisches entwickelt hätte, machte sich Unruhe breit, und allgemein setzte sich die Ansicht durch, der Vulkan werde letztlich doch nicht ausbrechen.
Am 19. April beulte sich die Nordflanke des Berges verdächtig aus. Bemerkenswerterweise erkannte kein Verantwortlicher, dass sich damit eine seitliche Eruption ankündigte. Die Seismologen stützten sich mit ihren Erkenntnissen ausschließlich auf ihre Beobachtungen an den Vulkanen auf Hawaii, die niemals in seitlicher Richtung ausbrechen.28 Eigentlich gab es nur einen, der etwas wahrhaft Schlimmes vorhersagte: Jack Hy de, Professor für Geologie an einem kommunalen College in Tacoma. Er wies darauf hin, dass der St. Helens im Gegensatz zu den hawaiianischen Vulkanen nicht über einen offenen Schlot verfügte, sodass der Druck, der sich im Inneren aufstaute, irgendwann unter dramatischen und möglicherweise katastrophalen Umständen abgebaut werden musste. Aber Hyde gehörte nicht zu den amtlichen Beobachtern, und seine Überlegungen fanden kaum Aufmerksamkeit.
Was als Nächstes geschah, wissen wir alle. Am Sonntag, dem 18. Mai um 8 Uhr 32 morgens brach die Nordseite des Vulkans auf, und eine riesige Staub- und Gesteinslawine raste mit fast 250 Stundenkilometern den Bergabhang hinunter. Es war der größte Erdrutsch der Menschheitsgeschichte, und die dabei transportierte Materialmenge hätte ausgereicht, um ganz Manhattan unter einer 120 Meter tiefen Schicht zu begraben. Eine Minute später detonierte der St. Helens mit der Kraft von 500 Hiroshima-Atombomben und stieß eine mörderisch heiße Wolke mit bis zu 1000 Stundenkilometern aus -natürlich viel zu schnell, als dass irgendjemand im näheren Umkreis hätte fliehen können. Sie holte auch viele Menschen ein, die sich in sicherer Entfernung glaubten und den Vulkan unter Umständen noch nicht einmal sehen konnten. 57 Personen kamen ums Leben, und die Leichen von 23 der Opfer wurden nie gefunden. Hätte sich der Ausbruch nicht an einem Sonntag ereignet, hätte die Zahl der Toten noch viel höher gelegen. An einem Werktag wären viele Waldarbeiter in der Todeszone tätig gewesen. Noch in fast 30 Kilometern Entfernung kamen Menschen ums Leben.
Das größte Glück hatte an jenem Tag ein Doktorand namens Harry Glicken. Er hatte zuvor einen Beobachtungsposten neun Kilometer vom Berg entfernt besetzt, sollte aber am 18. Mai in Kalifornien zu einem Einstellungsgespräch an einem College erscheinen und war deshalb am Tag vor dem Ausbruch abgereist. Seinen Platz nahm David Johnston ein; dieser berichtete als einer der Ersten über den Ausbruch und war wenige Augenblicke später tot. Seine Leiche fand man nie. Auch Glickens Glück war nicht von langer Dauer. Elf Jahre später gehörte er zu einer Gruppe von 43 Wissenschaftlern und Journalisten, die an dem japanischen Vulkan Unzen in ein tödliches Gemisch aus überhitzter Asche, Gasen und geschmolzenem Gestein - eine so genannte pyroklastische Strömung - geriet; auch hier hatte man die Aktivität des Vulkans falsch eingeschätzt, und das mit katastrophalen Folgen.
Vulkanforscher gehören vielleicht nicht unbedingt zu den Wissenschaftlern auf der Welt, die am wenigsten in der Lage sind, Voraussagen zu machen, aber in jedem Fall erkennen sie am wenigsten von allen, wie schlecht ihre Voraussagen sind. Noch nicht einmal zwei Jahre nach der Katastrophe am Unzen stieg eine andere Gruppe unter Leitung von Stanley Williams von der University of Arizona in den Krater des aktiven Vulkans Galeras in Kolumbien hinunter. Obwohl es in den vorangegangenen Jahren so viele Todesfälle gegeben hatte, trugen nur zwei der 16 Mitglieder Sicherheitshelme und andere Schutzausrüstung. Der Vulkan brach aus, sechs Wissenschaftler und mit ihnen auch drei Touristen, die ihnen gefolgt waren, kamen ums Leben, und mehrere andere, darunter Williams selbst, wurden schwer verletzt.
In einem außerordentlich wenig selbstkritischen Buch mit dem Titel Der Feuerberg schrieb Williams später, er habe »nur erstaunt den Kopf geschüttelt« , als er erfahren habe, dass er nach Ansicht seiner Vulkanforscherkollegen wichtige seismische Signale übersehen oder missachtet und sich verantwortungslos verhalten habe. »Es ist so einfach, hinterher nachzutreten und sich auf die Kenntnisse zu berufen, die wir heute über die Ereignisse von 1993 besitzen«, schrieb er. Nach seiner eigenen Überzeugung hatte er sich keines schlimmeren Vergehens schuldig gemacht als einen unglücklichen Zeitpunkt zu wählen, als der Galeras »sich launisch verhielt, wie Naturkräfte es so häufig tun. Ich habe mich täuschen lassen, und dafür übernehme ich die Verantwortung. Aber ich fühle mich nicht schuldig am Tod meiner Kollegen. Es gibt keine Schuld. Es gab nur eine Eruption.«
Aber zurück in den US-Bundesstaat Washington. Der Mount St. Helens verlor mehr als 400 Meter an Höhe, und fast 600 Quadratkilometer Wald wurden verwüstet. Die umgeknickten Bäume hätten ausgereicht, um 150000 Einfamilienhäuser (nach manchen Berichten auch 300000) zu bauen. Der Schaden wurde mit 2,7 Milliarden Dollar beziffert. Eine riesige Säule aus Rauch und Asche stieg in noch nicht einmal zehn Minuten bis in eine Höhe von 20000 Metern auf. Der Pilot einer rund 50 Kilometer entfernten Linienmaschine berichtete, sein Flugzeug sei von Steinbrocken bombardiert worden.
