TEIL V DAS LEBEN ALS SOLCHES

Je länger ich das Universum erforsche und die Einzelheiten seiner Architektur untersuche, desto mehr Indizien deuten für mich darauf hin: In einem gewissen Sinn muss das Universum gewusst haben, dass wir kommen.

Freeman Dyson


16. Der einsame Planet

Ein Lebewesen zu sein, ist nicht einfach. Soweit wir bis heute wissen, gibt es nur einen einzigen Ort, einen unscheinbaren Außenposten der Milchstraße mit Namen Erde, der uns am Leben erhalten kann, und auch das oft nur äußerst widerwillig.

Die Zone, die fast sämtliche bekannten Lebensformen beherbergt, vom Boden des tiefsten Tiefseegrabens bis zum Gipfel der höchsten Berge, ist nur rund 20 Kilometer dick - nicht viel im Vergleich zur gewaltigen Ausdehnung des Kosmos.

Wir Menschen sind noch schlechter dran: Zufällig gehören wir zu dem Teil der Lebewesen, der vor 400 Millionen Jahren den eiligen, waghalsigen Beschluss fasste, aus dem Meer zu kriechen, an Land zu leben und Sauerstoff zu atmen. Deshalb sind uns, was das Volumen angeht, einer Schätzung zufolge nicht weniger als 99,5% der gesamten bewohnbaren Räume auf der Erde grundsätzlich - und in der Praxis vollständig -verschlossen.1

Es liegt nicht nur daran, dass wir im Wasser nicht atmen können. Wir könnten dort auch den Druck nicht aushalten. Wasser ist rund 1300-mal schwerer als Luft, und deshalb steigt der Druck mit zunehmender Tiefe schnell an: Er wird alle zehn Meter um eine Atmosphäre größer. Steigt man an Land auf eine l50 Meter hohe Spitze -beispielsweise auf den Kölner Dom oder das Washington Monument -, ist der Druckunterschied so gering, dass man ihn überhaupt nicht bemerkt. Unter Wasser jedoch würden in gleicher Tiefe die Venen zusammenfallen, und die Lunge würde ungefähr auf die Ausmaße einer Coladose zusammengepresst.3 Erstaunlicherweise tauchen Menschen freiwillig und ohne Atemgerät in solche Tiefen, einfach weil sie Spaß an einem Sport namens Free Diving haben. Das Erlebnis, dass die inneren Organe schwer verformt werden, gilt offenbar als amüsant (noch amüsanter ist es allerdings vermutlich, wenn sie beim Auftauchen wieder ihre ursprüngliche Form annehmen). Um solche Tiefen zu erreichen, müssen die Taucher sich allerdings sehr flott von Gewichten hinunterziehen lassen. Der Mensch, der ohne solche Hilfsmittel die größte Tiefe erreichte und überlebte, sodass er noch darüber reden konnte, war der Italiener Umberto Pelizzari: Er tauchte 1992 bis auf ungefähr 70 Meter, blieb einen kurzen Augenblick dort und schoss dann wieder zurück zur Oberfläche. An Land sind 70 Meter nur wenig mehr als die Länge eines Häuserblocks in New York. Selbst mit unseren kühnsten Kunststücken können wir also kaum behaupten, wir seien die Herrscher der Tiefe.

Andere Lebewesen kommen natürlich mit dem Druck unter Wasser zurecht, auch wenn es in manchen Fällen ein Rätsel ist, wie sie das schaffen. Die tiefste Stelle der Weltmeere ist der Marianengraben im Pazifik. Dort, in rund elf Kilometern Tiefe, herrscht ein Wasserdruck von 1125 Kilogramm pro Quadratzentimeter. Ein einziges Mal ist es Menschen gelungen, in einem dickwandigen Tauchboot bis in diese Tiefe vorzudringen, ansonsten ist sie die Domäne großer Kolonien der Flohkrebse, krabbenähnlicher Tiere, die aber durchsichtig sind und dort ohne jeden Schutz überleben. Die meisten Ozeane sind natürlich weitaus flacher, aber selbst bei der durchschnittlichen Meerestiefe von rund 4000 Metern herrscht noch ein Druck, als würde man von 14 voll beladenen Zementlastwagen zusammengedrückt.4

Fast alle, auch die Autoren mehrerer populärwissenschaftlicher Bücher über Ozeanografie, gehen davon aus, dass der menschliche Körper unter dem ungeheueren Druck der Tiefsee einfach in sich zusammenschrumpfen würde. In Wirklichkeit stimmt das offenbar nicht. Da wir vorwiegend aus Wasser bestehen und da Wasser sich praktisch nicht komprimieren lässt, herrscht in unserem Körper, so Frances Ashcroft von der Universität Oxford, der gleiche Druck wie im umgebenden Wasser, sodass er in der Tiefe nicht zusammengequetscht wird.5 Probleme entstehen jedoch durch die Gase im Organismus, insbesondere in der Lunge. Sie werden tatsächlich zusammengedrückt, aber von welchem Punkt an diese Kompression tödlich ist, weiß niemand. Bis vor kurzem glaubte man, jeder Taucher müsse in einer Tiefe von rund 100 Metern qualvoll sterben, weil die Lunge unter dem Brustkorb in sich zusammenfällt, aber mittlerweile haben Taucher, die ohne Geräte unterwegs waren, mehrfach das Gegenteil bewiesen. Nach Ashcrofts Angaben sieht es so aus, als ähnelten die Menschen den Walen und Delfinen stärker, als man erwartet hatte.6

Aber auch vieles andere kann schief gehen. Im Zeitalter der Taucheranzüge, die über einen langen Schlauch mit der Oberfläche in Verbindung standen, erlebten die Taucher manchmal ein gefürchtetes Phänomen, das als Barotrauma oder »Squeeze« bezeichnet wurde. Es trat ein, wenn die Pumpen an der Oberfläche ausfielen, sodass es in dem Anzug zu einem katastrophalen Druckverlust kam. Die Luft entwich mit solcher Gewalt aus dem Anzug, dass der unglückselige Taucher buchstäblich in den Helm und den Luftschlauch hineingesaugt wurde. Zog man ihn dann an die Oberfläche, »waren in dem Anzug nur noch die Knochen und einige Fleischfetzen übrig«, so der Biologe J. B. S. Haldane 1947; und für standhafte Zweifler fügte er hinzu: »Dies ist tatsächlich vorgekommen.« 7

(Übrigens: Der erste Taucherhelm, den der Engländer Charles Deane 1823 konstruierte, war ursprünglich nicht zum Tauchen gedacht, sondern zur Brandbekämpfung. Man nannte ihn auch »Rauchhelm«, aber da er aus Metall bestand, war er schwerfällig, und außerdem wurde er heiß; wie Deane schon bald bemerkte, waren Feuerwehrleute nicht sonderlich darauf erpicht, brennende Gebäude mit irgendeiner Form von Schutzkleidung zu betreten, insbesondere aber nicht mit Ausrüstungsgegenständen, die sich wie ein Kochkessel aufheizten und sie obendrein noch unbeweglich machten. Um seine Investition zu retten, probierte Deane den Helm unter Wasser aus, und dabei stellte sich heraus, dass er sich ideal für Rettungsarbeiten eignete.)

Der wahre Schrecken der Tiefe jedoch ist die Taucherkrankheit - nicht so sehr, weil sie unangenehm ist, sondern weil sie sich mit so viel größerer Wahrscheinlichkeit einstellt. Luft besteht zu 80 Prozent aus Stickstoff. Wirkt auf den menschlichen Organismus ein äußerer Druck ein, verwandelt sich dieser Stickstoff in winzige Bläschen, die in Blut und Gewebe wandern. Verändert sich der Druck zu schnell - beispielsweise wenn ein Taucher sehr rasch zur Oberfläche schwimmt -, sprudeln die Bläschen im Körper ganz ähnlich wie in einer gerade geöffneten Sektflasche; sie verstopfen kleine Blutgefäße, schneiden die Zellen von der Sauerstoffversorgung ab und verursachen derart quälende Schmerzen, dass die Betroffenen sich zusammenkrümmen.

Für Schwamm- und Perlentaucher war die Taucherkrankheit seit jeher ein Berufsrisiko, aber im Abendland wurde man eigentlich erst im 19. Jahrhundert auf sie aufmerksam. Auch dann beschäftigten sich vorwiegend jene damit, die sich selbst überhaupt nicht nass machten (oder zumindest nicht sehr nass und nicht oberhalb der Fußgelenke). Betroffen waren die CaissonArbeiter. Ein Caisson oder Senkkasten ist eine geschlossene, trockene Kammer, die man am Boden eines Flusses errichtet, um den Bau von Brückenpfeilern zu erleichtern. Die Senkkästen waren mit Pressluft gefüllt, und wenn die Arbeiter nach längerer Tätigkeit unter diesem erhöhten Druck wieder an die Oberfläche kamen, spürten sie leichte Symptome, beispielsweise ein Prickeln oder Jucken auf der Haut. Einige wenige jedoch bekamen hartnäckige Gliederschmerzen und brachen gelegentlich sogar vor Qual zusammen. Manche standen nie wieder auf.

Das alles war höchst rätselhaft. Manche Arbeiter fühlten sich beim Zubettgehen völlig wohl, und wenn sie am nächsten Morgen aufwachten, waren sie gelähmt. Manchmal wachten sie auch überhaupt nicht mehr auf. Ashcroft berichtet von den Konstrukteuren eines neuen Tunnels unter der Themse, die kurz vor der Fertigstellung des Bauwerks ein Festessen veranstalteten. Zu ihrer Verblüffung sprudelte der Champagner nicht, als sie ihn in der Pressluft des Tunnels entkorkten. Als sie sich schließlich wieder in die frischer Londoner Nachtluft begaben, sorgten die Bläschen jedoch sofort für sehr viel Schaum und trugen auf denkwürdige Weise zur Verdauung bei.

Wenn man eine Umgebung mit hohem Luftdruck nicht völlig vermeiden kann, ist die Taucherkrankheit nur mit zwei Methoden zuverlässig zu verhindern. Die erste besteht darin, dass man sich der Druckveränderung nur für sehr kurze Zeit aussetzt. Aus diesem Grund können die bereits erwähnten Freitaucher bis in 150 Meter Tiefe vordringen, ohne unangenehme Wirkungen zu spüren. Sie bleiben nicht so lange unter Wasser, dass der Stickstoff in ihrem Körper sich im Gewebe lösen könnte. Die zweite Methode besteht darin, vorsichtig und stufenweise an die Oberfläche zurückzukehren. Dann können sich die Stickstoffbläschen verteilen und auflösen, ohne Schaden anzurichten.

Viele unserer Kenntnisse über das Überleben in Extremsituationen verdanken wir einem außergewöhnlichen Gespann von Vater und Sohn: den beiden Wissenschaftlern John Scott und J. B. S. Haldane. Sie waren selbst nach den anspruchsvollen Maßstäben britischer Intellektueller ausgesprochene Exzentriker. Haldane der Ältere wurde 1860 als Sohn einer schottischen Adelsfamilie geboren (sein Bruder war der Viscount Haldane), während eines großen Teils seiner Berufslaufbahn bekleidete er jedoch eine relativ bescheidene Stellung als Professor für Physiologie in Oxford. Er war für seine Zerstreutheit berühmt. Einmal schickte seine Frau ihn ins Schlafzimmer, wo er sich für eine Abendgesellschaft umziehen sollte. Er kam aber nicht zurück, und schließlich fand sie ihn, mit seinem Pyjama bekleidet, schlafend im Bett. Als sie ihn weckte, erklärte Haldane, er habe sich ausgezogen und deshalb geglaubt, es sei an der Zeit, zu Bett zu gehen.9 Unter einem Urlaub stellte er sich vor, nach Cornwall zu reisen und dort bei Bergarbeitern die Hakenwürmer zu untersuchen. Aldous Huxley, Romanschriftsteller und Enkelsohn von T. H. Huxley, wohnte eine Zeit lang bei dem Ehepaar Haldane und parodierte ihn in seinem Buch Kontrapunkt des Lebens ein wenig unbarmherzig als Wissenschaftler Edward Tantamount.

Als Beitrag zum Tauchen ermittelte Haldane die Länge der Ruhepausen, die notwendig sind, damit man ohne Taucherkrankheit aus größerer Tiefe wieder aufsteigen kann. Sein Interessensgebiet umfasste aber die gesamte Physiologie von der Höhenkrankheit bei Bergsteigern bis zum Hitzschlag in Wüstengebieten.10 Insbesondere faszinierten ihn die Wirkungen giftiger Gase auf den menschlichen Organismus. Um genauer herauszufinden, warum Bergarbeiter durch ausströmendes Kohlenmonoxid ums Leben kommen, vergiftete er sich selbst systematisch, während er sich ständig Blutproben entnahm und analysierte. Er hörte erst auf, als er die Kontrolle über seine Muskeln fast völlig verloren hatte und sein Blut zu 56 Prozent mit dem Gas gesättigt war11 - ein Prozentsatz, mit dem er dem Tod gefährlich nahe war, so jedenfalls Trevor Norton in seinem Buch In unbekannte Tiefen. Taucher, Abenteurer, Pioniere, einer unterhaltsamen Geschichte des Tauchens.

Haldanes Sohn Jack, der Nachwelt mit seinen Initialen J. B. S. bekannt, war ein bemerkenswerter Sprössling, der sich fast vom Säuglingsalter an für die Arbeit des Vaters interessierte. Als er drei Jahre alt war, hörte jemand zufällig mit an, wie er missmutig von seinem Vater wissen wollte: »Aber ist es nun Oxyhämoglobin oder Carboxyhämoglobin?« Während seiner gesamten Jugendzeit assistierte er seinem Vater bei den Experimenten. Als er ein junger Mann war, erprobten die beiden häufig gemeinsam Gase und Gasmasken, wobei sie abwechselnd die Zeit maßen, bis der andere ohnmächtig wurde.

Obwohl J. B. S. Haldane nie ein naturwissenschaftliches Examen ablegte (er studierte in Oxford alte Sprachen), wurde er zu einem ausgezeichneten Wissenschaftler. Vorwiegend war er in Cambridge tätig. Der Biologe Peter Medawar, der während seines ganzen Lebens andere Geistesgrößen um sich hatte, bezeichnete ihn einmal als »den klügsten Mann, den ich jemals kennen gelernt habe«.13 Huxley parodierte auch Haldane den Jüngeren in seinem Roman Narrenreigen, nutzte seine Gedanken über die genetische Manipulation von Menschen aber auch in seinem berühmtesten Werk Schöne neue Welt. Neben vielen anderen Leistungen war Haldane maßgeblich daran beteiligt, Darwins Evolutionsprinzipien mit Gregor Mendels genetischen Entdeckungen zu verbinden und das zu erreichen, was unter Genetikern als »moderne Synthese« bezeichnet wird.

Vielleicht als einziger Mensch überhaupt hielt Haldane der Jüngere den Ersten Weltkrieg für ein sehr erfreuliches Erlebnis, und er räumte freimütig ein, »dass ihm die Möglichkeit, Menschen zu töten, gefiel ,..«.14 Selbst wurde er zweimal verwundet. Nach dem Krieg wurde er zu einem erfolgreichen populärwissenschaftlichen Autor: Er schrieb insgesamt 23 Bücher (und daneben 400 Fachaufsätze). Seine Bücher sind noch heute durchaus lesbar und lehrreich, in vielen Fällen findet man sie aber kaum noch. Außerdem wurde er zu einem begeisterten Marxisten. Vielfach wurde die nicht nur zynische Vermutung geäußert, er sei dies aus reinem Widerspruchsgeist geworden, und wenn er in der Sowjetunion aufgewachsen wäre, hätte er sich vielleicht zu einem leidenschaftlichen Monarchisten entwickelt. Jedenfalls erschienen seine Artikel meist zunächst in dem kommunistischen Blatt Daily Worker.

Während sich das Hauptinteresse seines Vaters auf Bergarbeiter und Vergiftungen richtete, war Haldane der Jüngere besessen von der Idee, Taucher und Unterwasserarbeiter vor den unangenehmen Folgen ihrer Tätigkeit zu schützen. Mit Geldern der Admiralität ließ er eine Dekompressionskammer bauen, die er als »Drucktopf« bezeichnete. In diesem luftdicht verschließbaren Metallzylinder konnte er an drei Personen gleichzeitig die unterschiedlichsten Versuche anstellen, die ausnahmslos schmerzhaft und fast immer gefährlich waren. Die Freiwilligen mussten beispielsweise in Eiswasser sitzen und eine »abweichende Atmosphäre« einatmen, oder sie wurden raschen Druckveränderungen ausgesetzt. In einem Experiment simulierte Haldane an sich selbst einen gefährlich schnellen Aufstieg aus tiefem Wasser, weil er wissen wollte, was dabei geschah. Das Ergebnis: Seine Zahnfüllungen explodierten. »Einmal gab einer seiner verplombten Zähne einen hohen Ton von sich, und die Füllung flog heraus, da sich eine darunter befindliche Lufttasche nicht schnell genug dem Druck hatte anpassen können«, schreibt Norton.15 Die Kammer war praktisch schalldicht, sodass die Insassen sich bei Unwohlsein oder Schmerzen nur dadurch bemerkbar machen konnten, dass sie hartnäckig gegen die Wand der Kammer klopften oder Notizen vor ein kleines Fenster hielten. Ein anderes Mal hatte Haldane sich mit einer erhöhten Sauerstoffmenge vergiftet; dabei bekam er einen so schweren Krampfanfall, dass er sich mehrere Wirbel brach. Eine zusammengefallene Lunge gehörte noch zu den kleineren Gefahren. Auch Löcher im Trommelfell kamen häufig vor, aber in einem seiner Aufsätze schrieb Haldane beruhigend: »Im Allgemeinen heilt das Trommelfell wieder; und wenn darin ein Loch bleibt, ist man zwar ein wenig schwerhörig, aber dafür kann man Tabakrauch aus dem fraglichen Ohr blasen, und das ist eine soziale Errungenschaft.« 16

Das Ungewöhnliche daran war nicht, dass Haldane bereit war, sich im Dienste der Wissenschaft solchen Gefahren und Unannehmlichkeiten auszusetzen, sondern dass er ohne zu zögern auch Kollegen und Angehörige überredete, in die Kammer zu klettern. Seine Frau hatte während eines simulierten Tauchganges einmal einen Krampfanfall, der 13 Minuten dauerte. Als sie schließlich nicht mehr auf den Boden schlug, half er ihr auf die Füße und schickte sie nach Hause, wo sie das Abendessen machen sollte. Vergnügt spannte Haldane jeden ein, der sich zufällig in der Nähe befand, einmal bei einer denkwürdigen Gelegenheit sogar den früheren spanischen Premierminister Juan Négrin. Dieser klagte später über ein leichtes Prickeln und ein »seltsam pelziges Gefühl auf den Lippen«, aber ansonsten kam er offenbar unbeschadet davon. Damit hatte er großes Glück: Haldane selbst hatte nach einem ähnlichen Experiment mit Sauerstoffentzug sechs Jahre lang im Gesäß und unteren Rücken kein Gefühl mehr.17

Zu Haldanes vielen Einzelinteressen gehörte auch die Stickstoffvergiftung. Aus Gründen, die man bis heute nicht ganz versteht, wird Stickstoff in Tiefen von mehr als rund 30 Metern zu einem sehr wirksamen Gift. Unter seinem Einfluss boten Taucher bekanntermaßen ihre Luftschläuche vorüberkommenden Fischen an, oder sie entschlossen sich, erst einmal eine Zigarettenpause einzulegen. Außerdem verursacht das Gas starke Stimmungsschwankungen.18 In einem Versuch, so Haldane, »wechselte die Versuchsperson zwischen Depression und gehobener Stimmung. Im einen Augenblick verlangte er, dekomprimiert zu werden, weil er sich >einfach entsetzlich< fühlte, in der nächsten Minute lachte er und versuchte, die Geschicklichkeitsprüfung seiner Kollegen zu stören.« Um bei einer Versuchsperson die Beeinträchtigung zu messen, musste ein Wissenschaftler sich mit dem Freiwilligen in die Kammer begeben, wo dieser einfache mathematische Aufgaben lösen sollte. Aber wie Haldane später berichtete, »war der Prüfer nach wenigen Minuten in der Regel ebenso vergiftet wie der Geprüfte, und dann vergaß er häufig, den Knopf seiner Stoppuhr zu drücken oder ausreichende Notizen zu machen«.19 Warum es zu der Vergiftung kommt, ist bis heute ein Rätsel. Man vermutet, dass sie dem gleichen Mechanismus folgt wie ein Alkoholrausch, aber da man auch dessen Ursache nicht genau kennt, sind wir damit nicht klüger. Jedenfalls kann man schnell in Schwierigkeiten geraten, wenn man sich unter die Wasseroberfläche begibt, ohne dabei größte Vorsicht walten zu lassen.

Womit wir wieder (nun ja, fast) bei unserer Beobachtung wären, dass es eigentlich gar nicht einfach ist, auf der Erde ein Lebewesen zu sein, auch wenn sie der einzige Ort ist, an dem es überhaupt geht. Nur ein kleiner Teil ihrer Oberfläche ist so trocken, dass man darauf stehen kann, und überraschend große Flächen sind zu heiß, zu kalt, zu trocken, zu steil oder zu hoch gelegen, als dass sie uns von großem Nutzen sein könnten. Allerdings müssen wir zugeben, dass dies zum Teil unsere eigene Schuld ist. Was die Anpassungsfähigkeit angeht, sind Menschen verblüffend unnütze Wesen. Wie die meisten Tiere mögen wir heiße Gegenden eigentlich nicht, aber da wir stark schwitzen und leicht einen Hitzschlag bekommen, sind wir in dieser Hinsicht besonders empfindlich. Im schlimmsten Fall - wenn wir zu Fuß und ohne Wasser in der Wüste unterwegs sind - stellt sich bei den meisten Menschen schon nach sechs bis sieben Stunden das Delirium ein, und dann fallen sie um, um nie wieder aufzustehen. Nicht weniger hilflos sind wir auch in der Kälte. Wie alle Säugetiere kann der Mensch gut Wärme erzeugen, aber da wir fast unbehaart sind, hält unser Körper sie nur schlecht fest. Selbst bei recht mildem Wetter fließt die Hälfte der Kalorien, die wir verbrennen, in die Aufrechterhaltung der Körperwärme.21

Natürlich machen wir solche Schwächen zu einem großen Teil durch die Nutzung von Kleidung und Unterkünften wett, aber trotz alledem können oder wollen wir nur auf einem wahrhaft bescheidenen Teil der Erdoberfläche leben: auf zwölf Prozent der gesamten Landfläche oder nur vier Prozent der Erdoberfläche, wenn man die Meere mitrechnet.

Betrachtet man allerdings die Bedingungen an anderen Orten im bekannten Universum, dann staunt man eigentlich nicht darüber, dass wir nur einen so kleinen Teil unseres Planeten nutzen; viel verwunderlicher ist es, dass wir überhaupt einen Planeten gefunden haben, von dem wir einen solchen Teil nutzen können. Man muss sich nur in unserem eigenen Sonnensystem umsehen - oder übrigens auch auf der Erde zu bestimmten Zeiten ihrer Vergangenheit -, dann erkennt man, dass die meisten Gebiete weitaus unwirtlicher und lebensfeindlicher sind als unser milder, blauer, von Wasser bedeckter Globus.

Die Weltraumforschung hat bisher rund 70 Planeten außerhalb unseres Sonnensystems entdeckt, insgesamt dürfte es aber rund 10 Milliarden Billionen von ihnen geben. Wir Menschen können also kaum behaupten, wir seien zu begründeten Aussagen in der Lage, aber nach bisheriger Kenntnis muss man offenbar unglaubliches Glück haben, wenn man auf einen Planeten treffen will, der sich für das Leben eignet, und je höher dieses Leben entwickelt ist, desto größer muss das Glück sein. Verschiedene Autoren haben ungefähr zwei Dutzend besonders nützliche Umstände genannt, die uns auf der Erde geholfen haben, aber in diesem Schnellüberblick wollen wir uns auf die wichtigsten vier beschränken. Das sind folgende:

Hervorragende Lage. Wir befinden uns fast gespenstisch genau in der richtigen Entfernung vom richtigen Stern - er ist immerhin so groß, dass er eine Menge Energie abgibt, aber auch nicht so riesig, dass er schnell ausbrennen würde. Hätte unsere Sonne die zehnfache Masse, wäre sie nicht nach zehn Milliarden, sondern schon nach zehn Millionen Jahren erschöpft gewesen, und es gäbe uns heute nicht. Auch mit unserer Umlaufbahn haben wir Glück. Läge sie näher an der Sonne, würde alles auf der Erde verbrennen. Ein Stück weiter entfernt, und alles wäre eingefroren.

Im Jahr 1978 kam der Astrophysiker Michael Hart nach einer Reihe von Berechnungen zu dem Schluss, die Erde müsse unbewohnbar sein, wenn ihre Entfernung von der Sonne nur um ein Prozent größer oder um fünf Prozent geringer wäre. Das ist nicht viel, und es reicht auch in der Tat nicht aus. Die Zahlen wurden seither verfeinert, und mittlerweile sind wir ein wenig großzügiger: Als zutreffende Grenzen gelten heute eine um fünf Prozent geringere und 15 Prozent größere Entfernung. Aber auch das ist noch ein sehr schmaler Streifen.

Wenn wir uns klar machen wollen, wie schmal er wirklich ist, brauchen wir uns nur die Venus anzusehen. Sie steht der Sonne nur rund 40 Millionen Kilometer näher als wir, und die Wärmestrahlung erreicht sie ganze zwei Minuten früher. In Größe und Zusammensetzung gleicht die Venus fast völlig der Erde, aber der kleine Unterschied im Abstand der Umlaufbahn war für die Folgen von entscheidender Bedeutung. Nach heutiger Kenntnis war es auf der Venus in der Frühzeit des Sonnensystems nur geringfügig wärmer als auf der Erde, und vermutlich gab es dort auch Ozeane. Aber wegen dieses Unterschiedes von wenigen Grad konnte die Venus ihr

Oberflächenwasser nicht festhalten, und das hatte verheerende Folgen für das Klima. Das Wasser verdunstete, die Wasserstoffatome verflüchtigten sich in den Weltraum, und die Sauerstoffatome verbanden sich mit Kohlenstoff zu einer dichten Atmosphäre aus dem Treibhausgas CO2. Auf der Venus herrschten nun erstickende Verhältnisse. Der eine oder andere in meinem Alter erinnert sich vielleicht noch an eine Zeit, als die Astronomen hofften, unter den Wolkenbergen der Venus könnte sich Leben und vielleicht sogar eine Art tropischer Vegetation verbergen, aber wie wir heute wissen, sind die Umweltverhältnisse dort für jede Lebensform, wie wir uns vernünftigerweise vorstellen können, völlig ungeeignet. Die Oberflächentemperatur liegt bei sengenden 470 Grad, genug, um Blei schmelzen zu lassen, und der Atmosphärendruck an der Oberfläche ist 90-mal so hoch wie auf der Erde26 - mehr, als ein menschlicher Organismus aushalten könnte. Uns fehlen die technischen Mittel zur Herstellung von Schutzanzügen oder auch nur Raumschiffen, die uns einen Besuch erlauben würden. Unsere Kenntnisse über die Oberfläche der Venus stützen sich auf Radar-Fernerkundung und einige hilflose Signale einer unbemannten sowjetischen Raumsonde, die man 1972 voller Hoffnung in die Wolken fallen ließ; sie funktionierte eine knappe Stunde und gab dann endgültig den Geist auf.

So sieht es also aus, wenn man sich um zwei Lichtminuten näher an der Sonne befindet. Entfernen wir uns weiter von ihr, wird nicht die Wärme, sondern die Kälte zum Problem, das lässt der Mars auf eisige Weise erkennen. Auch dort herrschten früher viel angenehmere Verhältnisse, aber er konnte seine nutzbare Atmosphäre nicht festhalten und verwandelte sich in eine gefrorene Wüste.

Aber die richtige Entfernung von der Sonne kann allein nicht alles sein, denn sonst würde auch der Mond liebliche Wälder tragen, und das ist eindeutig nicht der Fall. Vielmehr müssen noch weitere Voraussetzungen gegeben sein:

Der richtige Planet.

Würde man Geophysiker nach den wichtigsten Vorteilen unseres Planeten befragen, so würden nach meiner Vermutung nur die wenigsten in ihre Liste auch das geschmolzene Innere aufnehmen. In Wirklichkeit aber ist es so gut wie sicher, dass es uns ohne die großen, kreisenden Magmamengen nicht gäbe. Neben vielem anderen lieferte das aktive Erdinnere sowohl die Gase, die zum Aufbau einer Atmosphäre beitrugen, als auch das Magnetfeld, das uns vor der kosmischen Strahlung schützt. Außerdem macht es die Plattentektonik möglich, die für eine ständige Erneuerung und Umwälzung der Oberfläche sorgt. Wäre die Erde völlig glatt, läge ihre gesamte Oberfläche vier Kilometer tief unter Wasser begraben. In diesem eintönigen Ozean könnte es zwar Lebewesen geben, aber sicher keine menschlichen Errungenschaften.

Neben diesen nützlichen Auswirkungen des Erdinneren stehen uns auch die richtigen chemischen Elemente in genau den richtigen Mengenanteilen zur Verfügung. Wir sind ganz buchstäblich aus dem richtigen Stoff gemacht. Das ist für unser Wohlergehen so entscheidend, dass wir uns in Kürze noch genauer damit befassen werden. Zunächst aber müssen wir die beiden restlichen Faktoren betrachten, und dabei beginnen wir mit einem, der ebenfalls häufig übersehen wird:

Wir leben auf einem Doppelplaneten.

Den Mond betrachten wir in der Regel nicht als Begleitplaneten, aber eigentlich ist er das. Die meisten Monde sind im Vergleich zu ihrem Planeten winzig. So haben beispielsweise die Marsbegleiter Phobos und Deimos nur einen Durchmesser von rund zehn Kilometern. Unser Mond dagegen besitzt mehr als ein Viertel des Erddurchmessers, und damit ist unser Planet der einzige im Sonnensystem, dessen Mond in seiner Größe mit ihm selbst vergleichbar ist (abgesehen von Pluto, aber der zählt eigentlich nicht, weil er selbst so klein ist). Für uns ist das von allergrößter Bedeutung.

Ohne den stabilisierenden Einfluss des Mondes würde die Erde wackeln wie ein Kreisel kurz vor dem Umfallen. Welche Auswirkungen das für Klima und Wetter hätte, ist überhaupt nicht abzusehen. Die stetige Schwerkraft des Mondes sorgt dafür, dass die Erde mit der richtigen Geschwindigkeit und dem richtigen Winkel rotiert, und das verleiht ihr die Stabilität, die für die langfristige, erfolgreiche Entwicklung des Lebendigen notwendig ist. Allerdings wird es nicht immer so weitergehen: Der Mond entgleitet uns mit einer Geschwindigkeit von rund dreieinhalb Zentimetern im Jahr. In zwei Milliarden Jahren wird er so weit von uns entfernt sein, dass er die Erde nicht mehr stabilisiert. Dann wird man sich eine andere Lösung einfallen lassen müssen, aber vorerst sollten wir in ihm nicht nur eine angenehme Erscheinung am Nachthimmel sehen.

Lange hatten die Astronomen angenommen, Mond und Erde seien entweder gemeinsam entstanden, oder die Erde habe den Mond eingefangen, als er vorübertrieb. Von der heutigen Vorstellung war in einem früheren Kapitel bereits die Rede: Danach prallte vor rund 4,5 Milliarden Jahren ein Objekt von der Größe des Mars gegen die Erde und schlug so viel Material los, dass der Mond aus den Trümmern entstehen konnte. Das war für uns natürlich sehr vorteilhaft - insbesondere weil es sich vor so langer Zeit ereignete. Wäre es 1896 oder letzten Mittwoch geschehen, würden wir uns darüber natürlich bei weitem nicht so freuen. Womit wir bei unserer vierten und in vielerlei Hinsicht entscheidenden Überlegung wären:

Zeitlicher Ablauf.

