TEIL VI DER WEG ZU UNS

Abstammung von Affen! Mein Lieber, hoffen wir, dass es nicht stimmt, aber wenn es stimmt, lass um beten, dass es nicht allgemein bekannt wird.

Zugeschrieben der Ehefrau des Bischofs von Worcester, nachdem man ihr Darwins Evolutionstheorie erklärt hatte


27. Eiszeit

Ich hatte einen Traum, und es war nicht nur ein Traum.

Die helle Sonne war erloschen, und die Sterne

Zogen verglimmend im ewigen Raum dahin.

Byron, »Finsternis«


Im Jahr 1815 flog auf der indonesischen Insel Sumbawa ein hübscher, seit langem ruhender Berg namens Tambora in die Luft. Durch die Explosion und die nachfolgenden Flutwellen kamen 100000 Menschen ums Leben. Es war der größte Vulkanausbruch seit 10000 Jahren: Er hatte die 150-fache Gewalt des St.-Helens-Ausbruches, das ist gleichbedeutend mit 60000 Hiroshima-Atombomben.

Nachrichten verbreiteten sich zu jener Zeit nicht übermäßig schnell. Die Londoner Times brachte sieben Monate nach dem Ereignis einen kleinen Bericht - es war eigentlich der Brief eines Kaufmanns.1 Bis dahin waren die Auswirkungen des Ausbruchs aber bereits zu spüren. Über 150 Kubikkilometer Rauch, Asche und grober Sand hatten sich in der Atmosphäre verteilt, verdunkelten die Sonne und sorgten auf der Erde für eine Abkühlung. Die Sonnenuntergänge sahen ungewöhnlich aus, waren aber von verschwommener Farbenpracht, ein Effekt, den der Künstler William Turner auf denkwürdige Weise festhielt. Der Maler war höchst zufrieden, aber die ganze Welt lag unter einem bedrückenden, dunklen Leichentuch. Diese tödliche Dämmerung inspirierte Byron zu den oben zitierten Zeilen.

Der Frühling blieb aus, und es wurde überhaupt nicht mehr warm.2 1816 wurde als »Jahr ohne Sommer« bekannt. Überall gab es Missernten. In Irland starben 65000 Menschen durch eine Hungersnot und die damit einhergehende Typhusepidemie. In Neuengland bezeichnete man das Jahr allgemein als »Achtzehnhundert-Frier-dich-tot«. Noch im Juni herrschte morgens Frost, und fast nirgendwo keimten die Pflanzensamen. Das Vieh starb durch den Futtermangel oder musste vorzeitig geschlachtet werden. Es war in jeder Hinsicht ein entsetzliches Jahr - für die Bauern dürfte es mit ziemlicher Sicherheit das schlimmste der gesamten Neuzeit gewesen sein. Und doch sank die Temperatur weltweit nur um ungefähr ein Grad. Wie die Wissenschaftler noch erfahren sollten, ist der Thermostat der Erde ein äußerst empfindliches Instrument.

Das 19. Jahrhundert war ohnehin eine Kälteperiode. Schon seit rund 200 Jahren erlebten insbesondere Europa und Nordamerika eine »kleine Eiszeit«, wie sie genannt wurde, und das führte zu allen möglichen winterlichen Ereignissen, die heute meist nicht mehr möglich sind, wie Frostfeste auf der Themse oder Schlittschuhrennen auf holländischen Kanälen. Mit anderen Worten: Die Menschen waren innerlich auf die Kälte eingestellt. Deshalb sollte man es den Geologen des 19. Jahrhunderts vielleicht nachsehen, dass sie erst so spät erkannten, wie warm ihre Welt im Vergleich zu früheren Erdzeitaltern war und wie die Landschaft um sie herum ihre Form gewaltigen Gletschern verdankte, die selbst ein Frostfest vereitelt hätten.

Dass die Vergangenheit irgendetwas Seltsames hatte, wusste man. In Europa fand man überall unerklärliche Anomalien, beispielsweise Rentierknochen im warmen Südfrankreich oder riesige Felsblöcke, die an den unwahrscheinlichsten Stellen liegen geblieben waren.

Häufig dachte man sich dafür fantasievolle, aber nicht unbedingt plausible Begründungen aus. So wollte der französische Naturforscher de Luc erklären, wieso Granitblöcke im Juragebirge hoch oben auf Kalksteinfelsen lagen: Vielleicht, so seine Vermutung, seien sie ja durch komprimierte Luft aus Höhlen dorthin geschleudert worden wie die Pfropfen aus einem Luftgewehr. Man kann solche Felsen auch als Irrläufer bezeichnen, aber dieser Begriff traf im 19. Jahrhundert eher auf die Theorien zu als auf die Steine selbst.

Nach einer Vermutung des großen britischen Geologen Arthur Hallam hätte James Hutton, der Vater der Geologie, nur in die Schweiz reisen müssen, dann hätte er sofort erkannt, was die charakteristischen Geländemerkmale bedeuten - die ausgehöhlten Täler, die glatt geschliffenen Streifen im Gestein, die auffälligen Schürflinien an Stellen, wo Blöcke abgestürzt waren, und all die anderen Spuren früherer Eisbedeckung.4 Leider reiste Hutton jedoch kaum. Aber obwohl ihm nur Berichte aus zweiter Hand zur Verfügung standen, lehnte er den Gedanken, Überschwemmungen könnten riesige Felsblöcke in 1000 Meter Höhe transportiert haben, rundweg ab - er betonte, schließlich könne alles Wasser der Welt einen Felsen nicht zum Schwimmen bringen. Stattdessen vertrat er als einer der Ersten die Ansicht, es müsse eine großflächige Vereisung gegeben haben. Leider entgingen seine Gedanken der allgemeinen Aufmerksamkeit, und die Naturforscher beharrten noch ein weiteres halbes Jahrhundert auf der Vorstellung, man könne die Kerben in den Felsen auf vorüb erfahrende Pferdegespanne oder sogar auf Tritte mit Nagelstiefeln zurückführen.

Die örtlichen Bauern, die nicht durch wissenschaftliche Lehrmeinungen verdorben waren, wussten es besser. Der Naturforscher Jean de Charpentier berichtet, wie er 1834 mit einem Schweizer Holzfäller über Land wanderte. Die beiden unterhielten sich über die Felsen am Wegesrand.5 Der Holzfäller erklärte lakonisch, die Blöcke stammten vom Grimsel, einer Granitformation, die ein Stück entfernt war. Als ich ihn fragte, wie die Blöcke nach seiner Meinung an ihren jetzigen Ort gelangt seien, erwiderte er ohne Zögern: »Der Grimsel-Gletscher hat sie auf beiden Talseiten transportiert, denn dieser Gletscher erstreckte sich früher bis zu der Stadt Bern.«

Charpentier war entzückt. Er war selbst bereits zu der gleichen Einsicht gelangt, aber als er seine Gedanken bei wissenschaftlichen Tagungen äußerte, wurden sie als unsinnig abgetan. Zu Charpentiers engsten Freunden zählte Louis Agassiz, ein weiterer Schweizer Naturforscher, der sich die Theorie nach anfänglicher Skepsis ebenfalls zu Eigen machte und sie schließlich sogar fast für sich allein vereinnahmte.

Agassiz hatte in Paris bei Cuvier studiert und war jetzt Professor für Naturgeschichte an der Hochschule im schweizerischen Neuchâtel. Ein anderer Freund von Agassiz, der Botaniker Karl Schimper, prägte 1837 als Erster den Begriff »Eiszeit« und vertrat die Ansicht, es gebe stichhaltige Indizien, dass das Eis früher in einer dicken Schicht nicht nur die Schweizer Alpen bedeckt habe, sondern auch große Teile Europas, Asiens und Nordamerikas. Es war ein radikaler Gedanke. Schimper lieh Agassiz seine Notizen - was er sehr bald bereuen sollte, denn Agassiz heimste zunehmend das Verdienst für eine Theorie ein, die Schimper durchaus zu Recht für seine eigene hielt.6 Auch Charpentier wurde am Ende zu einem erbitterten Feind seines früheren Freundes. Alexander von Humboldt, ein weiterer Bekannter, dürfte Agassiz im Sinn gehabt haben, als er sagte, es gebe bei wissenschaftlichen Entdeckungen drei Stadien: Erst leugnen die anderen, dass es stimmt; dann leugnen sie, dass es wichtig ist; und schließlich schreiben sie das Verdienst dem Falschen zu.

Jedenfalls machte Agassiz das Fachgebiet zu seiner Domäne. Um den Ablauf der Vereisung kennen zu lernen, begab er sich an alle möglichen Orte, tief in gefährliche Gletscherspalten und auf zerklüftete Alpengipfel; offensichtlich war ihm dabei in vielen Fällen nicht bewusst, dass er und seine Begleiter eine Erstbesteigung unternahmen. Aber mit seiner Theorie stieß Agassiz fast überall auf Ablehnung. Humboldt drängte ihn, zu den fossilen Fischen zurückzukehren, dem Arbeitsgebiet, auf dem er sich wirklich auskannte, und die verrückte Leidenschaft für das Eis aufzugeben. Aber Agassiz war in seine Idee vernarrt.

Noch weniger Unterstützung fand Agassiz mit seinen Vorstellungen in Großbritannien; dort hatten die meisten Naturforscher noch nie in ihrem Leben einen Gletscher gesehen, und deshalb begriffen sie vielfach überhaupt nicht, welche Zerstörungskraft eine große Eismasse besitzt. »Können Kerben und angeschliffene Flächen allein durch Eis entstehen?«, fragte Roderick Murchison auf einer Tagung mit ironischem Unterton - er stellte sich offensichtlich vor, die Felsen seien mit einer Art dünnem, glasartigem Raureif überzogen. Bis zu seinem Tod bekannte er sich offen zu seinem Unglauben gegenüber den »eisverrückten« Geologen, nach deren Ansicht Gletscher so viel bewirkt haben könnten. Die gleiche Meinung vertrat auch William Hopkins, Professor in Cambridge und führendes Mitglied der Geological Society: Er argumentierte, die Vorstellung vom Gesteinstransport durch Gletscher enthalte »so viele mechanische Absurditäten«, dass sie der Aufmerksamkeit seiner gelehrten Gesellschaft nicht wert sei.9

Aber Agassiz ließ sich nicht abschrecken: Er reiste unermüdlich herum und warb für seine Theorie. Im Jahr 1840 las er die Niederschrift eines Vortrages, den der große Charles Lyell in Glasgow bei einer Tagung der British Association for the Advancement of Science gehalten hatte; darin wurde Agassiz ganz offen angegriffen. Ein Jahr später verabschiedete die Geological Society of Edinburgh eine Resolution, in der sie einräumte, die Theorie habe zwar vielleicht etwas für sich, aber sie treffe sicherlich in keinem Punkt auf Schottland zu.

Lyell ließ sich am Ende bekehren. Die Erleuchtung kam ihm mit der Erkenntnis, dass eine Moräne - das heißt eine Reihe von Felsen -, an der er nicht weit vom Anwesen seiner Familie in Schottland schon 100-mal vorübergekommen war, sich eigentlich nur mit der Annahme erklären ließ, dass ein Gletscher die Blöcke dort zurückgelassen hatte. Aber nach dieser Einsicht verlor Lyell die Nerven: Er setzte sich öffentlich nicht für die Eiszeittheorie ein. Für Agassiz war es eine frustrierende Zeit. Seine Ehe ging in die Brüche, Schimper beschuldigte ihn nachdrücklich des geistigen Diebstahls, Charpentier sprach nicht mehr mit ihm, und der größte Geologe seiner Zeit bot nur halbherzige, Ungewisse Unterstützung.

Im Jahr 1846 reiste Agassiz zu einer Vortragsreihe nach Amerika, und dort fand er endlich die gesuchte Anerkennung. Die Harvard University bot ihm eine Professorenstelle an und richtete ihm das erstklassige Museum für Vergleichende Zoologie ein. Dabei war es zweifellos von Nutzen, dass er sich in Neuengland ansiedelte, wo die langen Winter den Gedanken von einer unendlichen Kälteperiode plausibler erscheinen ließen. Außerdem half der Bericht, den die erste Grönlandexpedition sechs Jahre nach seinem Eintreffen veröffentlichte: Danach ist die ganze Rieseninsel von einem Eispanzer bedeckt, wie Agassiz ihn in seiner Theorie auch für die Vorgeschichte postulierte. Ganz allmählich fanden seine Ideen immer mehr Anhänger. Die Theorie hatte nur eine wichtige Schwäche: Sie benannte keine Ursache für die Eiszeiten. In dieser Frage sollte aus einer ganz unerwarteten Richtung Hilfe kommen.

In den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts reichte ein gewisser James Croll von der Anderson’s University in Glasgow bei wissenschaftlichen Zeitschriften in Großbritannien eine ganze Reihe von Aufsätzen über Hydrostatik, Elektrizität und andere Themen ein. Einer davon - er behandelte die Frage, wie Abweichungen in der Umlaufbahn der Erde die Eiszeiten ausgelöst haben könnten - erschien 1864 im Philosophical Magazine und wurde sofort als Arbeit von allerhöchster Qualität anerkannt. Deshalb waren alle überrascht und vielleicht auch ein wenig peinlich berührt, als sich herausstellte, dass Croll an der Universität nicht als Wissenschaftler beschäftigt war, sondern als Pförtner.

Croll wurde 1821 geboren, wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf und ging nur bis zum 13. Lebensjahr zur Schule. Dann arbeitete er in verschiedenen Berufen - als Zimmermann, Versicherungsvertreter, Kellner in einer alkoholfreien Gaststätte -, bevor er schließlich die Stelle als Pförtner an der Anderson’s University (der heutigen University of Strathclyde) in Glasgow bekam. Irgendwie veranlasste er seinen Bruder, die Arbeit zum größten Teil für ihn zu übernehmen, sodass er viele ruhige Abende in der Universitätsbibliothek verbringen konnte und sich in Physik, Mechanik, Astronomie, Hydrostatik und anderen Modefächern seiner Zeit weiterbildete. Irgendwann fing er an, eine Reihe von Abhandlungen zu schreiben; besonders interessierte er sich für die Bewegungen der Erde und ihre Auswirkungen auf das Klima.

Croll äußerte als Erster die Vermutung, zyklische Veränderungen der Erdumlaufbahn von einer Ellipse (das heißt einem leichten Oval) zu einer fast kreisförmigen Bahn und wieder zurück zur Ellipse, könnten die Erklärung für Anfang und Ende der Eiszeiten darstellen. Auf die Idee, Schwankungen der Wetterbedingungen auf der Erde könnten astronomische Ursachen haben, war zuvor noch niemand gekommen. Fast ausschließlich durch Crolls überzeugende Argumentation stand man nun in Großbritannien der Idee, die Erde könnte sich zu früheren Zeiten im Griff des Eises befunden haben, aufgeschlossener gegenüber. Als man Crolls Intelligenz und Begabung erkannt hatte, erhielt er einen Posten bei der Geological Survey of Scotland und zahlreiche Ehrungen: Unter anderem wurde er Mitglied der Londoner Royal Society und der Academy of Sciences in New York, und die Universität St. Andrew verlieh ihm die Ehrendoktorwürde.

Aber gerade als Agassiz’ Theorie auch in Europa immer mehr Anhänger fand, versuchte ihr Urheber in Amerika ein noch exotischeres Revier zu erobern. Er fand jetzt überall Spuren von Gletschern, sogar in der Nähe des Äquators.10 Am Ende war er überzeugt davon, das Eis habe früher die ganze Erde bedeckt und alles Leben ausgelöscht, und dann habe Gott es neu erschaffen.11 Von den Befunden, die Agassiz anführte, sprach kein Einziger für eine solche Idee. Dennoch gewann er in seiner Wahlheimat immer mehr an Ansehen, bis er schließlich einen fast göttlichen Ruf genoss. Als er 1873 starb, hielt die Harvard University es für nötig, drei Professoren als Nachfolger zu ernennen.

Aber wie es manchmal so geht: Agassiz’ Theorie kam schnell aus der Mode. Noch nicht einmal zehn Jahre nach seinem Tod schrieb sein Nachfolger auf dem GeologieLehrstuhl in Harvard: »Die so genannte Vereisungsepoche ... die noch vor wenigen Jahren bei den Geologen so beliebt war, kann man jetzt ohne Zögern verneinen.«

Das Problem bestand unter anderem darin, dass die letzte Eiszeit nach Crolls Berechnungen rund 80000 Jahre zurücklag, während geologische Befunde zunehmend darauf hindeuteten, dass die Erde in viel jüngerer Zeit erhebliche Turbulenzen erlebt hatte. Ohne plausible Erklärung für den Auslöser der Eiszeit stand die ganze Theorie auf tönernen Füßen. Das wäre vielleicht auch noch geraume Zeit so geblieben, hätte nicht Anfang des 20. Jahrhunderts der serbische Wissenschaftler Milutin Milankovic, der keinerlei Vorkenntnisse über die Bewegungen von Himmelskörpern besaß - er war ausgebildeter Maschinenbauer -, ein unerwartet starkes Interesse für das Thema entwickelt. Milankovic erkannte, wo der Schwachpunkt in Crolls Theorie lag: Sie war nicht falsch, sondern zu einfach.

Während die Erde durch den Weltraum wandert, unterliegen nicht nur Länge und Form ihrer Umlaufbahn gewissen Schwankungen, sondern auch der Winkel, den sie zur Sonne bildet, ändert sich in einem bestimmten Rhythmus. Diese Kipp- und Wackelbewegungen bestimmen mit darüber, wie lange und intensiv das Sonnenlicht auf einen Abschnitt der Erdoberfläche einwirkt. Wichtig sind vor allem drei Positionsveränderungen, die in der Fachsprache als Schiefe, Präzession und Exzentrizität bezeichnet werden. Milankovic stellte sich die Frage, ob diese komplizierten Kreisläufe mit dem Kommen und Gehen der Eiszeiten im Zusammenhang stehen. Problematisch war dabei, dass die Kreisläufe sehr unterschiedlich lang sind - ungefähr 20000, 40000 und 100000 Jahre, in allen Fällen aber mit Abweichungen von bis zu ein paar 1000 Jahren. Wenn man feststellen wollte, wann sie sich über sehr lange Zeiträume hinweg überschneiden, musste man also fast endlose komplizierte Berechnungen anstellen. Letztlich musste Milankovic Winkel und Dauer des Strahlungseinfalls für jeden Breitengrad der Erde zu allen Jahreszeiten in einer Million Jahren berechnen und jeweils nach den drei ständig wechselnden Variablen ausrichten.

Aber das war genau die immer gleiche Plackerei, die Milankovics Temperament entsprach. Während der nächsten 20 Jahre war er unermüdlich und sogar im Urlaub damit beschäftigt, mit Bleistift und Rechenschieber Tabellen für seine Zyklen aufzustellen - eine Arbeit, die ein Computer heute in einem oder zwei Tagen erledigen würde.14 Er musste alle Berechnungen in seiner Freizeit vornehmen, aber davon hatte Milankovic 1914 plötzlich eine ganze Menge: Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurde er wegen seiner Stellung als Reservist der serbischen Armee inhaftiert. Die folgenden vier Jahre verbrachte er größtenteils unter lockerem Hausarrest in Budapest, wo er sich nur ein- bis zweimal in der Woche bei der Polizei melden musste. Während der restlichen Zeit arbeitete er in der Bibliothek der ungarischen Wissenschaftsakademie. Vermutlich war er der glücklichste Kriegsgefangene aller Zeiten.

Als Ergebnis seiner sorgfältigen Kritzelei erschien 1930 das Buch Mathematische Klimalehre und astronomische Theorie der Klimaschwankungen. Mit seiner Annahme, dass zwischen den Eiszeiten und dem Wackeln der Erde ein Zusammenhang besteht, hatte Milankovic Recht, aber wie die meisten anderen ging er davon aus, dass die Winter allmählich immer strenger wurden und so die langen Kälteperioden verursachten. Der russisch-deutsche Meteorologe Wladimir Köppen - Schwiegervater unseres alten Freundes und Plattentektonik-Entdeckers Alfred Wegener - erkannte jedoch, dass das Ganze noch komplizierter und nervtötender ist.

Köppen gelangte zu dem Schluss, die Ursache der Eiszeiten könne nicht in den harten Wintern liegen, sondern nur in den kühlen Sommern.15 Wenn es im Sommer so kalt ist, dass in einem Gebiet nicht der gesamte Schnee schmelzen kann, wirft die reflektierende Oberfläche mehr Sonnenlicht zurück, was den Kühleffekt verstärkt und weiteren Schneefall begünstigt. Auf diese Weise gewinnt der Vorgang eine eigene Dynamik. Der Schnee wird zu einer Eiskappe zusammengepresst, in der Region wird es noch kühler, und das führt wiederum zur Anhäufung von noch mehr Eis. Die Gletscherexpertin Gwen Schultz meint dazu: »Dass Eiskappen entstehen, liegt nicht unbedingt an der Schneemenge, sondern daran, dass der Schnee - auch wenn es nur wenig ist - liegen bleibt.« 16 Heute geht man davon aus, dass eine Eiszeit mit einem einzigen Sommer beginnen kann, der für die Jahreszeit zu kühl ist. Der verbliebene Schnee reflektiert die Wärme und verstärkt die Kühlwirkung. »Der Vorgang verstärkt sich selbst und ist nicht aufzuhalten. Und wenn das Eis erst einmal wächst, bewegt es sich auch«, sagt McPhee. Dann haben wir vorrückende Gletscher und eine Eiszeit.