90 Minuten nach dem Ausbruch begann in Yakima, einer kleinen, rund 130 Kilometer entfernten Stadt mit 50000 Einwohnern, der Ascheregen. Wie nicht anders zu erwarten, machte die Asche den Tag zur Nacht und setzte sich überall ab - sie verstopfte Motoren, Generatoren und elektrische Schalter, nahm Fußgängern die Luft, blockierte Filtersysteme und brachte das gesamte Leben zum Stillstand. Der Flughafen wurde ebenso geschlossen wie die Landstraßen, die in die Stadt führten.
Wohlgemerkt: Das alles spielte sich im unmittelbaren Umfeld eines Vulkans ab, der bereits seit zwei Monaten drohend grummelte. Dennoch gab es in Yakima keinen Notfallplan für Vulkanausbrüche.34 Das städtische Rundfunksystem, das eigentlich in Krisensituationen in Aktion treten sollte, ging nicht auf Sendung; der Grund: »Die Sonntagmorgenschicht wusste nicht, wie man die Geräte bedient.« Drei Tage lang war Yakima gelähmt und von der Außenwelt abgeschnitten, der Flughafen war geschlossen, die Zufahrtsstraßen unpassierbar. Und dabei regnete nach dem Ausbruch des Mount St. Helens insgesamt nur eine knapp zwei Zentimeter dicke Ascheschicht auf die Stadt herab. Das sollte man im Hinterkopf behalten, wenn wir uns als Nächstes ansehen, welche Auswirkungen ein Ausbruch in der YellowstoneRegion hätte.
15. Gefährliche Schönheit
In den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts beschäftigte sich Bob Christiansen vom United States Geological Survey mit der Geschichte der vulkanischen Aktivitäten im Yellowstone-Nationalpark. Dabei stieß er auf ein Rätsel, das vor ihm seltsamerweise noch niemandem aufgefallen war: Er konnte den Vulkan des Parks nicht finden. Dass das Yellowstone-Gebiet vulkanischer Natur war, wusste man schon lange - es ist der Grund, dass es dort so viele Geysire und andere natürliche Wärmequellen gibt -, und ein Vulkan ist ja normalerweise ein sehr auffälliges Gebilde. Dennoch konnte Christiansen nirgendwo im Yellowstone-Park einen Vulkan ausfindig machen. Insbesondere fand er nicht die typische Struktur, die man als Caldera bezeichnet.
Wenn wir an Vulkane denken, stellen wir uns meist die klassische Kegelform eines Fuji oder Kilimandscharo vor. Sie entsteht, wenn ausgebrochene Lava als symmetrischer Berg erstarrt, und das geschieht unter Umständen bemerkenswert schnell. Im Jahr 1943 bemerkte ein erstaunter Bauer in der mexikanischen Ortschaft Paricutin, wie Rauch von seinem Land aufstieg.1 Eine Woche später war er der verblüffte Besitzer eines 150 Meter hohen Kegels. Nach zwei Jahren war der Berg mehr als 400 Meter hoch und hatte einen Durchmesser von fast einem Kilometer. Insgesamt gibt es auf der Erde rund 10000 solche offen sichtbaren Vulkane, die mit Ausnahme von ein paar 100 erloschen sind. Es gibt aber auch einen zweiten, weniger bekannten Vulkantyp, der nicht mit der Entstehung von Bergen in Verbindung steht. Diese Vulkane sind so explosiv, dass sie mit einem einzigen großen Knall ausbrechen, und anschließend bleibt eine riesige, abgesunkene Grube zurück, die Caldera (von dem lateinischen Wort für einen Kessel). Der YellowstoneVulkan musste zu diesem zweiten Typ gehören, aber eine Caldera fand Christiansen nirgendwo.
Zur gleichen Zeit wollte die NASA gerade einige neue Kameras für Aufnahmen aus großer Höhe testen, und dabei wurden auch Bilder des Yellowstone-Gebiets gemacht. Ein hilfsbereiter Beamter gab Kopien an die Parkbehörde weiter in der Annahme, sie könnten zu einem neuen Schmuckstück für eines der Besucherzentren werden. Als Christiansen die Fotos sah, wusste er sofort, warum er die Caldera nicht ausfindig gemacht hatte: Praktisch der gesamte Park, eine Fläche von fast 9000 Quadratkilometern, gehörte dazu. Der Ausbruch hatte einen Krater von fast 70 Kilometern Durchmesser hinterlassen, und deshalb war die Senke viel zu groß, als dass ein bodengebundener Beobachter sie bemerken konnte. Irgendwann in der Vergangenheit muss der Yellowstone-Vulkan mit einer Gewalt ausgebrochen sein, die alle menschlichen Maßstäbe bei weitem überstieg.