Im Universum geht es erstaunlich launenhaft und ereignisreich zu. Dass wir darin überhaupt existieren, ist ein Wunder. Wäre eine lange, unvorstellbar komplizierte Abfolge von Ereignissen nicht über 4,6 Milliarden Jahre hinweg zu ganz bestimmten Zeitpunkten auf ganz bestimmte Weise abgelaufen - wären beispielsweise, um nur ein nahe liegendes Beispiel zu nennen, die Dinosaurier nicht gerade damals von einem Meteor hinweggefegt worden -, dann wären wir jetzt vermutlich 15 Zentimeter groß, hätten Schnurrhaare und einen Schwanz und würden dieses Buch in einem unterirdischen Bau lesen.

Aber auch das wissen wir eigentlich nicht mit Sicherheit, denn wir haben nichts, womit wir unser eigenes Dasein vergleichen könnten. Eines aber scheint auf der Hand zu liegen: Wenn am Ende eine einigermaßen fortgeschrittene, denkende Gesellschaft stehen soll, muss davor eine sehr lange Kette von Zwischenergebnissen liegen, mit längeren Phasen der Stabilität, zwischen denen immer wieder Belastungen und Herausforderungen genau im richtigen Umfang eingestreut waren (Eiszeiten sind in dieser Hinsicht anscheinend besonders hilfreich). Gleichzeitig muss eine wirkliche Katastrophe völlig ausgeblieben sein. Wie wir auf den noch vor uns liegenden Seiten sehen werden, haben wir großes Glück gehabt, dass wir uns genau in dieser Lage befinden.

Vor diesem Hintergrund wollen wir uns nun kurz mit den Elementen befassen, aus denen wir bestehen.

In der Natur kommen auf der Erde 92 chemische Elemente vor, und rund 20 weitere hat man im Labor hergestellt. Einige davon können wir aber sofort beiseite lassen - das tun meist sogar die Chemiker. Über eine beträchtliche Zahl der chemischen Substanzen auf der Erde wissen wir erstaunlich wenig. Das Astatin zum Beispiel ist praktisch unerforscht. Es hat einen Namen und einen Platz im Periodensystem (gleich neben Marie Curies Polonium), aber sonst auch fast nichts. Das hat weniger mit wissenschaftlicher Gleichgültigkeit zu tun als vielmehr mit seinem seltenen Vorkommen. Es gibt auf der Erde nicht besonders viel Astatin. Am schwersten unter allen Elementen ist aber wahrscheinlich das Francium dingfest zu machen: Es ist so selten, dass auf der gesamten Erde nach heutiger Kenntnis wahrscheinlich zu jedem beliebigen Zeitpunkt noch nicht einmal 20 Franciumatome existieren. Insgesamt sind nur ungefähr 30 natürlich vorkommende Elemente auf der Erde weit verbreitet, und knapp ein halbes Dutzend davon ist für das Leben von zentraler Bedeutung.

Wie vielleicht nicht anders zu erwarten, ist der Sauerstoff das häufigste Element: Er macht knapp 50 Prozent der Erdkruste aus, aber dahinter sind die Mengenverhältnisse häufig eine Überraschung. Wer hätte beispielsweise angenommen, dass das Silicium das zweithäufigste Element auf der Erde ist und dass das Titan an zehnter Stelle steht? Die Häufigkeit hat kaum etwas damit zu tun, ob ein Element uns vertraut ist oder einen Nutzen bringt. Viele relativ unbekannte Elemente sind sogar häufiger als die besser bekannten. Es gibt auf der Erde mehr Cer als Kupfer, mehr Neodym oder Lanthan als Kobalt oder Stickstoff. Das Zinn schafft es gerade eben in die obersten 50, wird aber von Exoten wie Praseodym, Samarium, Gadolinium und Dysprosium in den Schatten gestellt.

Auch mit der Frage, wie einfach ein Element nachzuweisen ist, hat die Häufigkeit wenig zu tun. Aluminium ist das vierthäufigste Element auf der Erde: Es macht fast ein Zehntel von allem aus, was sich unter unseren Füßen befindet. Dennoch ahnte man nichts von seiner Existenz, bis Humphry Davy es im 19. Jahrhundert entdeckte, und noch lange danach galt es als seltene, kostbare Substanz. Der US-Kongress hätte an der Spitze des Washington Monument fast eine glänzende Verkleidung aus Aluminiumfolie anbringen lassen, um zu zeigen, was für eine großartige, wohlhabende Nation die Vereinigten Staaten geworden waren, und die französische Kaiserfamilie warf zur gleichen Zeit das staatliche Silbergeschirr weg und ersetzte es durch Gerätschaften aus Aluminium. Es war das Modernste, was man haben konnte.

Ebenso besteht kein zwangsläufiger Zusammenhang zwischen Häufigkeit und Bedeutung. Kohlenstoff steht, was seinen Anteil angeht, nur an 15. Stelle und macht bescheidene 0,48 Prozent der Erdkruste aus, aber ohne ihn würden wir nicht existieren. Die Besonderheit des Kohlenstoffatoms besteht darin, dass es schamlose Promiskuität betreibt. Es ist der Partylöwe in der Welt der Atome und geht Bindungen zu vielen anderen Atomen (auch zu seinesgleichen) ein, an denen es dann eisern festhält. So entstehen molekulare Menschenketten von handfester Widerstandskraft - genau das ist der Kunstgriff der Natur, der den Aufbau von Proteinen und DNA erst möglich macht. Oder, wie Paul Davies schrieb: »Ohne Kohlenstoff wäre Leben, wie wir es kennen, unmöglich. Wahrscheinlich wäre auch jede andere Art von Leben ausgeschlossen.« Aber selbst im menschlichen Organismus, der so entscheidend darauf angewiesen ist, macht der Kohlenstoff keinen sonderlich großen Anteil aus. Von jeweils 200 Atomen in unserem Körper sind 120* Wasserstoff, 51 Sauerstoff und nur 19 Kohlenstoff.

Andere Elemente sind nicht für die Entstehung des Lebens unentbehrlich, aber für seine Erhaltung. Wir brauchen Eisen, um Hämoglobin bilden zu können, und wenn es fehlt, gehen wir zu Grunde. Kobalt ist notwendig für die Entstehung von Vitamin B12, Kalium und sehr wenig Natrium sind im wahrsten Sinne des Wortes gut für die Nerven. Molybdän, Mangan und Vanadium tragen dazu bei, dass die Enzyme reibungslos funktionieren. Und Zink - gelobt sei es - oxidiert den Alkohol.

Wir haben uns in der Evolution so entwickelt, dass wir solche Dinge nutzen oder zumindest ertragen können -ansonsten wären wir wohl kaum hier. Unsere Toleranzgrenzen sind allerdings eng. Selen ist für jeden Menschen lebenswichtig, aber man braucht nur ein wenig zu viel davon zu nehmen, dann ist es das Letzte, was man in seinem Leben getan hat. In welchem Umfang ein Lebewesen bestimmte Elemente verbraucht oder verträgt, ergibt sich aus seiner jeweiligen Evolution. Schafe und Rinder grasen heute nebeneinander, haben aber einen sehr unterschiedlichen Mineralstoffbedarf. Moderne Rinder brauchen viel Kupfer, weil ihre Evolution sich in Teilen Europas und Afrikas abgespielt hat, wo dieses Element in großen Mengen vorkommt. Die Schafe dagegen sind in den kupferarmen Gebieten Kleinasiens entstanden. In der Regel - und darüber braucht man sich eigentlich nicht zu wundern - ist unsere Toleranz für einzelne Elemente unmittelbar proportional zu ihrer Häufigkeit der Erdkruste.

* Unter den restlichen vier sind drei Stickstoff, das letzte verteilt sich auf alle anderen Elemente.


Auf Grund unserer Evolution erwarten wir die winzigen Mengen seltener Elemente, die sich in unserer Nahrung ansammeln, und in manchen Fällen brauchen wir sie sogar. Erhöht man aber die Dosis in manchen Fällen nur geringfügig, überschreitet man schon bald einen Grenzwert. Viele dieser Zusammenhänge sind bisher nur unvollständig erforscht. So weiß beispielsweise niemand, ob Arsen in winzigen Mengen für unser Wohlbefinden notwendig ist oder nicht. Manche Fachleute sagen ja, andere nein. Sicher ist nur eines: zu viel ist tödlich.

Noch seltsamer werden die Eigenschaften der Elemente, wenn sie sich verbinden. Sauerstoff und Wasserstoff beispielsweise sind zwei der verbrennungsfreudigsten Elemente überhaupt, aber gemeinsam bilden sie das* unbrennbare Wasser. Noch seltsamer verhält sich die Kombination zwischen Natrium, einem der instabilsten Elemente, und Chlor, das so giftig ist wie kaum ein anderes. Wirft man ein kleines Stück Natrium in ganz gewöhnliches Wasser, explodiert es mit solcher Kraft dass es tödlich wirken kann.34 Die Gefährlichkeit von Chlor ist noch berüchtigter. In geringer Konzentration ist es zwar nützlich, weil es Mikroorganismen abtötet (es verleiht der Chlorbleichlauge ihren Geruch), in größeren Mengen jedoch wirkt es tödlich. Deshalb war es erste Wahl für viele Giftgase des Ersten Weltkrieges. Und wie so mancher Schwimmer mit roten Augen bestätigen kann, ist

* Sauerstoff selbst ist nicht brennbar, aber er erleichtert die Verbrennung anderer Substanzen. Im Endeffekt ist das auch gut so: Wäre Sauerstoff brennbar, würde die Luft jedes Mal in Flammen aufgehen, wenn wir ein Streichholz anzünden. Wasserstoff gas dagegen ist äußerst feuergefährlich; das zeigte sich sehr deutlich am 6. Mai 1937, als das wasserstoffbetriebene Luftschiff Hindenburg in Lakehurst in New Jersey explodierte. Bei dem Unfall kamen 36 Menschen ums Leben.


es für Menschen selbst in äußerst stark verdünnter Form nicht bekömmlich. Aber dann verbinden sich diese beiden unangenehmen Elemente, und was kommt heraus? Natriumchlorid - ganz gewöhnliches Kochsalz.

Generell kann man sagen: Wenn ein Element von Natur aus nicht seinen Weg in unseren Organismus findet -beispielsweise weil es nicht wasserlöslich ist -, vertragen wir es meist auch nicht. Mit Blei können wir uns vergiften, weil wir ihm nie ausgesetzt waren, bevor es zum Bestandteil von Konservendosen und Wasserleitungen wurde. (Nicht ganz zufällig kommt Pb, das chemische Symbol für Blei, von dem lateinischen plumbum, von dem sich das englische Wort plumbing für eine Wasserleitung ableitet.) Die Römer aromatisierten auch ihren Wein mit Blei,35 und das dürfte einer der Gründe gewesen sein, warum ihnen im Laufe der Zeit die Kräfte verloren gingen. Wie wir an anderer Stelle bereits erfahren haben, lässt uns unsere geringe Toleranz für Blei (von Quecksilber, Cadmium und vielen anderen industriellen Schadstoffen, die wir tagtäglich aufnehmen, gar nicht zu reden) kaum Spielraum für Unachtsamkeit. Für Elemente, die von Natur aus auf der Erde nicht vorkommen, hat sich beim Menschen auch keine Toleranz entwickelt, und deshalb sind sie für uns in der Regel äußerst giftig - ein gutes Beispiel ist das Plutonium. Unsere Toleranz für Plutonium liegt bei Null: Auch eine noch so geringe Menge haut uns um.

Jetzt habe ich weit ausgeholt, um eine einfache Aussage zu verdeutlichen: Dass die Erde uns so wunderbar angenehm erscheint, liegt zu einem großen Teil daran, dass wir uns im Laufe der Evolution entsprechend ihren Bedingungen entwickelt haben. Wir staunen eigentlich nicht darüber, dass sie sich für Leben eignet, sondern dass sie sich für unser Leben eignet - und das ist wirklich kein Wunder. Viele Dinge, die uns so großartig erscheinen -eine wohlproportionierte Sonne, ein liebevoller Mond, der bindungsfreudige Kohlenstoff, mehr Magma, als wir uns vorstellen können, und alles andere -, erscheinen einfach deshalb so großartig, weil wir gerade von ihnen auf Grund unserer Geburt abhängig sind. Wieweit das gilt, weiß niemand ganz genau.

Andere Welten könnten Wesen beherbergen, die dankbar für silbrige Quecksilberseen und treibende Ammoniakwolken sind. Sie freuen sich vielleicht darüber, dass ihr Planet sie nicht mit seinen schiebenden Platten durchschüttelt oder ein Durcheinander von Lavaklumpen in die Landschaft schleudert, sondern ohne Tektonik in stetiger Ruhe verharrt. Jeder Besucher, der von weither zur Erde kommt, wäre mit ziemlicher Sicherheit verblüfft darüber, dass wir in einer Atmosphäre aus Stickstoff leben, einem ausgesprochen trägen Gas, das keine Neigung hat, mit irgendetwas anderem zu reagieren, während der ebenfalls darin enthaltene Sauerstoff die Verbrennung so stark begünstigt, dass wir in unseren Städten eine Feuerwehr brauchen, um uns vor seinen augenfälligsten Effekten zu schützen. Aber selbst wenn unsere Besucher Sauerstoff atmen und auf zwei Beinen gehen würden, wenn sie eine Vorliebe für Einkaufspassagen und Actionfilme hätten, wäre die Erde für sie wahrscheinlich kein geeigneter Ort. Wir könnten ihnen nicht einmal etwas zu essen geben, denn alle unsere Lebensmittel enthalten Spuren von Mangan, Selen, Zink und anderen Bestandteilen, von denen zumindest manche für sie giftig wären. Ihnen wird die Erde wahrscheinlich nicht gerade wie ein wundersames Paradies vorkommen.

Der Physiker Richard Feynman machte gern einen Witz über im Nachhinein gewonnene Erkenntnisse, oder Schlussfolgerungen a posteriori, wie man sie auch nennt.

So sagte er zum Beispiel: »Sehen Sie, heute Abend ist mir etwas wirklich Erstaunliches passiert. Auf dem Weg zu dieser Vorlesung bin ich über den Parkplatz spaziert, und - Sie werden es nicht glauben: Ich entdeckte ein Auto mit dem Kennzeichen ARW 357. Stellen Sie sich das einmal vor! Wie groß war die Wahrscheinlichkeit, von den Millionen Nummernschildern in diesem Staat ausgerechnet dieses zu sehen? Wirklich, höchst erstaunlich!« 36 Natürlich ging es ihm darum, dass man aus jeder alltäglichen Situation etwas Ungewöhnliches machen kann, wenn man sie als schicksalhaft betrachtet.

Möglicherweise sind also die Ereignisse und Bedingungen, die zum Aufstieg des Lebens auf der Erde geführt haben, überhaupt nicht so außergewöhnlich, wie wir gern glauben. Immerhin waren sie aber doch ungewöhnlich, und eines ist sicher: Wir werden damit auskommen müssen, bis wir etwas Besseres finden.

17. In die Troposphäre

Bloß gut, dass es die Atmosphäre gibt. Sie hält uns warm. Ohne sie wäre die Erde eine leblose Eiskugel mit einer Durchschnittstemperatur von minus 50 Grad.1 Außerdem verschluckt oder reflektiert die Atmosphäre auch kosmische Strahlung, geladene Teilchen, ultraviolettes Licht und Ähnliches. Insgesamt hat das Gas der Atmosphäre die gleiche Schutzwirkung wie eine viereinhalb Meter dicke Betonschicht, und ohne sie würden die unsichtbaren Einflüsse aus dem All in uns eindringen wie winzige Dolche.

Am auffälligsten an unserer Atmosphäre ist jedoch ihre geringe Größe. Sie erstreckt sich bis in eine Höhe von rund 200 Kilometern. Vom Boden aus betrachtet, mag das relativ üppig erscheinen, aber wenn man die Erde bis auf die Größe eines üblichen Globus verkleinert, wäre sie nur ungefähr so dick wie ein paar Lackschichten.

Aus Gründen der wissenschaftlichen Bequemlichkeit unterteilt man die Atmosphäre in vier ungleiche Schichten: Troposphäre, Stratosphäre, Mesosphäre und Ionosphäre (Letztere wird mittlerweile häufig auch Thermosphäre genannt). Besonders lieb und teuer ist uns die Troposphäre. Sie allein enthält so viel Wärme und Sauerstoff, dass wir existieren können, aber selbst sie wird bereits sehr schnell lebensfeindlich, wenn man in ihre höheren Schichten vordringt. Vom Boden bis zu ihrer Obergrenze misst die Troposphäre (die »Wendesphäre« ) am Äquator rund 16 Kilometer, in den gemäßigten Breiten dagegen, wo die meisten Menschen leben, sind es nicht mehr als zehn oder elf Kilometer. 80 Prozent der Masse unserer Atmosphäre sowie praktisch das gesamte Wasser sind in dieser dünnen Schicht enthalten, und deshalb spielt sich in ihr auch der allergrößte Teil des Wettergeschehens ab. Zwischen uns und dem Tod liegt wirklich nicht viel.

Über der Troposphäre befindet sich die Stratosphäre. Wenn eine Gewitterwolke sich auf ihrer Oberseite in der typischen Ambossform abflacht, hat sie die Grenze zwischen Troposphäre und Stratosphäre erreicht. Dieser unsichtbare Grenzbereich, der auch als Tropopause bezeichnet wird, wurde 1902 von dem französischen Ballonfahrer Leon-Philippe Teisserenc de Bort entdeckt. Mit -pause ist in diesem Fall kein vorübergehendes Stehenbleiben gemeint, sondern ein endgültiges Ende; der Begriff hat die gleiche griechische Wurzel wie das Wort Menopause. Die Tropopause ist selbst in ihrer größten Ausdehnung nicht weit von uns entfernt. Mit einem schnellen Aufzug, wie er in modernen Wolkenkratzern zu finden ist, wären wir in rund 20 Minuten dort, es wäre allerdings sehr ratsam, auf eine solche Reise zu verzichten. Ein derart schneller Aufstieg ohne Druckausgleich würde mindestens zu schweren Gehirn- und Lungenödemen sowie zu einer gefährlichen Flüssigkeitsansammlung im Körpergewebe führen.4 Wenn die Türen sich an der Aussichtsplattform öffnen, wären wahrscheinlich alle in dem Aufzug bereits tot oder lägen im Sterben. Auch ein vorsichtigerer Aufstieg wäre von großen Unannehmlichkeiten begleitet. Die Temperatur liegt in zehn Kilometern Höhe häufig bei rund minus 60 Grad, und eine zusätzliche Sauerstoffversorgung wäre notwendig oder zumindest äußerst wünschenswert.5

Nachdem wir die Troposphäre verlassen haben, steigt die Temperatur schnell wieder auf rund vier Grad an. Ursache ist die Absorptionswirkung des Ozons (die de Bort ebenfalls 1902 bei seinem waghalsigen Aufstieg entdeckte). In der Mesophäre sinkt sie dann wieder auf bis zu minus 90 Grad, bevor sie in der zu Recht so bezeichneten, aber sehr wechselhaften Therrnosphäre auf bis zu 1500 Grad oder mehr in die Höhe schießt; in dieser Höhe kann die Temperatur zwischen Tag und Nacht um mehrere 1000 Grad schwanken - wobei man allerdings dazu sagen muss, dass »Temperatur« hier ein mehr oder weniger theretischer Begriff ist. Eigentlich ist die Temperatur ein Maß für die Bewegungen der Moleküle. Auf Meereshöhe sind die Gasmoleküle der Luft so eng benachbart, dass jedes einzelne von ihnen sich nur über winzige Entfernungen bewegen kann - genauer gesagt, ungefähr um einen Millionstel Zentimeter6 - und dann sofort mit einem anderen zusammenstößt. Da auf diese Weise ständig Billionen von Molekülen kollidieren, wird auch eine Menge Wärme ausgetauscht. In der Thermosphäre jedoch, in Höhen von 80 Kilometern und mehr, ist die Luft äußerst dünn: Hier sind zwei Moleküle im Durchschnitt mehrere Kilometer voneinander entfernt, sodass sie sich kaum einmal berühren. Obwohl also jedes einzelne Molekül sich sehr schnell bewegt und deshalb sehr »warm« ist, gibt es kaum Wechselwirkungen und damit auch kaum eine Wärmeübertragung. Für Satelliten und Raumschiffe ist das sehr nützlich, denn bei einem stärkeren Wärmeaustausch würde jeder von Menschen hergestellte Gegenstand, der in solchen Höhen um die Erde kreist, in Flammen aufgehen.

Dennoch müssen Raumschiffe in der äußeren Atmosphäre große Vorsicht walten lassen. Das gilt insbesondere für die Rückkehr zur Erde - dies machte die Raumfähre Columbia im Februar 2003 auf tragische Weise deutlich. Die Atmosphäre ist zwar sehr dünn, aber wenn das Raumschiff in einem zu steilen Winkel - mehr als ungefähr sechs Grad - oder zu schnell in sie eintritt, trifft es auf so viele Moleküle, dass es sich durch den Luftwiderstand stark aufheizt. Ist der Eintrittswinkel in die Thermosphäre dagegen zu klein, kann das Raumschiff auch abprallen und wieder in den Weltraum fliegen wie ein Kiesel, den man flach über das Wasser wirft.

Aber man muss sich nicht bis an den Rand der Atmosphäre begeben, wenn man daran erinnert werden will, wie hoffnungslos wir an den Erdboden gefesselt sind. Das weiß jeder, der sich einmal eine Zeit lang in einer hoch gelegenen Stadt aufgehalten hat: Man braucht sich nur wenige 1000 Meter von der Meereshöhe zu entfernen, und schon protestiert der Organismus. Selbst erfahrene Bergsteiger, die über ausreichende Fitness, Übung und Sauerstoffflaschen verfügen, neigen in großer Höhe zu Verwirrungszuständen, Übelkeit, Erschöpfung, Erfrierungen, Unterkühlung, Migräne, Appetitlosigkeit und vielen anderen körperlichen Fehlfunktionen. Unser Organismus erinnert uns auf hunderterlei Weise nachdrücklich daran, dass er nicht dazu konstruiert ist, so weit oberhalb der Meereshöhe zu funktionieren.

Über die Bedingungen auf dem Gipfel des Mount Everest schrieb der Bergsteiger Peter Habeler: »Selbst unter den günstigsten Umständen erfordert jeder Schritt in dieser Höhe eine ungeheure Willensanstrengung. Man muss sich zu jeder Bewegung zwingen, nach jedem Haltepunkt greifen. Ständig ist man durch eine bleierne, tödliche Müdigkeit bedroht.« Und der britische Bergsteiger und Filmemacher Matt Dickinson berichtet in seinem Buch The Other Side of Everest, wie Howard Somervell bei einer britischen Everest-Expedition im Jahr 1924 »fast erstickt wäre, weil ein Stück infiziertes Fleisch sich gelöst hatte und seine Luftröhre verstopfte«. Mit ungeheurer Anstrengung gelang es Somervell, den Brocken auszuhusten. Wie sich herausstellte, handelte es sich um »die gesamte Schleimhaut seines Kehlkopfes«.

Die körperlichen Beeinträchtigungen in Höhen von mehr als 7500 Metern sind berüchtigt - dieser Bereich ist bei Bergsteigern als »Todeszone« bekannt. Viele Menschen sind aber auch schon in Höhen von nur 5000 Metern stark geschwächt oder sogar gefährlich krank. Die Anfälligkeit für diese Höhenkrankheit hat kaum etwas mit der Fitness zu tun. Manchmal machen Großmütter in hoch gelegenen Gebieten noch Luftsprünge, während ihre durchtrainierten Nachkommen als hilflose Häufchen Elend in geringere Höhen zurückkehren müssen.

Die absolute Obergrenze für Höhen, in denen Menschen dauerhaft leben können, scheint bei rund 5500 Metern zu liegen,9 aber auch wer an solche Bedingungen gewöhnt ist, erträgt sie nicht über längere Zeit. Wie Frances Ashcroft in Am Limit. Leben und Überleben in Extremsituationen berichtet, liegen manche Schwefelbergwerke in den Anden 5800 Meter hoch, aber die Arbeiter ziehen es vor, jeden Abend bis auf eine Höhe von 460 Metern hinunterzufahren und am folgenden Tag wieder aufzusteigen, statt ständig in dieser Höhenlage zu leben. Bei den Bewohnern hoch gelegener Gebiete hat sich häufig im Laufe mehrerer 1000 Jahre ein besonders großer Brustkorb mit entsprechend vergrößerter Lunge entwickelt, und die Dichte der Sauerstoff transportierenden roten Blutzellen liegt um fast ein Drittel höher als bei anderen. Allerdings verträgt der Kreislauf eine solch erhöhte Zellzahl nur bis zu einer gewissen Grenze. Außerdem können auch gut angepasste Frauen in Höhen über 5500 Metern einen heranwachs enden Fetus nicht mehr so gut mit Sauerstoff versorgen, dass sie die Schwangerschaft zu Ende bringen könnten.10

Als man in den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts in Europa die ersten experimentellen Ballonflüge unternahm, war man unter anderem überrascht, weil es in großer Höhe so eisig kalt wurde. Die Temperatur sinkt mit 1000 Metern Höhenunterschied jeweils um rund fünf Grad. Eigentlich wäre es logisch, dass man umso mehr Wärme empfindet, je näher man der Wärmequelle kommt. Die Erklärung liegt zum Teil darin, dass man sich der Sonne in größerer Höhe nicht nennenswert annähert. Unser Zentralgestirn ist 150 Millionen Kilometer von uns entfernt. Ihm um ein paar 1000 Meter näher zu kommen, ist das Gleiche, als würde man in Bayern einen Schritt in Richtung eines Buschfeuers in Australien gehen und dann damit rechnen, dass man den Rauch riecht. Von viel größerer Bedeutung ist deshalb die Dichte der Moleküle in der Atmosphäre. Sonnenlicht überträgt Energie auf die Atome. Es verstärkt ihre ungeordneten Bewegungen, und in diesem aktivierten Zustand stoßen sie zusammen, sodass Wärme frei wird. Wenn wir an einem Sommertag die warme Sonne im Rücken spüren, nehmen wir in Wirklichkeit angeregte Atome wahr. Je höher man klettert, desto weniger Moleküle sind vorhanden, und entsprechend geringer ist auch die Zahl ihrer Kollisionen.

Luft ist ein trügerischer Stoff. Selbst auf Meereshöhe erscheint sie uns in der Regel nicht greifbar und nahezu gewichtslos. In Wirklichkeit hat sie ziemlich viel Masse, und die macht sich auch häufig bemerkbar. Der Meeresforscher Wyville Thomson schrieb schon vor über 100 Jahren: »Wenn wir morgens aufstehen, stellen wir manchmal fest, dass das Barometer um einen Zoll gestiegen ist und dass sich demnach über Nacht in aller Stille eine halbe Tonne über uns aufgetürmt hat, und doch empfinden wir kein Unwohlsein, sondern ein Gefühl der Freude und Leichtigkeit, erfordert es doch etwas weniger Anstrengung, unseren Körper in dem dichteren Medium zu bewegen.« 11 Dass wir unter dem zusätzlichen Druck von einer halben Tonne nicht zusammengequetscht werden, hat den gleichen Grund, aus dem unser Körper auch den Druck tief unter Wasser aushält: Er besteht zum größten Teil aus Flüssigkeit, die sich nicht zusammendrücken lässt, sondern einen Gegendruck ausübt, sodass der Druck innen und außen ausgeglichen ist.

Gerät die Luft aber in Bewegung, beispielsweise in einem Wirbelsturm oder auch nur in einer steifen Brise, so werden wir schnell daran erinnert, dass sie eine beträchtliche Masse hat. Insgesamt sind wir von rund 5200 Millionen Millionen Tonnen Luft umgeben - etwa zehn Millionen Tonnen über jedem Quadratkilometer der Erdoberfläche, und dieses Volumen bleibt nicht ohne Wirkung. Wenn Millionen Tonnen Luft mit 50 oder 60 Stundenkilometern an uns vorüberrauschen, ist es nicht verwunderlich, dass Zweige abbrechen und Dachziegel davonfliegen. Nach Angaben von Anthony Smith besteht eine typische Schlechtwetterfront aus 750 Millionen

Tonnen kalter Luft, die unter einer Milliarde Tonnen wärmerer Luft festgehalten werden. Da ist es kein Wunder, dass die Folgen manchmal meteorologisch durchaus aufregend sind.

An Energie herrscht in der Welt über unseren Köpfen mit Sicherheit kein Mangel. Berechnungen zufolge enthält ein einziges Gewitter so viel davon, dass es den gesamten Elektrizitätsbedarf der Vereinigten Staaten vier Tage lang decken könnte. Unter geeigneten Voraussetzungen können Gewitterwolken sich zu einer Höhe von zehn bis 15 Kilometern auftürmen. Die Auf- und Abwinde in ihrem Inneren erreichen Geschwindigkeiten von 150 Stundenkilometern, und das häufig dicht nebeneinander -deshalb fliegen Piloten nicht gern hindurch. Außerdem nehmen die Teilchen in einem solchen Wirbel elektrische Ladungen auf. Aus nicht ganz geklärten Gründen werden leichtere Teilchen dabei eher positiv geladen, und die Luftströmungen tragen sie zur Oberseite der Wolken. Schwerere Partikel bleiben weiter unten und sammeln negative Ladungen an. Diese negativ geladenen Teilchen haben das starke Bestreben, zum positiv geladenen Erdboden zu gelangen, und dann ist alles, was sich ihnen in den Weg stellt, auf Gedeih und Verderb seinem Schicksal ausgeliefert. Ein Blitz pflanzt sich mit über 400000 Stundenkilometern fort und heizt die Luft in seiner Umgebung auf bis zu 28000 Grad auf, ein Mehrfaches der Temperatur auf der Sonnenoberfläche. Rund um die Erde toben in jedem Augenblick rund 1800 Gewitter - an einem ganzen Tag sind es etwa 40000.14 Tag und Nacht schlagen auf unserem Planeten in jeder Sekunde rund 100 Blitze ein. Am Himmel geht es wirklich lebhaft zu.

Unsere Kenntnisse über die Vorgänge dort oben sind zu einem beträchtlichen Teil noch erstaunlich jungen Datums.15 Die Jetstreams, Luftströmungen in Höhen von 9000 bis 11000 Metern, rasen mit bis zu 300 Stundenkilometern dahin und beeinflussen das Wetter ganzer Kontinente, und doch hatte man von ihrer Existenz keine Ahnung, bis im Zweiten Weltkrieg die ersten Piloten in solche Höhen vordrangen. Auch heute ist ein großer Teil der Phänomene in der Atmosphäre noch kaum erforscht. Auf Flugreisen erlebt man manchmal eine Abwechslung in Form wellenförmiger Bewegungen, die unter dem Namen Turbulenzen bei klarer Luft bekannt sind. Jedes Jahr sind rund 20 solche Vorfälle so schwerwiegend, dass ein Bericht darüber gefertigt werden muss. Sie stehen nicht im Zusammenhang mit Wolkenstrukturen oder irgendetwas anderem, das zu sehen oder mit dem Radar wahrzunehmen wäre. Es sind einfach Bereiche mit plötzlichen Turbulenzen in ansonsten ruhiger Luft. Bei einem typischen derartigen Vorfall sackte ein Flugzeug auf dem Weg von Singapur nach Sydney über Zentralaustralien bei ruhigem Wetter plötzlich um 100 Meter ab, genug, dass nicht angeschnallte Passagiere gegen die Kabinendecke geschleudert wurden. Zwölf Menschen wurden verletzt, einer davon schwer. Wie solche unruhigen Luftregionen entstehen, weiß niemand.

Angetrieben werden die Luftbewegungen in der Atmosphäre durch den gleichen Mechanismus, der auch den Motor im Inneren unseres Planeten in Bewegung hält: durch Konvektion. Feuchte, warme Luft aus der Äquatorregion steigt auf, trifft auf die Barriere der Tropopause und verteilt sich in waagerechter Richtung. Sie entfernt sich vom Äquator, wird kühler und sinkt wieder ab. Am Boden angelangt, füllt ein Teil der abgesunkenen Luft die Tiefdruckgebiete auf und wandert wieder zum Äquator, sodass der Kreis geschlossen ist.