In den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts war man wegen der noch sehr unvollkommenen Datierungsverfahren nicht in der Lage, die von Milankovic so sorgfältig ausgerechneten Zyklen mit den damals bekannten Zeitpunkten der Eiszeiten in Beziehung zu setzen, und das hatte zur Folge, dass Milankovic und seine Berechnungen zunehmend in Vergessenheit gerieten. Als er 1958 starb, war noch nicht bewiesen, dass seine Kreisläufe tatsächlich stimmten. John und Mary Gribbin schreiben:

»Damals hätte man sich sehr anstrengen müssen, um einen Geologen oder Meteorologen zu finden, der in dem Modell mehr sah als eine historische Kuriosität.« Erst in den siebziger Jahren, nachdem man ein Kalium-ArgonVerfahren zur Datierung alter Sedimente am Meeresboden ausreichend verfeinert hatte, konnte man Milankovics Theorien endlich bestätigen.

Die Milankovic-Zyklen reichen aber allein nicht aus, um den Wechsel der Eiszeiten zu erklären. Dafür spielen auch viele andere Faktoren eine Rolle, nicht zuletzt die Lage der Kontinente und insbesondere die Frage, ob Landmassen über den Polen liegen. Im Einzelnen sind diese Einflüsse bis heute nur unvollständig geklärt. Allerdings wurde vermutet, man müsse nur Nordamerika, Eurasien und Grönland 500 Kilometer weiter nach Norden verlegen, und wir würden in einer ständigen, unausweichlichen Eiszeit leben. Anscheinend haben wir großes Glück, dass überhaupt hin und wieder gutes Wetter herrscht. Noch weniger versteht man die so genannten Zwischeneiszeiten, regelmäßig wiederkehrende Phasen mit relativ milder Witterung. Es ist ein recht beunruhigender Gedanke: Möglicherweise hat alles, was man sinnvollerweise als Menschheitsgeschichte bezeichnen kann - die Entwicklung der Landwirtschaft, die Entstehung der Städte, der Aufstieg von Mathematik, Schrift und Wissenschaft sowie alles andere -, in einer sehr untypischen Schönwetterperiode stattgefunden. Frühere Zwischeneiszeiten dauerten häufig nur 8000 Jahre. Unsere eigene hat ihren 10000. Jahrestag bereits hinter sich.

Eigentlich befinden wir uns nach wie vor tief in einer Eiszeit;19 sie ist nur ein wenig geschrumpft - allerdings weniger, als vielen Menschen klar ist. Vor rund 20000 Jahren, auf dem Höhepunkt der letzten Vereisung, waren etwa 30 Prozent der Landflächen unter Eis begraben. Für zehn Prozent gilt das noch heute - und weitere 14 Prozent sind Permafrostgebiete. Auch heute sind drei Viertel des gesamten Süßwassers auf der Erde von Eis gebunden, und an beiden Polen liegen Eiskappen - eine wahrscheinlich einzigartige erdgeschichtliche Situation.20 Dass es in großen Teilen der Welt im Winter schneit und dass man selbst in gemäßigten Klimazonen wie Neuseeland dauerhafte Gletscher findet, mag uns ganz natürlich erscheinen, für die Erde als Ganzes betrachtet ist es aber sehr ungewöhnlich.

Während des größten Teils der Erdgeschichte und bis vor recht kurzer Zeit war Hitze rund um den Globus der Normalfall. Dauerhafte Vereisung gab es nicht. Die derzeitige Eiszeit - sie ist eigentlich eine Eisepoche -begann vor rund 40 Millionen Jahren, und in dieser Zeit reichte das Spektrum von entsetzlichem bis zu sehr angenehmem Klima. In der Regel beseitigt jede Eiszeit die Spuren früherer Eiszeiten, und deshalb wird das Bild umso unklarer, je weiter wir uns in die Vergangenheit begeben. Offensichtlich gab es aber in den letzten 2,5 Millionen Jahren - der Zeit, die den Aufstieg des Homo erectus und anschließend des Jetzt-Menschen in Afrika erlebtemindestens Perioden der starken Vereisung. Als Ursachen werden häufig der Aufstieg des Himalaya und die Entstehung der Landenge von Panama genannt - das Gebirge störte die Luftbewegungen, die Landbrücke veränderte die Meeresströmungen. Indien, das früher eine Insel war, wurde im Laufe der letzten 45 Millionen Jahre 2000 Kilometer weit in die asiatische Landmasse gedrückt, und dabei stieg nicht nur der Himalaya in die Höhe, sondern auch dahinter die riesige tibetanische Hochebene. Die Hypothese besagt, dass die höher gelegene Landschaft nicht nur kühler war, sondern auch den Wind so ablenkte, dass er nach Norden und in Richtung Nordamerika strömte, was dort eine langfristige Abkühlung begünstigte. Dann, vor etwa fünf Millionen Jahren, stieg Panama aus dem Meer und schloss die Lücke zwischen Nord- und Südamerika, sodass die warmen Meeresströmungen zwischen Pazifik und Atlantik unterbrochen wurden, was wiederum mindestens auf der halben Erdoberfläche zu einer veränderten Niederschlagsverteilung führte. Dies hatte unter anderem zur Folge, dass Afrika austrocknete, sodass die Affen von den Bäumen steigen und sich in den wachsenden Savannen eine neue Lebensweise zu Eigen machen mussten.

Wie dem auch sei: Bei der heutigen Anordnung der Ozeane und Kontinente wird das Eis uns offensichtlich auch in Zukunft noch auf lange Sicht begleiten. Nach Angaben von John McPhee können wir mit etwa 50 weiteren Vereisungsperioden rechnen, die jeweils ungefähr 100000 Jahre dauern; erst danach können wir auf ausgedehntes Tauwetter hoffen.22

Vor mehr als 50 Millionen Jahren gab es auf der Erde keine regelmäßigen Eiszeiten, aber wenn sie gelegentlich auftraten, hatten sie meist gewaltige Ausmaße. Eine riesige Vereisungsperiode gab es vor etwa 2,2 Milliarden Jahren, und dann folgten eine Milliarde Jahre mit warmem Klima. Anschließend gab es wiederum eine Eiszeit, die noch größer war als die erste - manche Wissenschaftler bezeichnen sie mittlerweile als Cryogenium oder Supereiszeit. Sie wurde auch als »Schneeball Erde« bekannt.

Aber das Wort »Schneeball« gibt die mörderischen Bedingungen, die damals herrschten, kaum angemessen wieder. Nach der heutigen Theorie ging die Sonnenstrahlung damals um rund sechs Prozent zurück, und gleichzeitig wurden weniger Treibhausgase produziert (oder festgehalten); dies hatte zur Folge, dass die Erde ihre Fähigkeit, Wärme festzuhalten, im Wesentlichen verlor. Sie wurde zu einer Art globaler Antarktis. Die Temperaturen sanken um bis zu 45 Grad, und wahrscheinlich war die gesamte Erdoberfläche eingefroren. Die Ozeane waren in höheren Breiten mit einer bis zu 800 Meter dicken Eisschicht bedeckt, und selbst in den Tropen maß sie noch mehrere Dutzend Meter.25

Diese Vorstellung ist allerdings mit einer schwerwiegenden Schwierigkeit behaftet: Während die geologischen Befunde darauf hindeuten, dass die Erde überall - auch am Äquator - vereist war, weisen biologische Indizien ebenso überzeugend darauf hin, dass es irgendwo offenes Wasser gegeben haben muss. Erstens überlebten die Cyanobakterien das Ereignis, und diese Organismen betreiben Photosynthese. Dazu brauchten sie Sonnenlicht, aber Eis ist schon in geringer Dicke undurchsichtig und lässt nach wenigen Metern überhaupt kein Licht mehr durch - das weiß jeder, der schon einmal versucht hat, hindurchzusehen. Für den Widerspruch wurden zwei Lösungen vorgeschlagen. Nach der einen blieb ein wenig Meerwasser frei (vielleicht weil es irgendwo zu einer lokalen Erwärmung kam); die andere besagt, das Eis habe sich vielleicht so gebildet, dass es durchsichtig blieb - ein Zustand, der in der Natur tatsächlich manchmal vorkommt.

Wenn die Erde tatsächlich völlig gefroren war, erhebt sich eine sehr schwierige Frage: Wie konnte sie sich jemals wieder erwärmen? Ein vereister Planet reflektiert so viel Wärme, dass er eigentlich für alle Zeiten eisig bleiben muss. Die Rettung kam offensichtlich aus dem geschmolzenen Erdinneren. Wieder einmal haben wir es wahrscheinlich der Plattentektonik zu verdanken, dass es uns überhaupt gibt. Nach dieser Vorstellung stießen Vulkane durch die eisbedeckte Oberfläche und stießen riesige Mengen von Wärme und Gasen aus, sodass der Schnee schmolz und die Atmosphäre sich neu bildete. Interessanterweise ist das Ende dieser Super-Kälteperiode durch die kambrische Explosion gekennzeichnet, gewissermaßen das Frühlingserwachen in der Geschichte des Lebendigen. In Wirklichkeit dürfte das alles durchaus nicht ruhig abgelaufen sein. Als die Erde sich erwärmte, herrschten vermutlich die wildesten Wetterbedingungen aller Zeiten, mit Wirbelstürmen, welche die Meereswellen bis zur Höhe von Wolkenkratzern auftürmten, und mit unvorstellbar heftigem Regen.

Während dieser ganzen Zeit lebten die Röhrenwürmer, Muscheln und anderen Lebensformen an den Tiefseeschloten zweifellos weiter, als wäre nichts geschehen, aber alle anderen Lebewesen auf der Erde waren dem Untergang vermutlich so nahe wie nie zuvor. Das alles liegt lange zurück, und derzeit wissen wir nichts Genaueres darüber.

Im Vergleich mit dem Cryogenium wirken die Eiszeiten der jüngeren Vergangenheit recht klein, aber natürlich waren auch sie im Vergleich zu allem, was wir heute auf der Erde finden, von ungeheuer großem Umfang. Die Eisschicht, die große Teile Europas und Nordamerika bedeckte, war an manchen Stellen über drei Kilometer dick und schob sich mit rund 120 Metern pro Jahr vorwärts. Sie muss einen unglaublichen Anblick geboten haben. Selbst an ihrer Vorderkante könnte die Eisdecke fast 800 Meter dick gewesen sein. Stellen wir uns nur vor, wir stünden einer Eismauer gegenüber, die sich einen halben Kilometer über uns erhebt. Dahinter befindet sich auf vielen Millionen Quadratkilometern nichts als Eis, aus dem nur die höchsten Berggipfel hervorragen. Unter seinem Gewicht versinken ganze Kontinente, und selbst heute, 12000 Jahre nach dem Rückzug der Gletscher, ist ihr Wiederaufstieg in die alte Lage noch nicht abgeschlossen. Die Eismassen brachten bei ihrem langsamen Vordringen nicht nur Felsbrocken und lange Kiesmoränen mit, sondern auch ganze Landgebiete wie Long Island, Cape Cod, Nantucket und andere. Da ist es kein Wunder, dass die Geologen vor Agassiz nicht recht begriffen, zu welch gewaltiger Umgestaltung der Landschaft das Eis in der Lage ist.

Würden die Eismassen heute erneut vorrücken, hätten wir ihnen nichts entgegenzusetzen. Im Prince William Sound in Alaska wurde eines der größten Gletschergebiete Nordamerikas 1964 von dem stärksten Erdbeben erschüttert, das jemals auf dem Kontinent aufgezeichnet wurde. Es erreichte einen Wert von 9,2 auf der RichterSkala. An der Bruchkante hob sich das Gelände um bis zu sechs Meter. Das Beben war so heftig, dass es noch in Texas das Wasser aus den Pfützen spritzen ließ. Und welche Auswirkungen hatten diese beispiellosen Erschütterungen auf die Gletscher des Prince William Sound? Überhaupt keine. Sie schluckten es einfach und wanderten weiter.

Lange Zeit glaubte man, wir würden uns ganz allmählich, über Hunderttausende von Jahren hinweg, in Richtung der Eiszeiten und wieder von ihnen wegbewegen, aber heute wissen wir, dass das nicht stimmt. Durch die Untersuchung von Eisbohrkernen aus Grönland können wir ein genaues Bild des Klimas aus etwas mehr als den letzten 100000 Jahren zeichnen, und was man dabei findet, ist alles andere als tröstlich. Es stellt sich heraus, dass die Erde während des größten Teils ihrer jüngeren Geschichte keineswegs der stabile, ruhige Ort war, den die zivilisierten Menschen kennen gelernt haben, sondern sie erlebte rapide Wechsel zwischen Phasen der Wärme und der brutalen Kälte.

Gegen Ende der letzten großen Vereisung, vor rund 12000 Jahren, erwärmte sich die Erde sehr schnell, aber dann herrschte ganz abrupt wiederum etwa 1000 Jahre lang bittere Kälte, ein Ereignis, das in der Wissenschaft als jüngere Dryas bekannt ist. (Der Name kommt von der arktischen Silberwurz, einer Pflanze, die mit wissenschaftlichem Namen Dryas heißt. Sie gehört zu den Ersten, die das Land nach dem Rückzug einer Eiskappe wieder besiedeln. Es gab auch eine ältere Dryas, diese Phase ist aber nicht so scharf abgegrenzt.) Am Ende des tausendjährigen Martyriums stiegen die Durchschnitts-temperaturen in nur 20 Jahren um vier Grad an - auf den ersten Blick nicht viel, aber es entspricht dem Wechsel zwischen dem Klima Skandinaviens und dem der Mittelmeerregion, und das in nur zwei Jahrzehnten. An einzelnen Orten war die Veränderung noch wesentlich dramatischer. Die Eisbohrkerne aus Grönland zeigen, dass die Temperaturen sich dort in zehn Jahren um bis zu acht Grad änderten, was auch zu einem tief greifenden Wandel bei Niederschlag und Pflanzenwachstum führte. Der ganze Vorgang muss für die Menschen schon auf dem dünn besiedelten Planeten äußerst beunruhigend gewesen sein. Heute könnte man sich die Folgen überhaupt nicht vorstellen.

Am schlimmsten ist, dass wir keine - wirklich keine -Ahnung haben, welche Mechanismen das Thermometer der Erde so schnell durcheinander bringen können.

Elizabeth Kolbert schrieb in der Zeitschrift New Yorker: »Keine bekannte äußere Kraft, ja nicht einmal ein hypothetischer Einfluss scheint in der Lage zu sein, die Temperaturen so heftig und so häufig hin und her zu verschieben, wie es die Bohrkerne zeigen.« Und dann fügte sie hinzu, es gebe anscheinend »eine riesige, schreckliche Rückkopplungsschleife«, an der vermutlich die Ozeane und Störungen der normalen Meeresströmungen beteiligt sind, aber das alles ist noch bei weitem nicht geklärt.

Einer Theorie zufolge verminderte sich zu Beginn der jungeren Dryas durch den starken Zufluss von Schmelzwasser der Salzgehalt (und damit die Dichte) der Meere auf der nördlichen Halbkugel, sodass der Golfstrom nach Süden abbog wie ein Taucher, der einen Zusammenstoß vermeiden will. Ohne die Wärme dieser Meeresströmung kehrten in nördlichen Breiten wieder eisige Bedingungen ein. Aber damit ist nicht einmal ansatzweise erklärt, warum der Golfstrom 1000 Jahre später, als die Erde sich wieder erwärmte, nicht zu seinem alten Verlauf zurückkehrte. Stattdessen begann damals die ungewöhnlich ruhige Phase, die als Holozän bezeichnet wird und in der wir heute noch leben.

Es besteht kein Grund zu der Annahme, dass diese stabile Klimaperiode noch lange dauern wird. Manche Fachleute glauben sogar, dass uns Schlimmeres bevorsteht als je zuvor. Es ist eine nahe liegende Annahme, dass die globale Erwärmung ein nützliches Gegengewicht zur Neigung der Erde darstellen könnte, in eiszeitliche Bedingungen zurückzufallen. Aber wie Kolbert ausdrücklich betont, würde man sich angesichts eines schwankenden, unvorhersehbaren Klimas »als Allerletztes wünschen, damit ein großes, unkontrolliertes Experiment anzustellen«. Man hat sogar mit einer plausibleren Begründung, als es auf den ersten Blick scheint, die Vermutung geäußert, ein Temperaturanstieg könne eine Eiszeit auslösen. Dahinter steht der Gedanke, dass eine geringfügige Erwärmung die Verdunstung verstärkt, was die Wolkendecke wachsen lässt und in höheren Breiten zu einer vermehrten Anhäufung von Schnee führt. Tatsächlich könnte die globale Erwärmung den paradoxen Effekt haben, dass es in Nordamerika und Nordeuropa zu einer örtlich begrenzten, starken Abkühlung kommt.

Für das Klima sind so viele Faktoren verantwortlich -steigender und sinkender Kohlendioxidgehalt der Atmosphäre, Verschiebung der Kontinente, Aktivität der Sonne, die imposanten Schwankungen der Milankovic-Zyklen -, dass die Aufklärung vergangener Vorgänge ebenso schwierig ist wie Voraussagen für die Zukunft. Vieles übersteigt schlicht und einfach unsere Fähigkeiten. Ein gutes Beispiel ist die Antarktis. Nachdem dieser Kontinent sich über den Südpol geschoben hatte, war er mindestens 20 Millionen Jahre lang von Pflanzen bedeckt und eisfrei. Eigentlich ist so etwas überhaupt nicht möglich.

Nicht weniger verblüffend sind die bekannten Verbreitungsgebiete mancher späten Dinosaurierarten. Nach Angaben des britischen Geologen Stephen Drury beherbergten die Wälder der nördlichsten zehn Breitengrade große Tiere wie den Tyrannosaurus rex. »Das ist völlig bizarr, denn in derart hohen Breiten ist es drei Monate im Jahr ununterbrochen dunkel«, schreibt er. Außerdem gibt es mittlerweile Anhaltspunkte, dass so weit nördlich sehr strenge Winter herrschten. Untersuchungen an Sauerstoffisotopen lassen darauf schließen, dass das Klima in der Gegend von Fairbanks in Alaska während der späten Kreidezeit ganz ähnlich war wie heute. Was hatte Tyrannosaurus rex dort zu suchen? Entweder wanderte er zu bestimmten Jahreszeiten über riesige Entfernungen oder er verbrachte große Teile des Jahres im Dunkeln und in Schneeverwehungen. In Australien - das zu jener Zeit stärker in Richtung des Pols orientiert war -konnten die Tiere sich nicht in wärmeres Klima zurückziehen. Wie es die Dinosaurier schafften, unter solchen Bedingungen zu überleben, kann man nur vermuten.

An eines muss man dabei denken: Wenn heute aus irgendwelchen Gründen die Neubildung von Eisschichten beginnen sollte, könnten sie dieses Mal aus wesentlich größeren Wasservorräten schöpfen. Die großen nordamerikanischen Seen, die Hudson Bay, die unzähligen Seen in Kanada standen als Antriebskraft zu Beginn der letzten Eiszeit noch nicht zur Verfügung: Sie wurden durch diese Vereisung erst geschaffen.

Andererseits könnten wir erleben, dass das Eis in der nächsten Phase unserer Geschichte nicht neu entsteht, sondern in großem Umfang taut. Würden alle Eiskappen schmelzen, käme es zu einem Anstieg des Meeresspiegels von rund 60 Metern - die Höhe eines zwanzigstöckigen Gebäudes -, sodass alle Küstenstädte der Welt überflutet wären. Wahrscheinlicher ist zumindest auf kurze Sicht, dass die Eisschicht der westlichen Antarktis verschwindet. Das Meerwasser in ihrer Umgebung hat sich während der letzten 50 Jahre um 2,5 Grad erwärmt, und entsprechend dramatisch war der Eisverlust. Wegen der geologischen Verhältnisse in dem Gebiet rückt ein umfangreicher Zusammenbruch damit in den Bereich des Möglichen. Sollte es dazu kommen, wird der Meeresspiegel weltweit recht schnell um durchschnittlich fünf bis sechs Meter ansteigen.

Erstaunlicherweise haben wir keine Ahnung, was für die Zukunft wahrscheinlicher ist: ein Zeitalter der tödlichen Kälte oder ebenso lange Zeiträume der glühenden Hitze. Nur eines ist sicher: Wir leben auf Messers Schneide.

Nebenbei bemerkt: Auf lange Sicht sind Eiszeiten für die Erde durchaus nichts Schlechtes. Sie zermalmen das Gestein, lassen neuen Erdboden von üppiger Fruchtbarkeit zurück und graben Süßwasserseen, die Hunderten von biologischen Arten üppige Nahrung bieten. Sie lösen Wanderungsbewegungen aus und halten die Dynamik unseres Planeten aufrecht. Tim Flannery meint dazu: »Wenn man etwas über das Schicksal der Menschen auf einem Kontinent erfahren will, muss man nur fragen: < Hattest du eine gute Eiszeit? >« 34 Vor diesem Hintergrund ist es jetzt an der Zeit, uns mit einer Spezies von Menschenaffen zu beschäftigen, für die das wirklich zutraf.

28. Der rätselhafte Zweibeiner

Kurz vor Weihnachten 1887 traf ein junger niederländischer Arzt mit dem ganz un-niederländischen Namen Marie Eugene François Thomas Dubois auf Sumatra im damaligen Niederländisch-Ostindien ein. Seine Absicht: Er wollte die weltweit ältesten Überreste von Menschen finden.[2]

Daran war einiges ungewöhnlich. Erstens war bis dahin noch niemand auf die Suche nach sehr alten Menschenknochen gegangen. Bisher hatte man ausschließlich Zufallsfunde gemacht, und auch in Dubois’ Vergangenheit ließ nichts darauf schließen, dass er der ideale Kandidat für eine erste gezielte Suche war. Er hatte Anatomie studiert, war aber nicht in Paläontologie ausgebildet. Und zweitens bestand kein besonderer Anlass zu der Vermutung, Ostindien könne Überreste vorzeitlicher Menschen beherbergen. Wenn man überhaupt solche Urmenschen finden würde, erschien es nur logisch, auf einer großen, seit langem bevölkerten Landmasse zu suchen und nicht in den vergleichsweise kleinen Schlupfwinkeln einer Inselgruppe. Dubois hatte nur eine schwache Ahnung, als er nach Ostindien ging, andererseits hatte er dort aber auch eine Stellung bekommen, und er wusste, dass es in Sumatra eine Fülle von Höhlen gab, das Umfeld, in der man bisher die meisten wichtigen Hominidenfossilien gefunden hatte. Das Ungewöhnlichste an alledem - und eigentlich sogar fast ein Wunder - ist aber, dass er das Gesuchte tatsächlich fand.