Heute wissen wir, dass Yellowstone ein Supervulkan ist. Er liegt über einem riesigen Magmaherd, einem Reservoir mit geschmolzenem Gestein, das aus einer Tiefe von mindestens 200 Kilometern aufsteigt. Seine Wärme liefert die Energie für die vielen Schlote, Geysire, heißen Quellen und kochenden Schlammtümpel im YellowstoneNationalpark. Die unterirdische Magmakammer hat einen Durchmesser von rund 73 Kilometern - damit ist sie ungefähr ebenso groß wie der Park -, und an der dicksten Stelle ist sie 14 Kilometer hoch. Man stelle sich einen Stapel TNT von der eineinhalb fachen Größe des Saarlandes vor, der 14 Kilometer hoch in den Himmel ragt und dort die höchsten Federwolken berührt, dann hat man eine Ahnung davon, über was für einem Gebilde die Besucher des Yellowstone-Parks herumspazieren. Durch den Druck, den dieser Magmavorrat auf die Erdkruste ausübt, liegen die Yellowstone-Region und ein Gebiet in 500 Kilometern Umkreis um etwa 500 Meter höher, als es sonst der Fall wäre. Welche Katastrophe ein Ausbruch hervorrufen würde, kann man sich überhaupt nicht vorstellen. Professor Bill McGuire vom Londoner University College meint: »Bei einer Eruption käme man nicht näher als 1000 Kilometer heran.« Und die Folgen wären noch in einem weitaus größeren Umkreis zu spüren.
Riesige Magmaherde wie der, über dem die Yellowstone-Region liegt, ähneln ein wenig einem Martiniglas: Sie sind unten schmal, werden zur Oberfläche hin breiter und bilden ein gewaltiges Gefäß voll instabilen Magmas. Ein solches Reservoir kann einen Durchmesser von bis zu 2000 Kilometern haben. Verschiedenen Theorien zufolge muss es nicht unbedingt mit einer Explosion ausbrechen, sondern es kann auch platzen und sich in einem großen, ununterbrochenen Strom aus geschmolzenem Gestein entladen. Auf diese Weise entstanden beispielsweise vor 65 Millionen Jahren die Deccan Traps in Indien. (Traps kommt in diesem Zusammenhang von einem schwedischen Wort für einen bestimmten Lavatyp; Deccan ist einfach der Name der Region.) Sie bedeckten ein Gebiet von über 500000 Quadratkilometern und trugen durch das ausströmende, giftige Gas vermutlich zum Aussterben der Dinosaurier bei - oder zumindest verlangsamten sie es nicht gerade. Ähnliche Magmaherde dürften auch die Grabenbrüche erzeugen, die dann zum Auseinanderbrechen der Kontinente führen.
Solche Herde sind durchaus nicht selten. Derzeit gibt es auf der Erde etwa 30 aktive derartige Stellen, und sie haben viele der bekanntesten Inseln und Inselgruppen hervorgebracht - Island, Hawaii, die Azoren, die Kanarischen und die Galapagos-Inseln, das kleine Pitcairn mitten im Südpazifik und viele andere -, aber mit Ausnahme des Yellowstone-Gebiets liegen sie alle unter dem Ozean. Niemand hat auch nur die geringste Ahnung, warum dieser eine unter einer kontinentalen Platte zu liegen kam. Sicher ist nur zweierlei: Die Erdkruste ist im Yellowstone-Gebiet besonders dünn, und die Bereiche darunter sind sehr heiß. Aber ob die Kruste wegen der heißen Stelle so dünn ist, oder ob die heiße Stelle sich dort befindet, weil die Kruste dünn ist, wird hitzig (wie passend!) diskutiert. Die Tatsache, dass es sich um eine kontinentale Kruste handelt, spielt für die Ausbrüche eine große Rolle. Während die anderen Supervulkane meist stetig blubbern und relativ gutartig sind, neigt der in der Yellowstone-Region zu explosiven Ausbrüchen. Sie ereignen sich nicht oft, aber wenn es geschieht, sollte man sich nicht in der Nähe befinden.
Seit der ersten bekannten Eruption vor 16,5 Millionen Jahren ist er ungefähr 100 Mal ausgebrochen, aber nur über die letzten drei derartigen Ereignisse wird ausführlich geschrieben. Die jüngste Eruption war 1000-mal größer als die des Mount St. Helens, die davor 280-mal größer, und die drittletzte war so groß, dass niemand ihr genaues Ausmaß kennt. Im Vergleich zum St. Helens lag der Faktor bei mindestens 2500, vielleicht aber auch bei 8000.
Wir kennen absolut nichts Vergleichbares. Der größte Ausbruch in jüngerer Zeit war der des Krakatau in Indonesien im August 1883. Der Knall war neun Tage lang rund um die Erde zu hören, und er erzeugte noch im Ärmelkanal eine Flutwelle. Aber wenn man das Volumen des dabei ausgestoßenen Materials auf die Größe eines Golfballs verkleinern würde, wären die Produkte des größten Yellowstone-Ausbruchs immer noch so groß, dass man sich hinter der Kugel verstecken könnte. Der Mount St. Helens wäre nach diesem Maßstab noch nicht einmal so groß wie eine Erbse.