Am Äquator ist die Konvektion in der Regel ein stabiler Vorgang, sodass man ständig mit gutem Wetter rechnen kann. In den gemäßigten Klimazonen dagegen sind die Abläufe weit mehr von Jahreszeiten, örtlichen Bedingungen und vom Zufall abhängig, und das führt zu einem endlosen Konflikt zwischen Hoch- und Tiefdruckgebieten. Ein Tief entsteht durch aufsteigende Luft, die Wassermoleküle in große Höhen befördert, wo sie dann Wolken bilden und als Regen wieder zur Erde fallen. Warme Luft nimmt mehr Feuchtigkeit auf als kalte - das ist der Grund, warum im Sommer und in den Tropen die heftigsten Unwetter toben. Tiefdruckgebiete sind deshalb in der Regel mit Wolken und Regen verbunden, ein Hoch dagegen verspricht meist Sonnenschein und schönes Wetter. Wo zwei solche Systeme aufeinander treffen, bilden sich häufig auffällige Wolken. Stratuswolken zum Beispiel - diese unbeliebten, konturlosen Wolken, denen wir den bedeckten Himmel verdanken - entstehen, wenn eine mit Feuchtigkeit beladene Aufwärtsströmung nicht genügend Kraft hat, um eine darüber liegende, stabilere Luftschicht zu durchdringen, und sich stattdessen seitlich ausbreitet wie Rauch an einer Zimmerdecke. Eine recht gute Vorstellung von diesem Vorgang kann man sich verschaffen, wenn man einen Raucher beobachtet und zusieht, wie der Zigarettenrauch in einem geschlossenen Raum nach oben steigt. Zunächst bewegt er sich in gerader Linie aufwärts (wer Eindruck machen will, kann hier von laminarer Strömung sprechen), um sich anschließend als unscharfe, wellenförmige Schicht auszubreiten. Wie diese Wellen im Einzelnen geformt sein werden, lässt sich auch mit dem größten Supercomputer der Welt und genauen Messungen in einer sorgfältig kontrollierten Umgebung nicht voraussagen. Man kann sich also vorstellen, mit welchen Schwierigkeiten die Meteorologen zu kämpfen haben, wenn sie derartige Bewegungen auf unserem rotierenden, windigen, riesigen Erdball prophezeien wollen.

Eines aber wissen wir: Da die Sonnenwärme sich ungleichmäßig über unseren Planeten verteilt, entstehen Luftdruckunterschiede. In dem Bestreben, sie auszugleichen, gerät die Luft in Bewegung. Wind entsteht schlichtweg dadurch, dass die Luft das Gleichgewicht wieder herstellen will. Sie fließt stets von Bereichen mit hohem zu solchen mit niedrigerem Druck (was auch nicht anders zu erwarten ist; man braucht sich nur vorzustellen, wie Luft in einem Ballon oder einer Pressluftflasche unter Druck steht - sie hat immer das Bestreben, zu entweichen), und je größer der Unterschied ist, desto höher wird die Windgeschwindigkeit.

Nebenbei bemerkt: Wie die meisten angehäuften Dinge, so wächst auch die Windenergie exponentiell mit der Windgeschwindigkeit. Wenn der Wind mit 200 Stundenkilometern weht, ist er also nicht zehnmal so stark wie ein Wind von 20 Stundenkilometern, sondern er hat die hundertfache Kraft, und entsprechend größer ist seine Zerstörungswirkung.16 Da es sich um viele Millionen Tonnen Luft handelt, können die Folgen verheerend sein. Ein tropischer Wirbelsturm setzt in 24 Stunden so viel Energie frei, wie ein reicher, mittelgroßer Staat -beispielsweise Großbritannien oder Frankreich - in einem Jahr verbraucht.

Dass die Atmosphäre bestrebt ist, Ausgleich zu schaffen, vermutete schon der allgegenwärtige Edmond Halley. Verfeinert wurden seine Vorstellungen im 18. Jahrhundert von seinem Landsmann, dem Briten George Hadley: Er erkannte, dass steigende und absinkende Luftsäulen so genannte »Zellen« entstehen lassen, die seither als »Hadley-Zellen« bekannt sind. Hadley war zwar Anwalt von Beruf, er interessierte sich aber brennend für das Wetter (schließlich war er Engländer) und äußerte auch bereits die Vermutung, zwischen seinen Zellen, der Erddrehung und den offenkundigen Luftströmungen der Passatwinde könne ein Zusammenhang bestehen. Die Einzelheiten dieser Wechsel-Wirkungen wurden jedoch 1835 von Gustave-Gaspard de Coriolis aufgeklärt, einem Professor für Ingenieurwesen an der Pariser Ecole Polytechnique, und deshalb sprechen wir seither vom Coriolis-Effekt. (Außerdem verschaffte Coriolis sich an seiner Hochschule einen besonderen Ruf, indem er dort offensichtlich die Wasserkühler einführte, die noch heute als Corios bekannt sind.19) Die Erde rotiert am Äquator mit flotten 1674 Stundenkilometern, aber je mehr man sich den Polen nähert, desto geringer wird diese Geschwindigkeit, und beispielsweise in London und Paris liegt sie nur noch bei knapp 1000 Stundenkilometern. Der Grund liegt auf der Hand, wenn man genauer darüber nachdenkt. Wenn wir am Äquator stehen, muss die rotierende Erde uns über eine Entfernung von rund 40000 Kilometern transportieren, bis wir wieder am gleichen Punkt ankommen. Stehen wir dagegen am Nordpol, brauchen wir uns nur wenige Meter fortzubewegen, um eine Umdrehung zu vollenden; dennoch dauert es in beiden Fällen 24 Stunden, bis wir wieder am Ausgangspunkt sind. Deshalb muss die Rotationsgeschwindigkeit umso größer sein, je näher man dem Äquator kommt.

Der Coriolis-Effekt ist auch die Erklärung für ein anderes Phänomen: Ein Gegenstand, der sich in gerader Linie rechtwinklig zur Erddrehung durch die Luft bewegt, scheint bei Betrachtung aus ausreichend großer Entfernung auf der Nordhalbkugel eine Rechts- und auf der Südhalbkugel eine Linkskurve zu beschreiben, weil die Erde sich unter ihm dreht. Um diesen Effekt zu verdeutlichen, stellt man sich in der Regel vor, dass man in der Mitte eines großen Karussells steht und jemandem am Rand einen Ball zuwirft. Bis der Ball an der Außenseite ankommt, scheint sich das Ziel weiterbewegt zu haben, und der Ball fliegt hinter ihm vorbei. Aus der Sicht der Zielperson hat der Ball sich in einer Kurve entfernt. Das ist der Coriolis-Effekt, der die Wettersysteme rotieren lässt und Hurrikane wie einen Kreisel in Drehung versetzt. Ebenso hat der Coriolis-Effekt zur Folge, dass die Kanonen von Kriegsschiffen nicht genau auf das Ziel, sondern ein wenig weiter nach links oder rechts eingestellt werden müssen) eine Granate, die 25 Kilometer weit fliegt, würde sonst den gewünschten Punkt um rund 100 Meter verfehlen und unverrichteter Dinge ins Meer stürzen.

Wenn man bedenkt, welche praktische und psychologische Bedeutung das Wetter für nahezu alle Menschen hat, ist es eigentlich verwunderlich, dass die Meteorologie erst kurz vor Beginn des 19. Jahrhunderts zu einer richtigen Wissenschaft wurde. (Den Begriff selbst gibt es allerdings schon seit 1626, als ein gewisser T. Granger ihn in einem Buch über Logik erstmals verwendete.)

Eine große Schwierigkeit bestand anfangs darin, dass Meteorologie sehr genaue Temperaturmessungen erfordert, und die Herstellung von Thermometern war lange Zeit erheblich problematischer, als man es sich heute oft vorstellt. Um eine genaue Ablesung zu ermöglichen, musste man ein Glasrohr mit gleichmäßigem Innendurchmesser herstellen, und das war nicht einfach. Der Erste, der das Problem löste, war der niederländische Instrumentenbauer Daniel Gabriel Fahrenheit. Er stellte 1717 ein genaues Thermometer her. Aus nicht geklärten Gründen eichte er sein Instrument jedoch so, dass der Gefrierpunkt des Wassers bei 32 und der Siedepunkt bei 212 Grad lag. Diese eigenartigen Zahlen galten von Anfang an vielfach als störend, und im Jahr 1742 schlug der schwedische Astronom Anders Celsius eine andere Skala vor. Wie als Beweis für die Behauptung, dass Erfinder nur selten alles richtig machen, legte Celsius den Siedepunkt auf Null und den Gefrierpunkt auf 100 Grad, aber das wurde schon wenig später umgedreht.

Als Vater der modernen Meteorologie wird meist der englische Apotheker Luke Howard genannt, der Anfang des 19. Jahrhunderts bekannt wurde. In Erinnerung blieb er vor allem, weil er 1803 den verschiedenen Wolkentypen ihren Namen gab. Howard war zwar ein aktives, angesehenes Mitglied der Linnaean Society und bediente sich in seinem System auch deren Prinzipien, aber als Forum, vor dem er seine neue Einteilung bekannt gab, wählte er die eher zweifelhafte Askesian Society. (Wie in einem früheren Kapitel bereits erwähnt wurde, gaben sich die Angehörigen dieser Gesellschaft besonders gern den Freuden des Stickoxids hin. Wir können also nur hoffen, dass sie Howards Vortrag mit der nüchternen Aufmerksamkeit verfolgten die er verdiente. In diesem Punkt schweigen sich die Fachleute die sich mit Howard beschäftigen, in der Regel aus.)

Howard teilte die Wolken in drei Gruppen ein: Stratusoder Schichtwolken, Cumulus- oder Haufenwolken und Cirrus- oder Federwolken - das sind die zarten, sehr hohen Wolkenformationen, die in der Regel kühleres Wetter ankündigen. Später nahm er als vierte Kategorie noch die Nimbus- oder Regenwolken hinzu. Das Schöne an Howards System war, dass man die Grundbegriffe beliebig kombinieren und damit jede Wolke nach Form und Größe beschreiben konnte: Stratocumulus, Cirrostratus, Cumulocongestus und so weiter. Die Einteilung setzte sich sofort durch, und das nicht nur in England. Auch Johann Wolfgang von Goethe war davon so angetan, dass er Howard vier Gedichte widmete.

Howards Einteilung wurde im Laufe der Jahre stark erweitert: Der dicke, allerdings selten gelesene International Cloud Atlas umfasst zwei Bände, aber interessanterweise haben sich fast alle Wolkentypen, die erst nach Howard eingeführt wurden - Mammatus, Pileus, Nebulosis, Spissatus, Floccus, Mediocris und andere -außerhalb der Meteorologenkreise nie durchgesetzt, und auch dort sind sie, wie ich gehört habe, nicht sonderlich beliebt. Übrigens teilte die erste, viel dünnere Ausgabe des Atlas, die 1896 erschien, die Wolken in zehn Grundtypen ein, und die dickste, die am ehesten wie ein Kissen aussah, war die Cumulonimbuswolke mit der Nummer Neun." Dies war offensichtlich der Grund, warum man nach einem geflügelten Wort im Englischen »auf Wolke neun« schwebt (im Deutschen schweben wir allerdings eher auf Wolke sieben).

In den ambossförmigen Gewitterwolken geht es manchmal wild und turbulent zu, aber in der Regel sind Wolken eigentlich etwas Gutartiges und erstaunlich Körperloses. Eine flauschige sommerliche Cumuluswolke mit einer Ausdehnung von mehreren 100 Metern enthält unter Umständen nicht mehr als 100 Liter Wasser - nach Angaben von James Trefil ungefähr so viel, dass man eine Badewanne damit füllen könnte.25 Ein Gespür für die Materielosigkeit von Wolken kann man sich verschaffen, wenn man durch Nebel geht - der ist letztlich nichts anderes als eine Wolke, die nicht aufsteigen will. Oder, um noch einmal Trefil zu zitieren: »Wenn man 100 Meter durch typischen Nebel geht, kommt man nur mit knapp zehn Kubikzentimetern Wasser in Berührung - nicht einmal genug für einen anständigen Drink.« Entsprechend sind Wolken keine großen Wasserspeicher. Nur rund 0,03 Prozent aller Süßwasservorräte der Erde schweben über uns in der Luft.

Das weitere Schicksal eines Wassermoleküls kann sehr

* An den Cumuluswolken fallen besonders die scharfen, gut abgegrenzten Ränder auf, im Gegensatz zu den verwaschenen Konturen anderer Wolken. Dies liegt daran, dass es bei Cumuluswolken eine klare Grenze zwischen dem feuchten Inneren der Wolke und der äußeren, trockenen Luft gibt. Jedes Wassermolekül, das in den Bereich außerhalb der Wolke gerät, wird sofort von der trockenen Luft aufgenommen, sodass die Wolke ihre scharfen Kanten behält. Die viel höheren Cirruswolken dagegen bestehen aus Eis, und hier ist die Zone zwischen dem Rand der Wolke und der Luft in ihrer Umgebung nicht so klar definiert; deshalb sind ihre Ränder eher verschwommen.


unterschiedlich aussehen, je nachdem, wo es zu Boden fällt. Landet es auf fruchtbarem Boden, wird es von den Pflanzen aufgenommen, oder es verdunstet innerhalb weniger Stunden oder Tage wieder. Findet es aber den Weg ins Grundwasser, kommt es unter Umständen viele Jahre lang nicht wieder ans Tageslicht - aus großer Tiefe taucht es oft sogar erst nach Jahrtausenden wieder auf. Wenn wir an einem See stehen, betrachten wir eine Ansammlung von Molekülen, die sich im Durchschnitt seit ungefähr zehn Jahren dort befinden. Im Ozean liegt die Verweildauer vermutlich eher bei 100 Jahren. Insgesamt kehren nach einem Regen etwa 60 Prozent der Wassermoleküle innerhalb von ein bis zwei Tagen wieder in die Atmosphäre zurück. Nach dem Verdunsten bleiben sie meist nur eine Woche - Drury spricht von zwölf Tagen - in der Luft und fallen dann erneut als Niederschlag herab.

Verdunstung ist ein schneller Vorgang - das erkennt man sofort, wenn man an einem Sommertag die Pfützen betrachtet, Selbst ein so großes Gewässer wie das Mittelmeer würde innerhalb von 1000 Jahren austrocknen, wenn es keine Zuflüsse hätte.28 Genau das geschah vor knapp sechs Millionen Jahren; die Folge war die »messinische Salinitätskrise«, wie sie in der Wissenschaft genannt wird. Zuvor hatte sich durch die Bewegung der Kontinente die Straße von Gibraltar geschlossen. Das verdunstete Wasser aus dem Mittelmeer fiel als Niederschlag in andere Meere und verursachte eine geringfügige Verminderung ihres Salzgehalts - das Wasser wurde gerade so stark verdünnt, dass größere Flächen zufrieren konnten. Die Eisflächen reflektierten mehr Sonnenwärme, und auf der Erde setzte eine Eiszeit ein. Soweit jedenfalls die Theorie.

Eines aber ist nach heutiger Kenntnis gesichert: Schon eine kleine Veränderung in den dynamischen Abläufen auf der Erde kann Auswirkungen haben, die alle unsere Fantasien übersteigen. Wie wir in Kürze noch genauer erfahren werden, sind wahrscheinlich auch wir selbst durch ein solches Ereignis entstanden.

Der eigentliche Motor für die Vorgänge an der Erdoberfläche sind die Ozeane. In der Meteorologie betrachtet man Meere und Atmosphäre mittlerweile sogar immer stärker als ein einziges System, und deshalb müssen wir uns hier auch mit ihnen ein wenig beschäftigen. Wasser kann Wärme hervorragend festhalten und transportieren. Die Wärmemenge, die der Golfstrom jeden Tag nach Europa trägt, ist ebenso groß wie jene, die auf der ganzen Erde im Laufe von zehn Jahren durch Verbrennung von Kohle erzeugt wird, und sie ist der Grund, warum der Winter in Großbritannien und Irland im Vergleich zu Kanada und Russland so mild ist.

Aber Wasser erwärmt sich auch langsam - deshalb sind Seen und Swimmingpools selbst an heißen Tagen noch kühl. Aus dem gleichen Grund besteht in der Regel eine Diskrepanz zwischen dem offiziellen, astronomischen Beginn einer Jahreszeit und dem Eindruck, dass diese Jahreszeit tatsächlich angefangen hat. Der Frühling beispielsweise beginnt auf der Nordhalbkugel eigentlich im März, aber in den meisten Regionen hat man frühestens im April diesen Eindruck.

Die Ozeane sind keine einheitliche Wassermasse. Temperatur, Salzgehalt, Tiefe, Dichte und andere Eigenschaften schwanken stark; diese Unterschiede haben große Auswirkungen auf den Wärmetransport, und der wiederum beeinflusst das Klima. Der Atlantik enthält beispielsweise mehr Salz als der Pazifik, und das ist auch gut so. Da Wasser bei höherem Salzgehalt dichter ist, sinkt es nach unten. Ohne den zusätzlichen Salzballast würden die Meeresströmungen aus dem Atlantik sich bis in das Nordpolargebiet fortsetzen, und Europa müsste auf die angenehme Wärme verzichten. Die wichtigste Triebkraft des Wärmetransports auf der Erde ist der so genannte thermohaline Kreislauf, der seinen Ursprung in den langsamen Tiefenströmungen weit unter der Meeresoberfläche hat, ein Vorgang, den der Wissenschaftler und Abenteurer Graf von Rumford 1792 *

entdeckte. Wenn das Oberflächenwasser in die Nähe des europäischen Kontinents gelangt, wird es dichter und sinkt in größere Tiefen ab, wo es dann langsam wieder in Richtung der Südhalbkugel wandert. In der Antarktis angekommen, wird es durch die antarktische Zirkum-polarströmung eingefangen und weiter in den Pazifik getrieben. Das Ganze läuft sehr langsam ab - bis das Wasser vom Nordatlantik in die Mitte des Pazifiks gelangt ist, können 1500 Jahre vergehen -, aber dabei sind beträchtliche Wasser- und Wärmemengen in Bewegung, sodass sich ein gewaltiger Einfluss auf das Klima ergibt.

(Natürlich stellt sich die Frage, wie man herausfinden kann, wie lange ein Tropfen Wasser von einem Ozean in den anderen braucht. Die Antwort: Man kann im Wasser die Konzentration der Fluorchlorkohlenwasserstoffe und

* Der Begriff hat offenbar mehrere Bedeutungen. Im November 2002 veröffentlichte Carl Wunsch vom Massachusetts Institute of Technology in der Fachzeitschrift Science einen Bericht mit dem Titel »What Is the Thermohaline Circulation?« (»Was ist der thermohaline Kreislauf?«) Darin stellte er fest, dass der Ausdruck in führenden Fachzeitschriften auf mindestens sieben unterschiedliche Phänomene angewandt wird (Kreislauf in großer Tiefe, Kreislauf der durch Dichteunterschiede angetrieben wird, »meridionale Masseumwälzung«, und so weiter), Allerdings haben alle mit den Kreisläufen im Ozean und dem Wärmetransport zu tun, und in diesem unbestimmten, umfassenden Sinn verwende auch ich ihn hier.


andere Verbindungen messen und dann den Zeitraum berechnen, seit sie zum letzten Mal in der Luft waren. Durch Vergleich zahlreicher Messungen aus unterschiedlichen Tiefen und Regionen erhält man dann ein recht zuverlässiges Bild von den Bewegungen des Wassers. )

Durch den thermohalinen Kreislauf wird nicht nur Wärme transportiert, sondern die aufsteigenden und absinkenden Strömungen wirbeln auch Nährstoffe auf, sodass ein größeres Volumen des Ozeans für Fische und andere Meereslebewesen bewohnbar wird. Leider reagiert der Kreislauf aber anscheinend auch sehr empfindlich auf Veränderungen. Glaubt man den Computersimulationen, bringt schon eine geringfügige Verringerung des Salzgehalts in den Weltmeeren - beispielsweise durch das Abbauen der Eiskappe in Grönland - den Kreislauf auf verheerende Weise durcheinander.

Das Meer tut uns noch einen anderen großen Gefallen. Es nimmt riesige Mengen an Kohlenstoff auf und räumt ihn auf diese Weise aus dem Weg. Es gehört zu den seltsamen Eigenschaften unseres Sonnensystems, dass die Sonne heute um rund 25 Prozent heller leuchtet als in der Frühzeit der Planeten. Dies müsste eigentlich dazu geführt haben, dass die Erde heute viel wärmer ist. Der englische Geologe Aubrey Manning meinte sogar: »Dieser ungeheuer große Wandel müsste eigentlich katastrophale Auswirkungen auf die Erde gehabt haben, und doch sieht es aus, als habe er unsere Welt kaum beeinflusst.«

Was also hält die Erde so stabil und kühl?

Die Antwort: das Leben. Billionen und Aberbillionen winzige Meereslebewesen, von denen die meisten Menschen noch nie etwas gehört haben - Foraminiferen, Kokkolithen und Kalkalgen -, fangen den Kohlenstoff aus der Atmosphäre in Form von Kohlendioxid ein, wenn er mit dem Regen ins Meer fällt, und nutzen ihn (in Verbindung mit anderen Materialien) zum Aufbau ihrer winzigen Gehäuse. Auf diese Weise gebunden, kann der Kohlenstoff nicht wieder durch Verdunstung in die Atmosphäre gelangen, wo er sich sonst in gefährlichem Umfang als Treibhausgas ansammeln würde. All die winzigen Foraminiferen, Kokkolithen und so weiter sterben am Ende ab und sinken auf den Meeresboden, wo sie zu Kalkstein zusammengepresst werden. Es ist ein bemerkenswerter Gedanke: Wenn man ein Naturwunder wie die weißen Klippen bei Dover in England betrachtet, hat man in Wirklichkeit nichts anderes vor Augen als winzige Meereslebewesen längst vergangener Zeiten. Noch bemerkenswerter ist aber die riesige Kohlenstoffmenge, die sie gebunden haben. Ein Kalksteinwürfel aus Dover mit einer Kantenlänge von 15 Zentimetern enthält weit über 1000 Liter zusammengepresstes Kohlendioxid, das für uns sonst alles andere als nützlich wäre. Insgesamt ist im Gestein der Erde rund 20000-mal so viel Kohlenstoff gebunden wie in der Atmosphäre. Große Teile des Kalksteins verbrennen schließlich in Vulkanen, und dann kehrt der Kohlenstoff in die Atmosphäre zurück, um erneut mit dem Regen zur Erde zu fallen - das ist der Grund, warum man den ganzen Vorgang als langfristigen Kohlenstoffzyklus bezeichnet. Langfristig ist er wirklich: Um ihn zu durchlaufen, braucht ein Kohlenstoffatom im Durchschnitt eine halbe Million Jahre. Solange störende Einflüsse fehlen, trägt er bemerkenswert stark dazu bei, das Klima stabil zu halten.

Leider neigen die Menschen aber in ihrer Achtlosigkeit dazu, diesen Zyklus zu beeinträchtigen: Wir setzen zusätzlich große Kohlenstoffmengen in die Atmosphäre frei, ohne uns darum zu kümmern, ob die Foraminiferen sie bewältigen können. Seit 1850 sind auf diese Weise nach Schätzungen rund 100 Milliarden Tonnen Kohlenstoff zusätzlich in die Luft gelangt, und diese Menge wächst derzeit jedes Jahr um rund sieben Milliarden Tonnen an. Insgesamt ist das eigentlich nicht besonders viel. Auf natürlichem Wege nimmt die Atmosphäre - vor allem durch Vulkane und verwesende Pflanzen - jährlich rund 200 Milliarden Tonnen Kohlenstoff auf, fast das Dreißigfache dessen, was wir mit unseren Autos und Fabriken produzieren. Aber wir müssen uns nur den Smog ansehen, der so häufig über unseren Städten hängt, dann wissen wir, welche Bedeutung unser Beitrag hat.

Aus sehr alten Eisproben wissen wir, dass die »natürliche« Kohlendioxidkonzentration in der Atmosphäre - das heißt die Konzentration vor Beginn unserer industriellen Aktivität - ungefähr 280 Parts per Million betrug.34 Im Jahr 1958, als Wissenschaftler sich erstmals mit dem Thema beschäftigten, war sie bereits auf 315 Parts per Million angestiegen. Heute liegt sie bei über 360 Parts per Million, und sie steigt immer noch um rund ein Viertelprozent im Jahr. Gegen Ende des 21. Jahrhunderts wird sie Voraussagen zufolge einen Wert von 560 Parts per Million erreichen.

Bisher ist es der Erde mit ihren Ozeanen und Wäldern (die ebenfalls eine Menge Kohlenstoff beseitigen) gelungen, uns vor uns selbst zu schützen, aber Peter Cox vom britischen Wetterdienst meint: »Es gibt eine kritische Schwelle. Oberhalb davon schützt die natürliche Biosphäre uns nicht mehr vor den Auswirkungen unserer Emissionen, sondern sie verstärkt sie sogar.«

Man fürchtet, dass es dann zu einer plötzlichen, unkontrollierten Beschleunigung der globalen Erwärmung kommt. Viele Bäume und andere Pflanzen, die sich nicht so schnell anpassen können, würden dann absterben, den in ihnen gespeicherten Kohlenstoff freisetzen und damit das Problem weiter verschärfen. Solche Kreisläufe sind in entfernter Vergangenheit hin und wieder auch ohne Zutun des Menschen abgelaufen. Das Gute dabei ist, dass die Natur sich immer wieder selbst hilft. Mit ziemlicher Sicherheit würde der Kohlenstoffzyklus sich am Ende einpendeln, und die Erde würde in eine Situation angenehmer Stabilität zurückkehren. Als so etwas das letzte Mal geschah, dauerte es nur 60000 Jahre.

18. Die elementare Verbindung

Stellen wir uns einmal vor, wir lebten in einer Welt, die von Diwasserstoffoxid beherrscht wird, einer geschmack-und geruchlosen Verbindung mit so vielfältigen Eigenschaften, dass sie in der Regel harmlos ist, manchmal aber auch sehr schnell tödlich wirken kann.1 Je nachdem, in welchem Zustand sie sich befindet, können wir uns daran verbrennen oder erfrieren. Sind zusätzlich bestimmte organische Moleküle vorhanden, bildet sie bösartige Carbonsäuren, die das Laub von den Bäumen fallen lassen und steinernen Statuen die Gesichter zerfressen. Wird sie in großen Mengen aufgewühlt, schlägt sie unter Umständen mit solcher Gewalt zu, dass kein von Menschen gemachtes Gebäude ihr widerstehen kann. Selbst für jene, die gelernt haben, mit ihr zu leben, ist sie häufig eine Mördersubstanz. Wir nennen sie Wasser.

Wasser ist überall. Eine Kartoffel besteht zu 80 Prozent aus Wasser, eine Kuh zu 74, ein Bakterium zu 75 Prozent.2 Eine Tomate ist mit 95 Prozent eigentlich kaum etwas anderes als Wasser. Selbst bei uns Menschen macht das Wasser 65 Prozent aus, das heißt, wir sind im Verhältnis von fast zwei zu eins mehr Flüssigkeit als Festsubstanz. Wasser ist ein seltsamer Stoff. Es ist formlos und durchsichtig, und doch sehnen wir uns danach, in seiner Nähe zu sein. Es hat keinen Geschmack, und doch lieben wir seinen Geschmack. Wir reisen über große Entfernungen und bezahlen ein kleines Vermögen dafür, um es im Sonnenlicht zu sehen. Und obwohl wir wissen, dass es gefährlich ist und dass jedes Jahr Zehntausende von Menschen ertrinken, können wir es nicht erwarten, darin herumzutollen.

Da Wasser so allgegenwärtig ist, übersehen wir häufig seine wahrhaft außergewöhnlichen Eigenschaften. Fast nichts davon ist geeignet, zuverlässige Aussagen über andere Flüssigkeiten zu machen, und umgekehrt. Wenn wir nichts über das Wasser wüssten und unsere Annahmen auf das Verhalten der Verbindungen stützen würden, die ihm chemisch am stärksten ähneln - insbesondere Wasserstoffselenid und Schwefelwasserstoff -, würden wir damit rechnen, dass es bei minus 93 Grad siedet und bei Zimmertemperatur ein Gas ist.

Die meisten Flüssigkeiten ziehen sich beim Abkühlen um bis zu zehn Prozent zusammen. Das gilt auch für das Wasser, aber nur bis zu einer bestimmten Grenze. Knapp oberhalb des Gefrierpunktes dehnt es sich wieder aus -eine paradoxe, rätselhafte, äußerst unwahrscheinliche Eigenschaft. Wenn es fest wird, ist sein Volumen um fast ein Zehntel größer als zuvor.4 Wegen dieser Ausdehnung schwimmt Eis auf dem Wasser - »eine ganz und gar bizarre Eigenschaft«, wie John Gribbin es formuliert.5 Ohne diese reizvolle Besonderheit würde Eis nach unten sinken, Seen und Ozeane würden von unten nach oben zufrieren. Ohne Oberflächeneis, das die Wärme festhält, würde diese aus dem Wasser entweichen, sodass es sich noch stärker abkühlt und mehr Eis entsteht. Dann würden auch die Ozeane schnell zufrieren und mit ziemlicher Sicherheit sehr lange in diesem Zustand bleiben, vielleicht sogar für immer - kaum die richtige Voraussetzung für das Leben. Wir können dankbar dafür sein, dass das Wasser sich scheinbar weder um die Regeln der Chemie noch um physikalische Gesetze kümmert.

Wasser hat die allgemein bekannte chemische Formel H2O, das heißt, es besteht aus einem relativ großen Sauerstoffatom, an das zwei kleinere Wasserstoffatome angeheftet sind. Die Wasserstoffatome halten sich eisern an ihrem zugehörigen Sauerstoff fest, gehen aber auch lockere Verbindungen zu anderen Wassermolekülen ein. Auf Grund seines Aufbaus beteiligt sich jedes Wassermolekül gewissermaßen an einem Tanz mit anderen Wassermolekülen: Immer wieder geht es eine kurze Paarung ein und wandert dann weiter wie die ständig wechselnden Partner in einer Quadrille, um eine hübsche Formulierung von Robert Kunzig zu übernehmen.6 Ein Glas Wasser mag nicht sonderlich lebendig wirken, aber in Wirklichkeit wechselt jedes Molekül darin mehrere Milliarden Mal in der Sekunde den Partner. Das ist der Grund, warum Wassermoleküle aneinander haften und Gebilde wie Pfützen und Seen bilden; andererseits ist die Bindung aber nicht besonders fest und lässt sich leicht trennen, beispielsweise wenn man in ein Gewässer eintaucht. Zu jedem einzelnen Zeitpunkt stehen nur jeweils 15 Prozent der Moleküle tatsächlich untereinander in Berührung.

In einem gewissen Sinn ist es eine sehr starke Bindung -deshalb können Wassermoleküle bergauf fließen, wenn man sie ansaugt, und die Wassertropfen auf der Motorhaube eines Autos zeigen eine einzigartige Entschlossenheit, mit ihren Partnern kleine Perlen zu bilden. Ebenso ist es die Ursache für die Oberflächenspannung des Wassers. Die Moleküle an der Oberfläche werden von ihren gleichartigen, unteren und seitlichen Nachbarn stärker angezogen als von den Luftmolekülen über ihnen. So entsteht eine Art Häutchen, das kräftig genug ist, um Insekten zu tragen und Steine abprallen zu lassen.

Dass wir ohne Wasser zu Grunde gehen würden, brauche ich wohl nicht besonders zu erwähnen. Fehlt es, verfällt der menschliche Organismus sehr schnell. Schon nach wenigen Tagen verschwinden die Lippen, »als wären sie amputiert, das Zahnfleisch wird schwarz, die Nase schrumpft auf die Hälfte ihrer Länge, und die Haut zieht sich rund um die Augen so straff zusammen, dass man nicht mehr blinzeln kann«. Wasser ist für uns derart unentbehrlich, dass man eine wichtige Tatsache leicht übersieht: Mit Ausnahme eines sehr kleinen Anteils ist das Wasser auf der Erde für uns Gift - und zwar ein tödliches. Das liegt an dem Salz, das es enthält.