Als Dubois sich seinen Plan zur Suche nach dem fehlenden Bindeglied zwischen Affen und Menschen zurechtlegte, kannte man erst sehr wenige Fossilien von Menschen: fünf unvollständige Neandertalerskelette, einen Teil eines Kieferknochens unsicherer Herkunft und ein halbes Dutzend eiszeitliche Menschen, die Arbeiter kurz zuvor beim Bau einer Eisenbahn in einer Höhle namens Cro-Magnon bei dem französischen Städtchen Les Eyzies gefunden hatten. Der besterhaltene Neandertalerfund lag noch in einem Regal in London und war bisher nicht näher beschrieben. Er war 1848 von Arbeitern gefunden worden, die in einem Steinbruch in Gibraltar das Gestein sprengten; deshalb war es ein Wunder, dass er überhaupt unversehrt blieb, aber leider hatte bisher niemand richtig einschätzen können, worum es sich dabei handelte. Nachdem er bei einer Tagung der Gibraltar Scientific Society kurz beschrieben worden war, hatte man ihn an das Hunterian Museum in London geschickt, wo er über ein halbes Jahrhundert lang ungestört lag und nur gelegentlich leicht abgestaubt wurde. Die erste umfassende Beschreibung erschien erst 1907, und sie stammte von einem Geologen namens William Sollas, der »nur sehr oberflächliche Kenntnisse in Anatomie« besaß.

Also gingen Name und Verdienst für die Entdeckung der ersten Frühmenschen in das Neandertal bei Düsseldorf4 -was nicht ganz unpassend ist, denn - welcher Zufall - das griechische Wort neander bedeutet »neuer Mann«. Dort stießen Arbeiter 1856 in einem Steinbruch an einer Felswand oberhalb des Flüsschens Düssel auf einige seltsam aussehende Knochen. Sie gaben den Fund an einen örtlichen Schulmeister weiter, dessen Interesse an allen Dingen aus der Natur allgemein bekannt war. Man muss es dem Lehrer Johann Karl Fuhlrott hoch anrechnen, dass er genau erkannte, womit er es zu tun hatte: mit einem neuen Menschentypus. Worum es sich dabei allerdings im Einzelnen handelte und wie außergewöhnlich der Fund war, wurde über längere Zeit heftig diskutiert.

Viele Gelehrte mochten nicht anerkennen, dass die Knochen aus dem Neandertal überhaupt sehr alt waren. August Mayer, ein einflussreicher Professor der Universität Bonn, behauptete steif und fest, die Knochen stammten von einem mongolischen Kosaken, der als Soldat 1814 in Deutschland gekämpft habe, verwundet wurde und zum Sterben in die Höhle gekrochen sei. Als T. H. Huxley in England von dieser Idee hörte, bemerkte er trocken, es sei doch sehr ungewöhnlich, dass ein tödlich verwundeter Soldat 20 Meter hoch klettert, dann die Kleidung und sämtliche persönlichen Habseligkeiten ablegt, die Höhlenöffnung verschließt und sich 60 Zentimeter tief in der Erde vergräbt.5 Ein anderer Anthropologe grübelte über die dicken Brauenwülste des Neandertalers nach und äußerte die Vermutung, sie könnten durch ständiges Stirnrunzeln entstanden sein, dessen Anlass ein schlecht verheilter Unterarmbruch war. (In ihrem Eifer, die Vorstellung von Frühmenschen zu leugnen, machten sich die Fachleute häufig die seltsamsten Erklärungen zu Eigen. Ungefähr zur gleichen Zeit, als Dubois sich nach Sumatra auf den Weg machte, erklärten andere voller Überzeugung, ein in Périgueux gefundenes Skelett gehöre zu einem Eskimo. Was ein vorzeitlicher Eskimo im Südwesten Frankreichs zu suchen hatte, wurde allerdings nie zur Zufriedenheit erklärt. In Wirklichkeit war es ein früher Cro-Magnon-Mensch.)

In diesem Umfeld begann Dubois, nach den Knochen vorzeitlicher Menschen zu suchen. Er nahm nicht selbst die Schaufel in die Hand, sondern ließ sich zu diesem Zweck von den niederländischen Behörden 50 Sträflinge zuweisen.6 Ein Jahr lang arbeiteten sie auf Sumatra, dann wurden die Arbeiten nach Java verlegt. Dort fand Dubois - oder eigentlich seine Mannschaft, denn er selbst suchte die Grabungsstellen nur selten auf - im Jahr 1891 einen Teil eines menschlichen Schädels, der heute als Schädel von Trinil bekannt ist. Es handelte sich zwar nur um ein Bruchstück, aber es zeigte, dass sein Besitzer zwar eindeutig nichtmenschliche Merkmale, aber auch ein viel größeres Gehirn als jeder Menschenaffe besaß. Dubois bezeichnete ihn als Anthropithecus erectus (woraus später aus formalen Gründen Pithecanthropus erectus wurde) und erklärte ihn zum fehlenden Bindeglied zwischen Affen und Menschen. Volkstümlich wurde er schnell als »Javamensch« bekannt. Heute nennen wir ihn Homo erectus.

Im folgenden Jahr fanden Dubois’ Arbeiter einen praktisch vollständigen Oberschenkelknochen, der erstaunlich modern aussah. Heute schreiben ihn viele Anthropologen tatsächlich einem Jetztmenschen zu, der nichts mit dem Javamenschen zu tun hat. Wenn es ein Knochen von erectus ist, sieht er in jedem Fall ganz anders aus als sämtliche späteren Funde. Dennoch leitete Dubois aus dem Oberschenkelknochen - wie sich später herausstellte, zu Recht - die Erkenntnis ab, dass Pithecanthropus aufrecht ging. Und obwohl er nur ein Stückchen der Schädeldecke und einen Zahn besaß, stellte er auch ein Modell des vollständigen Schädels her, das sich ebenfalls als unglaublich zutreffend erwies.9

Als Dubois 1895 nach Europa zurückkehrte, rechnete er mit einem triumphalen Empfang. In Wirklichkeit war die Reaktion das genaue Gegenteil. Den meisten Wissenschaftlern gefielen weder seine Schlussfolgerungen noch die arrogante Art, in der er sie präsentierte. Die Schädeldecke gehörte nach ihrer Auffassung keineswegs zu einem Frühmenschen, sondern zu einem Menschenaffen, vermutlich einem Gibbon. In der Hoffnung, seine Aussage zu untermauern, gestattete Dubois 1897 dem angesehenen Anatomen Gustav Schwalbe von der Universität Straßburg, einen Gipsabdruck des Knochens herzustellen. Zu Dubois’ Entsetzen schrieb Schwalbe anschließend ein Buch, das weit freundlichere Aufnahme fand als alle Schriften von Dubois, und anschließend ging der Anatom auf eine Vorlesungsreise, auf der er fast so herzlich gefeiert wurde, als hätte er den Schädel selbst ausgegraben.10 Angewidert und verbittert zog Dubois sich die nächsten 20 Jahre auf eine unauffällige Stelle als Professor für Geologie an der Universität Amsterdam zurück und weigerte sich standhaft, irgendjemanden noch einmal seine kostbaren Fossilien untersuchen zu lassen. Er starb 1940 als unglücklicher Mensch.

Mittlerweile tat sich auch auf der anderen Seite des Globus etwas: Ende 1924 erhielt Raymond Dart, der in Australien geborene Leiter der Abteilung für Anatomie an der University of the Witwatersrand in Johannesburg, einen kleinen, aber bemerkenswert vollständigen Kinderschädel mit unversehrtem Gesicht, Unterkiefer und dem natürlichen Abdruck des Gehirns. Der Fund stammte aus einem Kalksteinbruch in einer steinigen Gegend namens Taung am Rand der Kalahari-Wüste. Dart erkannte sofort, dass es sich bei dem Schädel von Taung nicht wie bei Dubois’ Javamenschen um einen Homo erectus handelte, sondern dass er von einem älteren, affenähnlichen Lebewesen stammte.11 Er gab das Alter mit zwei Millionen Jahren an und taufte ihn auf den Namen Australopithecus africanus ( »südlicher Affenmensch aus

Afrika« ). In einem Bericht in der Fachzeitschrift Nature bezeichnete Dart die Überreste von Taung als »verblüffend menschlich« und äußerte die Ansicht, man müsse eine völlig neue Familie namens Homo simiadae ( »Affenmenschen« ) definieren, um den Fund einzuordnen.

Die Experten waren Dart gegenüber noch unfreundlicher eingestellt als zuvor gegenüber Dubois. Fast alles an seiner Theorie - und offensichtlich sogar fast alles an Dart - ärgerte sie. Erstens hatte er sich als bedauerlich anmaßend erwiesen, weil er die Untersuchung selbst vorgenommen hatte, statt einen der weitläufigen europäischen Experten zu Hilfe zu rufen. Schon der von ihm gewählte Name Australopithecus ließ einen Mangel an Gelehrsamkeit erkennen, waren darin doch griechische und lateinische Wortbestandteile vermischt. Vor allem aber waren seine Schlussfolgerungen ein Schlag ins Gesicht der Schulweisheit. Allgemein herrschte Einigkeit darüber, dass die Abstammungslinien von Menschen und Menschenaffen sich vor mindestens 15 Millionen Jahren in Asien getrennt hatten. Wenn die Menschen in Afrika entstanden waren - um Gottes willen, dann wären wir ja alle Neger. Es war, als würde heute jemand bekannt geben, er habe die Knochen der Menschenvorfahren beispielsweise in Missouri gefunden. Der Befund passte einfach nicht zu dem, was man damals wusste.

Darts einziger einflussreicher Fürsprecher war Robert Broom, ein in Schottland geborener Arzt und Paläontologe von beträchtlichen geistigen Fähigkeiten und liebenswert exzentrischem Wesen. Er hatte beispielsweise die Angewohnheit, bei warmem Wetter - das häufig herrschte - im Freiland nackt zu arbeiten. Bekannt war er auch wegen seiner zweifelhaften anatomischen Experimente, die er an ärmeren, gefügigen Patienten vornahm. Wenn die Patienten starben - was ebenfalls häufig geschah -, vergrub er ihre Leichen manchmal im Garten hinter seinem Haus, um sie später genauer zu untersuchen.12

Broom war ein begeisterter Paläontologe, und da er ebenfalls in Südafrika lebte, konnte er den Schädel von Taung eigenhändig untersuchen. Er erkannte sofort, dass er tatsächlich die große Bedeutung hatte, die Dart ihm beimaß, und setzte sich nachdrücklich für seinen Entdecker ein, aber seine Bemühungen blieben wirkungslos. Noch weitere 50 Jahre lang besagte die Schulweisheit, das Kind von Taung sei ein Affe und sonst nichts. Die meisten Lehrbücher erwähnten es nicht einmal. Dart arbeitete fünf Jahre an einem Buch, fand aber keinen Verleger dafür. Am Ende gab er seine Bemühungen um eine Veröffentlichung völlig auf (nach Fossilien suchte er allerdings weiterhin). Der Schädel - der heute als einer der größten Schätze der Anthropologie gilt - lag jahrelang als Briefbeschwerer auf dem Schreibtisch eines Kollegen.14

Als Dart 1924 seinen Fund bekannt gab, kannte man nur vier Gruppen von Urmenschen: Homo heidelbergensis, Homo rhodesiensis, die Neandertaler und Dubois’ Javamenschen. Das aber sollte sich bald darauf gründlich ändern.

Zunächst stocherte Davidson Black, ein begabter kanadischer Amateurwissenschaftler, in China an einer Stelle namens Dragon Bone Hill herum, die als Fundstelle für alte Knochen in der Gegend bereits bekannt war. Die Chinesen bewahrten die Knochen aber leider nicht für weitere Untersuchungen auf, sondern sie zerkleinerten sie und stellten daraus Arzneien her. Wie viele kostbare Knochen von Homo erectus als eine Art chinesischer Entsprechung zu doppeltkohlensaurem Natron endeten, kann man nur vermuten. Als Black an die Fundstelle kam, war sie schon weitgehend geplündert, aber er fand noch einen einzelnen fossilen Backenzahn und gab allein auf dieser Grundlage die Entdeckung von Sinanthropus pekinensis bekannt, der anschließend sehr schnell als Pekingmensch bekannt wurde.15

Auf Blacks Drängen ging man nun energischer an Ausgrabungsarbeiten, und dabei wurden viele weitere Knochen gefunden. Leider gingen sie alle 1941 einen Tag nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor verloren, als ein Kommando der US-Marines, das die Knochen (und sich selbst) ins Ausland retten wollte, von den Japanern abgefangen und inhaftiert wurde. Als die japanischen Soldaten sahen, dass in den Kisten nur Knochen waren, ließen sie diese einfach am Straßenrand stehen. Seitdem sah man sie nie wieder.

In Dubois’ altem Revier auf Java hatte eine Arbeitsgruppe unter Leitung von Ralph von Koenigswald mittlerweile eine weitere Gruppe von Frühmenschen entdeckt, die nach ihrem Fundort am Fluss Solo bei Ngandong als Solo-Menschen bezeichnet wurden. Koenigswalds Entdeckungen wären vielleicht noch eindrucksvoller gewesen, hätte er nicht einen taktischen Fehler begangen, den er zu spät erkannte. Er hatte den Bewohnern der Gegend zehn Cent für jedes Stück eines Hominidenknochens versprochen, das sie ihm brachten, aber dann musste er zu seinem Entsetzen feststellen, dass sie große Stücke begeistert zerkleinerten, um ihren Verdienst zu steigern.16

Als in den folgenden Jahren immer mehr Knochen gefunden und identifiziert wurden, entstand eine Flut neuer Namen - Homo aurignaciensis, Australopithecus transvaalensis, Paranthropus crassidens, Zinjanthropus boisei und viele weitere, die fast immer nicht nur einen neuen Artnamen, sondern auch eine neue Gattungsbezeichnung enthielten. In den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts war die Zahl der benannten Hominidentypen auf weit über 100 angestiegen. Um die Verwirrung vollständig zu machen, hatten die einzelnen Funde häufig nacheinander verschiedene Namen, weil die Paläoanthropologen ihre Klassifikation verfeinerten, überarbeiteten und hitzig diskutierten. Die Solo-Menschen wurden als Homo soloensis, Homo primigenius asiaticus, Homo neanderthalensis soloensis, Homo sapiens soloensis, Homo erectus erectus und schließlich einfach als Homo erectus bezeichnet.

Im Jahr 1960 versuchte F. Clark Howell von der University of Chicago, ein wenig Ordnung zu schaffen. In Anlehnung an Gedanken, die Ernst Mayr und andere im vorangegangenen Jahrzehnt geäußert hatten, schlug er eine Beschränkung auf nur noch zwei Gattungen vor - Australopithecus und Homo -, und auch viele Arten sollten zusammengefasst werden. Java- und Pekingmensch wurden zu Homo erectus. Eine Zeit lang* herrschte wieder Ordnung in der Welt der Hominiden. Aber sie war nicht von Dauer.

Nach etwa zehn vergleichsweise ruhigen Jahren setzte in der Paläoanthropologie eine neue Phase schneller, vielfältiger Entdeckungen ein, die bis heute nicht zu Ende ist. In den sechziger Jahren kam Homo habilis hinzu, den

* Die Menschen werden biologisch in die Familie der Hominidae eingeordnet. Zu dieser Gruppe, die traditionell als Hominiden bezeichnet wird, gehören neben uns selbst alle ausgestorbenen Arten, die mit uns enger verwandt sind als mit den heutigen Schimpansen. Die Menschenaffen dagegen fasst man in einer Familie namens Pongidae zusammen. Nach Ansicht vieler Fachleute sollten aber auch Schimpansen, Gorillas und Orang-Utans in unsere Familie eingeordnet werden, wobei Menschen und Schimpansen dann eine Unterfamilie namens Homininae bilden. Danach müssten die Arten, die traditionell als Hominiden bezeichnet wurden, Homininen heißen. (Auf diese Bezeichnung bestehen Leakey und andere.) Die Überfamilie der Menschenaffen, zu der auch wir gehören, heißt Hominoidea.


manche Fachleute für das fehlende Bindeglied zwischen Menschenaffen und Menschen hielten, während andere in ihm überhaupt keine eigenständige biologische Art sahen. Dann folgten (neben vielen anderen) Homo ergaster, Homo louisleakeyi, Homo rudolfensis, Homo microcranus und Homo antecessor sowie eine Unmenge von Australopithecinen: A. afaransis, A. praegens, A. ramidus, A. walken, A. anamensis und andere. Insgesamt sind in der Literatur heute rund 20 Hominidentypen bekannt. Leider findet man fast nie zwei Experten, für die es die gleichen 20 sind.

Manche Fachleute halten noch heute an den beiden Hominidengattungen fest, die Howard 1960 definierte, andere ordnen jedoch manche Australopithecinen in eine eigene Gattung namens Paranthropus ein, wieder andere fügten eine noch ältere Gruppe namens Ardipithecus hinzu. Manche rechnen praegens zu Australopithecus, andere zu einer neuen Kategorie namens Homo antiquus, die meisten sehen aber in praegens überhaupt keine eigenständige Spezies. Eine zentrale Autorität, die in diesen Dingen das Sagen hätte, gibt es nicht. Ein Name wird ausschließlich durch allgemeinen Konsens anerkannt, und einen solchen Konsens gibt es in vielen Fällen kaum.

Paradoxerweise liegt das Problem zu einem großen Teil in den mangelnden Belegen. Seit Anbeginn der Zeiten haben mehrere Milliarden menschliche (oder menschenähnliche) Lebewesen die Erde bevölkert, und jedes davon hat zum Gesamtbestand der Menschen ein klein wenig genetische Variabilität beigetragen. Dagegen stützen sich unsere gesamten Kenntnisse über die Vorgeschichte der Menschen auf die häufig äußerst bruchstückhaften Überreste von vielleicht 5000 Individuen.19 »Wenn es einem nichts ausmacht, alles durcheinander zu werfen, könnte man sämtliche Funde in einem einzigen Lieferwagen unterbringen«, erwiderte Ian Tattersall, der bärtige, freundliche Kurator für Anthropologie am American Museum of Natural History in New York, als ich ihn nach dem Umfang aller weltweit bekannten Hominiden- und Frühmenschenknochen fragte.20

Der Mangel wäre nicht so stark zu spüren, wenn die Knochen in Raum und Zeit gleichmäßig verteilt wären, aber das ist natürlich nicht der Fall. Sie tauchen zufällig und häufig unter völlig verblüffenden Umständen auf. Homo erectus bevölkerte über eine Million Jahre lang die Erde und bewohnte Gebiete von der europäischen Atlantikküste bis nach China und zum Pazifik, aber wenn wir jeden einzelnen Homo erectus, dessen Existenz durch Funde belegt ist, wieder zum Leben erwecken könnten, würden alle gemeinsam noch nicht einmal einen Schulbus füllen. Noch dürftiger sieht es bei Homo habilis aus: zwei Teilskelette und eine Reihe einzelner Extremitätenknochen. Etwas so Kurzlebiges wie unsere eigene Zivilisation würde sich in Fossilfunden mit ziemlicher Sicherheit überhaupt nicht bemerkbar machen.

Tattersall will mir die Situation verdeutlichen und sagt: »In Europa haben Sie Hominidenschädel in Georgien, die auf ein Alter von 1,7 Millionen Jahre datiert wurden, aber dann kommt eine Lücke von fast einer Million Jahre, bevor in Spanien, ganz am anderen Ende des Kontinents, die nächsten Überreste auftauchen. Dann folgt wieder eine Lücke von 300000 Jahren, bevor man in Deutschland einen Homo heidelbergensis findet - und keiner von denen sieht irgendeinem anderen auffallend ähnlich.« Er lächelt.

»Aus solchen kleinen Bruchstücken versucht man dann die Entstehungsgeschichte ganzer biologischer Arten abzuleiten. Das ist ein bisschen viel verlangt. In Wirklichkeit haben wir kaum eine Ahnung von den Verwandtschaftsbeziehungen zwischen vielen sehr alten Arten - von der Frage, welche zu uns führten und welche als Sackgassen der Evolution endeten. Manche haben es vermutlich nicht einmal verdient, dass man sie überhaupt als eigenständige Arten betrachtet.«

Diese bruchstückhaften Belege sind der Grund, warum jeder neue Fund so zusammenhanglos wirkt und sich von allen anderen zu unterscheiden scheint. Hätten wir Zehntausende von Skeletten, die sich in regelmäßigen Abständen auf unsere gesamte Vergangenheit verteilen, wären mit Sicherheit weit feinere Abstufungen zu erkennen. Eine vollständige neue Art entsteht nicht von heute auf morgen, wie man nach den Fossilfunden annehmen könnte, sondern sie geht ganz allmählich aus vorhandenen Arten hervor. Je weiter man sich in der Vergangenheit an den Verzweigungspunkt heranarbeitet, desto größer werden die Ähnlichkeiten, und am Ende ist es sehr schwierig oder in manchen Fällen sogar unmöglich, einen späten Homo erectus von einem frühen Homo sapiens zu unterscheiden - der Fund ist wahrscheinlich beides oder keines von beiden. Ähnliche Meinungsverschiedenheiten gibt es häufig, wenn eine Identifizierung sich auf sehr kleine Überreste stützt -wenn man beispielsweise entscheiden muss, ob ein bestimmter Knochen zu einem weiblichen Australopithecus boisei oder einem männlichen Homo habilis gehört.