Bei dem Yellowstone-Ausbruch vor zwei Millionen Jahren wurde so viel Asche frei, dass sie den gesamten US-Bundesstaat New York 22 Meter hoch oder Kalifornien sechs Meter hoch unter sich begraben hätte. Aus dieser Asche entstanden die Fossillagerstätten, die Mike Voorhies im Osten Nebraskas fand. Die Eruption ereignete sich im heutigen Idaho, aber im Laufe der Jahrmillionen hat sich die Erdkruste mit einer Geschwindigkeit von rund zweieinhalb Zentimetern im Jahr verschoben, sodass die Stelle heute unmittelbar unter dem Nordwesten von Wyoming liegt. (Der Magmaherd selbst bleibt immer am gleichen Ort, wie ein Acetylenschneidbrenner, den man gegen die Zimmerdecke richtet.) Dahinter blieben Ebenen mit fruchtbarem Vulkanboden zurück, der sich ideal für den Kartoffelanbau eignet - das wissen die Bauern von Idaho schon seit langer Zeit.
Geologen scherzen gern, die Yellowstone-Region werde in weiteren zwei Millionen Jahren die Pommes frites für McDonald’s liefern, und die Bevölkerung von Billings in Montana werde zwischen Geysiren herumlaufen.
Der Ascheregen der letzten Yellowstone-Eruption bedeckte das Gebiet von 19 heutigen US-Bundesstaaten sowie Teile Kanadas und Mexikos - fast die gesamten Vereinigten Staaten westlich des Mississippi. In diesem Gebiet, das sollte man nicht vergessen, liegt der Brotkorb Amerikas: Hier wächst ungefähr die Hälfte der Weltgetreideproduktion. Und Asche, auch daran sollte man denken, ist kein Schnee, der im nächsten Frühjahr wieder taut. Wenn man danach wieder Getreide anbauen will, muss man einen Ort finden, an den man die ganze Asche bringt. Tausende von Arbeitern waren acht Monate lang damit beschäftigt, 1,8 Milliarden Tonnen Trümmer von dem 65 Hektar großen Gelände des World Trade Center in New York zu beseitigen. Wie lange würde es wohl dauern, Kansas aufzuräumen?
Und dabei sind die Folgen für das Klima noch nicht einmal berücksichtigt. Der letzte Ausbruch eines Supervulkans war der des Toba auf Sumatra vor 74000 Jahren.4 Man weiß nur, dass er riesig war, aber das genaue Ausmaß kennt niemand. Wie man an Eisbohrkernen aus Grönland erkennt, setzte anschließend ein sechsjähriger »Vulkanwinter« ein, und danach war das Pflanzenwachstum wahrscheinlich noch längere Zeit gestört. Dieses Ereignis hätte nach heutiger Kenntnis vermutlich fast zum Aussterben der Menschen geführt -die Weltbevölkerung wurde auf nur noch 1000 Personen dezimiert. Demnach stammen alle heutigen Menschen von einer sehr kleinen Ausgangspopulation ab, und damit haben wir eine Erklärung für unsere geringe genetische Vielfalt. Jedenfalls deuten manche Indizien darauf hin, dass die Gesamtzahl der Menschen während der nachfolgenden 20000 Jahre nie über einige 1000 hinausging.5 Es braucht wohl nicht besonders betont zu werden, dass dies nach einem einzigen Vulkanavisbruch eine sehr lange Erholungszeit ist.
Das alles war bis 1973 eigentlich nur von theoretischem Interesse, aber dann wurde es durch eine seltsame Beobachtung plötzlich sehr konkret: Das Wasser im Yellowstone Lake mitten in dem Nationalpark stieg am Südrand des Sees plötzlich über die Ufer und überschwemmte eine Wiese, während es am anderen Ende auf rätselhafte Weise absank. Bei eiligen Vermessungsarbeiten stellten die Geologen fest, dass sich in einem großen Bereich des Parks eine unheilvolle Ausbeulung gebildet hatte. Das eine Ende des Sees hob sich, sodass das Wasser in die andere Richtung strömte, als würde man ein Kinderplanschbecken auf einer Seite anheben. Schon 1984 lag der gesamte Mittelteil des Parks - rund 100 Quadratkilometer - um ungefähr einen Meter höher als 1924, als man den Park offiziell vermessen hatte. Im Jahr 1985 sank dann die Mitte des Parks wiederum 20 Zentimeter ab. Derzeit scheint sie erneut aufzusteigen.
Den Geologen war klar, dass der Vorgang nur eine Ursache haben konnte: eine unruhige Magmakammer. Unter dem Yellowstone-Nationalpark befand sich kein alter, sondern ein sehr aktiver Supervulkan. Ungefähr zur gleichen Zeit fand man auch heraus, dass der Kreislauf der Yellowstone-Eruptionen durchschnittlich alle 600000 Jahre zu einem großen Ausbruch führt. Der letzte liegt interessanterweise 630000 Jahre zurück. Yellowstone, so scheint es, ist überfällig.