Zum Leben brauchen wir zwar Salz, aber nur in sehr geringen Mengen. Meerwasser enthält viel zu viel davon: etwa das 70-fache der Menge, die unser Stoffwechsel gefahrlos verarbeiten kann. In einem Liter sind durchschnittlich nur ungefähr zweieinhalb Teelöffel normales Kochsalz gelöst,9 jene Verbindung, die wir uns auch auf das Essen streuen. In viel größeren Mengen enthält das Meerwasser aber andere Elemente, Verbindüngen und gelöste Feststoffe, die man zusammenfassend ebenfalls als Salze bezeichnet. Der Anteil dieser Salze und Mineralstoffe in unserer Körperflüssigkeit ist dem im Meerwasser gespenstisch ähnlich - beim Schwitzen und Weinen geben wir Meerwasser ab, wie Margulis und Sagan es formulieren -, aber seltsamerweise vertragen wir es nicht, sie direkt zu uns zu nehmen.10 Wenn zu viel Salz in den Organismus gelangt, tritt sehr schnell eine Stoffwechselkrise ein. Aus allen Zellen strömen die Wassermoleküle herbei wie freiwillige Feuerwehrleute, um den plötzlichen Salzüberschuss zu verdünnen und abzutransportieren. In den Zellen führt das zu einem gefährlichen Mangel an dem Wasser, das sie zur Ausführung ihrer normalen Funktionen brauchen. Sie werden dehydriert, um den Fachausdruck zu gebrauchen. Im Extremfall führt der Wassermangel zu Krampfanfällen, Bewusstlosigkeit und Gehirnschäden. Gleichzeitig transportieren die überforderten Blutzellen das Salz zu den Nieren, die schließlich ebenfalls überlastet sind und ihre Tätigkeit einstellen. Wenn die Nieren nicht mehr funktionieren, stirbt man. Das ist der Grund, warum wir kein Meerwasser trinken.

Es gibt auf der Erde rund 1,33 Milliarden Kubikkilometer Wasser, und mehr wird es auch nie werden.11 Das System ist geschlossen: Es kann praktisch nichts hinzukommen oder verschwinden. Das Wasser, das wir heute trinken, existiert und erfüllt seine Aufgaben, seit die Erde jung war. Schon vor 3,8 Milliarden Jahren hatten die Ozeane (zumindest mehr oder weniger) ihr heutiges Volumen erreicht.

Die Gesamtmasse des Wassers auf der Erde, auch Hydrosphäre genannt, befindet sich zum allergrößten Teil in den Ozeanen. 97 Prozent sind Meerwasser, der größte Teil davon im Pazifik, der die Hälfte des Globus bedeckt und größer ist als sämtliche Landmassen zusammen. Insgesamt enthält der Pazifik ein wenig mehr als die Hälfte des gesamten Ozeanwassers (51,6 Prozent, um genau zu sein); im Atlantik sind es 23,6 und im Indischen Ozean 21,2 Prozent, sodass nur 3,6 Prozent für alle anderen Meere übrig bleiben. Die durchschnittliche Tiefe der Ozeane liegt bei 3900 Metern, im Pazifik sind es dabei durchschnittlich rund 300 Meter mehr als im Atlantik und im Indischen Ozean. Rund 60 Prozent der Erde sind von Ozean mit einer Tiefe von mehr als 1600 Metern bedeckt. Wie Philip Ball ganz richtig bemerkt, sollten wir unseren Planeten eigentlich nicht Erde, sondern Wasser nennen.14

Von den drei Prozent des Wassers, die Süßwasser sind, ist der größte Teil in den Eiskappen gebunden.15 Nur eine winzige Menge - 0,036 Prozent - befindet sich in Seen, Flüssen und anderen Gewässern, und ein noch kleinerer Teil von nur 0,001 Prozent hat die Form von Wolken oder Wasserdampf. Die Eismassen der Erde befinden sich zu fast 90 Prozent in der Antarktis, der Rest zum größten Teil in Grönland. Am Südpol steht man auf einer Eisschicht von fast drei Kilometern Dicke, am Nordpol sind es nur viereinhalb Meter.16 In der Antarktis liegen rund 25 Millionen Kubikmeter Eis, genug, damit der Meeresspiegel um 60 Meter ansteigen würde, wenn alles schmilzt. Würde dagegen das gesamte Wasser aus der Atmosphäre gleichmäßig verteilt als Regen fallen, würden die Ozeane nur um zweieinhalb Zentimeter tiefer.

Der Meeresspiegel ist übrigens fast ausschließlich ein theoretischer Begriff. Die Ozeane haben keine gleichmäßig hohe Oberfläche. Gezeiten, Wind, Corioliskraft und andere Effekte verursachen von einem Ozean zum anderen und auch innerhalb der einzelnen Ozeane beträchtliche Schwankungen des Wasserspiegels. Der Pazifik steht an seinem Westrand knapp einen halben Meter höher - eine Folge der Zentrifugalkraft, die durch die Erddrehung entsteht. Sie wirkt ganz ähnlich, als wenn man eine Wanne mit Wasser auf einer Seite anhebt: Das Wasser fließt ans andere Ende. Nach dem gleichen Prinzip türmt auch die nach Osten gerichtete Drehung der Erde das Wasser am Westrand des Ozeans auf.

Wenn man bedenkt, welch große Bedeutung die Meere seit alters her für uns haben, ist es eigentlich erstaunlich, dass das wissenschaftliche Interesse an ihnen erst so spät erwachte. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein stammten unsere Kenntnisse über die Ozeane fast ausschließlich aus dem, was an die Küste gespült wurde oder mit Fischernetzen ans Licht kam, und nahezu alle schriftlichen Berichte stützten sich mehr auf Anekdoten und Vermutungen als auf handfeste Belege. In den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts vermaß der britische Naturforscher Edward Forbes den Boden von Atlantik und Mittelmeer, und anschließend erklärte er, es gebe in mehr als 600 Metern Tiefe keinerlei Leben. Diese Annahme erschien durchaus vernünftig. In derartige Tiefen dringt kein Licht vor, sodass Pflanzen dort nicht existieren können, und man wusste, dass auch der Wasserdruck extrem hoch ist. Deshalb war man überrascht, als man 1860 eines der ersten Transatlantikkabel zu Reparaturarbeiten aus mehr als 3000 Metern Tiefe an die Oberfläche holte: Es war dick mit Korallen, Muscheln und anderen Lebewesen verkrustet.

Die systematische Erforschung der Meere begann erst 1872. In diesem Jahr machte sich eine Gemeinschaftsexpedition des Britischen Museums, der Royal Society und der britischen Regierung mit dem früheren Kriegsschiff HMS Challenger von Portsmouth aus auf den Weg. Dreieinhalb Jahre lang fuhren die Wissenschaftler rund um die Welt, entnahmen Wasserproben, fingen Fische ein und zogen einen Schleppkasten durch das Sediment. Es waren offensichtlich sehr zermürbende Arbeiten. Von der Besatzung, insgesamt 240 Wissenschaftler und Mannschaftsmitglieder, verließ jeder Vierte im Laufe der Reise das Schiff, und acht weitere starben oder wurden verrückt, »von der nervtötenden Eintönigkeit des jahrelangen Schleppnetzfischens zur Verzweiflung getrieben«, so eine Formulierung der Historikerin Samantha Weinberg. Aber sie legten fast 70000 Seemeilen zurück,19 sammelten mehr als 4700 neue Arten von Meerestieren und gewannen derart viele Erkenntnisse, dass sie einen 50-bändigen Bericht verfassen konnten (dessen Fertigstellung 19 Jahre in Anspruch nahm). Damit hatten sie eine ganz neue Wissenschaftsdisziplin geschaffen: die Meeresforschung oder Ozeanografie. Außerdem entdeckten sie durch Tiefenmessungen, dass es in der Mitte des Atlantiks offensichtlich unterseeische Gebirge gibt, was einige aufgeregte Autoren zu der Vermutung veranlasste, man habe den versunkenen Kontinent Atlantis gefunden.

Da die etablierte Wissenschaft das Meer zum größten Teil nicht zur Kenntnis nahm, blieb es sehr wenigen engagierten Amateuren überlassen, Auskunft über die unterseeische Welt zu geben. Die moderne Tiefseeforschung begann 1930 mit Charles William Beebe und Oris Barton. Beide waren zwar gleichberechtigte Partner, aber die größere Aufmerksamkeit der Geschichtsschreibung erregte stets Beebe, der die farbigere Gestalt war. Er wurde 1877 als Sohn einer wohlhabenden Familie in New York geboren, studierte Zoologie an der Columbia University und nahm dann bei der New Yorker Zoological Society eine Stelle als Vogelwärter an. Als er dieser Tätigkeit überdrüssig war, entschloss er sich zu einem Leben als Abenteurer, und während der nächsten 25 Jahre unternahm er ausgedehnte Reisen durch Asien und Südamerika. Dabei wurde er nacheinander von verschiedenen attraktiven Assistentinnen begleitet, die er fantasievoll als »Historikerin und Technikerin« oder als »Assistentin für Fischprobleme« bezeichnete.20 Zur Finanzierung der Unternehmungen schrieb er mehrere populärwissenschaftliche Bücher mit Titeln wie Edge of the Jungle und Jungle Days, er verfasste aber auch einige ansehnliche Fachbücher über wilde Tiere und Ornithologie.

Mitte der zwanziger Jahre entdeckte er während einer Reise auf die Galapagosinseln »den Genuss des Baumelns« - so seine Beschreibung des Tiefseetauchens. Wenig später tat er sich mit Barton zusammen, der aus einer noch reicheren Familie stammte, ebenfalls die Columbia University besucht hatte und sich nach Abenteuern sehnte. Das Verdienst wird zwar fast immer Beebe zugeschrieben, in Wirklichkeit war aber Barton derjenige, der die erste Bathysphäre (nach den griechischen Worten für »Tiefe« und »Kugel« ) entwarf und ihren Bau mit 12000 Dollar finanzierte. Es war eine winzige, zwangsläufig sehr widerstandsfähige Kammer aus vier Zentimeter dickem Gusseisen und zwei kleinen Bullaugen, in die siebeneinhalb Zentimeter dicke Quarzblöcke eingelassen waren. Die Bathysphäre bot zwei Personen Platz, die allerdings bereit sein mussten, sich sehr eng zusammenzudrängen. Es war selbst nach den Maßstäben jener Zeit keine sonderlich hoch entwickelte Technologie. Die Tauchkugel ließ sich nicht manövrieren - sie hing einfach an einem langen Drahtseil - und hatte ein höchst primitives Belüftungssystem. Zur Neutralisierung des ausgeatmeten Kohlendioxids dienten offene Gefäße mit gebranntem Kalk, und um die Feuchtigkeit zu beseitigen, öffneten die Insassen eine kleine Wanne mit Calciumchlorid, über der sie manchmal Palmwedel hin und her bewegten, um die chemischen Reaktionen zu beschleunigen.

Aber die namenlose kleine Bathysphäre erfüllte ihre Aufgabe. Der erste Tauchgang fand im Juni 1930 auf den Bahamas statt, und dabei stellten Barton und Beebe mit 200 Metern einen neuen Tiefenrekord auf. Bis 1934 hatten sie den Rekord bereits auf fast 1000 Meter hochgetrieben, und dort blieb er bis nach dem Krieg. Barton war sicher, dass man mit dem Gerät ohne Gefahr auch 1500 Meter erreichen konnte, aber mit jedem Meter, den sie weiter in die Tiefe vordrangen, war die Belastung der Bolzen und Nieten deutlicher zu hören. Es war in jeder Tiefe eine tapfere, mutige Arbeit. Bei 1000 Metern lastete auf jedem Quadratzentimeter ihrer kleinen Bullaugen bereits ein Druck von fast drei Tonnen. In dieser Tiefe drohte ihnen jeden Augenblick der Tod, das betonte Beebe in seinen vielen Büchern, Zeitschriftenartikeln und Radiosendungen immer wieder. Ihre größte Sorge bestand aber darin, dass die Winde auf dem Schiff unter der Belastung durch die Stahlkugel und ein Stahlkabel von zwei Tonnen Gewicht brechen und die beiden Männer auf den Meeresboden sinken lassen könnte. In diesem Fall hätte es keine Rettung gegeben.

Allerdings lieferten die Tauchgänge kaum handfeste wissenschaftliche Erkenntnisse. Die beiden beobachteten zwar viele Lebewesen, die sie nie zuvor gesehen hatten, aber da die Sichtverhältnisse so schlecht waren und keiner der beiden unerschrockenen Aquanauten über eine Ausbildung als Meeresforscher verfügte, konnten sie ihre Befunde häufig nicht in den Einzelheiten beschreiben, nach denen die echten Wissenschaftler verlangten. Die Tauchkugel hatte keinen Außenscheinwerfer, sondern sie konnten nur eine 250-Watt-Lampe in das Fenster halten. In mehr als 150 Metern Tiefe herrscht aber ohnehin praktisch undurchdringliche Dunkelheit, und außerdem starrten sie durch siebeneinhalb Zentimeter Quarz. Wenn sie also etwas sehen wollten, musste dieses Etwas an ihnen fast ebenso viel Interesse haben wie sie an ihm. Letztlich konnten sie nur berichten, dass es da unten eine Menge seltsamer Dinge gab. Im Jahr 1934 erspähte Beebe bei einem Tauchgang zu seiner großen Verblüffung eine Riesenschlange »von mehr als sechs Metern Länge und großer Breite«. Sie schwamm so schnell vorüber, dass er eigentlich nur einen Schatten sah. Was immer es auch gewesen sein mag, etwas Ähnliches hat seitdem nie wieder jemand beobachtet. Ihre Berichte waren also so unbestimmt, dass sie von der Wissenschaft in der Regel kaum beachtet wurden.23

Nach ihrem Rekord-Tauchgang im Jahre 1934 verlor Beebe das Interesse an der Tiefsee und wandte sich anderen Abenteuern zu. Barton jedoch machte weiter. Zu Beebes Ehre muss man anmerken, dass er immer erklärte, Barton sei der eigentliche Kopf ihres Unternehmens, aber dieser war offensichtlich nicht in der Lage, aus dem Schatten seines Kollegen zu treten. Allerdings schrieb Barton ebenfalls spannende Berichte über ihre Unterwasserabenteuer, und er trat sogar in einem Hollywoodfilm mit dem Titel Titans of the Deep auf. Darin kamen eine Bathysphäre und zahlreiche spannende, im Wesentlichen erfundene Begegnungen mit aggressiven Riesenkraken und ähnlichen Tieren vor. Er machte sogar Reklame für Camel-Zigaretten ( »Damit zittern meine Nerven nicht mehr« ). Im Jahr 1948 erhöhte er den Tiefenrekord im Pazifik vor Kalifornien um 50 Prozent auf 1500 Meter, aber die Welt war offenbar auch jetzt noch entschlossen, ihn zu übersehen. Ein Zeitungskritiker hielt sogar Beebe für den Hauptdarsteller des Films Titans of the Deep. Heute könnte Barton von Glück sagen, wenn er überhaupt noch erwähnt wird.

Aber ohnehin wurde er schließlich durch ein VaterSohn-Gespann aus der Schweiz völlig in den Schatten gestellt. Auguste und Jacques Piccard konstruierten ein völlig neues Tauchfahrzeug, das sie Bathyscaph ( »Tiefenboot« ) nannten. Nach der italienischen Stadt, in der es gebaut wurde, tauften sie es auf den Namen Trieste. Das neue Gerät ließ sich unabhängig manövrieren, im Wesentlichen allerdings nur nach oben und unten. Anfang 1954, bei einem der ersten Tauchgänge, erreichte es eine Tiefe von über 4400 Metern, nahezu das Dreifache des Rekordes, den Barton sechs Jahre zuvor aufgestellt hatte. Aber das Tiefseetauchen erforderte erhebliche finanzielle Mittel, und den Piccards ging allmählich das Geld aus.

Im Jahr 1958 schlossen sie ein Abkommen mit der US-Marine. Danach ging das Tauchfahrzeug in den Besitz der Navy über, die Piccards behielten aber das Verfügungsrecht. Nachdem sie nun wieder flüssig waren, bauten sie das Fahrzeug um, versahen es mit mehr als zwölf Zentimeter dicken Wänden und verkleinerten die Fenster auf einen Durchmesser von nur noch fünf Zentimetern, wenig mehr als ein Schlüsselloch. Jetzt konnte es einen gewaltigen Druck aushalten, und im Januar 1960 ließen sich Jacques Piccard und der US-Marineleutnant Don Walsh rund 400 Kilometer vor der Insel Guam im West Pazifik bis auf die tiefste Stelle des Meeresbodens herab, den Marianengraben (den übrigens nicht ganz zufällig Harry Hess mit seinem Tiefenmesser entdeckt hatte). Knapp vier Stunden brauchten sie, dann waren sie in einer Tiefe von 10917 Metern angelangt. Der Druck betrug in dieser Tiefe zwar mehr als 1200 Kilogramm je Quadratzentimeter, zu ihrer Überraschung bemerkten sie aber gerade in dem Augenblick, als sie am Boden aufsetzten, einen flachen Fisch. Da sie keine Kameras mitführten, gibt es von dem Ereignis keine bildlichen Erinnerungen.

Nachdem sie sich nur 20 Minuten am tiefsten Punkt der Erde aufgehalten hatten, kehrten sie an die Oberfläche zurück. Es war das einzige Mal, dass Menschen in solche Tiefen vordrangen.

Mehr als 40 Jahre später stellt sich natürlich die Frage: Warum hat es ihnen seither niemand nachgemacht? Zunächst gab es einen wichtigen Gegner weiterer Tauchgänge: den Vizeadmiral Hyman G. Rickover, einen Mann mit lebhaftem Temperament und handfesten Ansichten, der über die Kassen des Ministeriums verfügte. Er hielt Tiefseeforschung für Geldverschwendung und betonte immer wieder, die Marine sei kein wissenschaftliches Institut. Außerdem waren die ganzen Vereinigten Staaten zu jener Zeit auf die Weltraumforschung fixiert: Man wollte einen Menschen auf den Mond bringen, und im Vergleich dazu wirkte die Erforschung der Tiefsee relativ unwichtig und altmodisch.

Entscheidend war aber die Erkenntnis, dass die Trieste im Grunde nicht viel erreicht hatte. Ein Beamter der Marine erklärte viele Jahre später: »Wir haben eigentlich nicht viel daraus gelernt, außer dass wir es können. Warum sollte man es noch einmal machen?« Es war, kurz gesagt, eine umständliche Methode, um einen Plattfisch zu finden, und eine teure noch dazu. Eine Wiederholung des Unternehmens würde heute Schätzungen zufolge mindestens 100 Millionen Dollar kosten.

Nachdem den Meeresforschern klar war, dass die Marine kein Interesse mehr hatte, das versprochene wissenschaftliche Programm weiter zu verfolgen, gab es einen Aufschrei des Entsetzens. Unter anderem um die Kritiker zu besänftigen, stellte die Navy deshalb Mittel für ein weiterentwickeltes Tauchboot zur Verfügung, das von der Woods Hole Oceanographic Institution in Massachusetts betrieben werden sollte. Das Gerät, das in etwas verkürzter Ehrung des Meeresforschers Allyn C. Vine auf den Namen Alvin getauft wurde, sollte ein vollständig manövrierbares Mini-U-Boot sein, das allerdings nicht annähernd so tief tauchen konnte wie die Trieste. Es gab dabei nur ein Problem: Die Planer fanden niemanden, der bereit war, es zu bauen. William J. Broad schreibt in seinem Buch The Universe Below. »Große Firmen wie General Dynamics, die U-Boote für die Marine produzierten, wollten kein Projekt übernehmen, das sowohl vom Bureau of Ships als auch von Admiral Rickover, den Schutzgöttern der Marine, abgelehnt wurde.« Am Ende wurde Alvin von dem Nahrungsmittelkonzern General Mills gebaut, und zwar in einer Fabrik, die sonst die Maschinen zur Herstellung von Frühstücksflocken produzierte.

Von dem, was sich sonst noch in der Tiefe der Meere verbergen mochte, hatte man tatsächlich wenig Ahnung. Bis weit in die fünfziger Jahre hinein stützten sich auch die besten Landkarten, die den Meeresforschern zur Verfügung standen, vorwiegend auf wenige Details aus vereinzelten Vermessungsprojekten, die bis 1929 zurückreichten, sowie auf ein weites Feld von Vermutungen. Die Marine besaß zwar ausgezeichnete Karten, mit deren Hilfe U-Boote zwischen unterseeischen Schluchten und Gebirgen manövrieren konnten, aber man wollte vermeiden, dass solche Informationen in sowjetische Hände fielen, und deshalb wurden die Unterlagen geheim gehalten. Die Wissenschaft musste mit bruchstückhaften, veralteten Vermessungsergebnissen auskommen oder sich auf wohl überlegte Vermutungen stützen. Selbst heute sind unsere Kenntnisse über den Meeresboden bemerkenswert wenig detailliert. Wer den Mond mit einem ganz normalen Amateurteleskop betrachtet, erkennt eine ganze Reihe von Kratern - Fracastorius, Blancanus, Zach, Planck und viele andere, die jedem Mondexperten vertraut sind, aber völlig unbekannt wären, wenn sie sich auf dem Meeresboden unseres eigenen Planeten befänden. Vom Mars besitzen wir bessere Landkarten als von den Gebieten unter unseren Ozeanen.

Auch an der Oberfläche waren die Untersuchungsmethoden ein wenig hemdsärmelig und improvisiert. Im Jahr 1994 wurden von einem koreanischen Frachtschiff während eines Sturms im Pazifik 34000 Eishockeyhandschuhe über Bord gespült. Die Handschuhe fanden sich später von Vancouver bis Vietnam überall wieder und trugen dazu bei, dass die Meeresforscher verschiedene Strömungen genauer verfolgen konnten als je zuvor.

Heute hat Alvin fast 40 Jahre auf dem Buckel, es ist aber nach wie vor Amerikas wichtigstes Forschungsschiff. Unterwasserfahrzeuge, die auch nur annähernd die Tiefe des Marianengrabens erreichen könnten, gibt es bis heute nicht, und nur fünf, unter ihnen Alvin, können bis zu dem normalen Tiefseeboden hinabtauchen, der mehr als die Hälfte der Erdoberfläche ausmacht. Der Betrieb eines typischen Tauchbootes kostet pro Tag über 20000 Euro. Deshalb lässt man solche Geräte nicht einfach aus einer Laune heraus ins Wasser, und noch weniger geht man damit auf Tauchfahrt nur in der unbestimmten Hoffnung, man werde zufällig auf etwas Interessantes stoßen. Das wäre so, als würden wir unsere Erfahrungen mit der Erdoberfläche auf die Arbeit von fünf Leuten stützen, die nach Einbruch der Dunkelheit mit Traktoren auf Erkundungsfahrt gehen. Nach Ansicht von Robert Kunzig haben Menschen vielleicht ein Millionstel oder ein Milliardstel der dunklen Meerestiefe genau erforscht, vielleicht aber auch viel weniger.

Aber wenn Meeresforscher eine herausragende Eigenschaft haben, dann ist es ihr Fleiß. Mit ihren begrenzten Möglichkeiten haben sie eine ganze Reihe wichtiger Erkenntnisse gewonnen. Unter anderem machten sie 1977 eine der bedeutendsten und verblüffendsten biologischen Entdeckungen des 20. Jahrhunderts. In diesem Jahr fand Alvin rund um mehrere Tiefseeschlote vor den Galapagosinseln blühende Kolonien aus großen Lebewesen: mehr als drei Meter lange Röhrenwürmer, Muscheln von 30 Zentimetern Durchmesser, zahlreiche Krebse und gewundene Spaghettiwürmer. Ihr Dasein verdankten sie riesigen Bakterienkolonien, die ihrerseits Energie und Nährstoffe aus Schwefelwasserstoffverbindungen bezogen - diese Substanzen sind für die Lebewesen an der Oberfläche äußerst giftig und strömen ständig aus den Schloten. Es war eine ganz neue Welt, völlig unabhängig von Sonnenlicht, Sauerstoff und allem anderen, was man normalerweise mit Leben in Verbindung bringt. Grundlage dieser Lebenswelt war nicht die Photosynthese, sondern Chemosynthese - eine Tatsache, die den Biologen absurd erschienen wäre, hätte jemand die Fantasie besessen, sie sich auszumalen.

Aus den Schloten fließen gewaltige Wärme- und Energiemengen. Zwei Dutzend von ihnen produzieren gemeinsam ebenso viel Energie wie ein großes Kraftwerk, und in ihrer Umgebung herrscht ein ungeheures Temperaturgefälle. An der Ausströmstelle kann die Temperatur bis auf 400 Grad steigen, und wenige Meter weiter liegt sie nur zwei oder drei Grad über dem Gefrierpunkt. Genau an dieser Grenze lebt ein Wurm, der als Alvinellide bezeichnet wurde: An seinem Kopf ist das Wasser um rund 80 Grad wärmer als am Schwanz. Zuvor hatte man geglaubt, kein kompliziert gebautes Lebewesen könne eine Wassertemperatur von mehr als 55 Grad überleben30, und nun hatte man eines gefunden, das erheblich höhere Temperaturen und gleichzeitig auch extreme Kälte vertrug. Die Entdeckung bedeutete eine Umwälzung für unsere gesamte Vorstellung von den Voraussetzungen für Leben.

Gleichzeitig war damit auch eines der großen Rätsel der Meeresforschung gelöst, eine Frage, die vielen Menschen nicht einmal als Rätsel erschien: Warum nimmt der Salzgehalt der Ozeane nicht im Laufe der Zeit zu? Die Aussage mag banal erscheinen: Es gibt im Meer eine Menge Salz, genug, um alle trockenen Landflächen der Erde ungefähr 150 Meter hoch damit zu bedecken. Jeden Tag verdunsten aus den Ozeanen viele Millionen Liter

Wasser, und das Salz bleibt zurück; logischerweise müsste das Meer also im Laufe der Jahre immer salziger werden, aber das geschieht nicht. Irgendetwas entfernt aus dem Wasser die gleiche Menge Salz, die auch hinzukommt. Lange Zeit hatte man keine Ahnung, was das für ein Mechanismus sein könnte. Nachdem Alvin die Tiefseeschlote gefunden hatte, kam man auf die Antwort. Geophysiker erkannten, dass die Schlote ganz ähnlich wirken wie die Filter in einem Fischbecken. Wenn Wasser in die Erdkruste eindringt, wird es vom Salz befreit, und durch die »Schornsteine« wird am Ende sauberes Wasser ausgestoßen. Das Ganze ist kein schneller Vorgang - bis ein Ozean gereinigt ist, können zehn Millionen Jahre vergehen -, aber solange man es nicht eilig hat, ist er äußerst wirksam.

Vielleicht nichts anderes macht unsere innere Distanz zu den Tiefen der Ozeane so augenfällig deutlich wie das Hauptziel, das während des Internationalen Geophysikalischen Jahres 1957/58 für die Ozeanografie formuliert wurde: Man wollte untersuchen, ob sich die Tiefsee zur Entsorgung radioaktiver Abfälle nutzen ließ. Wohlgemerkt: Das war keineswegs eine geheime Verabredung, sondern eine stolze öffentliche Ankündigung. Auch wenn darüber nicht viel berichtet wurde, war die Versenkung radioaktiver Abfälle 1957/58 sogar schon seit über zehn Jahren im Gange, und das mit einem ziemlich entsetzlichen Nachdruck. Seit 1946 transportierten die Vereinigten Staaten den Atommüll in Fässern zu jeweils 45 Gallonen (knapp 200 Liter) auf die Farallon Islands etwa 50 Kilometer vor der kalifornischen Küste bei San Francisco, und dort wurden sie einfach über Bord geworfen.

Es war eine geradezu unglaubliche Achtlosigkeit. Meist handelte es sich um Fässer der gleichen Art, wie man sie auch in rostigem Zustand hinter Tankstellen oder auf Fabrikhöfen stehen sieht, irgendwelche Schutzummantelungen gab es nicht. Wenn sie im Wasser nicht untergingen, was häufig vorkam, schossen Marineschützen Löcher hinein, sodass Wasser eindringen konnte (wobei natürlich Plutonium, Uran und Strontium freigesetzt wurden).34 Bevor diese Praxis in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts eingestellt wurde, hatten die Vereinigten Staaten an insgesamt 50 Stellen im Ozean mehrere 100000 Fässer versenkt, davon allein 50000 bei den Farallon Islands. Und die USA standen durchaus nicht allein. Weitere eifrige Atommüll-Entsorger waren Russland, China, Japan, Neuseeland und fast alle europäischen Staaten.

Welche Auswirkungen hatte das auf die Lebewesen im Meer? Nun, wir hoffen, dass sie gering sind, aber eigentlich haben wir keine Ahnung. Was das Leben in den Ozeanen angeht, sind wir von einer erstaunlichen, fröhlichen, selbstherrlichen Unkenntnis. Selbst über die bedeutendsten Meerestiere wissen wir häufig bemerkenswert wenig, so auch über das größte von allen, den gewaltigen Blauwal, ein Geschöpf von wahrhaft gigantischen Ausmaßen: Nach den Worten von David Attenborough »wiegt seine Zunge so viel wie ein Elefant, das Herz hat die Größe eines Autos, und manche Blutgefäße sind so breit, dass man in ihnen schwimmen könnte«. Er ist das gewaltigste Tier, das die Erde jemals hervorgebracht hat, größer noch als die massigsten Dinosaurier. Und doch liegt die Lebensweise der Blauwale für uns weitgehend im Dunkeln. Wir wissen nichts darüber, wo sie sich die meiste Zeit aufhalten, wohin sie sich zur Paarung begeben und auf welchen Wegen sie dorthin gelangen. Unsere wenigen Kenntnisse haben wir fast ausschließlich dadurch gewonnen, dass wir ihre Gesänge belauscht haben, aber auch die sind rätselhaft.

Manchmal brechen Blauwale einen Gesang ab, um ihn sechs Monate später genau an derselben Stelle wieder aufzunehmen. Oder sie stimmen ein neues Lied an, das noch keiner ihrer Artgenossen gehört haben kann, und doch kennen es alle sofort. Wie sie das bewerkstelligen, ist nicht einmal ansatzweise geklärt. Und dabei handelt es sich um Tiere, die immer wieder zum Atmen an die Oberfläche kommen müssen.

Bei Arten, die ständig in der Tiefe bleiben können, sind die Rätsel häufig noch größer. Wir brauchen nur an die legendären Riesenkraken zu denken. Im Vergleich zum Blauwal sind sie zwar klein, aber es handelt sich dennoch um ansehnliche Tiere mit Augen so groß wie Fußbälle und Fangarmen, die bis zu 20 Meter lang werden können. Ein Riesenkrake wiegt fast eine Tonne und ist damit das größte wirbellose Tier der Erde. Würde man ihn in einen normalen Privatswimmingpool setzen, hätte kaum noch etwas anderes darin Platz. Dennoch hat kein Wissenschaftler - und, soweit wir wissen, überhaupt kein Mensch - jemals einen lebenden Riesenkraken gesehen. Manche Zoologen haben ihre gesamte Berufslaufbahn darauf verwendet, solche Tiere lebend zu fangen oder wenigstens zu Gesicht zu bekommen, aber sie sind immer gescheitert. Man kennt diese Geschöpfe nur deshalb, weil sie gelegentlich an Stränden angespült werden - aus unbekannten Gründen insbesondere auf der Südinsel Neuseelands. Es muss sie in großer Zahl geben, denn sie bilden die wichtigste Nahrung der Pottwale, und Pottwale* brauchen viel Nahrung.

Einer Schätzung zufolge könnte es in den Meeren bis zu 30 Millionen Tierarten geben, von denen die meisten noch nicht entdeckt sind. Erste Hinweise darauf, wie üppig das Leben in der Tiefsee ist, fand man erst in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts nach der Erfindung des Epibenthos-Schlittens. Dieses Schleppgerät fängt nicht nur Lebewesen am Meeresboden oder knapp darüber, sondern auch solche, die sich im Sediment vergraben haben. Die Meeresforscher Howard Sandler und Robert Hessler von der Woods Hole Institution sammelten damit entlang des Kontinentalsockels in einer Tiefe von etwa 1500 Metern innerhalb einer Stunde mehr als 25000 Tiere, die zu 365 Arten gehörten - Würmer, Seesterne, Seegurken und viele andere. Selbst in einer Tiefe von 5000 Metern fanden sie noch 3700 Tiere aus fast 200 Arten. Aber der Schlitten hält nur Lebewesen fest, die so langsam oder so dumm sind, dass sie nicht aus dem Weg gehen können. Ende der sechziger Jahre kam der Meeresbiologe John Isaacs auf die Idee, eine Kamera mit einem daran befestigten Köder ins Wasser zu lassen, und damit fand er noch viele weitere Tiere, insbesondere große Gruppen der aalähnlichen, einfach gebauten Inger und lebhafte Schwärme von Grenadierfischen. Steht plötzlich eine gute Nahrungsquelle zur Verfügung - beispielsweise wenn ein Wal stirbt und zum Meeresboden sinkt -, tun sich bis zu 390 Arten von Meeresbewohnern daran gütlich. Interessanterweise stellte sich heraus, dass viele dieser Tiere von Tiefseeschloten kamen, die bis zu 1500 Kilometer entfernt sind. Unter anderem handelte es sich dabei um Muscheln, die kaum als große Wanderer bekannt sind. Heute nimmt man an, dass die Larven mancher Tiere sich so lange im Wasser treiben lassen, bis sie auf Grund unbekannter chemischer Signale merken, dass sich eine gute Gelegenheit zum Fressen bietet. Erst dann lassen sie sich nieder.