Da es so wenig sichere Erkenntnisse gibt, müssen die Fachleute ihre Annahmen häufig auf andere Gegenstände stützen, die in der Nähe gefunden wurden, und so etwas ist dann häufig nicht mehr als eine tapfere Vermutung. Oder, wie Alan Walker und Pat Shipman trocken anmerken: Wenn man die entdeckten Werkzeuge mit den Tierarten in Verbindung bringt, die man am häufigsten in ihrer Nähe findet, muss man zu dem Schluss gelangen, dass die ersten Steingerätschaften in ihrer Mehrzahl von Antilopen hergestellt wurden.

Vielleicht nichts anderes macht das Durcheinander so augenfällig deutlich wie der Haufen von Widersprüchen, der Homo habilis heißt. Kurz gesagt, ergeben die Knochen von habilis keinen Sinn. Reiht man sie hintereinander auf, sieht es so aus, als hätten männliche und weibliche Exemplare sich mit unterschiedlicher Geschwindigkeit und in unterschiedliche Richtungen entwickelt - die Männchen wurden im Laufe der Zeit immer weniger affenähnlich und ähnelten immer stärker den Menschen, die Weibchen dagegen scheinen sich in der gleichen Zeit von der Menschenähnlichkeit weg und in Richtung der Affen zu bewegen. Manche Fachleute halten habilis überhaupt nicht für eine stichhaltig belegte Kategorie. Tattersall und sein Kollege Jeffrey Schwartz bezeichnen ihn abschätzig als »Papierkorb-Spezies« , in die man zusammenhanglose Fossilien »bequem hineinwerfen konnte«. Und selbst jene, die habilis für eine eigenständige Art halten, sind sich nicht darüber einig, ob sie zur selben Gattung gehört wie wir oder einen Seitenast darstellt, der nicht weiter führte.

Schließlich - oder vielleicht vor allem - spielen menschliche Charaktere dabei eine große Rolle. Wissenschaftler neigen von Natur aus dazu, Funde so zu interpretieren, dass es ihrem geistigen Format möglichst stark schmeichelt. Nur sehr selten gibt ein Paläontologe bekannt, er habe eine Reihe von Knochen gefunden, an denen aber nichts Spannendes ist. Oder, wie John Reader es in seinem Buch Missing Links mit leichter Untertreibung formuliert: »Es ist bemerkenswert, wie häufig die erste Interpretation eines neuen Fundes die vorgefassten Ansichten seines Entdeckers bestätigt hat.« 24

Dies alles lässt natürlich viel Spielraum für Diskussionen, und niemand diskutiert so gern wie die Paläoanthropologen. »Unter allen Fachgebieten der Naturwissenschaften kann die Paläoanthropologie vielleicht die größte Zahl von Egozentrikern vorweisen« , erklären die Autoren des kürzlich erschienenen Buches Java Man, das interessanterweise auch selbst in langen Abschnitten von großartiger Unverblümtheit die Schwächen anderer angreift, insbesondere die von Donald Johanson, einem früheren engen Kollegen der Autoren. Eine kleine Kostprobe:

In den Jahren unserer Zusammenarbeit am Institut erwarb er (Johanson) sich den verdienten, aber unglückseligen Ruf unberechenbarer, lautstarker persönlicher Beschimpfungen, manchmal begleitet vom

Werfen von Büchern oder anderer Gegenstände, die gerade zur Hand waren.

Über die Vorgeschichte des Menschen kann man also eigentlich nur mit Sicherheit sagen, dass es sie gegeben haben muss; alles andere wird mit ziemlicher Sicherheit irgendwann von irgendjemandem in Frage gestellt. Vor dem Hintergrund dieser Tatsache können wir in der Frage, wer wir sind und woher wir kommen, ungefähr Folgendes sagen:

Während der ersten 99,99999 Prozent unserer Vergangenheit als Lebewesen gehörten wir zur gleichen Abstammungslinie wie die Schimpansen. Über die Vorgeschichte der Schimpansen wissen wir so gut wie nichts, aber was sie waren, das waren auch wir. Dann, vor rund sieben Millionen Jahren, muss etwas Wichtiges geschehen sein. Aus den tropischen Wäldern Afrikas tauchte eine neue Gruppe von Lebewesen auf und wanderte in die offene Savanne.

Das waren die Australopithecinen, und sie blieben während der nächsten fünf Millionen Jahre die beherrschende Hominidenart der Erde. (Der Wortbestandteil Austral- kommt von dem lateinischen Wort für »Süden« und hat in diesem Zusammenhang nichts mit Australien zu tun.) Es gab mehrere Formen von Australopithecinen, manche schlank und grazil wie Darts Kind von Taung, andere eher stämmig und robust, aber alle konnten aufrecht gehen. Manche dieser Arten existierten weit über eine Million Jahre lang, andere blieben nur wenige 100000 Jahre erhalten, aber man sollte bedenken, dass selbst die Geschichte der weniger erfolgreichen Arten um ein Vielfaches länger war als das, was wir bisher erreicht haben.

Die berühmtesten Hominiden-Überreste gehören zu einem 3,18 Millionen Jahre alten Australopithecinen und wurden 1974 von einer Arbeitsgruppe unter Leitung von Donald Johanson in der Hadar-Region in Äthiopien gefunden. Das Skelett, das wissenschaftlich unter der Bezeichnung A. L. ( »Afar Locality« ) 288-1 geführt wird, wurde allgemein als Lucy bekannt - der Name geht auf den Beatles-Song »Lucy in the Sky with Diamonds« zurück. An ihrer Bedeutung hatte Johanson nie die geringsten Zweifel. »Sie ist unser ältester Vorfahre, das fehlende Bindeglied zwischen Menschenaffen und Menschen«, sagte er.

Lucy war winzig - sie maß nur knapp über einen Meter. Aufrecht gehen konnte sie, wie gut, ist aber ein wenig umstritten. Offensichtlich war sie auch geschickt im Klettern. Vieles andere ist unbekannt. Da der Schädel fast völlig fehlt, kann man kaum etwas Zuverlässiges über die Größe des Gehirns aussagen, die wenigen Schädel-fragmente legen aber die Vermutung nahe, dass es klein war. Die meisten Bücher bezeichnen Lucys Skelett als zu 40 Prozent vollständig, manche verlegen den Anteil aber auch auf fast die Hälfte, und ein Werk aus dem American Museum of Natural History behauptet sogar, Lucy sei zu zwei Dritteln vollständig. Die BBC-Fernsehserie Ape Man schließlich sprach von »einem vollständigen Skelett«, obwohl gleichzeitig zu sehen war, dass es alles andere als vollständig ist.

Zum menschlichen Körper gehören 206 Knochen, von denen viele sich allerdings gleichen. Hat man von einer Person den linken Oberschenkelknochen, braucht man den rechten nicht, um etwas über seine Ausmaße zu sagen. Lässt man alle überzähligen Knochen weg, gelangt man zu einer Gesamtzahl von 120 - hier spricht man von einem Halbskelett. Aber selbst nach diesem recht großzügigen Maßstab und selbst wenn man noch das kleinste Bruchstück als vollständigen Knochen zählt, stellt Lucy nur 28 Prozent eines Halbskeletts dar (und nur rund 20 Prozent der vollständigen Knochenausstattung).

In dem Buch The Wisdom of the Bones berichtet Alan Walker, er habe Johanson einmal gefragt, wie dieser zu der Zahl von 40 Prozent gelangt sei. Darauf erwiderte Johanson frech, er habe die 106 Knochen der Hände und Füße nicht mitgezählt, mehr als die Hälfte der Gesamtzahl und, wie man meinen sollte, auch eine recht wichtige Hälfte, denn Lucys charakteristisches Merkmal war die Nutzung dieser Hände und Füße im Umgang mit einer sich wandelnden Welt. Jedenfalls weiß man über Lucy viel weniger, als allgemein angenommen wird. Eigentlich ist nicht einmal bekannt, ob sie wirklich ein Weibchen war. Auf das Geschlecht schließt man nur aus ihrer geringen Größe.

Zwei Jahre nach Lucys Entdeckung fand Mary Leakey an der Fundstelle von Laetoli in Tansania die Fußabdrücke von zwei Individuen, die - so glaubt man jedenfalls - zur gleichen Hominidenfamilie gehörten. Die Abdrücke entstanden, als zwei Australopithecinen nach einem Vulkanausbruch durch Ascheschlamm gingen. Die Asche wurde später hart und hielt die Abdrücke der Füße auf einer Strecke von mehr als 23 Metern fest.

Der Augenblick, als sie vorübergingen, ist im New Yorker American Museum of Natural History in einem faszinierenden Diorama festgehalten. Es zeigt die lebensgroße Rekonstruktion eines Männchens und eines Weibchens, die nebeneinander über die vorzeitliche afrikanische Ebene wandern. Sie sind behaart und so groß wie Schimpansen, aber Haltung und Gang haben etwas Menschliches. Das Verblüffendste an der Darstellung ist die Tatsache, dass das Männchen den linken Arm schützend um die Schultern des Weibchens gelegt hat. Es ist eine zärtliche, liebevolle Geste, die auf eine enge Bindung schließen lässt.

Angesichts dieser überzeugend wiedergegebenen Szene vergisst man leicht, dass praktisch alles außer den Fußspuren selbst Fantasie ist. Fast das gesamte Äußere der beiden Gestalten - das Ausmaß der Behaarung, die Gesichtsform (ob sie die Nase eines Menschen oder eines Schimpansen hatten), Gesichtsausdruck, Hautfarbe, Größe und Form der Brüste des Weibchens - ist zwangsläufig eine Vermutung. Wir können nicht einmal behaupten, dass sie ein Paar waren. Bei der weiblichen Gestalt könnte es sich in Wirklichkeit auch um ein Kind handeln. Ebenso wenig können wir sicher sein, dass wir es mit Australopithecinen zu tun haben. Das nimmt man nur an, weil man keine anderen Kandidaten kennt.

Wie man mir erzählte, wurden die Figuren so angeordnet, weil das Weibchen beim Aufbau des Dioramas immer wieder umfiel, aber Ian Tattersall versicherte mir lachend, diese Geschichte sei nicht wahr. »Natürlich wissen wir nicht, ob das Männchen den Arm um das Weibchen gelegt hatte, aber aus der Messung der Schrittweite geht hervor, dass sie dicht nebeneinander gingen - so dicht, dass sie sich berührten. Es war ein ganz freies Gelände, also fühlten sie sich wahrscheinlich unsicher. Deshalb haben wir versucht, ihnen einen leicht beunruhigten Ausdruck zu verleihen.«

Ich frage ihn, ob er Bedenken habe, weil man sich bei der Rekonstruktion der Figuren so viele Freiheiten gestatten musste.

»Rekonstruktionen sind immer problematisch«, stimmt er bereitwillig zu. »Sie glauben gar nicht, wie lange manchmal über Einzelheiten diskutiert wird, beispielsweise darüber, ob die Neandertaler Augenbrauen besaßen. Genauso war es auch bei den Figuren von Laetoli. Über Details ihres Äußeren können wir einfach nichts wissen, aber immerhin sind wir in der Lage, Größe und Körperhaltung wiederzugeben und über ihr mutmaßliches Aussehen einige vernünftige Überlegungen anzustellen. Wenn ich es noch einmal machen musste, würde ich sie wahrscheinlich ein wenig affenähnlicher und weniger menschlich gestalten. Diese Geschöpfe waren keine Menschen. Es waren aufrecht gehende Affen.«

Bis vor sehr kurzer Zeit nahm man allgemein an, dass wir von Lucy und den Wesen von Laetoli abstammen, aber mittlerweile sind sich viele Fachleute in dieser Frage nicht mehr sicher. Manche körperlichen Merkmale (beispielsweise die Zähne) lassen zwar auf eine Verbindung zu uns schließen, andere anatomische Aspekte der Australopithecinen sind aber weniger eindeutig. Tattersall und Schwanz weisen in ihrem Buch Extinct Humans darauf hin, dass der obere Teil des menschlichen Oberschenkelknochens stark dem der Menschenaffen ähnelt, nicht aber dem der Australopithecinen; wenn Lucy also zu der unmittelbaren Abstammungslinie zwischen Menschenaffen und Jetztmenschen gehört, müssen unsere Vorfahren ungefähr eine Million Jahre lang den Oberschenkelknochen der Australopithecinen besessen haben, um dann, zu Beginn der nächsten Entwicklungsphase, zum Oberschenkelknochen der Menschenaffen zurückzukehren. Tattersall und Schwartz glauben sogar, dass Lucy nicht nur keine unmittelbare Vorfahrin der heutigen Menschen ist, sondern dass sie auch nicht einmal besonders gut aufrecht gehen konnte.

»Lucy und ihresgleichen bewegten sich nicht einmal entfernt so fort wie wir heute«, behauptet Tattersall.30 »Diese Hominiden gingen nur dann auf zwei Beinen, wenn sie von einem baumbestandenen Lebensraum zu einem anderen wandern mussten und durch ihre eigene Anatomie dazu« gezwungen »wurden.« Johanson ist anderer Ansicht. »Lucys Hüften und die Muskelanordnung an ihrem Becken machten ihr das Klettern auf Bäume ebenso schwer wie einem modernen Menschen«, schrieb er.

Noch unklarer wurde die Angelegenheit in den Jahren 2001 und 2002, als man vier außergewöhnliche neue Funde machte. Einen davon entdeckte Meave Leakey aus der berühmten Fossilsammlerfamilie am Turkana-See in Kenia und taufte ihn auf den Namen Kenyanthropus platyops ( »kenianisches Flachgesicht« ). Er stammt ungefähr aus der gleichen Zeit wie Lucy und lässt den Gedanken aufkommen, dass er unser Vorfahre war, während Lucy zu einem erfolglosen Seitenast der Evolution gehört. Darüber hinaus fand man im Jahr 2001 noch Ardipithecus ramidus kadabba, der auf ein Alter von 5,2 bis 5,8 Millionen Jahre datiert wurde, und Orrorin tugenensis, mit vermutlich sechs Millionen Jahren der älteste Hominide, den man bis dahin entdeckt hatte34 -aber diese Stellung behielt er nur kurze Zeit. Im Sommer 2002 fand eine französische Arbeitsgruppe in der Djurab-Wüste im Tschad - einem Gebiet, das nie zuvor Knochen von Frühmenschen freigegeben hatte - einen fast sieben Millionen Jahre alten Hominiden, den die Wissenschaftler als Sahelanthropus tchadensis bezeichneten. (Manche Kritiker halten ihn allerdings nicht für einen Menschen, sondern für einen frühen Menschenaffen, den man deshalb lieber Sahelpithecus nennen sollte. ) Sie alle waren sehr frühe und recht einfach gebaute Formen, aber sie konnten aufrecht gehen, und das schon in viel älterer Zeit, als man bis dahin angenommen hatte.

Der aufrechte Gang ist eine anspruchsvolle, riskante Strategie. Er macht es notwendig, das Becken so umzugestalten, dass es das volle Körpergewicht tragen kann. Damit die erforderliche Stärke erhalten bleibt, muss der Geburtskanal vergleichsweise eng sein. Dies hat zwei bedeutsame unmittelbare Auswirkungen und eine längerfristige Folge. Erstens bedeutet es für jede Mutter starke Schmerzen bei der Entbindung und sowohl für die Mutter als auch für das Kind eine erheblich erhöhte Gefahr, dabei ums Leben zu kommen. Und damit der Kopf des Babys einen so engen Kanal passieren kann, muss das Gehirn bei der Geburt noch relativ klein sein, sodass das Kind völlig hilflos ist. Das wiederum erfordert eine langfristige Versorgung der Jungen, und die setzt eine feste Bindung zwischen Mann und Frau voraus.

Das alles ist schon problematisch, wenn man geistig der Herr der Welt ist; für einen kleinen, verletzlichen Austra-lopithecinen, dessen Gehirn ungefähr so groß wie eine Orange war", muss es ein gewaltiges Risiko bedeutet haben.37

Warum also stiegen Lucy und ihresgleichen von den Bäumen und verließen den Wald? Vermutlich hatten sie keine andere Wahl. Nachdem die Landenge von Panama sich aus dem Meer erhoben hatte, waren die Wasserströmungen vom Pazifik zum Atlantik unterbrochen, sodass warme Wassermassen vom Nordpolargebiet weggelenkt wurden. Dies führte in nördlichen Breiten zu einer strengen Eiszeit. In Afrika setzten trockene, kühle Jahreszeiten ein, und der Dschungel wurde allmählich zur Savanne. »Eigentlich war es gar nicht so, dass Lucy und ihresgleichen die Wälder verließen«, schreibt John Gribbin, »sondern sie wurden von den Wäldern verlassen.«

Aber durch den Schritt in die offene Savanne machten sich die frühen Hominiden eindeutig noch leichter angreifbar. Ein aufrecht gehender Hominide konnte zwar besser sehen, aber auch besser gesehen werden. Selbst heute sind Menschen in der Wildnis fast lächerlich leicht zu verletzen. Fast jedes große Tier, dessen Namen wir uns merken können, ist stärker, schneller und mit größeren Zähnen ausgestattet als wir. Im Fall eines Angriffs hat der moderne Mensch nur zwei Vorteile. Wir besitzen ein gutes

* Die absolute Gehirngröße besagt nicht alles, ja manchmal noch nicht einmal besonders viel. Elefanten und Wale haben ein größeres Gehirn als wir, und doch dürfte es uns leicht fallen, sie bei Vertragsverhandlungen über den Tisch zu ziehen. Von Bedeutung ist nur die relative Größe, eine Tatsache, die häufig übersehen wird. Nach Angaben von Gould hatte A. africanus mit nur 450 Kubikzentimetern ein kleineres Gehirn als ein Gorilla. Aber ein typisches Männchen von africanus wog noch nicht einmal 45 Kilo, und das Weibchen war noch viel kleiner; Gorillas dagegen bringen es leicht auf 270 Kilo und mehr.


Gehirn, mit dem wir Strategien entwickeln können, und wir besitzen Hände, um harte Gegenstände zu werfen oder zu schwingen. Als einzige Lebewesen können wir aus der Distanz Schmerzen zufügen. Deshalb können wir es uns leisten, körperlich verletzlich zu sein.

Anscheinend waren alle Voraussetzungen für die schnelle Entwicklung eines leistungsfähigen Gehirns gegeben, und doch geschah dies offensichtlich nicht. Über mehr als drei Millionen Jahre hinweg veränderten Lucy und ihre Australopithecinen-Kollegen sich fast überhaupt nicht. Ihr Gehirn zeigt keine Größenzunahme, und wir haben keine Anhaltspunkte, dass sie auch nur die einfachsten Werkzeuge benutzten. Noch seltsamer ist etwas anderes: Wie wir heute wissen, lebten sie rund eine Million Jahre lang neben anderen frühen Hominiden, die tatsächlich Werkzeuge verwendeten. Dennoch machten sich die Australopithecinen diese neue Technologie, von der sie umgeben waren, nie zu Nutze.40

Irgendwann in der Zeit vor drei bis zwei Millionen Jahren lebten in Afrika anscheinend bis zu sechs Hominidentypen nebeneinander. Aber nur einem war es beschieden, auf Dauer erhalten zu bleiben: der Gattung Homo, die vor etwa zwei Millionen Jahren erstmals zu Tage trat. Welche Verwandtschaftsbeziehung zwischen den Australopithecinen und Homo bestand, weiß niemand genau. Bekannt ist aber, dass sie über eine Million Jahre lang nebeneinander existierten, bevor alle Australopithecinen, robuste wie grazile Formen, vor etwa einer Million Jahren auf rätselhafte Weise und möglicherweise sehr plötzlich verschwanden. Warum sie aufhörten zu existieren, weiß niemand. »Vielleicht haben wir sie aufgefressen«, vermutet Matt Ridley.41

Nach der üblichen Vorstellung beginnt die Abstammungslinie von Homo mit Homo habilis, einem Geschöpf, über das wir fast nichts wissen, und an ihrem Ende stehen wir, der Homo sapiens (wörtlich »der vernunftbegabte Mensch« ). Dazwischen gibt es je nachdem, welcher Meinung man sich anschließt, ein halbes Dutzend anderer Arten von Homo: Homo ergaster, Homo neanderthalensis, Homo rudolfensis, Homo heidelbergensis, Homo erectus und Homo antecessor.

Der Homo habilis ( »geschickter Mensch« ) erhielt seinen Namen 1964 von Louis Leakey und Kollegen, und zwar deshalb, weil er als erster Hominide Werkzeuge benutzte, wenn auch nur sehr einfache. Er war ein recht wenig entwickeltes Wesen und ähnelte mehr einem Schimpansen als einem Menschen, aber sein Gehirn war im Ganzen um rund 50 Prozent größer als das von Lucy und auch in Relation zur Körpergröße nicht viel kleiner, und damit wurde er zum Einstein seiner Zeit. Warum das Gehirn der Hominiden vor zwei Millionen Jahren plötzlich zu wachsen begann, wurde nie überzeugend erklärt. Lange Zeit nahm man an, das große Gehirn stehe in unmittelbarem Zusammenhang mit dem aufrechten Gang - demnach hätte der Umzug aus dem Wald in die Savanne anspruchsvolle neue Strategien notwendig gemacht, die das Gehirnwachstum erforderten oder daraus erwuchsen. Deshalb war es eine ziemliche Überraschung, als man nach der wiederholten Entdeckung aufrecht gehender Einfaltspinsel erkannte, dass zwischen beidem keine direkte Beziehung besteht.