»Sie merken es vielleicht nicht, aber Sie stehen hier auf dem größten aktiven Vulkan der Welt« 6, erklärt mir Paul Doss, Geologe beim Yellowstone-Nationalpark, nachdem er von seiner riesigen Harley Davidson gestiegen ist und mir die Hand geschüttelt hat. Wir haben uns am frühen Morgen eines angenehmen Junitages beim Verwaltungszentrum des Parks in Mammoth Hot Springs getroffen. Doss, gebürtig aus Indiana, ist ein liebenswürdiger, sanfter, sehr nachdenklicher Mann. Mit dem grauen Bart und den zu einem langen Pferdeschwanz zusammengebundenen Haaren sieht er überhaupt nicht so aus, wie man sich einen Nationalparkmitarbeiter vorstellt. Ein Saphir-Piercing schmückt ein Ohr, und unter der adretten Uniform der Parkverwaltung zeichnet sich ein kleines Bäuchlein ab. Man würde ihn eher für einen Bluesmusiker als für einen Angestellten des öffentlichen Dienstes halten. Blues spielt er tatsächlich (auf der Mundharmonika), aber sein Beruf und seine große Liebe ist die Geologie. »Dafür bin ich hier am besten Ort der Welt«, sagt er, als wir uns in einem robusten, mitgenommenen Wagen mit Allradantrieb in Richtung des Geysirs »Old Faithful« auf den Weg machen. Ich darf Doss einen Tag lang bei der normalen Arbeit eines Nationalparkgeologen zusehen. Heute besteht seine erste Aufgabe darin, vor einer neuen Gruppe von Fremdenführern einen Einführungsvortrag zu halten.
Es braucht wohl nicht besonders erwähnt zu werden, dass der Yellowstone-Nationalpark von atemberaubender Schönheit ist: gedrungene, majestätische Berge, Wiesen voller Bisons, murmelnde Wasserläufe, ein himmelblauer See, unzählige wilde Tiere. »Besser kann man es nicht haben, wenn man Geologe ist«, sagt Doss. »Oben bei Beartooth Gap gibt es Gestein, das ist fast drei Milliarden Jahre alt - drei Viertel des Alters der Erde. Und dann haben wir hier die Mineralquellen« - dabei zeigt er auf die heißen Schwefelquellen, denen Mammoth seinen Namen verdankt. »An denen kann man sehen, wie Gestein geboren wird. Und dazwischen liegt alles, was man sich nur vorstellen kann. Ich habe nie eine Stelle kennen gelernt, wo die Geologie offenkundiger ist - oder schöner.«
»Es gefällt Ihnen also?«, frage ich.
»O nein, ich liebe es von ganzem Herzen«, erwidert er mit tiefster Überzeugung. »Ich meine, ich habe es wirklich lieb. Der Winter ist hart, und die Bezahlung ist nicht gerade toll, aber wenn alles stimmt, ist es einfach ...«
Er unterbricht sich und zeigt nach Westen. In der Ferne ist gerade eine Lücke der Bergkette ins Blickfeld gerückt.
Wie er mir erklärt, wurden diese Berge früher als Gallatins bezeichnet. »Die Lücke hat einen Durchmesser von 100 oder vielleicht auch 110 Kilometern. Lange wusste niemand, warum sie dort ist, aber dann erkannte Bob Christiansen, dass es die Berge einfach weggerissen haben muss.Wenn Berge auf einer Strecke von 100 Kilometern verschwinden, dann weiß man, dass das einen ziemlich heftigen Grund haben muss. Sechs Jahre hat Christiansen gebraucht, um das alles herauszufinden.«
Ich will wissen, was damals die Ursache für den großen Ausbruch war.
»Keine Ahnung. Das weiß niemand. Vulkane sind seltsam. Eigentlich verstehen wir sie überhaupt nicht. Der Vesuv in Italien war 300 Jahre aktiv, bis zu einem Ausbruch im Jahr 1944, und seither schweigt er einfach. Er ist ganz ruhig. Manche Vulkanforscher glauben, dass er sich ganz heftig neu auflädt, und das ist natürlich ein bisschen beunruhigend, denn in seiner Nähe leben zwei Millionen Menschen. Aber genau weiß es niemand.«
»Und welche Vorwarnzeit hätten Sie, wenn es im Yellowstone-Park losgeht?«
Er zuckt die Achseln. »Als er das letzte Mal gespuckt hat, war noch niemand dabei, und deshalb weiß auch niemand, wie die Warnzeichen aussehen. Vermutlich gäbe es viele Erdbeben, die Oberfläche würde sich ein wenig heben, und möglicherweise würde sich auch das Verhalten von Geysiren und Dampfschloten verändern, aber das sind nur Vermutungen.«
»Er könnte also auch ohne Vorwarnung ausbrechen?«
Doss nickt nachdenklich. Wie er mir erklärt, besteht das Hauptproblem darin, dass alle Phänomene, die Warnzeichen darstellen könnten, im Yellowstone-Gebiet bereits in einem gewissen Umfang vorhanden sind.