Wie kommt es, dass wir die Meere so leicht überfordern können, wo sie doch so riesig sind? Nun, zunächst einmal sind die Ozeane der Welt nicht gleichermaßen üppig besiedelt. Insgesamt gilt noch nicht einmal ein Zehntel aller Meere von Natur aus als produktiv. Die meisten Wasserbewohner ziehen geringere Tiefen vor, weil es dort heller und wärmer ist, sodass organisches Material in großer Menge zur Verfügung steht und die Nahrungskette in Gang setzen kann. Korallenriffe beispielsweise nehmen noch nicht einmal ein Prozent der gesamten Meeresfläche ein, beherbergen aber 25 Prozent aller Fische.

In anderen Regionen sind die Ozeane bei weitem nicht so reichhaltig. Ein gutes Beispiel ist Australien. Mit einer Küstenlinie von über 32000 Kilometern und mehr als 23 Millionen Quadratkilometern territorialer Gewässer verfügt es über mehr Ozeanfläche als jedes andere Land, aber wie Tim Flannery anmerkt, gehört es nicht einmal zu den 50 größten Fischereinationen.40 Australien muss sogar in großem Umfang Fische und Meeresfrüchte importieren. Der Grund: Wie der Kontinent selbst, so sind auch die australischen Gewässer zum größten Teil Wüste. (Eine wichtige Ausnahme ist allerdings das äußerst fruchtbare Great Barrier Reef vor Queensland.) Da der Boden so unfruchtbar ist, bringt er auch wenig Nährstoffe hervor, die ins Meer gespült werden könnten.

Aber auch wo das Leben blüht und gedeiht, reagiert es oft sehr empfindlich auf Störungen. In den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts entdeckten Fischer aus Australien und in geringerem Umfang auch aus Neuseeland große Schwärme einer kaum bekannten Fischart, die über ihrem Kontinentalsockel in einer Tiefe von rund 800 Metern zu Hause war. Die Fische wurden »Orange Roughy« genannt, schmeckten köstlich und waren in großer Zahl vorhanden. Schon nach kurzer Zeit holten die Fischereiflotten jedes Jahr 40000 Tonnen von ihnen aus dem Wasser. Aber dann machten Meeresbiologen eine Reihe beunruhigender Entdeckungen. Roughys sind sehr langlebig und wachsen langsam heran. Manche Exemplare dürften bis zu 150 Jahre alt sein; ein Roughy, der heute verzehrt wird, könnte durchaus zur Regierungszeit der Königin Victoria geboren worden sein. Diese sehr gemächliche Lebensweise konnten die Roughys sich zu Eigen machen, weil das Wasser, in dem sie leben, so wenig Ressourcen bietet. In einer solchen Umgebung laichen Fische während ihres ganzen Lebens nur einmal. Natürlich verträgt ein solcher Bestand keine tief greifenden Störungen, aber als man das erkannte, war die Population bereits stark dezimiert. Selbst bei sorgfältiger Bewirtschaftung wird es Jahrzehnte dauern, bis der Bestand sich wieder erholt - falls das überhaupt noch geschieht.

An anderen Stellen dagegen werden die Ozeane nicht nur unabsichtlich, sondern auch ganz gezielt missbraucht. Viele Fischer schneiden Haien die Flossen ab und werfen die Tiere dann wieder ins Wasser, wo sie zu Grunde gehen.41 Im Jahre 1998 wurden im Fernen Osten Haiflossen für mehr als 200 Euro das Kilo gehandelt. Eine Schale Haifischflossensuppe ging in Tokio für 90 Euro über den Tresen. Nach Schätzungen des World Wildlife Fund wurden im Jahr 1994 insgesamt zwischen 40 und 70 Millionen Haie getötet.

Im Jahre 1995 holten rund 37000 große Fischereischiffe sowie rund eine Million kleinere Boote insgesamt doppelt so viel Fische aus dem Meer wie noch 25 Jahre zuvor. Die Trawler haben heute manchmal die Ausmaße von Kreuzfahrtschiffen, und in den Netzen, die sie hinter sich herziehen, hätte ein Dutzend Jumbojets Platz. Manche fuhren sogar Flugzeuge mit, die Fischschwärme aus der Luft lokalisieren.

Nach Schätzungen besteht etwa ein Viertel dessen, was ein Fischnetz nach oben befördert, aus »Beifang« -Fische, die man nicht anlanden kann, weil sie zu klein sind, der falschen Art angehören oder zur falschen Jahreszeit gefangen wurden. Ein Experte sagte der Zeitschrift Economist: »Wir befinden uns noch im Mittelalter. Wir lassen einfach das Netz hinunter und warten ab, was ans Licht kommt.« 43 »Bis zu 22 Millionen Tonnen solcher unerwünschten Fische werden jedes Jahr wieder ins Meer geworfen, und zwar meist in Form von Kadavern.44 Auf jedes Kilo gefangener Krabben kommen etwa vier Kilo Fische und andere Meereslebewesen, die zu Grunde gehen. In der Nordsee werden weite Teile des Meeresbodens bis zu siebenmal im Jahr mit Schleppnetzen regelrecht sauber gefegt, ein Eingriff, dem kein Ökosystem etwas entgegenzusetzen hat.45 Nach Schätzungen werden mindestens zwei Drittel der Tierarten in der Nordsee überfischt. Jenseits des Atlantiks sieht die Sache nicht besser aus. Den Heilbutt gab es vor der Küste Neuenglands früher in so gewaltigen Mengen, dass ein einziges Boot an einem Tag bis zu 9000 Kilo an Land bringen konnte. Heute ist er vor der amerikanischen Nordostküste so gut wie ausgestorben.

Aber nichts ist mit dem Schicksal des Kabeljaus zu vergleichen. Ende des 15. Jahrhunderts fand der Entdecker John Cabot diese Fische in unglaublicher Zahl vor der Ostküste Nordamerikas - es waren Flachwassergebiete, und die sind bei Fischen wie dem Kabeljau, die ihre Nahrung am Meeresboden suchen, besonders beliebt. Manche dieser Gebiete waren riesig: Die Georges Banks vor Massachusetts sind größer als der zugehörige Bundesstaat. Noch umfangreicher sind die Grand Banks vor der Küste Neufundlands, und dort wimmelte es jahrhundertelang immer von Kabeljauen. Die Bestände galten als unerschöpflich. Aber natürlich waren sie das bei weitem nicht.

Bis 1960 war der Bestand laichender Kabeljaue im Nordatlantik nach Schätzungen auf rund 1,6 Millionen Tonnen gesunken. Im Jahr 1990 waren nur noch 22000 Tonnen übrig.«

Unter kommerziellen Gesichtspunkten war der Kabeljau ausgestorben. Die Fischer hätten alle gefangen, schrieb Mark Kurlansky in seinem faszinierenden Buch Kabeljau. Im Westatlantik dürfte diese Fischart für immer verschwunden sein. Die Kabeljaufischerei wurde 1992 auf den Grand Banks völlig eingestellt, aber nach einem Bericht der Fachzeitschrift Nature war noch bis zum vergangenen Herbst keine Erholung der Bestände zu erkennen. Wie Kurlansky berichtet, bestanden Fischfilets und Fischstäbchen ursprünglich aus Kabeljau, dann trat Schellfisch an seine Stelle, später Rotbarsch und seit einiger Zeit der Pazifik-Pollack. Heutzutage, so stellt Kurlansky trocken fest, heiße alles »Fisch«, was noch übrig ist.49

Das Gleiche gilt für viele andere Meerestiere. Vor dem US-Bundesstaat Rhode Island wurden früher regelmäßig Hummer von rund neun Kilo gefangen, manchmal sogar Exemplare von 13 Kilo. Lässt man die Hummer in Ruhe, können sie mehrere Jahrzehnte alt werden - nach heutiger Kenntnis erreichen sie bis zu 70 Jahren -, und dabei hören sie nie auf zu wachsen. Heute wiegen nur noch die wenigsten Hummer beim Fang mehr als ein Kilo. Die New York Times berichtete: »Nach Schätzungen der Biologen werden 90 Prozent der Hummer innerhalb des ersten Jahres gefangen, nachdem sie das gesetzlich vorgeschriebene Mindestalter von sechs Jahren erreicht haben.« 50 Trotz sinkender Erträge erhalten die Fischer Neuenglands nach wie vor steuerliche Anreize, die sie ermutigen und in manchen Fällen praktisch zwingen, immer größere Boote anzuschaffen und das Meer noch intensiver auszubeuten. In Massachusetts sind den Fischern heute nur noch die heimtückischen Inger übrig geblieben, für die es im Fernen Osten einen kleinen Markt gibt, aber auch deren Zahl geht mittlerweile zurück.

Über die Dynamik, der das Leben im Meer unterliegt, wissen wir bemerkenswert wenig. Während die Vielfalt heute in überfischten Regionen weitaus geringer ist als früher, beherbergen andere, von Natur aus weniger fruchtbare Gewässer weit mehr Lebewesen, als man jemals geglaubt hätte. Das Südpolarmeer rund um die Antarktis produziert nur drei Prozent der weltweiten Phytoplanktonmenge - viel zu wenig, so sollte man meinen, als dass sie zur Grundlage eines komplizierten Ökosystems werden könnte, und doch ist genau das der Fall. Von den Krabbenessern, einer Robbenart, haben vermutlich die wenigsten Menschen schon einmal etwas gehört, und doch dürften sie nach dem Menschen die zweithäufigste große Tierart auf Erden sein. Auf dem Packeis rund um die Antarktis leben wahrscheinlich bis zu 15 Millionen von ihnen.51 Außerdem gibt es vermutlich zwei Millionen Weddell-Robben, mindestens eine halbe Million Kaiserpinguine und vielleicht bis zu vier Millionen Adelie-Pinguine. Die Nahrungskette ist also hoffnungslos kopflastig, und doch funktioniert sie. Interessanterweise weiß niemand, wie.

Mit alledem möchte ich auf sehr ausführliche Weise meine Hauptaussage verdeutlichen: Über den größten Lebensraum der Erde wissen wir sehr wenig. Aber wie wir auf den verbleibenden Seiten noch genauer erfahren werden, gilt das ganz allgemein: Sobald wir über das Lebendige reden, ist noch vieles unbekannt. Wir wissen nicht einmal, wie es überhaupt in Gang kam.

19. Der Aufstieg des Lebens

Im Jahr 1953 nahm Stanley Miller, Doktorand an der Universität Chicago, zwei Flaschen in die Hand. Die eine enthielt ein wenig Wasser, das einen Ur-Ozean darstellen sollte, die andere Methan, Ammoniak und Schwefelwasserstoff, ein Gasgemisch, mit dem er die Atmosphäre der Erdfrühzeit nachahmen wollte. Er verband beide Flaschen mit Gummischläuchen und ließ darin elektrische Funken als Ersatz für Blitze überspringen. Nach wenigen Tagen hatte sich das Wasser in den Flaschen grün und gelb verfärbt - es war zu einer kräftigen Brühe aus Aminosäuren, Fettsäuren, Zuckern und anderen organischen Verbindungen geworden.1 Millers Chef, der Nobelpreisträger Harold Urey, erklärte begeistert: »Wenn Gott es nicht so gemacht hat, hat er eine gute Gelegenheit ausgelassen.«

In den Presseberichten aus jener Zeit klang es so, als müsse man jetzt nur noch einmal gut schütteln, und dann werde etwas Lebendiges herauskrabbeln. Nach und nach stellte sich jedoch heraus, dass es so einfach nicht ist. Obwohl fast ein halbes Jahrhundert lang weiter geforscht wurde, sind wir dem synthetischen Leben heute nicht näher als 1953, und der Gedanke, wir könnten es erschaffen, ist sogar in viel weitere Ferne gerückt. Heute sind die Fachleute sich ziemlich sicher, dass die Ur-Atmosphäre sich für eine solche Entwicklung bei weitem nicht so gut eignete wie Millers und Ureys Gasgemisch, sondern dass es sich um eine viel weniger reaktionsfreudige Mischung aus Stickstoff und Kohlendioxid handelte. Als man Millers Experiment mit diesen wesentlich schwierigeren Ausgangsmaterialien wiederholte, kam nie mehr als eine einzige, recht einfach gebaute Aminosäure heraus. Und ohnehin ist die Entstehung der Aminosäuren nicht das eigentliche Problem. Das liegt vielmehr in den Proteinen.

Ein Protein erhält man, wenn man Aminosäuren hintereinander aufreiht, und wir brauchen eine Menge Proteine. Die genaue Zahl kennt niemand, aber möglicherweise gibt es im menschlichen Organismus bis zu einer Million verschiedene Proteine, und jedes davon ist ein kleines Wunder. Nach allen Gesetzen der Wahrscheinlichkeit sollte es solche Moleküle überhaupt nicht geben. Um ein Protein herzustellen, muss man Aminosäuren (die ich hier, einer langen Tradition entsprechend, als »Bausteine des Lebens« bezeichnen muss) in einer ganz bestimmten Reihenfolge zusammenfügen, ganz ähnlich wie man Buchstaben in einer bestimmten Reihenfolge hintereinander stellt, um ein Wort zu erzeugen. Das Problem ist nur, dass die Worte mit dem Aminosäurealphabet häufig sehr lang werden. Das Wort Kollagen, der Name eines sehr verbreiteten Proteins, entsteht aus acht in der richtigen Reihenfolge aneinander gefügten Buchstaben. Um aber das Kollagen selbst zu erzeugen, müssen wir 1055 Aminosäuren genau in der richtigen Sequenz anordnen. Aber natürlich - und das ist das Entscheidende - erzeugen wir es nicht: Es erzeugt sich selbst ohne bewusste Lenkung, und hier kommt die Unwahrscheinlichkeit ins Spiel.

Die Chance, dass ein Molekül wie das Kollagen mit einer Sequenz aus 1055 Bausteinen von selbst entsteht, ist schlicht und einfach gleich Null. Es geschieht nicht. Um zu begreifen, welch ein Glückstreffer seine Existenz ist, können wir uns einen »einarmigen Banditen« aus Las Vegas vorstellen, der aber sehr viel breiter ist - genauer gesagt, rund 27 Meter - und nicht nur die üblichen drei oder vier rotierenden Räder enthält, sondern 1055, wobei auf jedem Rad zwanzig Symbole stehen (für jede der normalen Aminosäuren eines)*. Wie oft muss man an dem Griff ziehen, bis alle 1055 Symbole in der richtigen Reihenfolge stehen? Unendlich oft. Selbst wenn man die Zahl der rotierenden Räder auf 200 vermindert, liegt die Wahrscheinlichkeit, dass alle 200 genau eine vorher festgelegte Reihenfolge anzeigen, bei l zu 10260 (das ist eine Eins mit 260 Nullen).4 Schon diese Zahl ist größer als die aller Atome im Universum.

Proteine sind, kurz gesagt, sehr komplizierte Gebilde. Das Hämoglobin ist mit 146 Aminosäuren nach den Maßstäben der Proteinchemie ein Zwerg,5 aber schon für dieses Molekül sind 10190 Aminosäurekombinationen möglich, und deshalb brauchte der Chemiker Max Perutz von der Universität Cambridge 23 Jahre - das heißt mehr oder weniger seine gesamte Berufslaufbahn -, um die richtige Reihenfolge aufzuklären. Dass durch Zufallsereignisse auch nur ein einziges Proteinmolekül entsteht, ist so gut wie ausgeschlossen - es ist, als würde ein Wirbelsturm über einen Schrottplatz fegen, und anschließend stünde dort ein vollständig montierter Jumbojet, um einen anschaulichen Vergleich des Astronomen Fred Hoyle zu zitieren.

In Wirklichkeit reden wir aber über mehrere 100000

* In Wirklichkeit kennt man auf der Erde 22 natürlich vorkommende Aminosäuren, und viele weitere sind noch nicht entdeckt, aber damit wir und die meisten anderen Lebewesen entstehen können, sind nur 20 von ihnen notwendig. Die 22., Pyrrolysin genannt, wurde 2002 von Wissenschaftlern an der Ohio State University entdeckt und kommt nur bei Methanosarcina bakeri vor, einer Art der Archaea (mit diesen einfachen Lebensformen werden wir uns in Kürze noch genauer befassen).


oder vielleicht sogar eine Million verschiedene Proteine, von denen jedes einzigartig ist und nach heutiger Kenntnis für die Erhaltung eines gesunden, glücklichen Menschen gebraucht wird. Und auch das ist noch nicht alles. Damit ein Protein einen Nutzen bringt, müssen die Aminosäuren nicht nur in der richtigen Reihenfolge zusammengefügt werden, sondern das Molekül muss dann auch eine Art chemisches Origami durchmachen und sich zu einer ganz bestimmten Form zusammenfalten. Und selbst nachdem es diese komplizierte Struktur angenommen hat, hat es nur dann einen Sinn, wenn es sich auch fortpflanzen kann -und dazu sind Proteine nicht in der Lage. Diese Aufgabe übernimmt die DNA. Die DNA ist ein Meister der Verdoppelung - sie kann in wenigen Sekunden eine Kopie ihrer selbst herstellen -, ansonsten hat sie aber kaum Fähigkeiten.6 Wir stehen also vor einer paradoxen Situation. Ohne DNA kann es keine Proteine geben, und DNA kann ohne Proteine nichts bewirken. Müssen wir demnach annehmen, dass beide gleichzeitig entstanden sind, um sich gegenseitig zu. helfen? Das wäre schon sehr erstaunlich.

Es geht aber immer noch weiter. DNA, Proteine und die anderen Bestandteile des Lebendigen könnten nichts ausrichten, wenn sie nicht durch eine Art Hülle zusammengehalten würden. Kein Atom oder Molekül hat jemals allein etwas Lebendiges hervorgebracht. Ein beliebiges Atom, das wir aus unserem Körper entnehmen, ist nicht lebendiger als ein Sandkorn. Erst wenn die vielfältigen Materialien im geschützten Raum einer Zelle zusammentreffen, können sie sich an dem atemberaubenden Tanz beteiligen, den wir Leben nennen. Ohne die Zelle sind sie nur interessante chemische Verbindungen, aber ohne solche Verbindungen hätte auch die Zelle keinen Sinn. Oder, wie der Physiker Paul Davies es formulierte: »Wenn kein Molekül ohne die anderen funktionsfähig ist, wie konnte dann jedes einzelne Mitglied dieser Molekülgesellschaft je zustande kommen?« Es ist ungefähr so, als würden alle Zutaten in der Küche sich irgendwie von selbst zusammentun und zu einem Kuchen werden - und zwar zu einem Kuchen, der sich nötigenfalls immer wieder teilen kann und neue Kuchen hervorbringt. Da ist es durchaus verständlich, dass wir vom Wunder des Lebens reden. Und ebenso ist es verständlich, dass wir mit unseren Kenntnissen darüber noch ganz am Anfang stehen.

Wie also sind all diese wundersamen, komplizierten Vorgänge zu erklären? Zunächst einmal wäre es wirklich denkbar, dass sie nicht ganz so wundersam sind, wie es den Anschein hat. Betrachten wir beispielsweise die erstaunlich unwahrscheinlichen Proteine. Wir halten ihren Aufbau vor allem deshalb für ein solches Wunder, weil wir davon ausgehen, dass sie in ihrer jetzigen Form ganz plötzlich auf der Bildfläche erschienen sind. Was aber wäre, wenn die Proteinketten nicht auf einmal entstanden wären? Wenn man im großen einarmigen Banditen der Schöpfung einige Räder anhalten könnte, weil sie bereits ein paar viel versprechende Kirschen zeigen? Oder anders gefragt: Wie steht es, wenn Proteine nicht plötzlich ins Dasein getreten sind, sondern eine Evolution durchgemacht haben?

Angenommen, wir würden alle Bestandteile eines Menschen - Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff und so weiter - mit ein wenig Wasser in einen großen Behälter geben, einmal kräftig rühren, und schon kommt ein fertiger Organismus heraus. Das wäre wirklich verblüffend. Und genau das stellen Hoyle und andere (darunter viele überzeugte Kreationisten) sich vor, wenn sie annehmen, Proteine hätten sich spontan und in einem Schritt gebildet. Aber so war es nicht - so kann es nicht gewesen sein. Wie Richard Dawkins in seinem Buch Der blinde Uhrmacher darlegt, muss ein additiver Auswahlprozess abgelaufen sein, durch den die Aminosäuren sich stückweise zusammenfinden konnten. Anfangs lagerten sich vielleicht zwei oder drei Aminosäuren zusammen und erfüllten einen einfachen Zweck, nach einiger Zeit stieß eine ähnliche kleine Gruppe hinzu, und anschließend wurde eine zusätzliche Verbesserung »entdeckt«.

Chemische Reaktionen, wie sie im Zusammenhang mit dem Lebendigen auftreten, sind eigentlich nichts Ungewöhnliches. Es mag unsere Fähigkeiten übersteigen, sie im Labor nach Art von Stanley Miller und Harold Urey nachzukochen, aber das Universum bewerkstelligt sie ohne weiteres. Viele Moleküle lagern sich in der Natur zu langen Ketten zusammen, die man als Polymere bezeichnet.9 Ständig werden Zuckermoleküle zu Stärke verkettet. Kristalle besitzen eine Reihe von Fähigkeiten, die an ein Lebewesen denken lassen - sie können sich verdoppeln, auf Reize aus der Umwelt reagieren, komplizierte Muster bilden. Natürlich sind sie nie wirklich lebendig, aber sie zeigen immer wieder, dass Komplexität ein natürliches, spontanes, sehr weit verbreitetes Phänomen ist. Ob es im Universum an vielen Stellen Leben gibt, wissen wir nicht, aber in jedem Fall herrscht kein Mangel an geordnetem, spontanem Zusammenbau, von der anmutigen Symmetrie der Schneeflocken bis zu den faszinierenden Ringen des Saturn.

Das natürliche Bestreben zur Zusammenlagerung ist so stark, dass das Leben vielleicht sogar etwas viel Zwangsläufigeres ist, als wir allgemein annehmen. Der belgische Biochemiker und Nobelpreisträger Christian de

Duve hält es für »eine notwendige Ausprägungsform der Materie, die unter geeigneten Bedingungen entstehen muss«.10 Nach de Duves Ansicht herrschen solche Bedingungen in jeder Galaxie an bis zu einer Million Stellen.

Die chemischen Substanzen, die uns das Leben verleihen, haben nichts übermäßig Exotisches. Wer ein Lebewesen erschaffen will, sei es ein Goldfisch, ein Salatkopf oder ein Mensch, brauchte dazu eigentlich nur die vier Grundelemente Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff und Stickstoff sowie geringe Mengen von ein paar weiteren, vor allem Schwefel, Phosphor, Calcium und Eisen.11 Setzt man diese Bestandteile in rund drei Dutzend Kombinationen zu Zuckern, Säuren und anderen einfachen Verbindungen zusammen, kann man daraus alles aufbauen, was lebendig ist. Dawkins stellt fest: »Es ist nichts Besonderes an den Substanzen, aus denen lebende Dinge gemacht sind. Lebende Dinge sind Ansammlungen von Molekülen wie alles andere auch.«

Unter dem Strich kann man sagen: Das Leben ist verblüffend und großartig, manchmal sogar wundersam; unmöglich aber ist es nicht - das bezeugen wir selbst mit unserem bescheidenen Dasein immer wieder. Sicher, was den Anbeginn des Lebens angeht, sind unsere Kenntnisse in den Einzelheiten noch sehr lückenhaft. Ganz gleich, über welches Szenario für die notwendigen Voraussetzungen des Lebens man liest, immer kommt darin Wasser vor: von dem »warmen kleinen Teich«, in dem das Leben nach Darwins Vermutung begonnen hat, bis zu den brodelnden unterseeischen Schloten, die heute die beliebtesten Kandidaten für den Ursprungsort des Lebens sind. Bei alledem übersieht man aber, dass die Entstehung von Polymeren aus Monomeren (das heißt die Entstehung der ersten Proteine) mit der »Bildung von Bindungen unter Wasserabspaltung« verbunden ist, wie man es in der Fachsprache nennt. Ein führendes Lehrbuch der Biologie meint, vielleicht mit einem Anflug von unguten Gefühlen: »Nach allgemeiner Ansicht der Fachleute waren solche Reaktionen im Ur-Meer und auch in jedem anderen wässrigen Medium wegen des Massenwirkungsgesetzes energetisch nicht begünstigt.«

Es ist ein wenig, als würde man Zucker in ein Glas Wasser schütten, weil man ihn zu einem Würfel machen möchte. Das dürfte eigentlich nicht geschehen, aber in der Natur geschieht es dann irgendwie doch. Die chemischen Einzelheiten zu erörtern, würde hier zu weit führen; wir wollen nur festhalten, dass Monomere nicht zu Polymeren werden, wenn man sie nass macht - außer bei der Entstehung des Lebens auf der Erde Wie das damals geschah und warum es ansonsten nicht geschieht, ist eine der großen unbeantworteten Fragen der Biologie.

Zu den größten Überraschungen der Geowissenschaften in den letzten Jahrzehnten gehörte die Erkenntnis, dass das Leben in der Erdgeschichte sehr früh entstanden ist. Noch bis weit in die fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein glaubte man, das Lebendige sei weniger als 600 Millionen Jahre alt.14 In den siebziger Jahren verlegten einige mutige Fachleute den Ursprung bis zu 2,5 Milliarden Jahre in die Vergangenheit. Der derzeitige Zeitpunkt vor 3,85 Milliarden Jahren jedoch liegt wirklich verblüffend früh. Erst vor 3,9 Milliarden Jahren wurde die Erdoberfläche überhaupt fest.

»Aus dieser Schnelligkeit können wir nur den Schluss ziehen, dass es für Leben auf dem Niveau von Bakterien nicht >schwierig< ist, sich auf Planeten mit geeigneten Umweltbedingungen zu entwickeln«, schrieb Stephen Jay Gould 1996 in der New York Times.15 Oder, wie er es an anderer Stelle formulierte: Man kann sich kaum der Erkenntnis entziehen, dass »das Leben, das sich so schnell wie irgend möglich entwickelte, chemisch zum Dasein bestimmt war«.16

Tatsächlich entstand das Leben so rasch, dass manche Fachleute glauben, irgendetwas müsse nachgeholfen haben - vielleicht sogar in erheblichem Umfang. Die Idee, das Leben auf der Erde könnte aus dem Weltraum gekommen sein, hat eine überraschend lange und gelegentlich sogar durchaus ehrwürdige Geschichte. Der große Lord Kelvin warf den Gedanken schon 1871 bei einer Tagung der British Association for the Advancement of Science auf: Damals äußerte er die Vermutung, »die Keime des Lebens könnten von einem Meteoriten auf die Erde gebracht worden sein«. Dennoch blieb es zunächst eine sehr exotische Idee. Das änderte sich erst an einem Sonntag im September 1969, als mehrere 10000 Australier durch eine Reihe von Überschallknallen und einen von Osten nach Westen über den Himmel rasenden Feuerball aufgeschreckt wurden.

Die Kugel machte im Vorüberfliegen seltsam knackende Geräusche und hinterließ einen Geruch, den manche Beobachter mit Methyalkohol verglichen. Andere bezeichneten ihn schlicht als entsetzlich.

Der Feuerball explodierte über Murchison, einer Ortschaft mit 600 Einwohnern im Goulburn Valley nördlich von Melbourne, und dann regneten seine Bruchstücke, manche davon bis zu fünf Kilo schwer, auf die Erde. Glücklicherweise wurde niemand verletzt. Der Meteorit gehörte zur seltenen Gruppe der kohligen Chondrite, und die hilfsbereiten Bewohner des Ortes sammelten rund 90 Kilo des Materials ein. Der Zeitpunkt hätte besser kaum sein können. Knapp zwei Monate zuvor waren die Apollo-11-Astronauten zur Erde zurückgekehrt und hatten einen ganzen Sack Mondgestein mitgebracht; Labors auf der ganzen Welt rissen sich - teilweise sogar sehr lautstark - darum, außerirdisches Gestein zu untersuchen.

Wie sich herausstellte, war der Meteorit von Murchison 4,5 Milliarden Jahre alt und von Aminosäuremolekülen übersät.18 Insgesamt fand man 47 verschiedene Typen, von denen acht auch auf der Erde in den Proteinen vorkommen. Ende 2001, über 30 Jahre nach dem Einschlag, gab eine Wissenschaftlergruppe des kalifornischen Ames Research Center bekannt, man habe in dem Gestein von Murchison auch Polyole gefunden, komplizierte, kettenförmige Zuckermoleküle, die man außerhalb der Erde bis dahin noch nie nachgewiesen hatte.

Seither haben noch mehrere weitere kohlige Chondriten die Bahn unseres Planeten gekreuzt19 - einer landete im Januar 2000 nicht weit vom Tagish Lake in der kanadischen Yukon-Region und war zuvor über weiten Teilen Nordamerikas zu sehen. Auch sie bestätigten, dass das Universum tatsächlich reich an organischen Verbindungen ist. Der Halley-Komet besteht nach heutiger Kenntnis zu rund 25 Prozent aus organischen Molekülen. Gelangt eine ausreichend große Menge davon an eine geeignete Stelle - beispielsweise auf die Erde -, sind sofort alle Grundelemente des Lebendigen vorhanden.

Die Theorie der Panspermie, wie die extraterrestrische Entstehung des Lebens auch genannt wird, wirft aber zwei Probleme auf. Erstens ist die Frage nach der Entstehung des Lebens damit nicht beantwortet, sondern der Vorgang wird nur an einen anderen Ort verlegt. Und zweitens veranlasst die Panspermie selbst ihre wissenschaftlich respektablen Fürsprecher manchmal zu Spekulationen, die man mit Fug und Recht als unklug bezeichnen kann. Francis Crick, Mitentdecker der DNA-Struktur, äußerte gemeinsam mit seinem Kollegen Leslie Orgel die Vermutung, intelligente Außerirdische könnten das Leben absichtlich auf der Erde ausgesät haben, eine Idee, die nach Ansicht von Gribbin hart am Rand der wissenschaftlichen Seriosität steht -man könnte auch sagen: Käme sie nicht von einem Nobelpreisträger, würde man sie für verrückt erklären. Weiter gedämpft wurde die Begeisterung für die Panspermie durch Fred Hoyle und seinen Kollegen Chandra Wickramansinghe: Sie vermuteten, wir hätten dem Weltraum nicht nur das Leben zu verdanken, sondern auch Krankheiten wie Grippe und Beulenpest, eine Vorstellung, deren Widerlegung den Biochemikern keine Schwierigkeiten bereitete. Hoyle - und man sollte vielleicht noch einmal einflechten, dass er zu den großen wissenschaftlichen Köpfen des 20. Jahrhunderts gehörte -äußerte einmal auch die bereits zuvor erwähnte Vermutung, unsere Nase habe sich in der Evolution mit unten liegenden Öffnungen entwickelt, damit Krankheitserreger, die aus dem Weltraum herantreiben und darauf fallen, nicht in sie eindringen können.21

Was auch das Leben in Gang setzte, es ereignete sich nur einmal. Das ist die bemerkenswerteste Erkenntnis der Biologie, ja vielleicht sogar unsere bemerkenswerteste Erkenntnis überhaupt. Alles, was jemals gelebt hat, ob Pflanze oder Tier, kann seinen Ursprung auf dasselbe erste Ereignis zurückführen. Irgendwann in einer unvorstellbar weit entfernten Vergangenheit wurde ein kleiner Beutel voller chemischer Substanzen lebendig. Er nahm Nährstoffe auf, pulsierte sanft, blieb kurze Zeit erhalten. Bis hierher hatte sich das Gleiche vermutlich auch früher schon viele Male abgespielt. Aber dieses Urgebilde tat noch etwas anderes, und das war neu: Es teilte sich und brachte einen Nachkommen hervor. Ein winziges Päckchen genetischen Materials wurde von einem lebenden Gebilde zum anderen weitergegeben, und seitdem hörte die Entwicklung nie mehr auf. Es war unser aller Schöpfungsmoment. Die Biologen sprechen manchmal von der Ur-Geburt.