»Wir kennen einfach keinen überzeugenden Grund, mit dem wir erklären könnten, warum das Gehirn der Menschen so groß wurde«, sagt Tattersall. Ein großes Gehirn stellt an den Organismus hohe Anforderungen: Es macht nur zwei Prozent der Körpermasse aus, verbraucht aber 20 Prozent der Energie. Außerdem ist es, was seine Nährstoffe angeht, vergleichsweise wählerisch. Selbst wenn wir nie das geringste Stückchen Fett zu uns nähmen, würde unser Gehirn sich nicht beklagen, denn diese Substanz rührt es ohnehin nicht an. Stattdessen fordert es Traubenzucker (Glucose), und zwar eine Menge, selbst wenn andere Organe dadurch zu kurz kommen. Guy Brown schreibt:

»Unser Organismus läuft ständig Gefahr, von einem gierigen Gehirn ausgeplündert zu werden, aber er kann es sich nicht leisten, das Gehirn hungern zu lassen, denn das würde sehr schnell zum Tode führen.« 43 Ein großes Gehirn braucht mehr Nahrung, und mehr Nahrung bedeutet höhere Risiken.

Nach Tattersalls Ansicht war die Entstehung des großen Gehirns vielleicht einfach ein Zufall der Evolution. Er ist der gleichen Meinung wie Stephen Jay Gould: Würde man das Tonband des Lebens noch einmal ablaufen lassen -selbst wenn man es nur ein relativ kurzes Stück bis zur Entstehung der Hominiden zurückspult -, wäre es »ganz unwahrscheinlich«, dass es heute moderne Menschen oder irgendetwas Ähnliches gäbe.

»Kaum einen anderen Gedanken können die Menschen so schlecht akzeptieren wie die Idee, dass wir nicht der Höhepunkt von irgendetwas sind«, sagt er. »Dass wir hier sind, hat nichts Zwangsläufiges. Dass wir glauben, die Evolution sei letztlich darauf programmiert, uns hervorzubringen, entspringt nur unserer menschlichen Eitelkeit. Selbst unter Anthropologen war diese Vorstellung bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts verbreitet.« Noch 1991 vertrat C. Loring Brace in dem verbreiteten Lehrbuch The Stages of Evolution hartnäckig die Vorstellung von der linearen Entwicklung und räumte nur eine einzige Sackgasse der Evolution ein: die robusten Australopithecinen.44 Alles andere war angeblich ein geradliniger Fortschritt - jede Hominidenspezies trug das Staffelholz der Entwicklung weiter und übergab es dann an einen jüngeren, frischeren Läufer. Heute dagegen gilt es als gesichert, dass viele dieser frühen Formen sich auf Seitenwege begeben hatten, die nirgendwohin führten.

Glück für uns: Ein Weg führte weiter - ihn beschritt eine Gruppe von Hominiden, die Werkzeuge benutzte, scheinbar aus dem Nichts auftauchte und sich zeitlich mit dem rätselhaften, umstrittenen Homo habilis überschnitt. Es war der Homo erectus, die Spezies, die Eugène Dubois 1891 in Java entdeckte. Je nachdem, welche Quelle man befragt, existierte sie von der Zeit vor 1,8 Millionen Jahren möglicherweise bis vor rund 20000 Jahren.

Nach Ansicht der Autoren des Buches Java Man stellt Homo erectus die entscheidende Grenzlinie dar.45 Alles, was ihm vorausging, war grundsätzlich affenähnlich, alles Spätere war menschlich. Homo erectus ging als Erster auf die Jagd, machte als Erster das Feuer nutzbar, konstruierte als Erster komplizierte Werkzeuge, hinterließ als Erster Spuren seiner Lagerplätze und kümmerte sich als Erster um schwache und kranke Artgenossen. Im Vergleich zu allem, was es vorher gab, war Homo erectus in Körperbau und Verhalten sehr menschlich: mit langen, sehr kräftigen Gliedmaßen (die viel stärker waren als bei heutigen Menschen), und mit der Motivation und der Intelligenz, sich erfolgreich über riesige Gebiete zu verbreiten. Den anderen Hominiden muss Homo erectus entsetzlich stark, flink und geschickt erschienen sein.

»Erectus war der Velociraptor seiner Zeit«, so Alan Walker von der Pennsylvania State University, einer der weltweit führenden Fachleute. Würde man ihm in die Augen sehen, dürfte er oberflächlich wie ein Mensch wirken, aber »man würde keine Verbindung zu ihm herstellen, man wäre Beute«. Nach Walkers Angaben hatte erectus den Körper eines erwachsenen Menschen, aber das Gehirn eines Babys.

Dass es erectus gab, wusste man schon seit fast einem Jahrhundert, aber man kannte ihn nur aus vereinzelten Knochenbruchstücken, die nicht annähernd ausreichten, um ein vollständiges Skelett zusammenzusetzen. Erst in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts führte dann eine außergewöhnliche Entdeckung in Afrika dazu, dass man seine Bedeutung - oder zumindest die mögliche Bedeutung - als Vorläufer der heutigen Menschen richtig einschätzen konnte. Das abgelegene Tal des Turkana-Sees (früher Rudolf-See) in Kenia ist heute weltweit eine der fruchtbarsten Stellen, wenn man Überreste von Frühmenschen finden will, aber sehr lange war niemand auf die Idee gekommen, dort zu suchen. Erst als Richard Leakey mit seinem Flugzeug vom Weg abkam und das Tal überflog, wurde ihm klar, dass es sich hier möglicherweise um ein vielversprechendes Gebiet handelte. Eine Arbeitsgruppe sollte die Gegend näher untersuchen, fand aber zunächst nichts. An einem Spätnachmittag jedoch entdeckte Kamoya Kimeu, Leakeys bekanntester Fossilsammler, auf einem Hügel in einiger Entfernung vom See ein kleines Stück von der Augenbrauenpartie eines Hominiden. Die Stelle sah nicht so aus, als könne sie gute Funde liefern, aber aus Respekt vor Kimeus Instinkt fingen seine Kollegen dennoch an zu graben, und zu ihrer Verblüffung fanden sie ein fast vollständiges Skelett eines Homo erectus. Es gehörte zu einem Jungen von neun bis zwölf Jahren, der vor 1,54 Millionen Jahren gestorben war.46 Das Skelett hatte »einen ganz modernen Körperbau, wie es ihn zuvor nicht gab«, sagt Tattersall. Der Junge von Turkana »war eindeutig einer von uns«.47

Außerdem fand Kimeu am Turkana-See auch das weibliche Skelett KNM-ER 1808. Es war 1,7 Millionen Jahre alt und lieferte den Wissenschaftlern einen ersten Anhaltspunkt, dass Homo erectus interessanter und vielschichtiger war, als man bis dahin geglaubt hatte. Die Knochen der Frau waren verformt und von Auswüchsen bedeckt, die Folge einer schrecklichen Krankheit namens Hypervitaminose A, die nur dadurch entstehen kann, dass man die Leber eines Fleischfressers isst. Damit war zum allerersten Mal klar, dass Homo erectus Fleisch zu sich nahm. Noch überraschender war die Menge der Auswüchse: Sie zeigte, dass die Frau mehrere Wochen oder sogar Monate mit der Krankheit gelebt hatte.

Irgendjemand hatte sie gepflegt. Es war das erste Anzeichen für liebevolles Verhalten in der Evolution der Menschen.

Außerdem war am Schädel zu erkennen, dass das Gehirn von Homo erectus ein Broca-Zentrum enthielt (oder nach Ansicht mancher Fachleute enthalten haben könnte), einen Abschnitt im Vorderlappen des Gehirns, der für die Sprache zuständig ist. Schimpansen besitzen diesen Bereich nicht. Nach Ansicht von Alan Walker fehlte dem Rückenmarkskanal noch die Größe und Komplexität, die Sprache möglich gemacht hätte, sodass diese Kreaturen vermutlich nicht wesentlich besser kommunizieren konnten als die heutigen Schimpansen. Andere, insbesondere Richard Leakey, sind überzeugt davon, dass sie bereits sprachen.

Eine Zeit lang war Homo erectus anscheinend die einzige Hominidenart auf der Erde. Er war sehr abenteuerlustig und verbreitete sich offensichtlich mit geradezu atemberaubender Geschwindigkeit über den Globus.49 Nimmt man die Fossilfunde für bare Münze, so muss man davon ausgehen, dass einige Angehörige der Spezies ungefähr zur gleichen Zeit in Java ankamen, als sie Afrika verließen, vielleicht sogar ein wenig früher. Dies veranlasste einige Wissenschaftler zu der Vermutung, die modernen Menschen seien vielleicht gar nicht in Afrika entstanden, sondern in Asien - was bemerkenswert oder eigentlich sogar ein Wunder wäre, da man außerhalb Afrikas nirgendwo potenzielle Vorläuferarten gefunden hat. In Asien müssten die Hominiden also ganz plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht sein. Und ohnehin würde die Frage nach der Ausbreitung durch einen asiatischen Ursprung nur auf den Kopf gestellt: Man müsste dann erklären, wie die Menschen aus Java so schnell nach Afrika gelangen konnten.

Es gibt aber auch mehrere andere plausible Antworten auf die Frage, wie Homo erectus es schaffte, so schnell nach seinem ersten Auftreten von Afrika aus den asiatischen Kontinent zu erreichen. Zunächst einmal ist die Datierung der Überreste von Frühmenschen mit einer erheblichen Unsicherheit behaftet. Liegt das tatsächliche Alter der afrikanischen Knochen im Spektrum der Schätzungen am oberen Ende und das der Funde aus Java am unteren, hatten die Frühmenschen aus Afrika eine Menge Zeit, den Weg nach Asien zu finden. Außerdem ist es durchaus möglich, dass ältere erectus-Knochen in Afrika noch ihrer Entdeckung harren. Darüber hinaus könnte die Datierung aus Java auch völlig falsch sein.

Es gibt aber auch berechtigte Zweifel. Manche Fachleute halten die Funde vom Turkana-See überhaupt nicht für Homo erectus. Ihr Gegenargument entbehrte nicht einer gewissen Ironie: Die Skelette vom Turkana-See waren bewundernswert vollständig, alle anderen Fossilien von erectus dagegen sind nur wenig aufschlussreiche Bruchstücke. Wie Tattersall und Jeffrey Schwartz in Extinct Humans feststellen, lassen sich große Teile des Turkana-Skeletts »mit nichts vergleichen, was eng mit ihm verwandt wäre, weil man die vergleichbaren Teile einfach nicht kennt!« 50 Nach ihren Angaben ähneln die Skelette vom Turkana-See in nichts dem asiatischen Homo erectus, und man hätte sie niemals der gleichen Art zugeordnet, wenn sie nicht Zeitgenossen gewesen wären. Manche Fachleute bestehen deshalb darauf, die Funde vom Turkanasee (und andere aus der gleichen Zeit) als Homo ergaster zu bezeichnen. Nach Ansicht von Tattersall und Schwartz geht das nicht weit genug. Sie sind überzeugt, dass ergaster »oder ein recht naher Verwandter« sich von Afrika nach Asien verbreitete, sich dort zu Homo erectus weiterentwickelte und dann ausstarb.51

Eines aber ist sicher: Irgendwann vor über einer Million Jahren wanderten einige neuartige, vergleichsweise moderne, aufrecht gehende Lebewesen aus Afrika aus und verbreiteten sich kühn über große Teile der Erde. Das geschah vermutlich recht schnell - ihr Verbreitungsgebiet erweiterte sich im Durchschnitt um bis zu 40 Kilometer im Jahr, obwohl sie es mit Gebirgen, Flüssen, Wüsten und anderen geografischen Hindernissen zu tun hatten und obwohl sie sich an Unterschiede in Klima und Nahrungsangebot anpassen mussten. Ein besonderes Rätsel ist die Frage, wie sie am Westufer des Roten Meeres vorankommen konnten, einem Gebiet, das heute von berüchtigter Trockenheit ist und früher noch trockener war. Es ist eine seltsame Ironie des Schicksals: Gerade die Umweltbedingungen, die sie zum Verlassen Afrikas veranlassten, machten ihnen die Wanderung nur umso schwerer. Aber irgendwie gelang es ihnen, alle Schranken zu überwinden und in den Gebieten jenseits davon zu gedeihen.

Ich fürchte, an dieser Stelle endet die Einigkeit der Fachleute. Was in der Entwicklung der Menschen als Nächstes geschah, ist Thema einer langen, hitzigen Debatte, mit der wir uns im nächsten Kapitel befassen werden.

Zuvor sollten wir uns aber eines noch einmal ins Gedächtnis rufen: Alle diese Wendungen der Evolution, die in fünf Millionen Jahren von einem einfachen, einfältigen Australopithecinen zum modernen JetztMenschen führten, brachten ein Lebewesen hervor, das in 98,4 Prozent seiner genetischen Information nicht vom modernen Schimpansen zu unterscheiden ist. Die Unterschiede zwischen einem Zebra und einem Pferd oder zwischen einem Delfin und einem Tümmler sind größer als die zwischen uns und den behaarten Geschöpfen, die von unseren Vorfahren überflügelt wurden, als diese sich anschickten, die Welt zu erobern.

29. Der unermüdliche Affe

Irgendwann vor rund eineinhalb Millionen Jahren tat ein vergessenes Genie aus der Welt der Hominiden etwas Unerwartetes: Er (oder sehr wahrscheinlich sie) nahm einen Stein in die Hand und benutzte ihn dazu, einen anderen Stein sorgfältig in Form zu bringen. Das Ergebnis war ein einfacher, tropfenförmiger Faustkeil, das erste Produkt fortgeschrittener Technologie auf der Erde.

Allen sonstigen Werkzeugen war es so haushoch überlegen, dass andere schon bald dem Beispiel des Erfinders folgten und ebenfalls Faustkeile herstellten. Schließlich gab es offenbar ganze Gesellschaftsgruppen, die kaum noch etwas anderes taten. »Sie produzierten die Werkzeuge zu Tausenden«, sagt Ian Tattersall. »In Afrika kann man an manchen Stellen buchstäblich keinen Schritt tun, ohne auf sie zu treten. Das ist eigenartig, denn ihre Herstellung ist recht arbeitsaufwändig. Es ist, als hätte man sie aus purer Lust an der Sache produziert.« 1

Von einem Regal in seinem sonnendurchfluteten Arbeitszimmer nimmt Tattersall einen riesigen Abguss und drückt ihn mir in die Hand. Er ist ungefähr einen halben Meter lang und an der breitesten Stelle etwa 20 Zentimeter breit. Die Form erinnert an eine Speerspitze, die allerdings so groß ist wie ein Pflasterstein. Da der Abguss aus Fiberglas besteht, wiegt er nur ein paar Dutzend Gramm, das Original jedoch, das in Tansania gefunden wurde, brachte mehr als elf Kilo auf die Waage. »Als Werkzeug war es völlig nutzlos«, erklärt Tattersall. »Um es richtig hochzuheben, waren zwei Personen erforderlich, und selbst dann wäre es äußerst anstrengend gewesen, irgendetwas damit zu erschlagen.«

»Wozu war es dann gut?«

Tattersall zuckt vielsagend mit den Schultern - offenbar hat er Spaß an dem Rätsel. »Keine Ahnung. Es muss irgendeine symbolische Bedeutung gehabt haben, aber worin sie bestand, können wir nur raten.«

Die Faustkeile wurden unter dem Namen Acheuléen-Werkzeuge bekannt; der Name erinnert an St. Acheul, einen Vorort der nordfranzösischen Stadt Amiens, wo im 19. Jahrhundert die ersten Stücke gefunden wurden. Sie stehen im Gegensatz zu den älteren, einfacheren Werkzeugen, die man nach ihrem ursprünglichen Fundort, der Olduvai-Schlucht in Tansania, als Oldowan bezeichnet. In älteren Lehrbüchern werden die Oldowan-Werkzeuge meist als stumpfe, abgerundete Steine von der Größe einer Hand dargestellt. Mittlerweile neigen die Paläoanthropologen aber zu der Annahme, dass in Wirklichkeit die Stücke, die von diesen größeren Steinen abgeschlagen wurden und die sich dann zum Schneiden eigneten, als Werkzeuge dienten.

Hier stehen wir vor einem Rätsel. Als die frühen Jetztmenschen, aus denen wir später hervorgingen, vor über 100000 Jahren erstmals aus Afrika auswanderten, waren die Acheuléen-Werkzeuge die Technologie der Wahl. Außerdem liebten diese ersten Vertreter der Spezies Homo sapiens ihre Acheuléen-Produkte und transportierten sie über große Entfernungen. Manchmal nahmen sie sogar unbehauene Steine mit, um sie später zu Werkzeugen zu verarbeiten. Kurz gesagt, waren sie von ihrer Technologie begeistert. Aber während man Acheuléen-Werkzeuge in Afrika und Europa sowie in West- und Zentralasien an vielen Stellen gefunden hat, fehlen sie im Fernen Osten fast vollständig. Das ist äußerst rätselhaft.

In den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts zog Hallum Movius, ein Paläontologe der Harvard University, die so genannte Movius-Linie, eine Grenze zwischen Gebieten mit und ohne Acheuléen-Werkzeuge. Sie verläuft in südöstlicher Richtung quer durch Europa und den Nahen Osten bis in die Nähe des heutigen Kalkutta und nach Bangladesh. Jenseits der Movius-Linie, in ganz Südostasien und China, hat man nur die älteren, einfacheren Oldowan-Werkzeuge gefunden. Wir wissen folglich, dass der Homo sapiens weit über die Grenze hinauskam - warum also brachten die Menschen eine fortgeschrittene, von ihnen hoch geschätzte Steintechnologie bis an den Rand des Fernen Ostens, um sie dann aufzugeben?

»Diese Frage hat mich lange beunruhigt«, berichtet Alan Thorne von der Australian National University in Canberra.

»Die ganze moderne Anthropologie gründete sich auf die Vorstellung, dass die Menschen in zwei Wellen aus Afrika ausgewandert sind - mit der ersten kam Homo erectus, der zum Javamenschen, Pekingmenschen und Ähnlichem wurde, und später folgte eine zweite Welle mit dem höher entwickelten Homo sapiens, der die erste Gruppe verdrängte. Aber wenn das stimmt, muss man annehmen, dass der Homo sapiens mit seiner modernen Technologie bis zu der Grenze vordrang und sie dann aus irgendeinem Grund aufgab. Das alles war, gelinde gesagt, sehr rätselhaft.«

Wie sich herausstellt, gab es noch eine Menge weiterer Rätsel, und einer der unverständlichsten Befunde überhaupt stammte aus Thornes eigener Weltregion, dem australischen Outback. Im Jahr 1968 erkundete der Geologe Jim Bowler einen seit langem ausgetrockneten See namens Mungo in einer ausgedörrten, einsamen Ecke im Westen des australischen Bundesstaates New South Wales. Plötzlich fiel sein Blick auf etwas Überraschendes. Aus einem halbmondförmigen Sandhaufen ragten einige Menschenknochen. Zu jener Zeit nahm man an, dass Menschen seit höchstens 8000 Jahren in Australien lebten, aber der Lake Mungo war schon seit 12000 Jahren ausgetrocknet. Was hatten Menschen in einer so unwirtlichen Gegend zu suchen?

Die Antwort lieferte die Radiokarbondatierung: Der Mensch, zu dem die Knochen gehörten, lebte zu einer Zeit, als der Lake Mungo ein wesentlich angenehmeres Umfeld bot. Damals war er 20 Kilometer lang, voller Wasser und Fische, und gesäumt von hübschen Gehölzen aus Kasuarinengewächsen. Zum allgemeinen Erstaunen stellte sich heraus, dass die Knochen 23000 Jahre alt waren. Andere, in der Nähe gefundene Skelettteile wurden auf ein Alter von bis zu 60000 Jahren datiert. Dieses Ergebnis kam so unerwartet, dass es eigentlich völlig unmöglich erschien. Seit es auf der Erde die ersten Hominiden gab, war Australien immer eine Insel gewesen. Wenn Menschen dorthin gelangt waren, mussten sie über das Meer gekommen sein, und zwar in so großer Zahl, dass sie eine fortpflanzungsfähige Bevölkerung bildeten. Zuvor mussten sie mindestens 100 Kilometer offenes Meer überwinden, und dabei konnten sie nicht wissen, ob ihnen eine bequeme Landung bevorstand. Nachdem die Mungo-Menschen an Land gegangen waren, waren sie von der Nordküste Australiens - dem mutmaßlichen Ort ihrer Ankunft - über 3000 Kilometer weit ins Landesinnere gewandert. Deshalb geht ein Bericht in der angesehenen Fachzeitschrift Proceedings of the National Academy of Sciences davon aus, »dass die Menschen vermutlich nicht erst vor 60000 Jahren, sondern schon beträchtlich früher eintrafen«.

Die Frage, wie und warum sie nach Australien kamen, lässt sich derzeit nicht beantworten. Nach Auskunft der meisten Anthropologie-Lehrbücher gibt es keinerlei Hinweise, dass die Menschen vor 60000 Jahren überhaupt schon sprechen konnten, und noch viel weniger waren sie demnach zu der gemeinsamen Anstrengung in der Lage, seetüchtige Schiffe zu bauen und einen isolierten Kontinent zu besiedeln.