»Erdbeben sind in der Regel die Vorboten eines Vulkanausbruchs, aber es gibt in dem Park auch jetzt schon eine Menge Erdbeben - allein im letzten Jahr waren es 1260. Die meisten sind so klein, dass man sie nicht spürt, aber Erdbeben sind es dennoch.«
Weiter erklärt er mir, dass auch eine Veränderung im Zeitplan der Geysirausbrüche ein Hinweis sein könnte, aber der ist ohnehin unberechenbaren Schwankungen unterworfen. Früher war der Excelsior Geyser die berühmteste Heißwasserfontäne des Parks. Er brach regelmäßig aus und erreichte spektakuläre Höhen von fast 100 Metern, aber im Jahr 1888 stellte er seine Aktivität einfach ein. 1985 brach er dann erneut aus, allerdings nur mit einer Höhe von 25 Metern. Wenn der Steamboat Geyser ausbricht, ist er der größte Geysir in der Welt -sein Wasser schießt 130 Meter hoch in die Luft -, aber die Abstände zwischen den Ausbrüchen schwanken zwischen vier Tagen und fast 50 Jahren. »Wenn er heute aktiv wird und dann nächste Woche wieder, besagt das überhaupt nichts über sein Verhalten in der übernächsten Woche oder in der danach oder in 20 Jahren«, sagt Doss. »Alles in dem Park ist so launisch, dass man aus den Vorgängen fast nie irgendwelche Schlüsse ziehen kann.«
Ohnehin wäre es nicht einfach, den Yellowstone-Park zu evakuieren. Er ist jedes Jahr das Ziel von rund drei Millionen Besuchern, und die meisten kommen in den drei Monaten der sommerlichen Hochsaison. Es gibt in dem Park verhältnismäßig wenig Straßen, und die sind absichtlich eng gebaut, einerseits damit der Verkehr langsam fließt, andererseits aber auch damit das Landschaftsbild erhalten bleibt und teilweise außerdem wegen geländebedingter Notwendigkeiten. Im Hochsommer braucht man häufig einen halben Tag, um den Park zu durchqueren, und es dauert Stunden, bis man in dem Gelände irgendein Ziel erreicht hat. »Wenn die Leute ein Tier sehen, halten sie einfach an, ganz egal, wo«, erklärt Doss. »Wir haben einen Bär-Stau. Wir haben einen Bison-Stau. Wir haben einen Wolf-Stau.«
Im Herbst 2000 setzten sich Vertreter des U. S. Geological Survey und der Nationalparkverwaltung mit einigen Wissenschaftlern zusammen und gründeten eine Institution namens Yellowstone Volcanic Observatory. Vier solche Körperschaften gab es bereits - in Hawaii, Kalifornien, Alaska und Washington -, aber seltsamerweise existierte keine in dem größten Vulkangebiet der Welt. Das YVO ist eigentlich nichts Greifbares, sondern eher eine Idee - die Übereinkunft, bei der Untersuchung und Analyse der vielfältigen geologischen Verhältnisse in dem Park zusammenzuarbeiten. Wie Doss mir erzählt, bestand eine ihrer ersten Aufgaben darin, einen »Erdbeben- und Vulkan-Notfallplan« auszuarbeiten - einen Plan, wie man im Fall einer Krise vorgehen will.
»Gibt es den nicht schon?«, will ich wissen.
»Nein. Ich fürchte nicht. Aber bald haben wir ihn.«
»Ist das nicht ein bisschen spät?«
Er lächelt. »Na ja, sagen wir mal, es ist bestimmt nicht zu früh.«
Wenn er fertig ist, sollen drei Fachleute - Christiansen im kalifornischen Menlo Park, Professor Robert B. Smith an der University of Utah und Doss im Park selbst - die Katastrophengefahr beurteilen und die Parkverwaltung beraten. Der Parkleiter würde dann entscheiden, ob das Gebiet evakuiert wird. Für die umgebenden Regionen gibt es keine Pläne. Bei einem wirklich großen Ausbruch wäre jeder, der die Tore des Parks hinter sich gelassen hat, auf sich selbst gestellt.
Bis es so weit ist, können natürlich ohne weiteres noch Zehntausende von Jahren vergehen. Nach Doss’ Ansicht muss ein solches Ereignis sogar überhaupt nicht eintreten. »Nur weil es früher eine Gesetzmäßigkeit gegeben hat, bedeutet das nicht, dass sie auch für die Zukunft gilt«, sagt er. »Manche Befunde legen die Vermutung nahe, dass zu dieser Gesetzmäßigkeit eine Reihe katastrophaler Explosionen gehört, auf die dann eine lange Ruhepause folgt. Vielleicht befinden wir uns jetzt in dieser Periode. Derzeit sprechen die Anhaltspunkte dafür, dass große Teile der Magmakammer sich abkühlen und auskristallisieren. Flüchtige Stoffe werden frei; die müssen aber aufgestaut werden, damit es zu einer explosiven Eruption kommt.«
Vorerst aber gibt es im Yellowstone-Park und um ihn herum zahlreiche andere Gefahren. Dies zeigte sich auf verheerende Weise in der Nacht des 17. August 1959 an einem Ort namens Hebgen Lake knapp außerhalb des Parks. An jenem Tag, rund 20 Minuten vor Mitternacht, ereignete sich dort ein katastrophales Erdbeben. Es war mit einer Stärke von 7,5 auf der Richter-Skala nicht so heftig, wie Erdbeben sein können, aber mit seinen abrupten Stößen ließ es eine ganze Bergkette einstürzen. Das Ganze spielte sich auf dem Höhepunkt der sommerlichen Reisesaison ab, aber glücklicherweise besuchten damals noch nicht so viele Menschen den Yellowstone-Park wie heute. 80 Millionen Tonnen Gestein stürzten mit über 150 Stundenkilometern von dem Berg. Dabei erreichten sie eine derart hohe Energie, dass das vordere Ende des Erdrutsches sich auf der anderen Seite des Tales noch 120 Meter bergauf bewegte. Auf seinem Weg lag ein Teil des Campingplatzes von Rock Creek. 28 Camper kamen ums Leben, und 19 von ihnen wurden so tief begraben, dass man sie nicht mehr fand. Es waren sehr plötzliche und entsetzlich unberechenbare Zerstörungen. Drei Brüder zum Beispiel, die in einem Zelt schliefen, wurden verschont. Ihre Eltern dagegen lagen unmittelbar neben ihnen in einem zweiten Zelt - sie wurden hinweggefegt, und man sah sie nie wieder.