»Wohin man in der Welt auch kommt, welches Tier, welche Pflanze, welchen Käfer oder Mikroorganismus man auch betrachtet: Wenn es lebt, bedient es sich des gleichen Wörterbuches, und es kennt den gleichen Code.

Es gibt nur ein Leben«, schreibt Matt Ridley. Wir alle sind das Ergebnis eines einzigen genetischen Kunstgriffs, der über fast vier Milliarden Jahre hinweg von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Und das so wirksam, dass wir heute ein Bruchstück aus der genetischen Information eines Menschen in eine defekte Hefezelle hineinflicken können, und auf einmal arbeitet die Hefezelle, als wär's ein Stück von ihr. Und in einem sehr realen Sinn ist es das auch.

Der Anbeginn des Lebens - oder zumindest etwas sehr Ähnliches - steht auf den Regalbrettern im Arbeitszimmer der freundlichen, auf Isotopenuntersuchungen spezialisierten Geochemikerin Victoria Bennett am geowissen-schaftlichen Institut der Australian National University in Canberra. Die Amerikanerin ist 1989 mit einem Zweijahres vertrag an die australische Universität gekommen und seitdem dort geblieben. Als ich sie Ende 2002 aufsuche, drückt sie mir einen ansehnlichen Steinbrocken in die Hand. Darin wechseln sich schmale Streifen aus weißem Quarz und einem graugrünen Material namens Clinopyroxen ab. Der Brocken stammt von der Akilia-Insel in Grönland, wo man 1997 ungewöhnlich altes Gestein gefunden hat. Die dortigen Felsen gehören mit 3,85 Milliarden Jahren zu den ältesten Meeressedimenten, die jemals entdeckt wurden.

»Ob das, was Sie da in der Hand haben, früher Lebewesen enthielt, können wir nicht mit Sicherheit sagen; man müsste das Material pulverisieren, um das herauszufinden«, erklärt Bennett. »Aber es stammt aus den gleichen Ablagerungen, in denen man auch die ältesten Lebensformen ausgegraben hat, also war vermutlich etwas Lebendiges darin.« Aber auch wenn man noch so gründlich sucht, fossile Mikroorganismen würde man nicht finden. Alle einfachen Lebewesen wären durch die Vorgänge, die Ozeanschlamm zu Stein gemacht haben, zermalmt und verbacken worden. Würde man das Gestein zermahlen und mikroskopisch untersuchen, stieße man höchstens auf die chemischen Überreste der Lebewesen - Kohlenstoffisotope und Apatit, eine Form von Phosphaten. Beide gemeinsam wären ein starkes Indiz, dass das Gestein einst Kolonien lebender Organismen enthielt. »Wie diese Lebewesen ausgesehen haben, können wir nur vermuten«, sagt Bennett. »Wahrscheinlich waren sie so einfach, wie etwas Lebendes überhaupt sein kann - aber Leben war es. Sie waren lebendig. Sie haben sich fortgepflanzt.«

Und irgendwann führte die Entwicklung zu uns.

Für Fachleute wie Bennett, die sich für sehr altes Gestein interessieren, ist die Australian National University schon seit langem ein wichtiges Zentrum. Das hat sie vor allem dem Erfindungsreichtum von Bill Compston zu verdanken; er lebt heute im Ruhestand, baute aber in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts die weltweit erste hochauflösende Ionen-Mikrosonde, nach den Anfangsbuchstaben ihrer englischen Bezeichnung (sensitive high resolution ion micro probe) auch unter dem Spitznamen SHRIMP bekannt. Dieser Apparat misst in winzigen Mineralproben, den Zirkonen, die Zerfallsgeschwindigkeit des Urans. Zirkone kommen in den meisten Gesteinstypen außer dem Basalt vor und sind äußerst langlebig: Mit Ausnahme der Subduktion

überleben sie fast alle natürlichen Vorgänge. Der größte Teil der Erdkruste wanderte irgendwann wieder in den Schmelzofen, aber an wenigen Stellen - beispielsweise in Westaustralien und Grönland - fand man frei liegendes Gestein, das immer an der Oberfläche geblieben war. Compstons Instrument eröffnete die Möglichkeit, solches Gestein mit beispielloser Genauigkeit zu datieren. Der Prototyp der SHRIMP wurde in der eigenen Werkstatt des Instituts für Geowissenschaften gebaut; sie sah ein wenig so aus, als sei sie aus übrig gebliebenen Teilen zusammengesetzt, aber sie funktionierte großartig. Im Jahr 1982, bei der ersten offiziellen Erprobung, datierte man mit ihrer Hilfe den ältesten Gegenstand, den man jemals gefunden hatte: ein Stück Gestein aus Westaustralien, das 4,3 Milliarden Jahre alt war.

»Es erregte damals ziemliches Aufsehen, dass man mit einer ganz neuen Technologie so schnell etwas so Wichtiges gefunden hatte«, erklärt mir Bennett.

Dann nimmt sie mich mit in den Raum, wo SHRIMP II steht, das derzeit aktuelle Modell. Es ist ein großer Apparat aus Edelstahl, fast vier Meter lang, eineinhalb Meter breit und so solide gebaut wie eine Tiefseesonde. Am Bedienungspult sitzt Bob, ein Gast von der Canterbury University in Neuseeland, und beobachtet die ständig wechselnden Zahlenreihen auf dem Bildschirm. Wie er mir erklärt, ist er schon seit vier Uhr morgens hier. SHRIMP II läuft rund um die Uhr - man hat eine Menge Gestein zu datieren. Jetzt ist es kurz nach neun, und Bob hat das Gerät noch bis zwölf für sich. Fragt man zwei Geochemiker, wie eine solche Maschine funktioniert, dann reden sie über Isotopenhäufigkeiten oder Ionisationsniveaus, und das mit einer Begeisterung, die zwar liebenswürdig, aber nicht ganz nachvollziehbar ist. Letztlich geht es um Folgendes: Die Maschine bombardiert eine Gesteinsprobe mit einem Strom elektrisch geladener Atome und kann auf diese Weise geringfügige Unterschiede im Blei- und Urangehalt feststellen; aus solchen Messungen lässt sich dann sehr genau das Alter des Gesteins ableiten. Wie Bob mir erklärt, dauert die Vermessung eines einzigen Zirkons etwa 17 Minuten, und um zuverlässige Daten zu gewinnen, muss man an jeder Gesteinsprobe mehrere Dutzend solcher Messungen vornehmen. In der Praxis erfordert das Ganze ungefähr den gleichen von langen Pausen unterbrochenen Fleiß wie ein Aufenthalt im Waschsalon, und es hat auch ungefähr den gleichen Reiz. Dennoch wirkt Bob sehr glücklich, aber das scheint eine allgemeine Eigenschaft der Menschen aus Neuseeland zu sein.

Das Institut für Geowissenschaften ist eine seltsame Kombination aus Büros, Labors und Maschinenräumen. »Früher haben wir hier alles selbst gebaut«, sagt Bennett. »Wir hatten sogar unseren eigenen Glasbläser, aber der ist mittlerweile im Ruhestand. Immerhin gibt es aber noch zwei hauptberufliche Steinzertrümmerer.« Sie bemerkt meinen leicht überraschten Blick. »Wir verarbeiten hier eine Menge Gestein. Und es muss sehr sorgfältig präpariert werden. Man muss dafür sorgen, dass keine Verunreinigungen aus früheren Materialproben hineingeraten, kein Staub und nichts anderes. Es ist eine ziemlich mühselige Arbeit.« Sie zeigt mir die Maschinen zum Zerkleinern des Gesteins. Sie sind tatsächlich blitzsauber - die Männer, die sie bedienen, machen offenbar gerade Kaffeepause. Neben den Maschinen stehen große Kisten mit Gesteinsbrocken von unterschiedlichster Form und Größe. An der ANU wird tatsächlich eine Menge Gestein untersucht.

Als wir unsere Besichtigung beendet haben und wieder in Bennetts Arbeitszimmer sitzen, fällt mir an der Wand ein Poster auf. Darauf hat ein Künstler sich in lebhaften Farben ausgemalt, wie die Erde vor 3,5 Milliarden Jahren ausgesehen haben könnte, in jener vorzeitlichen Periode, die wissenschaftlich als Archaeon bezeichnet wird und in der das Leben gerade erst in Gang kam. Das Bild zeigt eine fremdartige Landschaft: riesige, sehr aktive Vulkane und ein dampfendes, kupferfarbenes Meer unter einem lebensfeindlichen roten Himmel. Im Vordergrund erkennt man flaches Wasser voller Stromatolithen, eine Art Bakteriengestein. Nach einem viel versprechenden Umfeld für die Entstehung und Erhaltung von Lebewesen sieht das nicht aus. Ich erkundige mich, ob die Abbildung der Wirklichkeit entspricht.

»Nun ja, eine Denkschule behauptet, es sei damals in Wirklichkeit kühl gewesen, weil die Sonne viel schwächer leuchtete.«

(Wie ich später erfahre, sprechen Biologen in diesem Zusammenhang scherzhaft vom »ChinarestaurantProblem«, weil damals eine schwache Sonne - englisch dim sun - vom Himmel schien.) »Ohne Atmosphäre dürften die ultravioletten Strahlen, selbst wenn sie von einer schwachen Sonne kamen, alle Bindungen in den Molekülen zerstört haben. Und doch gibt es genau hier« -sie tippt mit dem Finger auf die Stromatolithen - »fast an der Oberfläche tatsächlich Lebewesen. Das ist ein Rätsel.«

»Also wissen wir eigentlich nicht, wie die Welt damals aussah?«

»Mmmm«, stimmt sie nachdenklich zu.

»Es sieht so oder so nicht sehr nach günstigen Bedingungen für das Leben aus.«

Sie nickt liebenswürdig. »Aber irgendetwas muss es gegeben haben, das dem Leben geholfen hat. Sonst wären wir nicht da.«

Uns hätte es mit Sicherheit nicht geholfen. Wer mit einer Zeitmaschine in jene vorzeitliche Welt käme, würde sich nach dem Aussteigen sehr schnell wieder zurück in das Fahrzeug flüchten, denn damals gab es auf der Erde nicht mehr Sauerstoff als heute auf dem Mars. Die Atmosphäre war voller giftiger Salzsäure- und Schwefelsäuredämpfe, die sich durch die Kleidung gefressen und die Haut verätzt hätten. Die Erde hätte auch nicht den sauberen, farbenprächtigen Anblick geboten, der auf dem Poster in Victoria Bennetts Arbeitszimmer wiedergegeben ist. Das chemische Gebräu der damaligen Atmosphäre ließ kaum Sonnenlicht bis zur Erdoberfläche durch. Nur im Licht der hellen, häufigen Blitze hätte man hin und wieder etwas sehen können. Kurz gesagt, hätten wir diese Erde nicht als die unsere erkannt.

Höhepunkte gab es in der Frühzeit des Lebens nur selten, und die Abstände zwischen ihnen waren groß. Zwei Milliarden Jahre lang waren Bakterien die einzigen Lebensformen. Sie lebten, pflanzten sich fort und verbreiteten sich, aber sie zeigten keinerlei Neigung, auf eine andere, anspruchsvollere Daseinsebene überzugehen. Irgendwann während der ersten Milliarde Jahre lernten die Cyanobakterien eine reichlich verfügbare Ressource anzuzapfen: den Wasserstoff, der im Wasser in ungeheueren Mengen enthalten ist. Sie nahmen Wassermoleküle auf, gewannen daraus den Wasserstoff und gaben den Sauerstoff als Abfallprodukt frei - womit sie die Photosynthese erfunden hatten. Wie Margulis und Sagan richtig anmerken, »war die Photosynthese zweifellos die wichtigste biochemische Neuerung in der Geschichte des Lebendigen auf unserem Planeten« - und sie wurde nicht von Pflanzen erfunden, sondern von Bakterien.

Als die Cyanobakterien sich vermehrten, reicherte sich der Sauerstoff auf der Erde an - sehr zum Missvergnügen jener Lebewesen, für die er giftig war, und das waren zu jener Zeit alle.

In einer anaeroben (sauerstofffreien) Welt wirkt Säuerstoff äußerst schädlich. Unsere weißen Blutzellen benutzen ihn sogar, um eingedrungene Bakterien zu töten. Dass Sauerstoff grundsätzlich giftig ist, erscheint vielfach verwunderlich, dass er unserem Wohlbefinden so zuträglich ist, liegt nur daran, dass wir ihn auf Grund unserer Evolution gut nutzen können. In anderen Zusammenhängen ist er etwas Entsetzliches. Er macht Butter ranzig und lässt Eisen rosten. Wir selbst vertragen ihn zwar, aber auch das nur bis zu einer gewissen Grenze. In unseren Zellen liegt die Sauerstoffkonzentration zehnmal niedriger als in der Atmosphäre.

Die neuen Lebewesen, die den Sauerstoff nutzen konnten, hatten zwei Vorteile auf ihrer Seite. Der Sauerstoff ermöglichte eine effizientere Energieproduktion und zerstörte gleichzeitig konkurrierende Organismen. Manche davon zogen sich in die schlammige, anaerobe Welt in Sümpfen und am Boden von Seen zurück. Andere taten dies ebenfalls, wanderten aber später (viel später) in den Verdauungstrakt von Lebewesen wie du und ich. Eine ganze Reihe dieser urzeitlichen Organismen leben noch heute in unserem Körper und tragen zur Verarbeitung der Nahrung bei, aber auch sie verabscheuen den geringsten Hauch von Sauerstoff. Unzählige andere schafften die Anpassung nicht und gingen zu Grunde.

Die Cyanobakterien waren ein Erfolgsmodell und wurden zum Selbstläufer. Anfangs sammelte sich der von ihnen erzeugte Sauerstoff nicht in der Atmosphäre, sondern er verband sich mit Eisen zu Eisenoxiden, die zum Boden der urzeitlichen Meere sanken. Mehrere Millionen Jahre lang rostete die Welt ganz buchstäblich -dieses Phänomen zeigt sich sehr deutlich in den streifenförmigen Ablagerungen, aus denen heute ein großer Teil des Eisenerzes stammt. Viel mehr geschah einige Dutzend Jahrmillionen lang nicht. Würden wir uns in die Welt des frühen Proterozoikums begeben, wir würden kaum vielversprechende Anhaltspunkte für das zukünftige Leben auf der Erde finden. Vielleicht würden wir hier und da auf einem geschützten Tümpel einen Film aus lebendem Schaum entdecken, oder vielleicht würden die Felsen an der Küste hier und da auch einen Überzug aus glänzendem Grün und Braun tragen, aber ansonsten wäre das Leben noch unsichtbar.

Dann, vor rund 3,5 Milliarden Jahren, geschah etwas Auffälliges. Wo das Meer flach war, erschienen die ersten sichtbaren Strukturen auf der Bildfläche. Die Cyanobakterien wurden durch ihre alltäglichen chemischen Abläufe ein wenig klebrig, sodass sie winzige Staub- und Sandpartikel einfangen konnten. Diese verbanden sich dann zu seltsam aussehenden, aber sehr festen Gebilden - den Stromatolithen, die auf dem Poster an der Wand von Victoria Bennetts Arbeitszimmer im flachen Wasser stehen. Stromatolithen gab es in sehr unterschiedlicher Form und Größe. Manchmal sahen sie aus wie riesige Blumenkohlköpfe, manchmal wie weiche Matratzen (der Begriff Stromatolith stammt von dem griechischen Wort für »Matratze« ab), manchmal auch wie Säulen, die sich mehrere Dutzend oder sogar 100 Meter über die Wasseroberfläche erhoben. In allen Ausprägungsformen waren sie eine Art lebendes Gestein, und sie stellten das erste Gemeinschaftsunternehmen der Welt dar: Manche Formen der primitiven Lebewesen waren nur an der Oberfläche zu Hause, andere ein wenig tiefer, und sie nutzten jeweils die Bedingungen, die durch andere geschaffen wurden. Die Welt hatte ihr erstes Ökosystem.

Aus Fossilformationen kannte man die Stromatolithen schon seit vielen Jahren, aber zu ihrer großen Überraschung entdeckten Wissenschaftler 1961 in der Shark Bay an der abgelegenen Nordwestküste Australiens auch eine Gemeinschaft lebender Exemplare. Damit hatte man nicht gerechnet - der Fund kam so unerwartet, dass die Fachleute erst einige Jahre später erkannten, worauf sie hier eigentlich gestoßen waren. Heute ist die Shark Bay eine Touristenattraktion - zumindest so weit, wie ein Ort dazu werden kann, wenn er einige Dutzend Kilometer von irgendetwas anderem und mehrere 100 Kilometer von etwas Wichtigem entfernt ist. Über dem Wasser hat man Stege errichtet, sodass die Besucher einen guten Blick auf die Stromatolithen haben, die knapp unter der Oberfläche ruhig vor sich hin atmen. Mit ihrem glanzlosen Grau sehen sie, wie ich schon in einem früheren Buch festgestellt habe, eigentlich aus wie sehr große Kuhfladen. Dennoch ist es ein seltsam kribbelndes Gefühl, einen lebenden Überrest aus der Zeit vor 3,5 Milliarden Jahren vor sich zu haben. Oder, wie Richard Fortey es formulierte: »Das ist eine wirkliche Zeitreise, und wenn die Welt ein Gespür für ihre echten Wunder hätte, wäre dies eine ebenso berühmte Sehenswürdigkeit wie die Pyramiden von Giseh, trotz ihrer bescheidenen Dimensionen.« Auch wenn man es nicht vermuten würde, wimmelt es in diesen langweiligen Gesteinsbrocken von Leben - nach Schätzungen (dass es sich nur um Schätzungen handeln kann, liegt auf der Hand) enthält jeder Quadratmeter rund dreieinhalb Milliarden Einzelorganismen. Wenn man genau hinsieht, erkennt man manchmal Reihen winziger Blasen, die zur Oberfläche aufsteigen, weil die Lebewesen ihren Sauerstoff abgeben. Im Laufe von zwei Milliarden Jahren ließen solche winzigen Ausscheidungen den Sauerstoff-gehalt der Erdatmosphäre auf 20 Prozent anwachsen, und damit war der Weg frei für das nächste, kompliziertere Kapitel in der Geschichte des Lebendigen.

Manchen Vermutungen zufolge machen die Cyano-bakterien in der Shark Bay von allen Lebewesen auf der Erde die langsamste Evolution durch, und mit Sicherheit gehören sie heute zu den ausgefallensten Lebensformen. Nachdem sie den Weg zu den komplexeren Lebensformen geebnet hatten, wurden sie fast überall von jenen, deren Existenz sie erst ermöglicht hatten, ausgerottet. (In der Shark Bay sind sie erhalten geblieben, weil das Wasser hier für Organismen, die sich normalerweise von ihnen ernähren würden, zu viel Salz enthält.)

Dass das Leben erst nach so langer Zeit kompliziertere Formen hervorbrachte, lag unter anderem daran, dass einfachere Organismen die Atmosphäre zunächst ausreichend mit Sauerstoff anreichern mussten. Zuvor, so Fortey, konnten Tiere nicht genügend Energie für ihre Tätigkeiten gewinnen. Zwei Milliarden Jahre oder rund 40 Prozent der Erdgeschichte mussten vergehen, bevor die Atmosphäre mehr oder weniger ihren heutigen Sauerstoffgehalt hatte. Nachdem aber auf diese Weise die Voraussetzungen geschaffen waren, entstand offenbar recht plötzlich ein ganz neuer Typ von Zellen mit einem Zellkern und anderen kleinen Körperchen, die man zusammenfassend als Organellen bezeichnet (von dem griechischen Wort für »kleine Werkzeuge« ). Ihre Entstehung begann nach heutiger Kenntnis damit, dass ein tollkühnes oder abenteuerlustiges Bakterium entweder in ein anderes Bakterium einwanderte oder ein anderes in sich aufnahm, wobei sich anschließend herausstellte, dass beide einen Nutzen davon hatten. Nach dieser Vorstellung wurde das eingefangene Bakterium schließlich zu einem Mitochondrium. Die Einwanderung der Mitochondrien (oder der Beginn der Endosymbiose, wie die Biologen es gern nennen) machte kompliziertere Lebensformen möglich. (Bei Pflanzen entstanden durch einen ganz ähnlichen Vorgang die Chloroplasten, in denen die Photosynthese abläuft.)

Die Mitochondrien verwerten den Sauerstoff so, dass sie aus Nährstoffen die Energie gewinnen können. Ohne diesen raffinierten Kunstgriff wäre das Leben auf der Erde noch heute nur ein Schleim aus einfachen Mikroorganismen. Mitochondrien sind winzig - eine Milliarde von ihnen könnte man in einem einzigen Sandkorn unterbringen -, aber auch sehr hungrig. Fast alles, was wir zu uns nehmen, dient ihrer Ernährung.

Ohne sie würden wir keine zwei Minuten überleben, aber selbst nach einer Milliarde Jahren verhalten die Mitochondrien sich noch so, als stünde zwischen ihnen und uns nicht alles zum Besten. Nach wie vor besitzen sie ihre eigene DNA. Sie vermehren sich zu anderen Zeitpunkten als ihre Wirtszelle. Sie sehen aus wie Bakterien, teilen sich wie Bakterien und sprechen manchmal auch wie Bakterien auf Antibiotika an. Kurz gesagt, halten sie ihre Siebensachen zusammen. Sie sprechen noch nicht einmal die gleiche genetische Sprache wie die Zelle, in der sie leben. Es ist, als hätte man einen Fremden im Haus, der allerdings schon seit einer Milliarde Jahren zu Besuch ist.

Diese neuartigen Zellen bezeichnet man allgemein als Eukaryonten ( »Zellen mit einem echten Zellkern« ), im Gegensatz zu dem älteren Typus, der unter dem Namen Prokaryonten ( »vor dem Zellkern« ) bekannt ist. In den Fossilfunden tauchen Eukaryonten recht plötzlich auf. Die ältesten Zellen dieses Typs, Grypania genannt, wurden 1992 in Eisensedimenten in Michigan entdeckt. Es war der einzige Fossilfund dieser Art, danach kommen über 500 Millionen Jahre lang keine weiteren mehr.

Im Vergleich zu den neuen Eukaryonten waren die alten Prokaryonten eigentlich nur »Beutel voller Chemikalien«, wie der Geologe Stephen Drury es formulierte.34 Die Eukaryonten waren größer - am Ende um das 10000-fache - als ihre einfachen Vettern und trugen auch bis zu 1000mal mehr DNA in sich. Allmählich entwickelte sich ein System, in dem zwei Grundtypen vorherrschten: Lebewesen, die Sauerstoff abgeben (unter anderem die Pflanzen) und solche, die ihn aufnehmen (du und ich).

Die einzelligen Eukaryonten bezeichnete man früher als Protozoen ( »Vor-Tiere« ), aber dieser Begriff wird zunehmend abgelehnt. Heute nennt man sie allgemein Protisten. Im Vergleich zu den Bakterien aus der Zeit davor waren die neuen Protisten wahre Wunder der Konstruktion und Raffinesse. Die einfache Amöbe, die nur aus einer einzigen Zelle besteht und keinen anderen Ehrgeiz hat, als nur da zu sein, enthält in ihrer DNA 400 Millionen Bits an genetischer Information - genug, wie Carl Sagan feststellt, um 80 Bücher mit je 500 Seiten zu füllen.

Schließlich lernten die Eukaryonten noch ein weiteres einzigartiges Kunststück. Die Entwicklung dauerte lange -rund eine Milliarde Jahre -, erwies sich aber am Ende als äußerst nützlich. Sie lernten, sich zu komplizierteren, vielzelligen Lebewesen zusammenzulagern. Erst durch diese Neuerung wurden große, komplex gebaute, mit bloßem Auge sichtbare Organismen wie wir möglich. Der Planet Erde war bereit, in die nächste, ehrgeizige Phase einzutreten.

Bevor wir uns darüber aber zu sehr freuen, sollten wir daran denken, dass die Welt auch heute noch eigentlich dem sehr Kleinen gehört. Mehr darüber in Kürze.

20. Eine kleine Welt

Es ist vermutlich nicht besonders ratsam, ein allzu großes persönliches Interesse an den eigenen Mikroorganismen zu entwickeln. Der große französische Chemiker und Bakteriologe Louis Pasteur war so von ihnen besessen, dass er jeden Teller, den man ihm vorsetzte, kritisch mit dem Vergrößerungsglas betrachtete1 - eine Gewohnheit, die ihm wahrscheinlich nicht gerade häufig eine zweite Einladung zum Abendessen eintrug.

Tatsächlich hat es keinen Sinn, vor den eigenen Bakterien davonzulaufen: Sie sind immer in und um uns, und das in einer Zahl, die wir uns überhaupt nicht vorstellen können. Wer gesund ist und in Hygienedingen durchschnittliche Sorgfalt walten lässt, auf dessen fleischigen Ebenen grast eine Herde von ungefähr einer Billion Bakterien, etwa 100000 auf jedem Quadratzentimeter der Haut. Dort ernähren sie sich von den rund zehn Milliarden Hautschuppen, die wir jeden Tag abgeben, aber auch von den schmackhaften Ölen und stärkenden Mineralstoffen, die aus jeder Pore sickern. Der Mensch ist für sie ein Schlaraffenland mit angenehmer Wärme und ständiger Beweglichkeit als zusätzlichem Nutzen. Zum Dank statten sie uns mit Körpergeruch aus.

Und das sind nur die Bakterien, die auf unserer Haut wohnen. Billionen weitere verstecken sich in Darm und Atemwegen, haften an Haaren und Augenwimpern, schwimmen über die Augenoberfläche, bohren sich in den Zahnschmelz. Allein der Verdauungstrakt beherbergt mehr als 100 Billionen Mikroorganismen, die zu mindestens 400 verschiedenen Arten gehören. Manche verarbeiten Zucker, andere die Stärke, und manche greifen andere Bakterien an. Überraschend viele, darunter die allgegenwärtigen Darmspirochäten, haben keinerlei erkennbare Funktion.4 Sie sind anscheinend einfach unsere Begleiter. Ein menschlicher Körper besteht aus rund zehn Trillionen Zellen, enthält aber etwa 100 Trillionen Bakterien.5 Kurz gesagt, machen sie uns zu einem großen Teil aus. Und wir sind aus Sicht der Bakterien natürlich ein recht kleiner Teil von ihnen.

Da wir Menschen so groß und klug sind, dass wir Antibiotika und Desinfektionsmittel herstellen und benutzen können, sind wir nur allzu leicht überzeugt, wir hätten die Bakterien an den Rand des Daseins gedrängt. Das sollten wir nicht glauben. Bakterien bauen vielleicht keine Städte und haben kein interessantes gesellschaftliches Leben, aber sie werden noch da sein, wenn die Sonne explodiert. Dies ist ihr Planet, und uns gibt es nur, weil sie es uns gestatten.

Eines dürfen wir nie vergessen: Die Bakterien kamen Milliarden Jahre lang ohne uns zurecht. Wir dagegen könnten nicht einen einzigen Tag ohne sie überleben.6 Sie verarbeiten unsere Abfallstoffe und machen sie wieder nutzbar; ohne ihre sorgfältige Zersetzungstätigkeit würde nichts verrotten. Sie reinigen unser Wasser und sorgen dafür, dass der Boden fruchtbar bleibt. Bakterien synthetisieren Vitamine in unserem Darm, verwandeln unsere Nahrung in nützliche Zucker und Polysaccharide und ziehen gegen fremde Mikroorganismen, die durch die Speiseröhre rutschen, in den Krieg.

Wir sind völlig auf Bakterien angewiesen, die der Luft den Stickstoff entziehen und ihn für uns in nützliche Nukleotide und Aminosäuren umwandeln. Das ist eine großartige, äußerst vorteilhafte Leistung. Um das Gleiche industriell zu erreichen (beispielsweise bei der Düngemittelproduktion), darauf weisen Margulis und Sagan hin, müssen die Hersteller das Ausgangsmaterial auf 500 Grad erhitzen und auf das 300-fache des normalen Luftdrucks zusammenpressen. Bakterien schaffen es ständig und ohne großen Aufwand - zu unserem Glück, denn kein größeres Lebewesen könnte ohne den von ihnen verarbeiteten Stickstoff existieren. Vor allem aber liefern Mikroorganismen uns weiterhin die Luft, die wir atmen, und sie halten die Atmosphäre stabil. Der größte Teil des Luftsauerstoffs auf der Erde stammt von Mikroorganismen, unter ihnen die heutigen Formen der Cyanobakterien. Algen und andere Kleinstlebewesen aus dem Meer blasen jedes Jahr rund 150 Milliarden Kilo davon in die Luft.

Außerdem sind sie ungeheuer vermehrungsfreudig. Die Schnelleren unter ihnen können in knapp zehn Minuten eine neue Generation hervorbringen; Clostridium perfringens, ein unangenehmes kleines Lebewesen, das den Wundbrand verursacht, kann sich alle neun Minuten verdoppeln. Bei dieser Geschwindigkeit könnte ein einziges Bakterium in zwei Tagen theoretisch mehr Nachkommen hervorbringen, als es Protonen im Universum gibt.9 »Bei ausreichender Nährstoffzufuhr kann eine Bakterienzelle an einem einzigen Tag 280 Milliarden Nachkommen produzieren«, erklärt der belgische Biochemiker und Nobelpreisträger Christian de Duve.10 Eine menschliche Zelle schafft in der gleichen Zeit nur eine einzige Zweiteilung.

Ungefähr bei einer unter einer Million Zellteilungen bringen Bakterien eine Mutante hervor. Diese Zelle hat in der Regel Pech gehabt - Veränderungen sind für ein Lebewesen immer mit Gefahr verbunden. Sehr selten jedoch ist das neue Bakterium zufällig mit einem Vorteil ausgestattet, beispielsweise mit der Fähigkeit, einen

Angriff mit Antibiotika zu umgehen oder abzuwehren. Mit dieser schnellen Evolution ist noch ein anderer, gefährlicherer Vorteil verbunden. Bakterien tauschen ihre Informationen aus. Jede ihrer Zellen kann Stücke der genetischen Anweisungen von anderen Zellen aufnehmen. Eigentlich schwimmen alle Bakterien in dem gleichen Genpool, so eine Formulierung von Margulis und Sagan.11 Jeder Anpassungsvorteil, der in einer Region des Bakterienuniversums auftaucht, kann sich auf jede andere Region ausbreiten. Es ist fast, als könnte ein Mensch sich an ein Insekt wenden und von diesem die erforderliche genetische Information erhalten, um sich Flügel wachsen zu lassen oder an der Decke entlangzuspazieren. Das bedeutet, dass die Bakterien aus genetischer Sicht zu einem einzigen Superorganismus geworden sind - sie sind winzig und weit verstreut, aber unbesiegbar.

Sie leben und gedeihen auf fast allem, was wir ausscheiden, fallen lassen oder abschütteln. Ein wenig Feuchtigkeit - beispielsweise wenn man mit einem feuchten Lappen über eine Tischplatte fährt -, und schon vermehren sie sich, als wären sie aus dem Nichts entstanden. Sie fressen Holz, Tapetenkleister, die Metalle in getrockneter Farbe. Eine von australischen Wissenschaftlern entdeckte Mikroorganismenart namens Thiobacillus concretivorans gedeiht bei einer Schwefelsäurekonzentration, die Metalle zerfressen würde - ja sie ist darauf sogar angewiesen. Eine Spezies mit der Bezeichnung Micrococcus radiophilus lebt fröhlich in den Abwassertanks von Kernreaktoren und ernährt sich von Plutonium sowie allen anderen Materialien, die es dort gibt. Manche Bakterien bauen chemische Substanzen ab, von denen sie nach unserer Kenntnis keinerlei Nutzen haben.13

Lebende Bakterien hat man in siedenden Schlammlöchern und Seen aus kaustischer Soda gefunden, aber auch tief im Inneren von Felsen, am Meeresboden, in den versteckten Eiswasserseen der McMurdo-Trockentäler in der Antarktis und elf Kilometer tief im Pazifik, wo der Druck 1000-mal größer ist als an der Oberfläche - das würde bedeuten, dass sie unter 50 Jumbojets zusammengequetscht sind. Manche von ihnen sind anscheinend praktisch unzerstörbar. Deinococcus radiodurans ist nach Angaben der Zeitschrift Economist »fast immun gegen Radioaktivität«. Bombardiert man seine DNA mit Strahlung, lagern sich die Stücke sofort wieder neu zusammen »wie die beweglichen Gliedmaßen eines Untoten aus einem Horrorfilm«.14

Die vielleicht erstaunlichste bisher beobachtete Überlebensleistung war die eines Bakteriums der Spezies Streptococcus: Es wurde von dem luftdicht abgeschlossenen Objektiv einer Kamera geborgen, die zwei Jahre lang auf dem Mond gestanden hatte.15 Kurz gesagt, gibt es kaum eine Umwelt, in der Bakterien nicht leben könnten. »Wie sich mittlerweile herausstellt, kann man Sonden in Tiefseeschlote schieben, die so heiß sind, dass die Sonde fast schmilzt, und dann sind immer noch Bakterien dort«, erklärte mir Victoria Bennett.