»Was die Wanderungsbewegungen der Menschen vor Beginn der historischen Aufzeichnungen angeht, haben wir noch große Wissenslücken«, erklärt mir Alan Thorne, als ich ihn in Canberra aufsuche. »Als die Anthropologen im 19. Jahrhundert zum ersten Mal nach Papua-Neuguinea kamen, stellten sie fest, dass die Menschen im Hochland des Landesinneren, in einem der unzugänglichsten Gebiete auf der ganzen Erde, Süßkartoffeln anbauten. Die Süßkartoffel ist in Südamerika zu Hause. Wie kam sie nach Papua-Neuguina? Wir wissen es nicht. Wir haben nicht die leiseste Ahnung. Eines aber ist sicher: Menschen ziehen mit beträchtlichem Selbstvertrauen schon viel länger durch die Welt, als man traditionell annimmt, und mit ziemlicher Sicherheit haben sie dabei nicht nur Informationen, sondern auch Gene ausgetauscht.«

Das Problem liegt wie immer in den Fossilfunden. »Nur wenige Regionen auf der Erde eignen sich auch nur entfernt dafür, dass Überreste von Menschen langfristig erhalten bleiben«, sagt Thorne, ein Mann mit scharfem Blick, einem weißen Ziegenbärtchen und angespanntem, aber freundlichem Wesen.

»Gäbe es nicht ein paar produktive Gebiete wie Hadar oder die Olduvai-Schlucht in Ostafrika, wüssten wir beängstigend wenig. Aus dem ganzen indischen Subkontinent kennt man nur ein einziges Frühmenschenfossil, und das stammt aus der Zeit vor rund 300000 Jahren. Zwischen dem Irak und Vietnam - das ist eine Entfernung von etwa 5000 Kilometern - hat man ganze zwei gefunden: das eine in Indien und einen Neandertaler in Usbekistan.« Er grinst. »Das ist nicht gerade viel Arbeitsmaterial. Man muss sich damit abfinden, dass es für menschliche Fossilien nur wenige produktive Gegenden gibt, beispielsweise das Große Rift-Tal in Afrika und den Lake Mungo hier in Australien. Dazwischen ist so gut wie nichts. Kein Wunder, dass die Paläontologen Mühe haben, Verbindungen zwischen den einzelnen Punkten herzustellen.«

Nach der herkömmlichen Theorie zur Erklärung der Wanderungsbewegungen - einer Theorie, die noch heute bei der Mehrheit der Fachleute anerkannt ist - verbreiteten sich die Menschen in zwei Wellen über Eurasien. Die erste vollzog Homo erectus, der Afrika bemerkenswert schnell verließ - praktisch sofort, nachdem die Spezies entstanden war - und begann vor fast 2 Millionen Jahren. Als diese Frühmenschen sich in verschiedenen Regionen niederließen, entwickelten sie sich allmählich zu verschiedenen Typen auseinander: Javamensch und Pekingmensch in Asien, Homo heidelbergensis und schließlich Homo neanderthalensis in Europa.

Dann, vor etwas mehr als 100000 Jahren, entstand in den Ebenen Afrikas ein klügeres, schlanker gebautes Wesen: der Vorfahre aller heute lebenden Menschen, der sich dann in einer zweiten Welle immer weiter verbreitete. Wohin sie auch kamen, überall verdrängten diese Vertreter der neuen Spezies Homo sapiens der Theorie zufolge ihre schwerfälligeren, weniger geschickten Vorgänger. Wie das im Einzelnen geschah, war immer umstritten. Spuren gewalttätiger Auseinandersetzungen hat man nie gefunden, und deshalb gehen die meisten Experten davon aus, dass die neueren Hominiden ihren älteren Verwandten einfach als Konkurrenten überlegen waren - andere Faktoren könnten allerdings ebenfalls dazu beigetragen haben. »Vielleicht haben sie sich bei uns mit Pocken angesteckt«, vermutet Tattersall. »Man kann darüber nichts Genaues sagen. Nur eines ist sicher: Wir sind heute hier und sie nicht.«

Die ersten Jetztmenschen sind erstaunlich schwer fassbar. Seltsamerweise wissen wir über unsere eigene Spezies weniger als über die meisten anderen Abstammungslinien der Hominiden. Wie Tattersall feststellt, ist es wirklich eigenartig, »dass das letzte wichtige Ereignis in der Evolution der Menschen - die Entstehung unserer eigenen Spezies - vielleicht das Rätselhafteste von allen ist«.4 Die Fachleute können sich nicht einmal darauf einigen, wann die echten Jetztmenschen in den Fossilfunden zum ersten Mal auftauchen. Viele Bücher verlegen ihren ersten Auftritt in die Zeit vor rund 120000 Jahren - so alt sind Überreste, die man an der Mündung des Flusses Klasies in Südafrika gefunden hat. Manche Wissenschaftler mögen aber nicht anerkennen, dass es sich dabei um echte Jetztmenschen handelt. Tattersall und Schwartz erklären: »Ob sie alle oder auch nur ein Teil von ihnen tatsächlich unsere Spezies repräsentieren, bleibt noch abschließend zu klären.« 5

Seinen ersten unumstrittenen Auftritt hat der Homo sapiens am östlichen Mittelmeer ungefähr im Gebiet des heutigen Israel, wo er vor rund 100000 Jahren zum ersten Mal auf der Bildfläche erscheint - aber auch diese Funde werden (von Trinkaus und Shipman) als »eigenartig, schwierig zu klassifizieren und schlecht bekannt« bezeichnet.6 Die Neandertaler hatten sich zu jener Zeit in der Region bereits fest angesiedelt und verfügten über ein Werkzeugarsenal, das als Mousterien bezeichnet wird und den Jetztmenschen anscheinend so gut gefiel, dass sie es übernahmen. In Nordafrika hat man keine Überreste von Neandertalern gefunden, auf ihre Werkzeuge stieß man jedoch überall. Irgendjemand muss sie dorthin gebracht haben, und Jetztmenschen sind die Einzigen, die dafür in Frage kommen.

Man weiß auch, dass Neandertaler und Jetztmenschen mehrere 10000 Jahre lang im Nahen Osten in irgendeiner Form nebeneinander lebten. »Ob sie zu verschiedenen Zeiten die gleichen Gebiete besiedelten oder tatsächlich unmittelbare Nachbarn waren, wissen wir nicht«, sagt Tattersall. In jedem Fall verwendeten die Jetztmenschen aber mit Vergnügen die Werkzeuge der Neandertaler -wohl kaum ein überzeugender Beleg für eine gewaltige Überlegenheit. Nicht weniger seltsam ist, dass man im Nahen Osten auch Acheuléen-Werkzeuge aus der Zeit vor über einer Million Jahre gefunden hat, während sie in Europa noch vor 300000 Jahren so gut wie nicht existierten. Auch hier ist es ein Rätsel, warum Menschen ihre Werkzeuge nicht mitnahmen, obwohl sie über die Technologie verfügten.

Lange Zeit glaubte man, die Cromagnons, wie die europäischen Jetztmenschen genannt wurden, hätten die Neandertaler bei ihrem Vordringen über den Kontinent vor sich her getrieben und sie schließlich an seinen westlichen Rand abgedrängt, wo sie letztlich keine andere Wahl mehr hatten, als ins Meer zu fallen oder auszusterben. Heute weiß man aber, dass die Cromagnons ungefähr zur gleichen Zeit, als sie aus dem Osten kamen, auch bereits ganz im Westen Europas zu Hause waren. »Europa war damals ziemlich leer«, sagt Tattersall. »Trotz ihres Kommens und Gehens sind sie sich wahrscheinlich nicht allzu oft begegnet.« Ein seltsamer Aspekt an der Einwanderung der Cromagnons ist die Tatsache, dass sie zu einer Zeit stattfand, als sich in Europa nach einer Phase mit relativ mildem Klima wieder eine lange Kälteperiode breit machte. Was sie auch nach Europa gezogen haben mag, das gute Wetter war es mit Sicherheit nicht. Jedenfalls widerspricht die Vorstellung, die Neandertaler seien durch die Konkurrenz mit den neu eingewanderten Cromagnons zu Grunde gegangen, zumindest ein wenig den verfügbaren Indizien. Wenn die Neandertaler eine Fähigkeit besaßen, dann war es ihre Widerstandskraft. Über Zehntausende von Jahren hinweg lebten sie unter Bedingungen, die kein moderner Mensch außer ein paar Polarforschern und Entdeckern jemals erduldet hat. Auf dem Höhepunkt der Eiszeit waren Schneestürme mit Wind von Orkanstärke an der Tagesordnung.

Die Temperaturen sanken regelmäßig auf bis zu minus 40 Grad. Durch die schneebedeckten Täler im Süden Englands stapften Eisbären. Natürlich gingen auch die Neandertaler dem Schlimmsten aus dem Weg, aber sie erlebten mit Sicherheit Wetterbedingungen, die mindestens so unangenehm waren wie heute im sibirischen Winter. Auch sie litten darunter - ein Neandertaler, der nennenswert älter als 30 Jahre wurde, hatte großes Glück -, aber als Spezies waren sie äußerst widerstandsfähig und praktisch unausrottbar. Sie blieben mindestens 100000 Jahre oder vielleicht auch doppelt so lange erhalten, und das in einem Gebiet von Gibraltar bis nach Usbekistan - ein wahrhaft großer Erfolg für jede Art von Lebewesen.9

Welche Eigenschaften sie im Einzelnen besaßen, ist bis heute ein wenig umstritten und nicht gesichert. Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts war man sich unter Anthropologen allgemein einig, die Neandertaler seien dümmliche Geschöpfe mit gebeugter Haltung, schlurfendem Gang und affenähnlichem Gesicht gewesen - der Inbegriff des Höhlenmenschen. Erst ein schmerzhafter Unfall führte dazu, dass die Wissenschaftler diese Vorstellung neu überdenken mussten. Im Jahr 1947 suchte der französisch-algerische Paläontologe Camille Arambourg bei Freilandarbeiten in der Sahara unter der Tragfläche seines kleinen Flugzeuges Schutz vor der sengenden Mittagssonne.10 Während er dort saß, platzte durch die Hitze ein Reifen. Das Flugzeug kippte und versetzte ihm einen schmerzhaften Schlag am Oberkörper. Später, als er wieder in Paris war, ließ er seinen Hals röntgen und stellte bei der Betrachtung des Röntgenbildes fest, dass seine Wirbel genauso angeordnet waren wie die eines gebückten, schwerfälligen Neandertalers. Entweder war er, Arambourg, in seiner physiologischen Entwicklung zurückgeblieben, oder man hatte die Körperhaltung der Neandertaler falsch beschrieben. Natürlich traf die zweite Möglichkeit zu. Die Wirbel der Neandertaler waren alles andere als affenähnlich. Damit änderte sich unsere Vorstellung von diesen Hominiden völlig - allerdings, so scheint es, nicht überall.

Immer noch wird häufig behauptet, es habe den Neandertalern an der Intelligenz oder Motivation gefehlt, um auf gleicher Ebene mit den schlanken, geistig beweglicheren Neuankömmlingen der Spezies Homo sapiens zu konkurrieren.11 In einem Buch aus jüngerer Zeit findet sich folgende charakteristische Passage: »Die Jetztmenschen machten diesen Vorteil (den beträchtlich robusteren Körperbau der Neandertaler) durch bessere Kleidung, besseres Feuer und bessere Unterkünfte wett; gleichzeitig waren die Neandertaler durch einen überdimensionierten Körper behindert, zu dessen Erhaltung mehr Nahrung erforderlich war.« Mit anderen Worten: Genau die Faktoren, die ihnen 100000 Jahre lang das Überleben ermöglicht hatten, wurden nun angeblich auf einmal zu einem unüberwindlichen Hindernis.

Vor allem aber spricht fast nie jemand über die Tatsache, dass die Neandertaler ein erheblich größeres Gehirn hatten als die Jetztmenschen - es umfasste einer Berechnung zufolge 1,8 Liter, während wir uns mit 1,4 Litern zufrieden geben müssen. Dieser Unterschied ist größer als der zwischen dem heutigen Homo sapiens und dem späten Homo erectus, einer Spezies, die wir sehr gern als kaum menschenähnlich betrachten. Häufig hört man das Argument, unser Gehirn sei zwar kleiner, aber aus irgendeinem Grund leistungsfähiger. Ich glaube, ich gehe recht in der Annahme, dass ein solches Argument an keiner anderen Stelle in der Evolution des Menschen vertreten wird.

Nun kann man natürlich fragen: Wenn die Neandertaler so robust, anpassungsfähig und geistig gut ausgestattet waren, warum gibt es sie dann heute nicht mehr? Eine mögliche (allerdings sehr umstrittene) Antwort lautet: Vielleicht sind sie noch da. Zu den führenden Vertretern einer Alternativtheorie, die als Multiregionalismus bezeichnet wird, gehört Alan Thorne. Nach seiner Überzeugung ist die Evolution des Menschen kontinuierlich verlaufen: Genau wie die Australopithecinen sich zu Homo habilis entwickelten und Homo heidelbergensis schließlich zu Homo neanderthalensis wurde, so entstand demnach auch der moderne Homo sapiens einfach aus älteren Formen von Homo. Nach dieser Vorstellung ist Homo erectus keine eigenständige Spezies, sondern nur eine Übergangsform. Die heutigen Chinesen stammen demnach von Vorfahren des Typs Homo erectus ab, die in China lebten, die heutigen Europäer gehen auf einen europäischen Homo erectus zurück, und so weiter. »Nur leider gibt es für mich keinen Homo erectus«, sagt Thorne. »Nach meiner Überzeugung hat dieser Begriff heute seine Berechtigung verloren. Homo erectus ist einfach ein früherer Teil von uns. Ich glaube, dass nur eine Art von Menschen jemals Afrika verlassen hat, und diese Art ist der Homo sapiens.«

Die Gegner des Multiregionalismus lehnen Thornes Theorie vor allem deshalb ab, weil sie in ungeheuer großem Umfang eine parallele Evolution von Hominiden in der gesamten Alten Welt voraussetzen würde - in Afrika, China, Europa, den abgelegensten Inseln Indonesiens, also überall, wo sie auftauchten. Manche Fachleute sind auch überzeugt, der Multiregionalismus leiste einer rassistischen Anschauung Vorschub, von der die Anthropologie sich ohnehin nur mit großer Mühe befreien konnte. Anfang der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts äußerte der berühmte Anthropologe Carleton Coon von der University of Pennsylvania die Vermutung, manche heutigen Menschenrassen könnten unterschiedlicher Herkunft sein, und damit sagte er unausgesprochen, dass manche Menschen anderen von ihrer Abstammung her überlegen sind. Das erinnerte auf unangenehme Weise an frühere Ansichten, wonach manche heutigen Rassen, beispielsweise die afrikanischen »Buschleute« (eigentlich die San in der Kalahari) und die australischen Aborigines primitiver seien als andere Menschen.

Unabhängig von Coons persönlichen Überzeugungen ergab sich daraus für viele Menschen die Schlussfolgerung, manche Rassen seien von ihrem Wesen her höher entwickelt, und verschiedene Menschengruppen könnten sogar unterschiedliche biologische Arten darstellen. Diese Ansicht, die uns heute instinktiv als Beleidigung erscheint, war an vielen angesehenen Orten noch bis vor recht kurzer Zeit beliebt. Vor mir liegt ein populärwissenschaftliches Buch mit dem Titel The Epic of Man, das der Verlag Time-Life Publications 1961 auf Grundlage einer Artikelserie in der Zeitschrift Life herausbrachte. Darin findet sich beispielsweise folgende Passage: »Der Rhodesienmensch ... lebte noch vor 25000 Jahren und dürfte ein Vorfahre der afrikanischen Neger sein. Sein Gehirn war fast so groß wie das des Homo sapiens.« 14 Mit anderen Worten: Die Afrikaner sind angeblich erst vor kurzem aus Lebewesen hervorgegangen, die »fast« ein Homo sapiens waren.

Thorne wendet sich leidenschaftlich (und nach meiner Überzeugung ehrlich) gegen die Vorstellung, seine Theorie sei auch nur im Mindesten rassistisch. Er erklärt die einheitliche Evolution des Menschen mit der Vermutung, es habe eine Fülle von Wanderungsbewegungen zwischen den verschiedenen Kulturen und Regionen gegeben. »Es besteht kein Grund zu der Annahme, die Menschen seien nur in einer Richtung gewandert«, sagt er. »Sie waren immer in Bewegung, und wo sie zusammentrafen, tauschten sie mit ziemlicher Sicherheit durch Paarung genetisches Material aus. Neuankömmlinge verdrängten die einheimische Bevölkerung nicht, sondern schlossen sich ihr an. Sie wurden zu Einheimischen.« Als Vergleich nennt er die Vorgänge, als Entdecker wie Cook oder Magellan zum ersten Mal die Bewohner abgelegener Gebiete entdeckten. »Da trafen keine unterschiedlichen biologischen Arten aufeinander, sondern Vertreter der gleichen Spezies mit einigen körperlichen Unterschieden.«

Thorne beharrt darauf, die Fossilfunde seien ein Beleg für einen bruchlosen, kontinuierlichen Übergang. »Es gibt einen berühmten Schädel aus Petralona in Griechenland. Er wurde auf ein Alter von rund 300000 Jahren datiert, war aber bei den Vertretern der traditionellen Theorie immer Gegenstand von Auseinandersetzungen, denn er sieht in mancher Hinsicht wie Homo erectus aus, ist in anderen Aspekten aber eindeutig Homo sapiens. Nun ja, nach unserer Überzeugung würde man genau damit rechnen, wenn eine Art nicht verdrängt wurde, sondern sich weiterentwickelt hat.«

Zur Lösung der Frage würde es sicherlich beitragen, wenn man Belege für wechselseitige Kreuzung finden könnte, aber dass sie stattgefunden hat, lässt sich anhand von Fossilien nicht ohne weiteres beweisen oder widerlegen. Im Jahr 1999 fanden Archäologen in Portugal das Skelett eines ungefähr vierjährigen Kindes, das vor 24500 Jahren gestorben war. Es war insgesamt das Skelett eines Jetztmenschen, zeigte aber bestimmte altertümliche Merkmale, die möglicherweise von Neandertalern stammten: ungewöhnlich stämmige Beinknochen, Zähne mit einem charakteristischen »Schaufelmuster« und möglicherweise (hier sind sich die Fachleute allerdings nicht einig) auf der Schädelrückseite die so genannte Fossa suprainiaca, eine Einkerbung, die man ausschließlich bei Neandertalern findet. Erik Trinkaus von der Washington University in St. Louis, ein führender Neandertaler-Experte, bezeichnete das Kind als Mischling und damit als Beweis, dass Jetztmenschen und Neandertaler sich gepaart haben. Andere bemängelten jedoch, dass die Merkmale von Neandertalern und Jetztmenschen nicht stärker vermischt waren. Ein Kritiker formulierte es so: »Wenn man ein Maultier ansieht, hat es nicht das Vorderende eines Esels und das Hinterende eines Pferdes.« 15

Ian Tattersall erklärte, es handele sich schlicht um ein »untersetztes Jetztmenschenkind«. Er räumt zwar ein, es könne durchaus ein »Techtelmechtel« zwischen Neandertalern und Jetztmenschen gegeben haben, nach seiner Ansicht dürften daraus aber keine fortpflanzungsfähigen Nachkommen hervorgegangen sein.

Nachdem die Fossilfunde hier nicht weiterhalfen, konzentrierte man sich zunehmend auf genetische Untersuchungen und insbesondere auf den Teil des Erbmaterials, der als Mitochondrien-DNA bezeichnet wird. Die Mitochondrien-DNA wurde erst 1964 entdeckt, aber schon Anfang der achtziger Jahre erkannten einige kluge Köpfe an der University of California in Berkeley, dass sie zwei Merkmale besitzt, die sie zu einer besonders nützlichen molekularen Uhr machen: Erstens wird sie ausschließlich in der weiblichen Linie weitervererbt, sodass sie sich nicht in jeder neuen Generation mit der väterlichen DNA vermischt, und zweitens ereignen sich Mutationen in ihr ungefähr zwanzigmal so häufig wie in der DNA des Zellkerns, sodass man sie leichter nachweisen und ihre Vererbung über längere Zeit hinweg einfacher verfolgen kann. Durch Messung der Mutationshäufigkeit konnte man die genetische Vergangenheit und die Verwandtschaftsbeziehungen ganzer Menschengruppen aufklären.

Im Jahr 1987 analysierte die Arbeitsgruppe in Berkeley unter Leitung des mittlerweile verstorbenen Allan Wilson die Mitochondrien-DNA von 147 Personen und erklärte dann, die Entwicklung des anatomisch modernen Menschen habe innerhalb der letzten 140000 Jahre in Afrika stattgefunden. Demnach, so Wilson, »stammen alle heutigen Menschen von dieser Population ab«.16 Das war für den Multiregionalismus ein schwerer Schlag. Aber dann sah man sich die Befunde ein wenig genauer an. Eine der ungewöhnlichsten Tatsachen - sie war so ungewöhnlich, dass man sie eigentlich nicht richtig einschätzen konnte - bestand darin, dass man für die Studie in Wirklichkeit Afroamerikaner herangezogen hatte, deren Gene in den letzten paar hundert Jahren aus nahe liegenden Gründen eine beträchtliche Vermischung erlebt hatten. Auch die angenommene Mutationsrate ließ schon bald ernste Zweifel aufkommen.

Bis 1992 war die Untersuchung im Wesentlichen in Misskredit geraten. Aber die Methoden der genetischen Analyse wurden weiter verfeinert, und 1997 gelang es Wissenschaftlern der Universität München, ein wenig DNA aus dem Armknochen eines Neandertalers zu gewinnen und zu analysieren. Dieses Mal hielten die Befunde der Kritik stand. In der Münchner Untersuchung stellte sich heraus, dass die DNA der Neandertaler ganz anders aussah als jede DNA, die man heute auf der Erde findet - ein stichhaltiges Indiz, dass zwischen Neandertalern und Jetztmenschen keine genetische Verbindung besteht. Das war nun wirklich der Todesstoß für den Multiregionalismus.