»Irgendwann wird sich ein großes Erdbeben ereignen -und ich meine ein wirklich großes«, erklärt mir Doss. »Darauf können Sie wetten. Das hier ist eine große Erdbeben-Verwerfungszone.«
Trotz des Bebens von Hebgen Lake und aller anderen bekannten Risiken wurden im Yellowstone-Nationalpark erst in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts ständige Seismometer installiert.
Wer noch nicht richtig einschätzen kann, wie gewaltig und unausweichlich geologische Vorgänge sind, sollte sich die Tetons ansehen, eine großartig zerklüftete Bergkette unmittelbar südlich des Yellowstone-Nationalparks. Vor neun Millionen Jahren gab es die Tetons noch nicht. Rund um Jackson Hole erstreckten sich nur grasbewachsene Hochebenen. Aber dann öffnete sich in der Erde ein 65 Kilometer langer Graben, und seither erleben die Tetons ungefähr alle 900 Jahre ein großes Erdbeben, das ausreicht, um sie jedes Mal rund zwei Meter weiter in die Höhe zu heben. Diese Stöße, die sich über die Erdzeitalter hinweg ständig wiederholten, ließen die Berge zu ihrer heutigen majestätischen Höhe von mehr als 2000 Metern aufsteigen.
Die 900 Jahre sind ein Durchschnittswert, und der ist ein wenig irreführend. Nach Angaben von Robert B. Smith und Lee J. Siegel in ihrem Buch Windows into the Earth, einer geologischen Geschichte der Region, ereignete sich das letzte große Erdbeben im Bereich der Bergkette irgendwann vor 5000 bis 7000 Jahren. Die Tetons sind, kurz gesagt, unter allen Erdbebenregionen der Erde schon am längsten überfällig.
Beträchtliche Gefahren gehen auch von hydrothermalen Explosionen aus. Sie können sich jederzeit praktisch überall ereignen und sind völlig unberechenbar. »Wissen Sie, natürlich leiten wir die Besucher in die Senken mit den Thermalquellen«, erklärt mir Doss, nachdem wir gemeinsam einen Ausbruch des Geysirs Old Faithful beobachtet haben. »Deshalb kommen sie her. Wussten Sie, dass es im Yellowstone-Nationalpark mehr Geysire und heiße Quellen gibt als auf der ganzen übrigen Erde zusammen?«
»Nein.«
Er nickt. »Es sind 10000, und niemand weiß, wann sich die nächste Öffnung auftut.« Wir fahren zum Duck Lake, einem stehenden Gewässer mit einem Durchmesser von ein paar 100 Metern. »Der sieht völlig harmlos aus«, sagt er. »Es ist nur ein großer Teich. Aber früher gab es dieses Loch nicht. Irgendwann in den letzten 15000 Jahren hat es hier richtig geknallt. Da wurden mehrere zigmillionen Tonnen Erde, Gestein und überhitztes Wasser mit Überschallgeschwindigkeit ausgestoßen. Sie können sich vorstellen, was passieren würde, wenn so etwas beispielsweise unter dem Parkplatz am Old Faithful oder bei einem der Besucherzentren passiert.« Er blickt unglücklich drein.
»Gäbe es denn überhaupt keine Warnung?«
»Vermutlich nicht. Die letzte nennenswerte Explosion in dem Park ereignete sich 1989 an einer Stelle namens Pork Chop Geyser. Sie hinterließ einen Krater von fünf Metern Durchmesser - nicht gerade riesig, aber groß genug, wenn man zu jener Zeit gerade dort stand. Glücklicherweise war niemand in der Nähe, und deshalb gab es keine Verletzten, aber es geschah völlig ohne Vorwarnung. In sehr ferner Vergangenheit haben Explosionen durchaus Löcher von eineinhalb Kilometer Durchmesser gerissen. Und niemand kann Ihnen sagen, wo oder wann so etwas wieder geschieht. Man kann nur hoffen, dass man dann nicht gerade daneben steht.«
Eine weitere Gefahr sind herabstürzende große Steine. Einen solchen Steinschlag gab es 1999 im Gardiner Canyon, aber wieder kamen glücklicherweise keine Menschen zu Schaden. Am späten Nachmittag halten Doss und ich an einer Stelle, wo über einer belebten Nationalparkstraße ein Felsüberhang droht. Die Risse im Gestein sind deutlich zu sehen. »Der könnte jederzeit runterkommen«, sagt Doss nachdenklich.
»Das ist doch nicht Ihr Ernst«, erwidere ich. Es gibt nicht einen Augenblick, in dem nicht mindestens zwei Autos darunter vorbeifahren, und in allen sitzen vergnügte Touristen.
»Nun ja, die Wahrscheinlichkeit ist nicht sehr groß«, fügt er hinzu. »Ich sage nur, er könnte. Ebenso könnte alles noch jahrzehntelang so bleiben. Man kann es einfach nicht sagen. Die Leute müssen akzeptieren, dass es mit einem gewissen Risiko verbunden ist, wenn man hierher kommt. Das ist einfach so.«
Während wir zu seinem Auto zurückkehren und uns wieder in Richtung Mammoth Hot Springs auf den Weg machen, fügt Doss hinzu: »Das Merkwürdige ist, dass die schlimmen Dinge meistens nicht passieren. Felsen stürzen nicht ab. Erdbeben finden nicht statt. Neue heiße Quellen öffnen sich nicht plötzlich. Für so viel Instabilität ist es hier meistens erstaunlich ruhig.«
»Wie die Erde selbst«, bemerkte ich.