In den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts gaben die beiden Wissenschaftler Edson Bastin und Frank Greer von der Universität Chicago bekannt, sie hätten aus Ölquellen mehrere Bakterienstämme isoliert, die zuvor in 600 Metern Tiefe gelebt hätten Der Gedanke wurde als grundsätzlich absurd abgetan - man glaubte, in 600 Meter Tiefe könne es einfach nichts Lebendiges geben. 50 Jahre lang nahm man an, die Proben der beiden seien mit Mikroorganismen von der Erdoberfläche verunreinigt gewesen. Heute wissen wir, dass eine Fülle von Mikroorganismen tief im Erdinneren lebt, und viele davon haben mit der organischen Welt, die wir kennen, nicht das Geringste zu tun. Sie fressen Gestein - oder genauer gesagt, das Material im Gestein: Eisen, Schwefel, Mangan und so weiter. Und sie atmen auch seltsame Dinge ein -Eisen, Chrom, Kobalt, sogar Uran. Solche Vorgänge dürften maßgeblich dazu beigetragen haben, Gold, Kupfer und andere Edelmetalle anzureichern, und möglicherweise sind durch sie auch Öl- und Erdgaslagerstätten entstanden. Manchen Vermutungen zufolge haben sie mit ihrem unermüdlichen Fressen sogar die Erdkruste geschaffen.16

Nach Ansicht mancher Fachleute könnten bis zu 100 Billionen Tonnen Bakterien unter unseren Füßen in den so genannten unterirdischen lithoautotrophen Mikro-organismen-Ökosystemen leben. Thomas Gold von der Cornell University schätzt, dass alle Bakterien aus dem Erdinneren, auf der Oberfläche verteilt, die gesamte Erde ungefähr 1,50 Meter hoch bedecken würden. Wenn diese Schätzung stimmt, gibt es unter der Erde möglicherweise mehr Leben als auf ihr.

Je tiefer man kommt, desto kleiner und langsamer werden die Mikroorganismen. Die Lebhaftesten von ihnen teilen sich möglicherweise höchstens einmal in 100 Jahren, manche sogar nur alle 500 Jahre. Oder, wie die Zeitschrift Economist es formulierte: »Der Schlüssel zu einem langen Leben liegt offensichtlich darin, dass man möglichst nicht viel tut.« 19 Wenn es hart auf hart kommt, können die Bakterien in ihrem Inneren alle Systeme stilllegen und auf bessere Zeiten warten. Im Jahr 1997 gelang Wissenschaftlern die Aktivierung von Milzbrandsporen, die 80 Jahre lang in einer Museumsvitrine im norwegischen Trondheim geruht hatten. Andere Mikroorganismen wurden zum Leben erweckt, nachdem man sie aus einer 118 Jahre alten Fleischkonserve oder einer 166 Jahre alten Bierflasche befreit hatte. Forscher der russischen Akademie der Wissenschaften behaupteten

1996, sie hätten Bakterien wiederbelebt, die drei Millionen Jahre im sibirischen Permafrost gelegen hätten. Den Rekord jedoch halten bisher Russell Vreeland und seine Kollegen von der West Chester University in Pennsylvania mit ihrer im Jahr 2000 aufgestellten Behauptung, sie hätten 250 Millionen Jahre alte Bakterien der Spezies Bacillus permians aktiviert, die bei Carlsbad in New Mexico 600 Meter unter der Erde in Salzstöcken eingeschlossen waren. Wenn das stimmt, sind diese Mikroorganismen älter als die Kontinente.

Der Bericht stieß auf verständliche Zweifel. Viele Biochemiker behaupteten, in einem solchen Zeitraum hätten die Bestandteile der Mikroorganismen zerfallen und nutzlos werden müssen, es sei denn, das Bakterium sei von selbst hin und wieder zum Leben erwacht. Aber selbst wenn es so gewesen sein sollte, kann man sich keine innere Energiequelle vorstellen, die derart lange erhalten bleibt. Skeptischere Wissenschaftler äußerten die Vermutung, die Probe sei verunreinigt worden - vielleicht nicht unbedingt bei der Bergung, sondern schon als sie in der Erde begraben wurde.23 Im Jahr 2001 berichtete eine Arbeitsgruppe der Universität Tel Aviv, B. permians sei fast genau identisch mit dem modernen Bakterienstamm Bacillus marismortui, der im Toten Meer vorkommt. Beide unterscheiden sich nur in zwei genetischen Sequenzen, und auch das nur geringfügig.

»Sollen wir glauben, dass sich bei B. permians in 250 Millionen Jahren die gleiche Anzahl genetischer Abweichungen angesammelt hat, die im Labor schon nach drei bis sieben Tagen entsteht?«, fragten die israelischen Wissenschaftler. Darauf erwiderte Vreeland, die Evolution der Bakterien könne im Labor ohne weiteres schneller ablaufen als in freier Wildbahn.

Könnte sein.

Es ist schon bemerkenswert - bis weit ins Weltraumzeitalter hinein unterteilten die meisten Schulbücher alles Lebendige in nur zwei Kategorien: Pflanzen und Tiere. Mikroorganismen spielten kaum eine Rolle. Amöben und ähnliche Einzeller behandelte man als Ur-Tiere, Algen als Ur-Pflanzen. Die Bakterien steckte man in der Regel mit den Pflanzen in einen Topf, obwohl jeder wusste, dass sie dort nicht hingehörten. Schon im 19. Jahrhundert hatte der deutsche Naturforscher Ernst Haeckel die Ansicht geäußert, die Bakterien hätten es verdient, in ein eigenes Organismenreich eingeordnet zu werden, das er als Monera bezeichnete. Die Idee setzte sich aber bei den Biologen erst in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts durch, und auch dann noch längst nicht bei allen. (Ich muss feststellen, dass auch mein ansonsten so zuverlässiges American Heritage-Handwörterbuch von 1969 den Begriff nicht kennt.)

Auch vielen Lebewesen, die mit bloßem Auge zu sehen sind, wurde die alte Einteilung nur sehr schlecht gerecht. Die Gruppe der Pilze, zu der neben den großen, sichtbaren Pilzen auch Schimmelpilze und Hefe gehören, galt fast immer als Gegenstand der Botanik, obwohl fast nichts an ihr - weder Fortpflanzung noch Atmung oder Aufbau - zu irgendetwas aus der Welt der Pflanzen passt. In ihrer Struktur haben sie mehr mit den Tieren gemeinsam, denn ihre Zellen sind aus Chitin aufgebaut, einem Material, das ihnen ihre charakteristische Konsistenz verleiht. Aus der gleichen Substanz bestehen die Panzer der Insekten und die Klauen der Säugetiere, auch wenn sie bei einem Hirschkäfer längst nicht so schmackhaft ist wie bei einem Trüffel. Vor allem aber betreiben Pilze im Gegensatz zu allen Pflanzen keine Photosynthese; sie besitzen also auch kein Chlorophyll und sind deshalb nicht grün. Stattdessen wachsen sie unmittelbar auf ihrer Nahrungsquelle, und die kann aus fast allem bestehen. Pilze fressen den Schwefel von einer Betonwand oder das abgestorbene Material zwischen unseren Zehen - Dinge, die keine Pflanze verwerten würde. Fast die einzige Gemeinsamkeit mit den Pflanzen besteht darin, dass Pilze ebenfalls Wurzeln bilden.

Noch weniger in eine feste Kategorie einzuordnen war eine seltsame Gruppe von Lebewesen, die wissenschaftlich als Myxornyceten bezeichnet wird, allgemein aber unter dem Namen Schleimpilze bekannt ist. Der Name hat zweifellos mit ihren rätselhaften Eigenschaften zu tun. Eine Bezeichnung wie »wanderndes selbstaktivierendes Protoplasma«, die ein wenig dynamischer klingt und nicht an das Zeug aus verstopften Abflüssen erinnert, hätte diesen ungewöhnlichen Lebewesen sicher ein wenig stärker die verdiente Aufmerksamkeit verschafft: Schleimpilze gehören zweifellos zu den interessantesten Organismen in der Natur. In guten Zeiten leben sie als Einzelzellen, ganz ähnlich wie die Amöben. Verschlechtern sich die Bedingungen jedoch, kriechen sie zu einer zentralen Sammelstelle und vereinigen sich fast wie durch ein Wunder zu einem schleimigen Klümpchen. Dieses Klümpchen ist alles andere als schön, und es kommt auch nicht besonders weit - in der Regel wandert es nur von der Unterseite eines Laubhaufens zu seiner Spitze. Aber mehrere Jahrmillionen lang dürfte dies der raffinierteste Trick der Natur gewesen sein.

Und das ist auch noch nicht alles. Nachdem der Schleimpilz sich an eine günstigere Stelle begeben hat, verwandelt er sich noch einmal und nimmt die Form einer Pflanze an. Durch einen erstaunlich geordneten Prozess postieren sich die Zellen neu wie die Mitglieder einer winzigen wandernden Blaskapelle. Sie bilden einen Stiel, an dessen Spitze sich eine kleine Blase befindet, der so genannte Fruchtkörper. In seinem Inneren liegen mehrere Millionen Sporen, die im richtigen Augenblick freigesetzt werden, sodass der Wind sie wegtragen kann. Auf diese Weise werden sie wieder zu Einzellern, und der ganze Kreislauf kann von vorn beginnen.

Viele Jahre lang wurden die Schleimpilze von den Zoologen als Protozoen und von den Pilzforschern als Pilze bezeichnet, aber für die meisten Fachleute war klar, dass sie eigentlich in keine der bekannten Gruppen gehörten. Als man dann genetische Analysen durchführen konnte, stellten die Wissenschaftler zu ihrer Überraschung fest, dass die Schleimpilze etwas ganz Eigenes, Besonderes waren: Sie standen zu nichts anderem in der Natur in einer unmittelbaren Verwandtschaftsbeziehung, in manchen Fällen auch nicht einmal untereinander.

Im Jahr 1969 wollte der Ökologe R. H. Whittaker von der Cornell University ein wenig Ordnung in die immer weniger zutreffende Klassifikation bringen. In der Fachzeitschrift Science unterbreitete er den Vorschlag, das Lebendige in fünf Hauptgruppen - oder Organismenreiche, wie wir heute sagen - einzuteilen: Tiere (Animalia), Pflanzen (Plantae), Pilze (Fungi), Protisten (Protista) und Bakterien (Monera). »Protista« war die Abwandlung des älteren Begriffs Protoctista, den der schottische Biologe John Hogg schon 100 Jahre zuvor eingeführt hatte - er bezeichnete damit alle Lebewesen, die weder Tier noch Pflanze waren.

Whittakers neue Einteilung stellte zwar einen großen Fortschritt dar, die Protista waren aber nach wie vor schlecht definiert. Manche Systematiker rechneten nur große Einzeller - die Eukaryoten - dazu, andere benutzten die Kategorie als eine Art Kramschublade der Biologie, in die sie alles hineinwarfen, was nirgendwo anders passte. Je nachdem, in welchem Lehrbuch man nachschlug, umfasste sie Schleimpilze, Amöben und vieles andere, manchmal sogar den Seetang. Nach einer Berechnung wurden ihr bis zu 200000 verschiedene biologische Arten zugeschlagen - eine Menge Kram.

Als Nächstes hielt das Schicksal eine seiner Ironien bereit: Gerade als Whittakers Klassifikation der fünf Organismenreiche sich in den Lehrbüchern allmählich durchsetzte, war ein pensionierter Wissenschaftler an der University of Illinois auf dem Weg zu einer Entdeckung, die alles andere in Frage stellen sollte. Er hieß Carl Woese und untersuchte seit Mitte der sechziger Jahre - oder zumindest seit der Zeit, als es überhaupt möglich war - in aller Ruhe die genetischen Sequenzen von Bakterien. In der Anfangszeit war das eine äußerst mühselige Arbeit. Häufig nahmen die Analysen an einer einzigen Bakterienart ein ganzes Jahr in Anspruch. Nach Woeses Angaben kannte man zu jener Zeit nur rund 500 Bakterienarten, weniger als die Zahl verschiedener Formen, die wir in unserem Mund tragen. Heute liegt die Zahl etwa zehnmal so hoch, aber auch das ist noch wenig im Vergleich zu den 26900 Algen-, 70000 Pilz- und 30 800 Amöbenarten, deren Lebensbilder die Annalen der Biologie füllen.

Dass die Gesamtzahl so niedrig ist, liegt nicht an der Gleichgültigkeit der Wissenschaftler. Bakterien zu isolieren und zu untersuchen, ist vielfach entsetzlich schwierig. Nur etwa ein Prozent von ihnen vermehren sich in Laborkulturen. Wenn man bedenkt, wie leicht sie sich in der Natur an alles Mögliche anpassen, ist es eigentlich seltsam, dass sie ausgerechnet auf einer Petrischale nicht wachsen mögen. Man kann sie auf eine Unterlage aus Agar fallen lassen und dann nach Belieben hätscheln - die meisten Arten bleiben dort einfach liegen und verweigern sich jedem Wachstumsanreiz. Ein Bakterium, das im Labor gut gedeiht, ist definitionsgemäß eine Ausnahme, und doch untersuchten die Mikrobiologen fast ausschließlich solche Organismen. Es war, »als wollte man etwas über Tiere erfahren, indem man einen Zoo besucht«, so eine Formulierung von Woese.

Anhand der Gene konnte Woese den Mikroorganismen jedoch aus einer anderen Richtung beikommen. Im Laufe seiner Arbeiten erkannte er, dass es in der Welt der Kleinstlebewesen weitaus grundsätzlichere Unterteilungen gibt, als man bis dahin angenommen hatte. Zahlreiche Mikroben, die wie Bakterien aussehen und sich auch so verhalten, sind in Wirklichkeit ganz etwas anderes - sie gehören zu einer Abstammungslinie, die sich schon vor langer Zeit von den Bakterien abgespalten hat. Diese Organismen bezeichnete Woese als Archaebacteria, ein Begriff, der später zu Archaea verkürzt wurde.

Häufig hört man, die Eigenschaften, durch die sich Archaea von den Bakterien unterscheiden, würden mit Ausnahme der Biologen niemanden vom Hocker reißen. Sie betreffen vor allem die Lipide und das Fehlen einer Verbindung namens Peptidoglycan. In der Praxis jedoch liegen Welten zwischen den Gruppen. Die Archaea unterscheiden sich von den Bakterien stärker als du und ich von einem Krebs oder einer Spinne. Woese hatte ganz allein eine unvermutete Unterteilung der Lebewesen entdeckt, die so grundlegend ist, dass sie noch oberhalb der Organismenreiche ganz am Anfang des allgemeinen Lebensstammbaums steht, wie er ehrerbietig genannt wird.

Im Jahr 1976 verblüffte Woese die Welt - oder zumindest den kleinen Teil davon, der ihm Aufmerksamkeit schenkte: Er zeichnete den Stammbaum des Lebens neu, und zwar nicht nur mit fünf, sondern mit 23 Hauptästen. Diese fasste er zu drei großen Kategorien zusammen, die er als Domänen bezeichnete: Bacteria, Archaea und Eukarya (manchmal auch Eucarya geschrieben).

Woeses neue Einteilung eroberte die biologische Welt nicht im Sturm. Manche Fachleute kritisierten, er lege ein zu großes Gewicht auf die Mikroorganismen. Und viele nahmen das Schema einfach nicht zur Kenntnis. Darüber war Woese nach Angaben von Frances Ashcroft bitter enttäuscht. Aber langsam setzte sich das neue Schema unter den Mikrobiologen durch. Botaniker und Zoologen dagegen brauchten viel länger, bis sie seine Vorteile zu schätzen wussten. Die Gründe zu erkennen, ist nicht schwer. Woeses Modell verbannt die Disziplinen der Botanik und Zoologie auf einige winzige Zweige am äußersten Ende des Hauptastes der Eukarya. Alles andere ist die Domäne der Einzeller.

»Diese Leute sind damit groß geworden, dass man Einteilungen auf Grund makroskopisch-morphologischer Ähnlichkeiten und Unterschiede vornimmt«, sagte Woese 1996 in einem Interview. »Die Vorstellung, dass man dazu molekulare Sequenzen benutzt, ist für viele von ihnen ein wenig schwer verdaulich.«

Kurz gesagt, waren Unterschiede, die man mit bloßem Auge nicht sehen konnte, unbeliebt. Deshalb blieben viele bei der traditionellen Einteilung in fünf Reiche, ein Schema, das Woese in sanfteren Augenblicken als »nicht sonderlich nützlich« und in der übrigen Zeit meist als »richtig irreführend« bezeichnete. Er schrieb: »Wie zuvor die Physik, so ist auch die Biologie auf einer Ebene angelangt, auf der man die Gegenstände des Interesses und ihre Wechselbeziehungen häufig nicht durch direktes Beobachten wahrnehmen kann.«

Im Jahr 1998 goss der große alte Zoologe Ernst Mayr von der Harvard University (der damals 94 war und jetzt, während ich dies schreibe, bei guter Gesundheit auf die 100 zugeht) weiteres Öl ins Feuer: Er erklärte, man solle nur zwei große Kategorien des Lebendigen unterscheiden, »Imperien«, wie er sie nannte. In einem Aufsatz für die angesehene Fachzeitschrift Proceedings of the National Academy of Sciences erklärte Mayr, Woeses Befunde seien zwar interessant, aber letztlich gingen sie in die Irre; er stellte fest: »Woese ist nicht als Biologe ausgebildet und deshalb natürlich auch nicht umfassend vertraut mit den Prinzipien der Klassifikation« - deutlicher kann ein angesehener Wissenschaftler wohl nicht ausdrücken, dass ein anderer eigentlich nicht weiß, wovon er redet.

In den Einzelheiten ist Mayrs Kritik so fachspezifisch, dass wir uns hier nicht genauer damit befassen müssen -unter anderem geht es dabei um meiotische Sexualität, Hennigsche Kladistik und umstrittene Interpretationen des Genoms von Methanobacterium thermoautotrophicum. Letztlich vertritt er aber die Ansicht, Woeses Ordnung schaffe im Stammbaum des Lebendigen ein Ungleichgewicht. Der Bereich der Bakterien, darauf weist Mayr hin, besteht nur aus ein paar 1000 Arten, und bei den Archaea gibt es nur 175 benannte Formen, wobei ein paar 1000 weitere vielleicht noch der Entdeckung harren -»aber viel mehr dürften es kaum sein«. Die Zahl der verschiedenartigen Eukaryoten dagegen - das heißt der kompliziert gebauten Lebewesen mit Zellkernen, zu denen auch wir gehören - geht in die Millionen. Um des »Gleichgewichtsprinzips willen« setzte sich Mayr dafür ein, die einfachen bakteriellen Formen zu einer einzigen Kategorie namens Prokaryota zusammenzufassen, während der ganze kompliziertere, »höher entwickelte« Rest als gleichberechtigtes Imperium namens Eukaryota daneben steht. Oder anders ausgedrückt: Er ist dafür, alles im Wesentlichen so zu belassen wie bisher. In der Unterteilung zwischen einfachen und komplizierten Zellen liegt nach seiner Auffassung »der große Bruch in der Welt des Lebendigen«.

Die Unterscheidung zwischen halophilen Archaea und Methanosarcina oder zwischen Flavobacteria und Grampositiven Bakterien wird für die meisten Menschen nie zu einer Schicksalsfrage werden, aber man sollte daran denken, dass jede dieser Gruppen sich von den anderen ebenso stark unterscheidet wie die Tiere von den Pflanzen. Wenn wir aus Woeses Einteilung überhaupt etwas lernen können, dann dieses: Das Leben ist vielgestaltig, und zum größten Teil findet man die Vielfalt im Kleinen, bei den Einzellern und bei Dingen, die uns kaum vertraut sind. Es ist ein natürlicher, menschlicher Impuls, sich die Evolution als lange Kette von Verbesserungen vorzustellen, als nie endenden Fortschritt in Richtung des Großen und Komplizierten - mit einem Wort: zu uns als Ziel. Damit schmeicheln wir uns selbst. In Wirklichkeit betrifft die Vielfalt der Evolution zum größten Teil den ganz kleinen Maßstab. Wir großen Lebewesen sind nur eine Laune der Natur, ein interessanter Seitenast. Von den 23 Hauptgruppen des Lebendigen sind nur drei - Pflanzen, Tiere und Pilze - so groß, dass ein Mensch sie mit bloßem Augen sehen kann, und auch unter ihnen gibt es mikroskopisch kleine Arten. Nach Woeses Angaben besteht die gesamte Menge der Biomasse auf der Erde -alle Lebewesen einschließlich der Pflanzen - zu mindestens 80 Prozent aus Mikroorganismen; vielleicht ist der Anteil auch noch größer.34 Die Welt gehört dem ganz Kleinen, und das schon seit sehr langer Zeit.

Nun fragt sich natürlich jeder irgendwann in seinem Leben einmal: Warum wollen Mikroorganismen uns so häufig Schaden zufügen? Was hat ein Kleinstlebewesen davon, wenn es uns Fieber oder Schüttelfrost verursacht, uns durch einen Ausschlag entstellt oder uns gar sterben lässt? Schließlich wird ein toter Wirt auf die Dauer kaum Gastfreundschaft gewähren.

Zunächst einmal sei daran erinnert, dass die meisten Mikroorganismen für das Wohlergehen der Menschen neutral oder sogar nützlich sind. Das ansteckendste Bakterium der Welt, Wolbachia genannt, fügt Menschen und auch allen anderen Wirbeltieren keinerlei Schaden zu; Krebse, Würmer oder Taufliegen allerdings würden sich angesichts seiner Bedrohung vielleicht manchmal wünschen, sie wären nie geboren worden. Insgesamt ist nach Angaben des National Geographic Magazine nur eine unter 1000 Mikroorganismenarten für Menschen ein Krankheitserreger, aber da wir wissen, was manche dieser Organismen anrichten können, ist der Gedanke, dass das bereits mehr als genug ist, vielleicht verständlich. Obwohl die Mikroorganismen in ihrer Mehrzahl harmlos sind, stellen sie in den Industrieländern nach wie vor die Todesursache Nummer drei dar, und selbst jene, die nicht tödlich wirken, lassen uns natürlich häufig wünschen, es gäbe sie nicht.

Ein Mikroorganismus, der seinem Wirt ein Unwohlsein verursacht, hat davon gewisse Vorteile. Krankheitssymptome tragen häufig dazu bei, das Leiden weiter zu verbreiten. Erbrechen Niesen und Durchfall sind ausgezeichnete Methoden, um einen Wirtsorganismus zu verlassen und die Voraussetzungen für die Aufnahme durch einen anderen zu schaffen. Die wirksamste Strategie besteht darin, sich der Mithilfe eines beweglichen Dritten zu versichern. Ansteckende Krankheitserreger lieben Mücken, denn durch deren Stich gelangen sie unmittelbar ins Blut und können sofort an die Arbeit gehen, bevor die Verteidigungsmechanismen des Opfers überhaupt bemerken, womit sie es zu tun haben. Das ist der Grund, warum so viele besonders schwere Infektionskrankheiten - Malaria, Gelbfieber, Denguefieber, Enzephalitis und rund 100 andere, die weniger bekannt, aber häufig ebenso bösartig sind - mit einem Mückenstich beginnen. Für uns ist es eine glückliche Laune der Natur, dass HIV, der AIDS-Erreger, nicht in diese Gruppe gehört - jedenfalls noch nicht. Eine Mücke, die ein HI-Virus aufsaugt, löst den Erreger in ihrem eigenen Stoffwechsel auf. Sollte das Virus eines Tages durch eine Mutation in der Lage sein, diesem Schicksal zu entgehen, könnte es uns noch wesentlich größere Probleme bereiten.

Allerdings ist es auch ein Fehler, die Frage allzu ausschließlich nur unter logischen Gesichtspunkten zu betrachten: Mikroorganismen stellen natürlich keine Berechnungen an. Um das, was sie einem Menschen antun, kümmern sie sich ebenso wenig, wie wir uns um ihre Leiden sorgen, wenn wir sie mit ein wenig Seife oder Deodorant zu Millionen hinmorden. Unser fortgesetztes Wohlergehen ist für einen Krankheitserreger nur dann von Bedeutung, wenn er allzu effizient tötet. Richtet er seinen Wirt zu Grunde, bevor er auf einen anderen übergehen kann, stirbt er unter Umständen auch selbst. Manchmal geschieht so etwas tatsächlich. Nach den Feststellungen von Jared Diamond ist die Geschichte voller Beispiele für Krankheiten, die »einst schreckliche Epidemien auslösten und dann ebenso geheimnisvoll verschwanden, wie sie gekommen waren«. Als Beispiel nennt er das gefürchtete, glücklicherweise aber nur kurzlebige Englische Schweißfieber, das von 1485 bis 1552 wütete und mehrere 10000 Opfer forderte, bevor es von selbst »ausbrannte«. Zu viel Wirkung ist für jeden ansteckenden Erreger schädlich.

Ein erheblicher Teil der Krankheitserscheinungen entsteht nicht durch das, was der Erreger uns antut, sondern durch die Reaktionen unseres eigenen Organismus. In dem Bestreben, die Mikroorganismen loszuwerden, zerstört das Immunsystem manchmal körpereigene Zellen, oder es schädigt wichtige Gewebe; wenn wir uns also nicht wohl fühlen, liegt es häufig nicht an den Erregern, sondern an unserer eigenen ImmunAntwort. Dennoch sind solche Symptome eine sinnvolle Reaktion auf die Infektion. Kranke Menschen legen sich ins Bett und stellen deshalb für ihre Umgebung eine geringere Gefahr dar. Außerdem schont Ruhe die Ressourcen des Organismus, die sich dann stärker der Infektionsbekämpfung widmen können.

Da es in der Umwelt so viele Dinge gibt, die unseren Organismus schädigen können, hält dieser die unterschiedlichsten weißen Blutzellen zur Abwehr bereit -insgesamt sind es rund zehn Millionen Typen, und jeder davon ist so gestaltet, dass er eine ganz bestimmte Art von Eindringlingen erkennen und zerstören kann. Zehn Millionen ständige Armeen bereitzuhalten, wäre natürlich ineffizient und völlig unmöglich; deshalb ist jede Form der weißen Zellen nur in Form weniger aktiver Kundschafter vertreten. Dringt ein infektiöses Agens - in der Wissenschaft spricht man von einem Antigen - ein, wird es von den zugehörigen Kundschaftern erkannt, und die rufen dann Verstärkung des geeigneten Typs zu Hilfe. Während der Organismus diese Streitkräfte produziert, fühlen wir uns meist ziemlich elend. Wenn die Armee schließlich aktiv wird, beginnt die Genesung.

Weiße Blutzellen sind gnadenlos: Sie verfolgen und töten noch den letzten Krankheitserreger, den sie finden können. Um der Ausrottung zu entgehen, haben die Angreifer zwei Grundstrategien entwickelt. Entweder schlagen sie sehr schnell zu und gehen dann auf einen neuen Wirt über - nach diesem Prinzip funktionieren verbreitete Infektionskrankheiten wie die Grippe -, oder sie tarnen sich so, dass die weißen Blutzellen sie nicht ausfindig machen - diese Strategie verfolgt der AIDS-Erreger HIV der sich jahrelang harmlos und unbemerkt in den Zellkernen einnisten kann, bevor er schließlich aktiv wird.

Ein eher seltsamer Aspekt der Infektionskrankheiten besteht darin, dass Mikroorganismen, die normalerweise keinerlei Schaden anrichten, manchmal in die falschen Körperteile geraten und dort »irgendwie verrückt spielen«, wie Dr. Bryan Marsh, Spezialist für Infektionskrankheiten am Dartmouth-Hitchcock Medical Center in Lebanon, New Hampshire, es formuliert. »So etwas geschieht häufig, wenn jemand durch einen Autounfall innere Verletzungen davongetragen hat. Dann wandern Mikroorganismen, die normalerweise im Darm zu Hause sind und keinerlei Schaden anrichten, in andere Regionen - beispielsweise ins Blut - und haben dort verheerende Wirkungen.«

Eine besonders beängstigende, kaum zu kontrollierende bakterielle Erkrankung ist die Fasciitis necroticans: Dabei fressen Bakterien den Patienten praktisch von innen heraus auf - sie zerstören die inneren Gewebe und lassen nur weiche, giftige Reste zurück. Die Betroffenen kommen häufig zunächst mit relativ harmlosen Beschwerden zum Arzt, meist mit Hautausschlag und Fieber. Später verschlechtert sich ihr Zustand rapide. Werden sie dann operiert, stellt sich häufig heraus, dass sie sich einfach von innen heraus auflösen. Die einzige Behandlung ist die so genannte »Radikalexstirpation«: Man schneidet sämtliche infizierten Gebiete heraus. Fast die Hälfte der Opfer stirbt, bei den übrigen bleiben vielfach entsetzliche Entstellungen zurück. Verursacht wird die Infektion von den so genannten Streptokokken Typ A, einer alltäglichen Gruppe von Bakterien, die normalerweise nur Halsschmerzen verursachen. In sehr seltenen Fällen durchdringen einige dieser Bakterien jedoch aus unbekannten Gründen die Rachenschleimhaut, und wenn sie dann in das eigentliche Körperinnere gelangen, richten sie dort ein Chaos an. Gegen Antibiotika sind sie völlig resistent. In den Vereinigten Staaten treten jedes Jahr rund 1000 Fälle dieser Krankheit auf, und niemand kann mit Sicherheit behaupten, das werde nicht noch schlimmer.

Ganz ähnlich verhält es sich auch mit der Gehirnhautentzündung oder Meningitis. Mindestens zehn Prozent der jungen Erwachsenen und vielleicht 30 Prozent aller Jugendlichen tragen die tödlichen Meningokokken in sich, die aber im Rachen leben und dort völlig ungefährlich sind. Gelegentlich jedoch - ungefähr bei einem unter 100000 jungen Menschen - gelangen sie ins Blut und rufen dann eine sehr schwere Krankheit hervor, die im schlimmsten Fall innerhalb von zwölf Stunden zum Tode führen kann. Eine erschreckend kurze Zeit. »Manchmal ist jemand beim Frühstück noch völlig gesund und abends schon tot«, sagt Marsh.

Mit der Bekämpfung von Bakterien hätten wir wahrscheinlich mehr Erfolg, wenn wir nicht so sorglos mit unserer besten Waffe gegen sie umgehen würden: mit den Antibiotika. Nach einer Schätzung werden rund 70 Prozent aller Antibiotika, die in den Industrieländern verbraucht werden, an Nutztiere verabreicht, häufig als Bestandteil des ganz normalen Futters. Hier dienen sie einfach als Wachstumsförderer oder zur Vorbeugung gegen Infektionen. Solche Anwendungsbereiche schaffen für die Bakterien beste Voraussetzungen, um Resistenzen zu entwickeln. Und diese Gelegenheit haben sie mit Begeisterung genutzt.

Im Jahr 1952 wirkte Penicillin ausgezeichnet gegen alle Bakterienstämme der Gattung Staphylococcus; der Effekt war so stark, dass William Stuart, der damalige Leiter des US-Gesundheitswesens, Anfang der sechziger Jahre voller Zuversicht erklärte: »Die Zeit ist gekommen, in der wir das Buch der Infektionskrankheiten zuklappen können. Wir haben die Infektionen in den Vereinigten Staaten im Wesentlichen ausgerottet.« 40 Während er das sagte, standen 90 Prozent der Bakterienstämme aber bereits im Begriff, eine Immunität gegen Penicillin zu entwickeln.41 Wenig später tauchte einer dieser neuen Stämme, Methicillin-resistenter Staphylococcus aureus genannt, erstmals in den Krankenhäusern auf. Gegen ihn half nur noch ein einziges Amibiotikum, das Vancomycin, aber 1997 berichtete ein Krankenhaus in Tokio über einen Stamm, dem auch dieser Wirkstoff nichts mehr anhaben konnte. Wenige Monate später hatte er sich bereits in sechs japanischen Krankenhäusern ausgebreitet.