Ende 2000 berichteten dann das Fachblatt Nature und andere Zeitschriften über eine schwedische Studie an der Mitochondrien-DNA von 53 Personen. Ihr Ergebnis legte die Vermutung nahe, dass alle heutigen Menschen innerhalb der letzten 100000 Jahre aus Afrika gekommen sind und von einem Bestand aus nicht mehr als 10000 Personen abstammen.19 Wenig später verkündete Eric Lander, der Direktor des Whitehead Institute/ Massachusetts Institute of Technology Center for Genome Research, die modernen Europäer und vielleicht auch andere Gruppen seien die Nachkommen von »nicht mehr als einigen hundert Afrikanern, die ihre Heimat erst vor 25000 Jahren verließen«.

Wie an anderer Stelle in diesem Buch bereits erwähnt wurde, ist bei den heutigen Menschen erstaunlich wenig genetische Variabilität zu erkennen - »in einer sozialen Gruppe von 55 Schimpansen gibt es mehr Vielfalt als in der gesamten menschlichen Bevölkerung«, meinte ein Experte dazu. Landers Befund wäre die Erklärung. Da wir alle erst in recht junger Vergangenheit aus einer kleinen Gründerpopulation entstanden sind, reichte weder die Zeit noch die Zahl der Menschen aus, damit eine große genetische Vielfalt entstehen konnte. Das war offensichtlich ein weiteres stichhaltiges Argument gegen den Multiregionalismus. »Seither macht man sich um die Theorie des Multiregionalismus eigentlich keine großen Gedanken mehr, denn es gibt dafür kaum Belege«, erklärte ein Wissenschaftler von der Pennsylvania State University in der Washington Post.

Bei alledem wurde aber übersehen, welche fast unbegrenzten Überraschungen das vorzeitliche Volk von Mungo im Westen des australischen Bundesstaates New South Wales noch in petto hatte. Anfang 2001 berichteten Thorne und seine Kollegen von der Australian National University, sie hätten DNA aus dem ältesten -mittlerweile auf 62000 Jahre datierten - Fund vom Lake Mungo gewonnen, und diese DNA habe sich als »genetisch anders« erwiesen.

Den neuen Befunden zufolge war der Mungo-Mensch anatomisch modern gebaut wie du und ich, trug aber eine ausgestorbene genetische Abstammungslinie in sich. Seine Mitochondrien-DNA kommt bei den heutigen Menschen nicht mehr vor; man müsste sie aber finden, wenn er wie alle anderen Jetztmenschen von der Gruppe abstammte, die in relativ junger Vergangenheit aus Afrika auswanderte.

»Damit war wieder alles auf den Kopf gestellt«, sagt Thorne mit unverhohlener Freude.

Dann kamen noch seltsamere Anomalien ans Tageslicht.

Als die Populationsgenetikerin Rosalind Harding vom Institute of Biological Anthropology in Oxford sich mit den Beta-Globin-Genen heutiger Menschen beschäftigte, fand sie zwei Varianten, die bei Asiaten und den australischen Ureinwohnern häufig vorkommen, in Afrika aber kaum existieren. Sie ist sicher, dass diese abweichenden Gene nicht in Afrika, sondern in Ostasien entstanden sind, und zwar vor über 200000 Jahren, lange bevor der moderne Homo sapiens in diese Region kam. Sie lassen sich nur mit der Annahme erklären, dass unter den Vorfahren der heutigen Bewohner Asiens auch archaische Hominiden waren - Javamenschen und Ähnliche. Interessanterweise taucht dieselbe Genvariante - gewissermaßen ein Javamensch-Gen - auch in der heutigen Bevölkerung der britischen Grafschaft Oxfordshire auf.

Völlig verwirrt fuhr ich zu Harding. Ihr Institut ist in einer alten Backsteinvilla an der Banbury Road in Oxford untergebracht, mehr oder weniger in dem gleichen Stadtviertel, in dem auch Bill Clinton als Student wohnte. Harding ist eine kleine, lebhafte Australierin - sie stammt aus Brisbane - und hat die seltene Fähigkeit, gleichzeitig lustig und ernst zu sein.

»Ich weiß nicht«, sagt sie plötzlich und grinst, als ich von ihr wissen will, wie Menschen in Oxfordshire diese Beta-Globin-Sequenzen besitzen können, die es dort eigentlich gar nicht geben sollte. Dann wird sie nüchterner: »Im Großen und Ganzen sprechen die genetischen Befunde für die Hypothese vom afrikanischen Ursprung. Aber dann findet man diese anormalen Häufungen, von denen die meisten Genetiker lieber nicht reden. Uns stünde eine gewaltige Menge von Kenntnissen zur Verfügung, wenn wir sie nur verstehen würden, aber dazu sind wir bisher nicht in der Lage. Wir stehen noch ganz am Anfang.« 22 Auch durch beharrliches Nachfragen lässt sich keine Aussage darüber entlocken, was die Entdeckung der asiatischen Gene in Oxfordshire bedeuten könnte, außer dass die Sache eindeutig sehr kompliziert ist. »Derzeit können wir nur sagen: Alles ist ein großes Durcheinander, und wir wissen eigentlich nicht, warum.«

Zur Zeit unseres Gespräches, Anfang 2002, hat Bryan Sykes, ein anderer Wissenschaftler aus Oxford, gerade ein populärwissenschaftliches Buch mit dem Titel Die sieben Töchter Evas herausgebracht. Darin kann er mit Untersuchungen der Mitochondrien-DNA die Abstammung nahezu aller heutigen Europäer auf eine Gründerpopulation von nur sieben Frauen zurückführen, die Töchter Evas aus dem Buchtitel, die vor 10000 bis 45000 Jahren lebten - diese Zeit wird in der Wissenschaft als Paläolithikum bezeichnet. Sykes gibt jeder dieser Frauen einen Namen - Ursula, Xenia, Jasmine und so weiter - und stattet sie sogar mit einer genauen Lebensgeschichte aus. ( »Ursula war das zweite Kind ihrer Mutter. Das erste hatte ein Leopard geholt, als es erst zwei war ...« )

Als ich Harding auf das Buch anspreche, lächelt sie breit, aber auch mit einer gewissen Vorsicht, als sei sie sich nicht ganz sicher, wie weit sie mit ihrer Antwort gehen kann. »Nun, ich denke, man muss ihm ein gewisses Verdienst zuschreiben, dass er ein so schwieriges Thema leicht verständlich dargestellt hat«, sagt sie und macht eine nachdenkliche Pause. »Und immerhin bleibt die entfernte Möglichkeit, dass er Recht hat.« Sie lacht und fahrt dann lebhafter fort: »Befunde an einem einzigen Gen liefern niemals definitive Aufschlüsse. Wenn man die Mitochondrien-DNA in die Vergangenheit verfolgt, gelangt man immer an einen bestimmten Punkt - zu einer Ursula oder Tara oder was auch immer. Aber wenn man irgendein anderes Stück der DNA nimmt, irgendein beliebiges Gen, und das zurückverfolgt, kommt man an einer ganz anderen Stelle heraus.«

Ich begreife: Es ist ein wenig so, als ob man London zufällig auf einer bestimmten Straße verlässt, und wenn man schließlich feststellt, dass sie in John O’Groats endet, schließt man daraus, dass alle Bewohner Londons aus dem Norden Schottlands stammen müssen. Natürlich könnten sie von dort gekommen sein, aber ebenso können sie auch aus vielen hundert anderen Orten stammen. So betrachtet, ist jedes Gen nach Hardings Überzeugung eine andere Landstraße, und wir haben gerade erst damit begonnen, ihren Verlauf zu kartieren. »Kein einzelnes Gen wird uns jemals die ganze Geschichte erzählen«, sagt sie.

Demnach kann man sich auf genetische Untersuchungen also nicht verlassen?

»Ach, allgemein betrachtet kann man sich auf die Untersuchungen sehr wohl verlassen. Nur die umfassenden Schlussfolgerungen, die oft daran geknüpft werden, sind fragwürdig.«

Sie hält die Out-of-Africa-Hypothese »vermutlich zu 95 Prozent für richtig«, aber sie fügt hinzu: »Ich glaube, beide Seiten haben der Wissenschaft einen Bärendienst erwiesen, indem sie darauf beharrten, es könne nur das eine oder das andere sein. Wahrscheinlich wird sich herausstellen, dass die Sache nicht so einfach ist, wie das eine oder andere Lager es gern hätte. Die Befunde legen nach und nach immer stärker den Verdacht nahe, dass es in verschiedenen Gebieten der Erde mehrere Wanderungsund Ausbreitungsbewegungen gab, die in alle möglichen Richtungen verliefen und zu einer gründlichen Durchmischung des Genbestandes geführt haben. So etwas im Einzelnen aufzuklären, ist niemals einfach.«

Gerade derzeit stellen auch mehrere Berichte die Zuverlässigkeit von Behauptungen in Frage, welche die Wiedergewinnung sehr alter DNA betreffen. In dem Fachblatt Nature schilderte ein Wissenschaftler, wie ein Paläontologe auf die Frage eines Kollegen, ob ein alter Schädel lackiert sei, oben an dem Fundstück leckte und dann erklärte, dies sei der Fall. »Dabei wurden mit Sicherheit große Mengen moderner menschlicher DNA auf den Schädel übertragen, sodass er für weitere Untersuchungen nutzlos war«, heißt es in dem Nature-Artikel. Ich spreche Harding darauf an. »Ach, der war sicher schon vorher kontaminiert«, erwidert sie. »Ein Knochen wird schon verunreinigt, wenn man ihn nur in die Hand nimmt. Er wird verunreinigt, wenn man ihn anhaucht. Meist wird er auch durch das Wasser in unseren Labors verunreinigt. Wir alle schwimmen in fremder DNA. Wenn man ein zuverlässig sauberes Fundstück haben will, muss man es unter keimfreien Bedingungen ausgraben und die Untersuchungen an Ort und Stelle vornehmen. Einen Fund nicht zu verunreinigen, ist das Schwierigste, was es überhaupt gibt.«

Demnach soll man solchen Behauptungen also mit Zweifeln begegnen?

Harding nickt feierlich. »Mit großen Zweifeln«, erwidert sie.

Wenn man auf den ersten Blick verstehen will, warum wir so wenig über den Ursprung des Menschen wissen, kann ich den richtigen Ort dafür nennen. Er liegt knapp hinter dem Rand der blauen Ngong-Berge in Kenia, südwestlich von Nairobi. Verlässt man die Stadt auf der Hauptstraße in Richtung Uganda, wird man irgendwann durch einen prachtvollen Anblick verblüfft: Das Gelände fällt steil ab, und man hat wie ein Gleitflieger die Aussicht auf endlose, blassgrüne afrikanische Ebenen.

Das ist das Große Rift-Tal, das sich über fast 5000 Kilometer hinweg durch Ostafrika windet. Es kennzeichnet den tektonischen Riss, der Afrika von Asien trennt. Hier, etwa 70 Kilometer von Nairobi entfernt, befindet sich auf dem glühend heißen Talboden eine Fundstätte namens Olorgesailie. In ihrer Nachbarschaft befand sich früher ein großer, angenehmer See. Im Jahr 1919, lange nachdem das Gewässer verschwunden war, suchte der Geologe J. W. Gregory in dem Gebiet nach Mineralvorkommen, und dabei stieß er auf ein Stück offenes Gelände, das mit ungewöhnlich dunklen, eindeutig von Menschenhand geformten Steinen übersät war. Er hatte eine der großen Produktionsstätten von Acheuléen-Werkzeugen gefunden, von denen Ian Tattersall mir erzählt hatte.

Im Herbst 2002 bot sich für mich die unerwartete Gelegenheit, diesen außergewöhnlichen Ort zu besichtigen. Eigentlich war ich aus einem ganz anderen Grund in Kenia - ich besuchte einige Projekte, die von der humanitären Einrichtung CARE International betreut wurden -, aber meine Gastgeber, die von meiner Arbeit an dem vorliegenden Buch und meinem Interesse an der Entstehung des Menschen wussten, hatten in dem Zeitplan noch einen Besuch in Olorgesailie untergebracht.

Nachdem Gregory die Stelle entdeckt hatte, blieb sie rund 20 Jahre lang ungestört. Erst dann begann das berühmte Forscherehepaar Louis und Mary Leakey mit Ausgrabungen, die bis heute nicht beendet sind. Nach den Feststellungen der Leakeys handelte es sich um ein Gebiet von etwa vier Hektar, in dem ungefähr eine Million Jahre lang, von der Zeit vor 1,2 Millionen bis 200000 Jahren, unzählige Werkzeuge hergestellt wurden. Heute sind die Erdschichten mit den Werkzeugen durch lange Blechdächer vor den schlimmsten Angriffen der Elemente geschützt, und Maschendraht hält Souvenirsammler fern, aber ansonsten liegen die Werkzeuge noch genau da, wo ihre Hersteller sie fallen ließen und wo sie von den Leakeys gefunden wurden.

Jillani Ngalli, ein aufgeweckter junger Mitarbeiter des kenianischen Nationalmuseums, der hier als Fremdenführer abgestellt ist, erklärt mir, das Quarz- und Obsidiangestein der Faustkeile komme auf dem Talboden eigentlich nicht vor. »Sie mussten die Steine von dort herantransportieren«, sagt er und macht eine Kopfbewegung in Richtung zweier Berge, die in einiger Entfernung in entgegengesetzten Richtungen im Dunst liegen: Olorgesailie und Ol Esakut. Beide sind etwa zehn Kilometer entfernt - ein langer Weg, wenn man einen Arm voller Steine tragen muss.

Warum die Frühmenschen von Olorgesailie sich so viel Mühe machten, können wir natürlich nur vermuten. Sie trugen nicht nur schwere Steine über beträchtliche Entfernungen zum Seeufer, sondern - und das ist vielleicht noch bemerkenswerter - sie organisierten dann auch ihre Produktions stätte. Wie sich bei den Ausgrabungen des Ehepaars Leakey herausstellte, wurden an manchen Stellen Faustkeile in Form gebracht, an anderen wurden stumpfe Keile neu geschärft. Olorgesailie war, kurz gesagt, eine Art Fabrik, die eine Million Jahre lang in Betrieb war.

Man hat mehrfach versucht, Faustkeile nachzumachen, und dabei stellte sich heraus, dass ihre Herstellung ein schwieriger, arbeitsaufwändiger Vorgang war - selbst mit viel Übung dauert es Stunden, bis ein Keil die richtige Form hat. Dennoch eigneten sich diese Werkzeuge seltsamerweise nicht besonders gut zum Schneiden, Zerteilen, Schaben oder für eine der anderen Aufgaben, für die man sie vermutlich verwendete. Es bleibt also eine eigenartige Erkenntnis: eine Million Jahre lang - weit länger, als unsere eigene Spezies bisher existiert, ganz zu schweigen von kontinuierlicher, gemeinsamer Arbeit -kamen die Frühmenschen in beträchtlicher Zahl ausgerechnet an diesen Ort und stellten eine ungeheure Zahl von Werkzeugen her, die anscheinend relativ nutzlos waren.

Und wer waren diese Menschen? Eigentlich haben wir keine Ahnung. Wir vermuten, dass es sich um Homo erectus handelte, weil wir keine anderen Kandidaten kennen, aber das würde bedeuten, dass die Arbeiter von Olorgesailie auf dem Höhepunkt - ja, dem Höhepunkt -ihrer Entwicklung ein Gehirn mit den Fähigkeiten eines heutigen Säuglings besessen hätten. Handfeste Belege, auf die man eine solche Schlussfolgerung stützen könnte, gibt es aber nicht. Obwohl man bereits seit mehr als 60 Jahren sucht, hat man bisher in Olorgesailie oder in seiner Nachbarschaft keinen einzigen Menschenknochen gefunden. So viel Zeit sie hier offensichtlich auch mit der Bearbeitung von Steinen verbrachten, zum Sterben gingen sie offensichtlich woanders hin.

»Das alles ist ein Rätsel«, sagt Jillani Ngalli und strahlt über das ganze Gesicht.

Die Menschen von Olorgesailie verschwanden vor rund 200000 Jahren von der Bildfläche. Damals trocknete der See aus, und das Rift-Tal wurde zu der heißen, unwirtlichen Region, die wir heute kennen. Aber zu jener Zeit waren ihre Tage als Spezies ohnehin bereits gezählt. Die Welt sollte ihren ersten wahren Herrscher bekommen: den Homo sapiens. Von nun an wurde alles anders.

30. Auf Wiedersehen

Anfang der achtziger Jahre des 17. Jahrhunderts, ungefähr zur gleichen Zeit, als die Freunde Edmond Halley, Christopher Wren und Robert Hooke sich in einem Londoner Kaffeehaus zusammensetzten und jene zwanglose Wette abschlossen, die schließlich zu Newtons Principia, Henry Cavendishs Berechnung der Erdmasse und vielen anderen geistreichen, lobenswerten Unternehmen führte, die uns auf den letzten 590 Seiten beschäftigt haben, war weit draußen im Indischen Ozean, auf der Insel Mauritius, ein anderer, weit weniger angenehmer Meilenstein erreicht.

Dort hetzte ein vergessener Seemann oder sein Hund den letzten Dodo zu Tode, jenen berühmten flugunfähigen Vogel, der mit seinem einfältigen, aber zutraulichen Wesen und kurzen, schwerfälligen Beinen ein unwiderstehliches Ziel für gelangweilte Matrosen auf Landurlaub war. Nach Jahrmillionen der friedlichen Abgeschiedenheit war er auf die launischen, höchst zudringlichen Menschen einfach nicht vorbereitet.

Wir wissen weder, welche Umstände sich im Einzelnen mit den letzten Augenblicken des letzten Dodo verbinden, noch kennen wir auch nur das Jahr. Deshalb ist auch nicht klar, ob die Welt zuerst die Principia gewann oder den Dodo verlor, aber eines wissen wir: Beides ereignete sich mehr oder weniger zur gleichen Zeit. Nach meiner Überzeugung müsste man lange suchen, um zwei Vorfälle zu finden, an denen die göttlich-teuflische Doppelnatur des Menschen besser deutlich wird - einer Spezies, die einerseits die tiefsten Geheimnisse des Universums aufklären kann und andererseits ohne jeden Sinn und Verstand ein Lebewesen ausrottet, das uns nie den geringsten Schaden zugefügt hat und nicht einmal entfernt begreifen konnte, warum wir es taten. Tatsächlich waren die Dodos den Berichten zufolge so unglaublich schwer von Begriff, dass man alle Vögel in einem Gebiet finden konnte, indem man einen fing und zum Schnattern brachte: Dann watschelten sofort alle anderen herbei und wollten nachsehen, was los war.

Aber selbst damit war die Schmach des armen Dodo noch nicht ganz zu Ende. Im Jahr 1755, rund 70 Jahre nach dem Tod des letzten Exemplars, gelangte der Direktor des Ashmolean Museum in Oxford zu dem Schluss, der ausgestopfte Dodo des Museums sei unzumutbar stark verstaubt. Er ordnete an, das Ausstellungsstück zu verbrennen. Das war eine überraschende Entscheidung, handelte es sich damals doch um den einzigen Dodo, der in ausgestopfter oder sonstiger Form überhaupt noch vorhanden war. Ein entgeisterter Angestellter, der zufällig in der Nähe war, versuchte den Vogel zu retten, konnte aber nur noch den Kopf und einen Teil eines Beins in Sicherheit bringen.

Wegen dieses und anderer Fälle, in denen der gesunde Menschenverstand versagte, kennen wir das Aussehen des Dodo heute nicht mehr genau. Wir besitzen weit weniger Informationen, als man meist annimmt - eine Hand voll grobe Beschreibungen durch »wissenschaftlich nicht gebildete Reisende, drei oder vier Ölgemälde und ein paar vereinzelte Knochenbruchstücke« ; so beschrieb es mit einer gewissen Trauer der Naturforscher H. E. Strickland im 19. Jahrhundert.1 Wie Strickland wehmütig feststellte, besitzen wir von manchen vorzeitlichen Meeresungeheuern und schwerfälligen Sauropoden mehr handfeste Spuren als von einem Vogel, der noch in der Neuzeit existierte und nur eines gebraucht hätte, um zu überleben: unsere Abwesenheit.

Über den Dodo wissen wir nur so viel: Er lebte auf Mauritius und war von gedrungener Gestalt. Sein Fleisch schmeckte nicht, und er war der größte Vertreter aller Zeiten aus der Familie der Tauben - um wie viel er andere Arten dieser Gruppe übertraf, ist allerdings nicht bekannt, da sein Gewicht nie genau ermittelt wurde. Hochrechnungen auf Grundlage der von Strickland erwähnten »Knochenbruchstücke« und der bescheidenen Überreste aus dem Ashmolean Museum lassen darauf schließen, dass der Dodo knapp 80 Zentimeter hoch war und auch von der Schnabelspitze bis zum Schwanz etwa diese Länge hatte. Da er nicht fliegen konnte, baute er sein Nest auf dem Erdboden, sodass Eier und Junge zu einer tragisch leichten Beute für Schweine, Hunde und Affen wurden, die mit den Menschen auf die Insel gelangten. Vermutlich war er schon 1683, mit ziemlicher Sicherheit aber 1693 ausgestorben. Darüber hinaus ist fast nichts bekannt, außer dass wir seinesgleichen natürlich nie wieder sehen werden. Wir wissen nichts über Fortpflanzungs- und Ernährungsgewohnheiten, nichts über sein Verbreitungsgebiet, nichts über die Laute, die er im ruhigen Zustand oder bei Gefahr von sich gab. Außerdem besitzen wir kein einziges Dodo-Ei.

Unsere Bekanntschaft mit lebenden Dodos dauerte von Anfang bis Ende nur 70 Jahre. Eine atemberaubend klägliche Zeit - wobei man allerdings sagen muss, dass wir in jener Phase unserer Geschichte bereits jahrtausendelange Übung mit der endgültigen Ausrottung von Tieren hatten. Wie zerstörerisch die Menschen insgesamt sind, weiß niemand, aber eines ist klar: Wohin wir in den letzten rund 50000 Jahren auch kamen, verschwanden dort Tiere, und das oftmals in erstaunlich großer Zahl.