»Genau.«
Von den Risiken sind die Mitarbeiter des YellowstoneNationalparks genauso betroffen wie die Besucher. Ein grausiges Gespür dafür bekam Doss vor fünf Jahren, eine Woche nachdem er seine Stelle angetreten hatte. Spät an einem Abend taten drei junge Praktikanten etwas, das eigentlich verboten ist: Sie schwammen oder lümmelten in den warmen Wasserlöchern - ein Vergnügen, das als »Hotpotting« bezeichnet wird. Nicht alle Wasserstellen des Nationalparks sind gefährlich heiß - auch wenn die Parkverwaltung dies aus nahe liegenden Gründen nicht an die große Glocke hängt. In manchen kann man sehr angenehm liegen, und manche Saisonkräfte machten es sich zur Gewohnheit, spätabends noch ein Bad zu nehmen, auch wenn es gegen die Vorschriften war. Die drei waren so dumm und hatten keine Taschenlampe mitgenommen, was äußerst gefährlich ist - der Boden rund um die warmen Quellen ist an vielen Stellen nur eine dünne Kruste, und wenn man durchbricht, fällt man unter Umständen in einen kochend heißen Dampfschlot. Als sie sich auf den Rückweg zu ihrer Unterkunft machten, kamen sie an einen Bachlauf, den sie zuvor bereits übersprungen hatten. Sie traten ein paar Schritte zurück, hakten sich mit den Armen unter, zählten bis drei und nahmen Anlauf für den Sprung. Aber es war nicht der Wasserlauf. Es war eine kochend heiße Quelle. Sie hatten sich in der Dunkelheit verirrt. Alle drei kamen ums Leben.
Daran muss ich denken, als ich am nächsten Morgen auf meinem Weg zum Parkausgang kurz an einer Stelle namens Emerald Pool im Upper Geyser Basin Station mache. Am Tag zuvor hatte Doss keine Zeit mehr, mit mir hierher zu fahren, aber jetzt möchte ich doch zumindest einen Blick darauf werfen, denn Emerald Pool ist eine historische Stätte.
Im Jahr 1965 tat das Biologenehepaar Thomas und Louise Brock auf einer sommerlichen Studienfahrt etwas Verrücktes. Sie sammelten ein wenig von dem gelblichbraunen Schaum ein, der sich am Rand der heißen Quelle abgesetzt hatte, und suchten darin nach Lebewesen. Zu ihrer eigenen Überraschung, und später auch zur Verwunderung der ganzen Welt, war er tatsächlich voller lebendiger Mikroorganismen. Sie hatten die ersten Extremophilen gefunden - solche Organismen können in Wasser leben, das man zuvor für viel zu heiß, zu sauer oder zu schwefelhaltig gehalten hatte. Auf den Emerald Pool trafen tatsächlich alle diese Eigenschaften zu, und doch fühlten sich mindestens zwei Arten von Lebewesen, die später unter den Namen Sulpholobus acidocaldarius und Thermophilus aquaticus bekannt wurden, hier sehr wohl. Bis dahin hatte man stets angenommen, Leben sei bei Temperaturen von über 50 °C völlig unmöglich, und nun hatte man Organismen, die sich in stinkendem, saurem Wasser von fast der doppelten Temperatur fröhlich vermehrten.
Fast 20 Jahre lang blieb Thermophilus aquaticus, eines der von den Brocks entdeckten Bakterien, eine Laborkuriosität. Dann aber erkannte der kalifornische Wissenschaftler Kary B. Mullis, dass man mit den hitzeresistenten Enzymen dieser Lebewesen einen chemischen Kunstgriff bewerkstelligen kann, der unter dem Namen Polymerase-Kettenreaktion bekannt wurde. Mit ihrer Hilfe kann man eine äußerst kleine DNA-Menge stark vermehren - als Ausgangsmaterial reicht im Idealfall ein einziges Molekül. Es ist, als ob man genetische Fotokopien herstellt, und das Verfahren wurde zur Grundlage für viele genetische Untersuchungen von der Grundlagenforschung bis zur Gerichtsmedizin. Mullis erhielt dafür 1993 den Chemie-Nobelpreis.
Gleichzeitig fanden Wissenschaftler sogar noch widerstandsfähigere Mikroorganismen.9 Diese Lebewesen, die heute als Hyperthermophile bezeichnet werden, brauchen sogar Temperaturen von 80 °C oder mehr. Wie Frances Ashcroft in dem Buch Am Limit. Leben und Überleben in Extremsituationen erläutert, lebt das hitzebeständigste bisher entdeckte Lebewesen, eine Spezies namens Pyrolobus fumarii, an den Wänden von Schloten am Meeresboden bei Temperaturen bis zu 113 °C. Als Obergrenze für das Leben gelten heute rund 120 °C, aber genau weiß es niemand. Jedenfalls bedeuteten die Erkenntnisse der Brocks für unser Bild vom Leben eine völlige Umwälzung. Oder, wie der Wissenschaftler Jay Bergstralh von der NASA es formulierte:
»Wohin man auf der Erde auch blickt, selbst in der scheinbar lebensfeindlichsten Umwelt, finden wir Leben, vorausgesetzt, es gibt dort flüssiges Wasser und eine Quelle für chemische Energie.« 10
Wie sich mittlerweile herausgestellt hat, ist das Lebendige weitaus schlauer und anpassungsfähiger, als man jemals angenommen hatte. Das ist auch gut so, denn wie wir in Kürze noch genauer erfahren werden, leben wir in einer Welt, in der wir anscheinend alles andere als erwünscht sind.