In Amerika verschwanden 30 Großtiergattungen - und manche davon wirklich groß - praktisch auf einen Schlag, nachdem Jetztmenschen in der Zeit vor 10000 bis 20000 Jahren den Kontinent besiedelt hatten. Insgesamt gingen in Nord- und Südamerika etwa drei Viertel der Großtiere verloren, nachdem jagende Menschen mit ihren Flintsteinspeerspitzen und ihrer überlegenen Organisationsfähigkeit eingewandert waren. In Europa und Asien, wo die Tiere in ihrer Evolution mehr Zeit gehabt hatten, ein gesundes Misstrauen gegenüber den Menschen zu entwickeln, verschwanden zwischen 30 und 50 Prozent der großen Tiere. In Australien waren es aus genau dem umgekehrten Grund nicht weniger als 95 Prozent.

Da die ersten Bevölkerungsgruppen der Jäger relativ klein und die Tierbestände wahrhaft riesig waren - allein in Nordsibirien liegen Vermutungen zufolge bis zu zehn Millionen gefrorene Mammutkadaver -, sind manche Fachleute der Ansicht, es müsse auch andere Erklärungen geben, die möglicherweise mit Klimaveränderungen oder einer Art Krankheitsepidemie zu tun haben. Ross MacPhee vom American Museum of Natural History formuliert es so: »Es hat keinen greifbaren Nutzen, wenn man gefährliche Tiere häufiger jagt, als es unbedingt nötig ist - man kann nur eine begrenzte Zahl von Mammutsteaks essen.« Andere glauben, es sei möglicherweise geradezu kriminell einfach gewesen, Beute tiere zu fangen und zu erschlagen. »In Australien und Amerika wussten die Tiere vermutlich nicht, dass sie weglaufen mussten«, sagt Tim Flannery.

Manche ausgerotteten Tiere waren höchst eindrucksvoll, und wenn es sie noch gäbe, müsste man sie ein wenig im Zaum halten. Stellen wir uns nur Faultiere vor, die uns im ersten Stockwerk ins Fenster blicken könnten, Schildkröten von der Größe eines Kleinwagens oder sechs Meter lange Echsen, die neben westaustralischen Autobahnen in der Wüste ein Sonnenbad nehmen. Aber leider gibt es sie nicht mehr, und wir leben auf einem stark verarmten Planeten. Heute haben auf der ganzen Welt nur vier Gruppen wirklich großer Landtiere mit einer Tonne Gewicht oder mehr überlebt: Elefanten, Nashörner, Flusspferde und Giraffen.4 So ärmlich und zahm war das Leben auf der Erde seit Zigmillionen Jahren nicht.

Damit stellt sich die Frage, ob das Verschwinden von Tieren in der Steinzeit und in jüngeren Zeiten zu einem einzigen großen Aussterbe-Ereignis gehört - ob Menschen, kurz gesagt, für andere Lebewesen grundsätzlich etwas Schlechtes sind. Traurig, aber wahr: Vermutlich ist es so. Nach Ansicht des Paläontologen David Raup von der Universität Chicago lag die Durchschnittsgeschwindigkeit des Aussterbens auf der Erde während der gesamten Geschichte des Lebendigen bei ungefähr einer Spezies in vier Jahren. Nach Berechnungen aus jüngster Zeit dürfte das von Menschen verursachte Aussterben bis zum 120000-fachen dieses Umfanges reichen.5

Mitte der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts wunderte sich der australische Naturforscher Tim Flannery, der heute das South Australian Museum in Adelaide leitet, dass wir offensichtlich über viele Aussterbe-Ereignisse -auch solche aus relativ junger Zeit - so wenig wissen. »Wohin man auch blickte, überall gab es in den Berichten große Lücken - es fehlten einzelne Angaben wie beispielsweise beim Dodo, und vieles war überhaupt nicht schriftlich festgehalten«, erklärte er mir, als ich ihn vor rund einem Jahr in Melbourne kennen lernte.

Flannery begeisterte seinen australischen Landsmann und Freund, den Künstler Peter Schouten, von seinem Anliegen. Gemeinsam machten sie sich fast besessen in den großen naturkundlichen Sammlungen der Welt auf die Suche: Sie wollten wissen, was verloren war, was es noch gab und was man nie gewusst hatte. Vier Jahre stöberten sie in alten Häuten, verstaubten Museumsstücken, alten Zeichnungen und schriftlichen Beschreibungen - sie durchsuchten alles, was ihnen in die Hände kam. Schouten malte lebensgroße Bilder aller Tiere, die sie einigermaßen vernünftig rekonstruieren konnten, und Flannery schrieb die Texte dazu. Das Ergebnis war ein außergewöhnliches Buch mit dem Titel A Gap in Nature; es ist heute der vollständigste - und, das muss man sagen, bewegendste -Katalog der Aussterbe-Ereignisse aus den letzten 300 Jahren.

Über manche Tiere gab es umfangreiche Aufzeichnungen, die aber vielfach über Jahre hinweg nicht genutzt worden waren, manchmal sogar überhaupt noch nie. Eines der letzten wirklich großen Tiere, die ausstarben, war die Steller-Seekuh, ein walrossähnliches Tier, das mit den Dugongs verwandt war. Sie war riesig -ein ausgewachsenes Exemplar konnte fast neun Meter lang werden und zehn Tonnen wiegen -, aber wir kennen sie nur, weil eine russische Expedition 1741 zufällig an dem einzigen Ort Schiffbruch erlitt, wo die Spezies noch in nennenswerter Anzahl vertreten war: auf den abgelegenen, nebligen Kommandeur-Inseln in der Beringsee.

Glücklicherweise gehörte der Naturforscher Georg Steller zu der Expedition, und der war von den Tieren begeistert. »Er machte umfangreiche Aufzeichnungen und maß sogar den Durchmesser der Barthaare«, sagt Flannery. »Nur eines beschrieb er nicht: die Geschlechtsorgane der Männchen - und das, obwohl er aus irgendeinem Grund sehr fröhlich die entsprechenden Körperteile der Weibchen untersuchte. Außerdem bewahrte er ein Stück Haut auf, sodass wir uns heute eine gute Vorstellung von ihrer Beschaffenheit machen können. So viel Glück haben wir nicht immer.«

Eines jedoch gelang Steller nicht: die Seekühe zu retten. Durch die Jagd waren sie bereits vom Aussterben bedroht, und 27 Jahre nachdem Steller sie entdeckt hatte, gab es sie nicht mehr. Viele andere Tiere konnten Flannery und Schouten dagegen nicht in ihr Buch aufnehmen, weil man so wenig über sie weiß. Die Springmaus von den Darling Downs, der Schwan von den Chatham-Inseln, die Ralle von Ascension Island, mindestens fünf Arten großer Schildkröten und viele andere sind, abgesehen von ihren Namen, für alle Zeiten verloren.

Wie Flannery und Schouten entdeckten, war das Aussterben in vielen Fällen nicht auf Grausamkeit oder Absicht zurückzuführen, sondern schlicht auf gewaltige Dummheit. Als man im Jahr 1894 auf einem einsamen Felsen namens Stephens Island in der stürmischen Meerenge zwischen der Nord- und Südinsel Neuseelands einen Leuchtturm gebaut hatte, brachte die Katze des Leuchtturmwärters ihrem Herrn mehrfach seltsame kleine Vögel, die sie gefangen hatte. Der Wärter schickte einige Exemplare pflichtschuldigst an das Museum in Wellington. Dort geriet ein Kurator in höchste Erregung, handelte es sich bei den Vögeln doch um eine übrig gebliebene Art flugunfähiger Zaunkönige - es waren die einzigen flugunfähigen Nesthocker, die man jemals gefunden hatte. Er machte sich sofort zu der Insel auf den Weg, aber als er ankam, hatte die Katze schon alle Vögel getötet.6 Heute existieren vom flugunfähigen StephenIsland-Zaunkönig nur noch zwölf ausgestopfte Museumsexemplare.

Aber wenigstens die sind uns geblieben. Nur allzu oft kümmern wir uns nach dem Verschwinden einer Art ebenso wenig um sie wie in der Zeit vor ihrem Aussterben. Ein gutes Beispiel ist der hübsche CarolinaPapagei. Smaragdgrün und mit goldenem Kopf war er vielleicht der auffälligste und schönste Vogel, der jemals in Nordamerika lebte - normalerweise dringen Papageien nicht so weit nach Norden vor -, und in seiner Blütezeit gab es ihn in riesiger Zahl, die nur von den Wandertauben übertroffen wurde. Aber der Carolina-Papagei galt bei den Bauern auch als Schädling, und außerdem war er leicht zu jagen: Die Vögel bildeten dichte Schwärme, und wenn sie nach einem Gewehrschuss (wie nicht anders zu erwarten) in die Höhe flatterten, kehrten sie fast augenblicklich zurück, um nach ihren getöteten Artgenossen zu sehen.

In seinem klassischen, Anfang des 19. Jahrhunderts erschienenen Werk American Ornithology beschreibt Charles Willson Peale, wie er einmal mehrfach mit einer Schrotflinte in einen Baum schoss, auf dem sie nisteten:

Mit jedem Schuss fiel zwar ein ganzer Schauer von ihnen herab, aber dies schien die Zuneigung der Überlebenden nur noch zu steigern; denn nachdem sie einige Runden um die Stelle gedreht hatten, ließen sie sich erneut in meiner Nähe nieder und blickten mit so deutlichen Symptomen des Mitgefühls und der Besorgnis auf ihre hingemetzelten Kameraden herab, dass ich völlig entwaffnet war.

Im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, nachdem man die Vögel gnadenlos gejagt hatte, lebten nur noch wenige Exemplare in Gefangenschaft. Der letzte Carolina-Papagei - er hieß Inca - starb 1918 im Zoo von Cincinnati (wo nicht ganz vier Jahre zuvor auch die letzte Wandertaube ihr Leben ausgehaucht hatte) und wurde ehrfurchtsvoll ausgestopft. Und wohin muss man heute gehen, wenn man den armen Inca sehen will? Das weiß niemand. Der Zoo besitzt ihn nicht mehr.

Das Verblüffendste und Rätselhafteste an dieser Geschichte ist die Tatsache, dass Peale ein Vogelliebhaber war. Dennoch zögerte er nicht, die Tiere in großer Zahl zu töten, und das einfach nur aus dem Grund, dass er Lust dazu hatte. Erstaunlich, aber wahr: In vielen Fällen trugen die Menschen, die sich am brennendsten für die Lebewesen der Erde interessierten, auch am stärksten zu ihrer Ausrottung bei.

Niemand spielte diese Rolle in einem größeren Umfang (in jedem Sinn) als Lionel Walter, der zweite Baron Rothschild. Der Sprössling der großen Bankiersfamilie war ein eigensinniger, verschlossener Mensch. Er wohnte sein ganzes Leben lang im Kinderflügel seines Elternhauses bei Tring in Buckinghamshire und benutzte dort die Möbel aus seiner Kindheit - er schlief sogar in seinem Kinderbett, obwohl er am Ende etwa 135 Kilo wog.

Seine Leidenschaft war die Naturgeschichte, und er trug begeistert Sammlungsgegenstände zusammen. Ganze Kompanien ausgebildeter Mitarbeiter - manchmal bis zu 400 zur gleichen Zeit9 - schickte er in alle Winkel der Erde, wo sie auf Berge klettern und sich im Dschungel mit der Axt ihren Weg bahnen mussten, um sich neue Funde zu verschaffen - insbesondere solche, die fliegen konnten. Sie wurden in Kisten oder Schachteln verpackt und zu Rothschilds Anwesen in Tring geschickt, wo er mit einem ganzen Bataillon von Assistenten alles, was ihnen in die Quere kam, umfassend beschrieb und analysierte. Auf diese Weise entstand eine ununterbrochene Folge von Büchern, Aufsätzen und Broschüren - insgesamt etwa 1200 Stück. Am Ende besaß Rothschilds naturhistorische Fabrik weit über zwei Millionen Sammlungsstücke und hatte die Annalen der Wissenschaft um 5000 Arten von Lebewesen bereichert.

Interessanterweise war Rothschilds Sammlertätigkeit aber weder die umfangreichste noch die am großzügigsten finanzierte des 19. Jahrhunderts. Dieses Attribut steht mit ziemlicher Sicherheit einem geringfügig älteren, ebenfalls sehr wohlhabenden britischen Sammler namens Hugh Cumming zu: Er war so davon besessen, Sammlungsstücke anzuhäufen, dass er ein großes, seetüchtiges Schiff bauen ließ und eine ganze Mannschaft beschäftigte, die ständig um die Welt fuhr und alles einsammelte, was sie finden konnte - Vögel, Pflanzen, alle möglichen Tiere und insbesondere die Panzer von Schalentieren.10 Seine beispiellose Sammlung von Entenmuscheln gelangte später zu Darwin und diente ihm als Material für seine wegweisenden Untersuchungen.

Allerdings kann man Rothschild ohne weiteres als den am stärksten wissenschaftlich ausgerichteten Sammler seinerzeit bezeichnen, der aber leider auch besonders zerstörerisch wirkte: In den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts erwachte sein Interesse an Hawaii, der vielleicht empfindlichsten Umwelt, die es auf der Erde jemals gab. In Millionen Jahren der Isolation konnten auf den Inseln 8800 einzigartige Tier- und Pflanzenarten entstehen.11 Rothschild interessierte sich insbesondere für die farbenprächtigen, charakteristischen Vögel der Inseln, deren vielfach sehr kleine Bestände eng begrenzte Verbreitungsgebiete bewohnten.

Ihr tragisches Schicksal verdankten viele Vögel auf Hawaii nicht nur der Tatsache, dass sie auffällig, hübsch und selten waren - was auch unter günstigen Umständen eine gefährliche Kombination ist -, sondern dass man viele von ihnen auch auf bedauerlich einfache Weise einfangen konnte. Der große Koa-Fink (Rhodacanthis palmeri), ein harmloser Vogel aus der Familie der Zuckervögel, tummelte sich scheu in den Kronen der Koa-Bäume, aber wenn jemand seinen Gesang nachahmte, verließ er sofort sein Versteck und flatterte als Willkommensgruß zu Boden. Das letzte Exemplar der Spezies starb 1896, getötet von Rothschilds Starsammler Harry Palmer. Fünf Jahre zuvor war der kleine Koa-Fink verschwunden, ein Vogel von so erhabener Seltenheit, dass er überhaupt nur ein einziges Mal zu sehen war: als erschossenes Exemplar in der Rothschild-Sammlung. In den rund zehn Jahren, als Rothschild am intensivsten sammeln ließ, starben auf den Hawaii-Inseln mindestens neun Vogelarten aus, es könnten aber auch noch mehr gewesen sein.

Rothschild war mit seinem Eifer, Vögel mehr oder weniger um jeden Preis zu fangen, keineswegs der Einzige. Andere gingen sogar noch erbarmungsloser vor. Als der bekannte Sammler Alanson Bryan im Jahr 1907 erkannte, dass er die drei letzten Exemplare des Schwarzen Königskleidervogels (Drepanis funerea) erlegt hatte, einer Art von Waldvögeln, die man erst ein Jahrzehnt zuvor entdeckt hatte, teilte er mit, diese Nachricht erfülle ihn mit »Freude«.

Es war, kurz gesagt, ein schwer begreifliches Zeitalter -damals wurde fast jedes Tier verfolgt, wenn es auch nur im Geringsten als lästig galt. Im Jahr 1890 zahlte der US-Bundesstaat New York über 100 Prämien für Silberlöwen aus, obwohl man bereits wusste, dass diese viel gejagten Tiere vom Aussterben bedroht waren. Noch bis in die vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts verteilten viele Bundesstaaten weiterhin Prämien für den Abschuss fast aller Raubtiere. West Virginia vergab jährlich ein CollegeStipendium für denjenigen, der die meisten toten Schädlinge vorweisen konnte - und als »Schädlinge« bezeichnete man damals fast alles, was nicht auf Bauernhöfen oder als Haustier gehalten wurde.

Vielleicht kaum etwas anderes macht die seltsamen Einstellungen jener Zeit so deutlich wie das Schicksal des niedlichen kleinen Gelbstirn-Waldsängers. Dieser Vogel aus dem Süden der Vereinigten Staaten war wegen seines ungewöhnlich lebhaften Gesanges berühmt, aber der Bestand, der nie besonders groß gewesen war, schrumpfte immer weiter. In den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts schließlich verschwand der Gelbstirn-Waldsänger völlig und wurde jahrelang nicht mehr gesehen. Im Jahr 1939 stießen dann zwei Vogelliebhaber unabhängig voneinander an zwei weit entfernten Stellen im Abstand von nur zwei Tagen auf einsame Überlebende der Spezies. Beide erschossen die Vögel - es war das letzte Mal, dass jemand einen Gelbstirn-Waldsänger zu Gesicht bekam.

Die Lust am Ausrotten beschränkte sich auch keineswegs nur auf Amerika. In Australien wurden für den Abschuss des tasmanischen Beutelwolfs, eines hundeähnlichen Tiers mit charakteristischen »Tigerstreifen« auf dem Rücken, Geldprämien gezahlt, und das noch kurz bevor das letzte Exemplar 1936 einsam und namenlos in einem privaten Zoo in Hobart starb. Geht man heute in Tasmanien ins Museum und fragt nach dem letzten Vertreter der Spezies - des einzigen großen, Fleisch fressenden Beuteltiers, das in moderner Zeit lebte -, so bekommt man nur Fotos zu sehen. Der letzte Beutelwolf wurde am Ende mit der wöchentlichen Müllabfuhr entsorgt.

Das alles berichte ich, um meine zentrale Aussage zu verdeutlichen: Wenn wir ein Lebewesen damit beauftragen wollten, sich in der Einsamkeit des Kosmos um Lebendiges zu kümmern, zu überwachen, was daraus wird und wohin es geht, sollte man für diese Aufgabe keine Menschen auswählen.

Aber eines sticht ins Auge: Wir sind dazu ausersehen, ob vom Schicksal oder der Vorsehung oder wie man es auch nennen will. Soweit wir wissen, gibt es dafür keinen Besseren. Vielleicht gibt es niemanden außer uns. Es ist ein beunruhigender Gedanke: Möglicherweise sind wir die höchste Leistung im Universum des Lebendigen und gleichzeitig sein größter Albtraum.

Da wir in unserer Fürsorge für Lebendiges und Unbelebtes so bemerkenswert achtlos sind, haben wir keine Ahnung - wirklich nicht die geringste -, wie viele Lebewesen ständig zu Grunde gehen und bald oder vielleicht auch nie zu Grunde gehen werden und welche Rolle wir bei alledem spielen. Der Autor Norman Myers vertrat in seinem 1979 erstmals erschienenen Buch Die sinkende Arche die Ansicht, die Tätigkeit der Menschen lasse jede Woche ungefähr zwei biologische Arten aussterben. Bis Anfang der neunziger Jahre hatte er die Zahl auf 600 pro Woche nach oben korrigiert.14 (Sie bezieht sich auf das Aussterben aller möglichen Lebewesen - nicht nur höhere Tiere, sondern auch Pflanzen, Insekten und so weiter.) Andere setzen die Zahl noch höher an - mit über 1000 in der Woche. In einem Bericht der Vereinten Nationen dagegen wird die Zahl aller bekannten ausgestorbenen Arten für die letzten 400 Jahre mit knapp unter 500 bei den Tieren und etwas über 650 für Pflanzen angegeben - wobei die Autoren allerdings einräumen, dies sei insbesondere im Hinblick auf tropische Arten »mit ziemlicher Sicherheit eine zu niedrige Schätzung«.15 Manche Kommentare bezeichnen die meisten Zahlen im Zusammenhang mit dem Artensterben aber auch als maßlos übertrieben.

Tatsache ist: Wir wissen es nicht. Wir haben keine Ahnung. In vielen Fällen wissen wir nicht einmal, wann wir mit der Ausrottung begonnen haben. Wir wissen nicht, was wir jetzt tun und wie unser derzeitiges Handeln sich auf die Zukunft auswirken wird. Nur eines ist klar: Wir haben nur einen Planeten, auf dem wir etwas tun können, und es gibt nur eine Spezies, die etwas Tiefgreifendes bewirken kann. Edward O. Wilson drückte es in seinem Buch Der Wert der Vielfalt mit unnachahmlicher Knappheit aus: »Ein Planet, ein Experiment.« 16

Wenn wir aus dem vorliegenden Buch etwas lernen können, dann das: Wir haben ein Riesenglück, dass es uns gibt - und mit »wir« meine ich sämtliche Lebewesen. In diesem unserem Universum etwas zu werden, das man als lebendig bezeichnen kann, scheint eine gewaltige Leistung zu sein. Wir Menschen haben natürlich doppeltes Glück: Wir erfreuen uns nicht nur unserer Existenz, sondern verfügen außerdem über die einzigartige Fähigkeit, sie zu würdigen und sogar in vielerlei Hinsicht zu verbessern. Was diese Begabung bedeutet, begreifen wir bisher erst in Ansätzen.

Unsere herausragende Stellung haben wir in verblüffend kurzer Zeit erreicht. Menschen mit dem Verhalten von Jetztmenschen - das heißt Menschen, die sprechen, Kunst hervorbringen und komplexe Tätigkeiten ausführen können - gibt es erst seit 0,00001 Prozent der Erdgeschichte. Aber selbst um diesen kurzen Zeitraum zu überstehen, brauchten wir eine fast endlose Verkettung glücklicher Umstände.

Damit sind wir eigentlich wieder ganz am Anfang. Natürlich müssen wir dafür sorgen, dass wir nie ein Ende finden. Und das erfordert mit ziemlicher Sicherheit erheblich mehr als nur glückliche Zufälle.

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