Insgesamt sind die Mikroorganismen heute dabei, den Krieg wieder zu gewinnen: Allein in den Krankenhäusern der Vereinigten Staaten sterben jedes Jahr rund 14000 Menschen an Infektionen, die sie sich dort zugezogen haben. Eine durchaus nicht überraschende Feststellung machte James Surowiecki: Wenn Pharmaunternehmen die Wahl haben, Antibiotika zu entwickeln, die ein Patient zwei Wochen lang einnimmt, oder aber Antidepressiva, die ein Leben lang verabreicht werden müssen, entscheiden sie sich für die zweite Möglichkeit. Einige Antibiotika sind zwar mittlerweile ein wenig wirksamer, aber völlig neue derartige Wirkstoffe hat die Pharmaindustrie uns seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts nicht mehr beschert.

Noch beunruhigender ist unsere Achtlosigkeit, seit man entdeckt hat, dass auch viele andere Krankheiten möglicherweise bakterielle Ursachen haben. Erste derartige Befunde lieferte der Arzt Barry Marshall aus dem westaustralischen Perth im Jahr 1983: Er stellte fest, dass die meisten Magengeschwüre und in vielen Fällen auch Magenkrebs von einem Bakterium namens Helicobacter pylori hervorgerufen werden. Die Entdeckung ließ sich zwar leicht überprüfen, aber es war eine so radikale Vorstellung, dass noch mehr als zehn Jahre vergehen mussten, bevor sie allgemeine Anerkennung fand. Die National Institutes of Health der Vereinigten Staaten beispielsweise machten sie sich offiziell erst 1994 zu Eigen.43 »Hunderte oder sogar Tausende von Menschen sind offensichtlich unnötigerweise an Magengeschwüren gestorben«, sagte Marshall 1999 einem Journalisten der Zeitschrift Forbes44

Seither hat sich durch weitere Forschungsarbeiten herausgestellt, dass Bakterien auch bei allen möglichen anderen Krankheiten eine Rolle spielen dürften45 - bei Herzleiden, Asthma, Arthritis, Multipler Sklerose, mehreren geistigen Störungen, vielen Krebsformen, und manchen Vermutungen zufolge (denen sich sogar das renommierte Fachblatt Science anschloss) auch bei Übergewicht. Vielleicht ist der Tag nicht mehr fern, an dem wir verzweifelt ein wirksames Antibiotikum benötigen und auf keines mehr zurückgreifen können.

Da ist es vielleicht ein kleiner Trost, dass auch Bakterien selbst erkranken können. Manchmal werden sie von Bakteriophagen (häufig kurz Phagen genannt) infiziert, einer Art Viren. Viren sind seltsame, unangenehme Gebilde - »schlechte Nachrichten, eingewickelt in Protein«, so eine denkwürdige Formulierung des Nobelpreisträgers Peter Medawar.46 Viren, kleiner und einfacher als Bakterien, sind selbst nicht lebendig. Allein sind sie völlig leblos und ungefährlich. Bringt man sie aber in eine geeignete Wirtszelle, sprühen sie plötzlich vor Eifer - sie werden lebendig. Man kennt etwa 5000 Virustypen, die uns insgesamt mehrere 100 Krankheiten bescheren, von Grippe und gewöhnlicher Erkältung bis hin zu heimtückischen Leiden wie Pocken, Tollwut, Gelbfieber, Ebola, Kinderlähmung und schließlich AIDS, das durch das menschliche Immunschwächevirus hervorgerufen wird.

Viren vermehren sich, indem sie das genetische Material einer lebenden Zelle unter ihre Kontrolle bringen und zur Herstellung neuer Viren nutzen. Sie pflanzen sich sehr schnell fort, befreien sich aus der Zelle und suchen nach neuen Zellen, die sie besiedeln können. Da sie selbst keine Lebewesen sind, können sie sich einen sehr einfachen Aufbau leisten. Viele von ihnen, so auch HIV, besitzen noch nicht einmal zehn Gene, die einfachsten Bakterien dagegen benötigen bereits mehrere 1000 derartige Einheiten. Außerdem sind sie winzig klein, sodass man sie nicht einmal mit einem herkömmlichen Lichtmikroskop sehen kann. Erst 1943, nachdem man das Elektronenmikroskop erfunden hatte, bekamen Wissenschaftler sie erstmals zu Gesicht. Dennoch können sie gewaltige Schäden anrichten. Allein an den Pocken starben im 20. Jahrhundert schätzungsweise 300 Millionen Menschen.

Außerdem besitzen Viren die beunruhigende Fähigkeit, sich der Welt in immer neuer, verblüffender Form zu präsentieren und dann ebenso schnell wieder zu verschwinden, wie sie gekommen sind. So etwas ereignete sich 1916: Damals erkrankten Menschen in Europa und Amerika plötzlich an einer seltsamen Schlafsucht, die unter dem Namen Encephalitis lethargica bekannt wurde. Die Betroffenen schliefen einfach ein und wachten nicht mehr auf. Man konnte sie zwar mit viel Mühe wecken, damit sie etwas aßen oder die Toilette aufsuchten, und auf Fragen gaben sie auch sinnvolle Antworten - sie wussten, wer und wo sie waren -, aber sie verhielten sich stets völlig teilnahmslos.

Sobald man sie in Ruhe ließ, versanken sie wieder in tiefem Schlaf, und dieser Zustand blieb erhalten, solange man sie nicht störte. Einige schliefen monatelang und starben schließlich. Wenige andere überlebten und kamen irgendwann wieder zu Bewusstsein, gewannen aber ihre frühere Lebhaftigkeit nicht mehr zurück. Sie dämmerten in einem Zustand tiefer Apathie dahin »wie erloschene Vulkane«, so die Formulierung eines Arztes. Die Krankheit forderte innerhalb von zehn Jahren etwa fünf Millionen Opfer und verschwand dann in aller Stille wieder.49 Langfristig widmete man ihr kaum Aufmerksamkeit, denn in der Zwischenzeit ging eine noch gewaltigere Epidemie um die Welt - es war die schlimmste der gesamten Menschheitsgeschichte.

Sie wird manchmal Schweinegrippe oder auch Große Spanische Grippe genannt, in jedem Fall aber war sie eine Katastrophe. Dem Ersten Weltkrieg fielen in vier Jahren 21 Millionen Menschen zum Opfer; an der Grippe starb die gleiche Zahl in nur vier Monaten.50 Fast 80 Prozent der Amerikaner, die während des Ersten Weltkriegs ums Leben kamen, starben nicht durch feindliches Feuer, sondern an der Grippe. In manchen Krankenhäusern lag die Sterblichkeit bei 80 Prozent.

Die Schweinegrippe entstand im Frühjahr 1918 als normale, nicht tödliche Influenza, aber in den folgenden Monaten verwandelte sie sich in etwas weitaus Schlimmeres - wie oder warum, weiß niemand. Bei einem Fünftel der Betroffenen traten nur mäßige Symptome auf, die Übrigen jedoch wurden schwer krank und starben in vielen Fällen. Bei manchen trat der Tod nach wenigen Stunden ein, andere hielten einige Tage durch.

In den Vereinigten Staaten wurde über die ersten Todesfälle Ende August 1918 bei Seeleuten in Boston berichtet, anschließend breitete sich die Epidemie jedoch schnell über das ganze Land aus. Schulen wurden geschlossen und öffentliche Veranstaltungen abgesagt, überall trugen die Menschen Gesichtsmasken. Es nützte nichts. Zwischen dem Herbst 1918 und dem Frühjahr des folgenden Jahres starben in den USA 548452 Menschen an der Grippe. In Großbritannien lag die Zahl bei 220000, ähnlich hoch war sie auch in Frankreich und Deutschland. Die weltweite Zahl der Todesopfer ist nicht genau bekannt, da aus der Dritten Welt häufig nur spärliche Berichte kamen, aber sie liegt in jedem Fall bei mindestens 20 Millionen, möglicherweise auch eher bei 50 Millionen. Manche Schätzungen sprechen sogar von weltweit bis zu 100 Millionen Opfern.

In dem Bestreben, einen Impfstoff zu entwickeln, nahmen die Gesundheitsbehörden an Freiwilligen in einem Militärgefängnis auf Deer Island im Hafen von Boston eine Erprobung vor.51 Man stellte den Gefangenen die Begnadigung in Aussicht, wenn sie sich einer Reihe von Untersuchungen unterzogen. Die Experimente waren, gelinde gesagt, unangenehm. Zunächst spritzte man den Versuchspersonen infiziertes Lungengewebe von Grippeopfern, dann sprühte man ihnen virushaltige Tröpfchen in Augen, Nase und Mund. Wurden sie daraufhin immer noch nicht krank, rieb man ihnen den Rachen mit dem Auswurf von Kranken und Sterbenden ein. Und wenn alles nichts half, mussten sie sich mit offenem Mund einem Schwerkranken gegenübersetzen, der ihnen dann ins Gesicht hustete.

Verblüffenderweise stellten sich 300 Männer freiwillig zur Verfügung, und 62 wählten die Arzte für den Versuch aus. Kein Einziger von ihnen erkrankte an Grippe - wirklich keiner. Nur einer wurde krank: der Stationsarzt, und er starb auch bald darauf. Zu erklären war dieses Ergebnis vermutlich dadurch, dass die Epidemie bereits einige Wochen zuvor in dem Gefängnis um sich gegriffen hatte; bei den Freiwilligen, die ja diesen Ausbruch überlebt hatten, war vermutlich eine natürliche Immunität entstanden.

Vieles an der Grippeepidemie von 1918 ist bis heute kaum oder gar nicht geklärt. So ist es beispielsweise ein Rätsel, wie sie so plötzlich an vielen Orten ausbrechen konnte, die durch Ozeane, Gebirge und andere geografische Hindernisse getrennt waren. Ein Virus überlebt außerhalb des Wirtsorganismus höchstens einige Stunden - wie konnte es in Madrid, Bombay und Philadelphia in derselben Woche auf der Bildfläche erscheinen?

Die Antwort lautet vermutlich: Es wurde von Menschen, die selbst nur schwache oder überhaupt keine Symptome zeigten ausgebrütet und verbreitet. Selbst bei einer normalen Grippeepidemie bemerken rund zehn Prozent der Betroffenen die Infektion nicht, weil sie keinerlei Krankheitssymptome bekommen. Und da sie weiterhin unter Menschen gehen, tragen sie meist besonders wirksam zur Ausbreitung der Krankheit bei.

Das könnte ein Grund für die weite Verbreitung der Epidemie von 1918 sein, es erklärt aber noch nicht, warum die Krankheit monatelang auf kleiner Flamme kochte, um dann praktisch überall zur gleichen Zeit so explosionsartig auszubrechen. Noch rätselhafter ist, dass sie vor allem bei Menschen in den besten Jahren ihre verheerende Wirkung entfaltete. Normalerweise sind Säuglinge und ältere Menschen am stärksten von der Grippe betroffen, 1918 jedoch handelte es sich bei der Mehrzahl der Opfer um Personen zwischen 20 und 40 Jahren. Altere Menschen waren möglicherweise geschützt, weil sie nach früheren Kontakten mit demselben Erregerstamm bereits eine Resistenz entwickelt hatten, aber warum auch Kinder verschont blieben, weiß man nicht. Und die größte unbeantwortete Frage lautet: Warum war die Grippe von 1918 im Gegensatz zu den meisten anderen Epidemien dieser Krankheit so entsetzlich oft tödlich? Bis heute haben wir keine Ahnung.

Manche Virusstämme kehren von Zeit zu Zeit wieder. Ein unangenehmes russisches Influenzavirus mit der Bezeichnung H1N1 verursachte 1933 in großen Regionen schwere Epidemien, dann wieder in den fünfziger Jahren und noch einmal nach 1970. Wo es sich jeweils in der Zwischenzeit aufhielt, ist nicht bekannt. Einer Vermutung zufolge könnten die Viren sich unbemerkt in Beständen von Wildtieren verbergen, um dann ihre Wirkung an einer neuen Menschengeneration wieder zu erproben. Auch die Möglichkeit, dass die große Schweinegrippe-Epidemie noch einmal ihr Haupt erhebt, kann niemand ausschließen.

Und wenn nicht, könnten andere Erreger an ihre Stelle treten. Ständig tauchen neue, beängstigende Viren auf. Ebola-, Lassa- und Marburg-Fieber wurden bei verschiedenen Gelegenheiten aktiv und verschwanden jedes Mal wieder, aber niemand kann mit Sicherheit behaupten, sie würden nicht in aller Stille irgendwo mutieren oder schlicht den richtigen Augenblick abwarten, um dann auf katastrophale Weise auszubrechen. Mittlerweile wissen wir, dass auch AIDS bereits viel länger existiert, als man ursprünglich angenommen hatte. Wie Wissenschaftler des Manchester Royal Infirmary in England entdeckten, hatte ein Seemann, der 1959 an einer rätselhaften, nicht behandelbaren Krankheit starb, in Wirklichkeit AIDS. Aber aus irgendwelchen Gründen blieb die Krankheit danach noch 20 Jahre im Verborgenen.

Eher ist es ein Wunder, dass andere Krankheiten nicht bösartiger geworden sind. Das Lassafieber, das man erst 1969 in Westafrika entdeckte, ist äußerst ansteckend und wenig erforscht. Im Jahr 1969 erkrankte ein Arzt an der Yale University in New Haven, Connecticut, daran, nachdem er sich wissenschaftlich mit dem Erreger beschäftigt hatte. Er überlebte, beunruhigend aber war, dass eine Assistentin in einem Nachbarinstitut, die keinen unmittelbaren Kontakt mit dem Virus gehabt hatte, sich ebenfalls die Krankheit zuzog und daran starb.

Glücklicherweise war der Ausbruch damit beendet, aber auf ein derart gnädiges Schicksal können wir nicht immer rechnen. Unsere Lebensweise schafft beste Voraussetzungen für Epidemien. Durch den Luftverkehr können Krankheitserreger sich unglaublich einfach über die ganze Erde verbreiten. Ein Ebolavirus, das sich beispielsweise morgens noch in Benin befindet, kann abends bereits in New York, Hamburg oder Nairobi sein. Deshalb müssen sich auch die Gesundheitsbehörden zunehmend mit praktisch allen Krankheiten vertraut machen, die es irgendwo auf der Welt gibt, aber das geschieht natürlich nicht. Im Jahr 1990 infizierte sich ein in Chicago lebender Nigerianer bei einem Besuch in seiner Heimat mit dem Lassafieber, aber die Symptome setzten erst ein, nachdem er in die Vereinigten Staaten zurückgekehrt war.54 Er starb in einem Chicagoer Krankenhaus, ohne dass man die richtige Diagnose gestellt oder bei der Behandlung irgendwelche Vorsichtsmaßnahmen ergriffen hätte - niemand wusste, dass er an einer der tödlichsten, ansteckendsten Krankheiten der Erde litt. Wie durch ein Wunder infizierte sich sonst niemand. Das nächste Mal haben wir vielleicht weniger Glück.

Mit dieser ernüchternden Feststellung möchte ich nun in die Welt der sichtbaren Lebewesen zurückkehren.

21. Das Leben geht weiter

Ein Fossil zu werden, ist nicht einfach. Das Schicksal nahezu aller Lebewesen - über 99,9 Prozent - besteht darin, zu Nichts zu zerfallen.1 Aus einem Organismus, der seinen Lebensfunken ausgehaucht hat, wird jedes einzelne Molekül weggefressen oder weggespült und in einem anderen System wieder verwendet. Das ist einfach so. Und selbst wer zu der kleinen Gruppe der Organismen gehört, jenen noch nicht einmal 0,1 Prozent, die nicht verschlungen werden, hat nur sehr geringe Aussichten, sich in ein Fossil zu verwandeln.

Damit ein Fossil entsteht, müssen mehrere Dinge geschehen. Zunächst muss sich das Lebewesen am richtigen Ort befinden. Nur rund 15 Prozent aller Gesteine eignen sich für die Erhaltung von Fossilien - man sollte also nicht über einer zukünftigen Granitformation umfallen. Konkret muss der Verstorbene im Sediment begraben werden, wo er einen Abdruck hinterlassen kann wie ein Blatt im weichen Schlamm, oder wo er unter Sauerstoffabschluss zersetzt wird. Nur dann können die Moleküle in seinen Knochen und harten Körperteilen (sowie sehr selten auch in weicheren Teilen) durch gelöste Mineralstoffe ersetzt werden, die eine versteinerte Kopie des Originals schaffen. Und wenn die Sedimente, in denen das Fossil liegt, später durch geologische Vorgänge achtlos zusammengepresst, gefaltet und herumgestoßen werden, muss das Fossil auf irgendeine Weise eine erkennbare Form behalten. Schließlich und vor allem aber muss es, nachdem es Dutzende oder vielleicht sogar Hunderte von Millionen Jahren verborgen war, gefunden und als erhaltenswert erkannt werden.

Nach heutiger Kenntnis wird nur ungefähr einer von einer Milliarde Knochen zu einem Fossil. Wenn das stimmt, wird das gesamte fossile Vermächtnis aller heute lebenden US-Amerikaner - insgesamt 270 Millionen Menschen mit jeweils 206 Knochen - nur aus rund 50 Knochen bestehen, einem Viertel eines vollständigen Skeletts. Das bedeutet natürlich noch nicht, dass auch nur ein Einziger davon gefunden wird. Wenn man bedenkt dass die Knochen irgendwo auf einer Fläche von rund neun Millionen Quadratkilometern begraben werden können, von denen nur ein sehr geringer Teil jemals umgegraben und noch weniger untersucht wird, wäre es fast ein Wunder, wenn irgendetwas davon wieder ans Tageslicht käme. Fossilien sind in jeder Hinsicht äußerst selten. Das allermeiste, was jemals auf der Erde lebendig war, hat keinerlei Spuren hinterlassen. Nach Schätzungen findet sich noch nicht einmal eine unter 10000 biologischen Arten in den Fossilfunden wieder. Schon das ist ein unendlich kleiner Anteil. Geht man aber von der üblichen Schätzung aus, wonach die Erde im Laufe ihres Lebens rund 30 Milliarden Arten von Lebewesen hervorgebracht hat, und nimmt man dann noch die Aussage von Richard Leakey und Roger Lewin (in Die sechste Auslöschung) hinzu, wonach etwa 250000 Arten in fossiler Form bekannt sind,4 so vermindert sich dieser Anteil auf nur noch eine unter 120000 Arten. Wie dem auch sei: In jedem Fall besitzen wir nur eine äußerst kleine Stichprobe aller Lebewesen, welche die Erde jemals hervorgebracht hat.

Außerdem sind die Funde, die wir besitzen, hoffnungslos einseitig. Landtiere sterben natürlich in der Regel nicht in Sedimenten. Sie fallen irgendwo um und werden gefressen oder verwesen, bis nichts mehr übrig bleibt. Deshalb haben Meerestiere bei den Fossilien ein fast absurdes Übergewicht. Bei etwa 95 Prozent aller bekannten Fossilien handelt es sich um Tiere, die einst unter Wasser lebten, die meisten davon in flachen Meeren.5

Ich erwähne das alles, weil ich erklären möchte, warum ich an einem grauen Februartag ins Londoner Natural History Museum ging und mich mit einem fröhlichen, ein wenig zerzausten, höchst liebenswerten Paläontologen namens Richard Fortey traf.

Fortey weiß erstaunlich viel über erstaunlich vieles. Er hat ein eigenwilliges, großartiges Buch mit dem Titel Leben - Eine Biographie geschrieben, in dem er die Entstehung der Tiere in ihrer ganzen Bandbreite abhandelt. Seine größte Liebe gilt aber den Trilobiten, einer Gruppe von Meeresbewohnern, die sich einst in den Ozeanen des Ordoviziums herumtrieben, seit langer Zeit aber nur noch in Form von Fossilien existieren. Alle Trilobiten hatten den gleichen Grundbauplan mit drei Teilen oder »Lappen« - Kopf, Brust und Schwanz -, dem sie auch ihren Namen verdanken. Sein erstes derartiges Fossil fand Fortey, als er an der St. David’s Bay in Wales über die Felsen kletterte. Seitdem lassen diese Tiere ihn nicht mehr los.

Er führt mich in einen Flur mit hohen Metallschränken. Die Schränke bestehen aus flachen Schubladen, die ausnahmslos mit versteinerten Trilobiten gefüllt sind -insgesamt 20000 Fundstücke.

»Das hört sich nach viel an«, bestätigte er, »aber man muss daran denken, dass in den Meeren der Vorzeit über Millionen und Abermillionen Jahre hinweg Millionen und Abermillionen von Trilobiten lebten; da sind 20000 keine besonders hohe Zahl. Außerdem handelt es sich bei den meisten um unvollständige Stücke. Die Entdeckung eines vollständigen Trilobitenfossils ist für den Paläontologen auch heute noch ein großer Augenblick.« 6

Die ersten Trilobiten erschienen - fertig ausgebildet und scheinbar aus dem Nichts - vor rund 540 Millionen Jahren auf der Bildfläche. Ungefähr zur gleichen Zeit begann die große Vermehrung komplizierter Lebensformen, die unter dem Namen »kambrische Explosion« bekannt ist. Ungefähr 300000 Jahrhunderte später verschwanden sie zusammen mit vielen anderen Lebewesen in dem großen, bis heute rätselhaften Aussterbe-Ereignis im Perm. Man ist leicht versucht, sie wie alle ausgestorbenen Lebewesen als Versager der Evolution zu betrachten, aber in Wirklichkeit gehörten sie zu den erfolgreichsten Tieren aller Zeiten. Ihre Herrschaft erstreckte sich über 300 Millionen Jahre, doppelt so lange wie die der Dinosaurier, die ebenfalls zu den großen Überlebenskünstlern der Erdgeschichte gehörten. Die Menschen, darauf weist Fortey hin, haben es bisher erst auf ein halbes Prozent dieser Zeitspanne gebracht.

Die Trilobiten, denen eine so lange Zeit zur Verfügung stand vermehrten sich üppig. Die meisten Formen blieben klein und erreichten nur ungefähr die Größe der heutigen Käfer, manche wuchsen aber auch zur Größe eines Esstellers heran. Insgesamt bildeten sie mindestens 5000 Gattungen mit 60000 Arten - aber es werden immer noch neue gefunden. Auf einer Tagung in Südamerika wurde Fortey kürzlich von einer Wissenschaftlerin aus einer kleinen Provinzuniversität in Argentinien angesprochen. »Sie hatte eine Schachtel voller interessanter Sachen dabei - Trilobiten, die man bisher weder in Südamerika noch sonst irgendwo gesehen hatte, und vieles andere. Ihr standen keine Forschungseinrichtungen für nähere Untersuchungen zur Verfügung, und sie hatte auch kein Geld, um weiter zu suchen. Große Teile der Welt sind noch völlig unerforscht.«

»Im Hinblick auf Trilobiten?«

»Nein, im Hinblick auf alles.«

Während des gesamten 19. Jahrhunderts waren Trilobiten nahezu die einzigen komplexen Lebensformen, die man aus der Vorzeit kannte, und deshalb wurden sie eifrig gesammelt und studiert. Rätselhaft war vor allem, dass sie so plötzlich auf der Bildfläche erschienen. Noch heute, so erklärt mir Fortey, ist es häufig verblüffend: Man steht vor der richtigen Gesteinsformation, arbeitet sich aufwärts durch die Erdzeitalter vor und findet keinerlei Anzeichen von Leben. »Dann aber fällt einem, wenn man das Gestein aufschlägt, urplötzlich auf einmal ein vollständiger Profallotaspis oder Olenellus so groß wie eine Krabbe in die erwartungsvoll geöffneten Hände.« 8 Es waren Tiere mit Extremitäten, Kiemen, Nervensystem, Tastantennen, »eine Art Gehirn« (so Forteys Formulierung) und den seltsamsten Augen aller Zeiten. Sie waren aus Stäbchen aufgebaut, und die bestanden aus Calciumcarbonat, dem gleichen Material wie Kalkstein. Nach heutiger Kenntnis stellten sie das erste optische Sinnesorgan dar. Außerdem handelt es sich bei den ersten Trilobiten nicht nur um eine einzige abenteuerlustige Spezies, sondern um mehrere Dutzend Arten, die nicht nur an ein oder zwei Stellen auftauchten, sondern auf der ganzen Welt. Im 19. Jahrhundert sahen viele Fachleute darin einen Beweis für Gottes Tätigkeit und eine Widerlegung der Darwinschen Evolutionsgedanken. Wenn die Evolution langsam abläuft, so fragten sie, wie lässt sich dann dieses plötzliche Auftauchen kompliziert gebauter, vollständig ausgebildeter Tiere erklären? Die Antwort: Es war überhaupt nicht zu erklären.

Es schien, als sollte es immer so bleiben, aber eines schönen Tages im Jahr 1909, drei Monate vor dem 50. Jahrestag des Erscheinens von Darwins Entstehung der Arten, machte ein Paläontologe namens Charles DoolittleWalcott in den kanadischen Rocky Mountains eine ungewöhnliche Entdeckung.

Walcott wurde 1850 in der Nähe von Utica im US-Bundesstaat New York geboren und wuchs dort auch auf. Seine Familie lebte in bescheidenen Verhältnissen, und die wurden noch bescheidener, weil sein Vater plötzlich starb, als Walcott noch ein Säugling war. Als Junge entdeckte er an sich die Begabung, Fossilien und insbesondere Trilobiten zu finden; daraufhin baute er eine so ansehnliche Sammlung auf, dass Louis Agassiz sie schließlich für sein Museum an der Harvard University erwarb und ein kleines Vermögen dafür bezahlte - nach heutigem Wert rund 70000 Dollar.9 Obwohl Walcott nur über eine schlechte Schulbildung verfügte und in den Naturwissenschaften Autodidakt war, wurde er zu einem führenden Fachmann für Trilobiten und wies als Erster nach, dass diese Tiere zu den Gliederfüßern gehörten, der gleichen Gruppe, die auch die heutigen Insekten und Krebse umfasst.

Im Jahr 1879 übernahm er bei der kurz zuvor gegründeten United States Geological Survey eine Stelle als Freilandforscher10 und erwarb sich dabei so viel Verdienste, dass er 15 Jahre später bereits die Leitung der Institution übernahm. Im Jahr 1907 ernannte man ihn zum Sekretär der Smithsonian Institution, und diesen Posten bekleidete er bis zu seinem Tod 1927. Trotz seiner Verwaltungsaufgaben arbeitete er auch weiterhin im Freiland und verfasste zahlreiche wissenschaftliche Schriften. Nach Angaben von Fortey füllen seine Bücher ein ganzes Bibliotheksregal.11 Nicht ganz zufällig war er auch Gründungsdirektor des National Advisory Committee for Aeronautics, aus dem später die National Aeronautics and Space Agency oder kurz NASA hervorging. Man kann ihn also mit Fug und Recht als Großvater des Weltraumzeitalters bezeichnen.

In Erinnerung blieb er jedoch wegen eines klugen, aber auch glücklichen Fundes, der ihm im Spätsommer 1909 in der kanadischen Provinz British Columbia weit oberhalb der Kleinstadt Field gelang. Nach der üblichen Version dieser Geschichte waren Walcott und seine Frau dort zu Pferd unterwegs. Auf einem Bergpfad unterhalb einer Stelle, die als Burgess Ridge bezeichnet wurde, glitt das Pferd seiner Frau auf lockeren Steinen aus. Als Walcott abstieg und ihr helfen wollte, sah er eine Schieferplatte, die das Pferd umgedreht hatte. Sie enthielt besonders alte, ungewöhnliche Fossilien von Krebsen. Es schneite - der Winter bricht in den kanadischen Rocky Mountains früh herein -, und deshalb hielten die beiden sich nicht länger dort auf, aber im folgenden Jahr kehrte Walcott bei erster Gelegenheit an die gleiche Stelle zurück. Auf dem mutmaßlichen Weg eines Erdrutsches kletterte er mehr als 200 Meter hoch bis fast zum Gipfel des Berges. Dort oben, 2400 Meter über dem Meerespiegel, fand er eine freiliegende Schieferformation ungefähr von der Länge eines Häuserblocks. Sie enthielt eine beispiellose Ansammlung von Fossilien aus der Zeit kurz nach jenem Augenblick, als die kompliziert gebauten Lebewesen sich so atemberaubend vermehrt hatten - nach der berühmten kambrischen Explosion. Damit hatte Walcott eigentlich den heiligen Gral der Paläontologie entdeckt. Die Formation wurde als Burgess-Schiefer bekannt und vermag »wie keine andere paläontologische Entdeckung unser Verständnis vom Leben zu verändern«, wie der kürzlich verstorbene Stephen Jay Gould es in seinem Buch Zufall Mensch formulierte.

Der stets höchst gewissenhafte Gould fand beim Studium von Walcotts Tagebüchern heraus, dass die Geschichte über die Entdeckung des Burgess-Schiefers offenbar ein wenig ausgeschmückt wurde -- Walcott erwähnt weder ein ausgleitendes Pferd noch fallenden Schnee. Dass es ein außergewöhnlicher Fund war, ist jedoch nicht zu bezweifeln.

Menschen, deren Zeit auf Erden sich auf wenige flüchtige Jahrzehnte beschränkt, können eigentlich überhaupt nicht einschätzen, wie weit die kambrische Explosion zeitlich von uns entfernt ist. Wenn wir mit einer Geschwindigkeit von einem Jahr pro Sekunde in die Vergangenheit fliegen könnten, hätten wir ungefähr nach einer halben Stunde die Zeit Christi erreicht, und in etwas mehr als drei Wochen wären wir bei der Entstehung des Menschen angelangt. Bis wir jedoch beim Beginn des Kambriums ankommen, sind 20 Jahre vergangen. Mit anderen Worten: Alles spielte sich vor sehr, sehr langer Zeit ab, und die Welt sah damals völlig anders aus.

Zunächst einmal lag der Burgess-Schiefer zur Zeit seiner Entstehung vor mehr als 500 Millionen Jahren nicht auf dem Gipfel, sondern am Fuße eines Berges. Genauer gesagt, handelte es sich um ein flaches Ozeanbecken unterhalb einer steilen Klippe. In den Meeren jener Zeit wimmelte es von Lebewesen, aber normalerweise hinterließen die damaligen Tiere keine Spuren, weil sie ausschließlich aus weichen Körperteilen bestanden und nach ihrem Tod vollständig zerfielen. Bei Burgess jedoch brach die Klippe zusammen, und die Tiere an ihrem Fuße wurden unter einem Erdrutsch begraben. Auf diese Weise wurden sie wie die Blumen in einem Buch zusammengepresst, und ihre Eigenschaften blieben in allen erstaunlichen Einzelheiten erhalten.

Von 1910 bis 1925 (als er bereits 75 war) grub Walcott auf alljährlichen Sommerreisen mehrere 10000 Funde aus (nach Goulds Angaben waren es 80000; die normalerweise unbestechlichen Tatsachenprüfer von National Geographie beziffern sie auf 60000), die er zur weiteren Untersuchung nach Washington brachte. Die Sammlung hatte, sowohl was den reinen Umfang als auch was die Vielfalt anging, nicht ihresgleichen. Manche Fossilien aus dem Burgess-Schiefer besaßen ein Gehäuse, bei vielen anderen war das nicht der Fall. Manche konnten sehen, andere waren blind. Die Formenvielfalt war gewaltig -nach einer Zählung handelte es sich um 140 Arten.14 »Der Burgess-Schiefer enthielt ein Spektrum unterschiedlicher anatomischer Konstruktionen, wie es seitdem nie wieder erreicht wurde und an das auch alle Tiere in den heutigen Ozeanen der Erde nicht heranreichen«, schrieb Gould.15

Leider erkannte Walcott nach Goulds Bericht nicht die Tragweite seiner Entdeckung. »Walcott ließ den Triumph noch zur Niederlage werden, indem er diese großartigen Fossilien so weit, wie es überhaupt nur möglich war, falsch interpretierte« schrieb Gould in einem anderen Buch mit dem Titel Eight Little Piggies. Er ordnete sie heutigen zoologischen Gruppen zu und machte sie zu Vorfahren von Würmern, Quallen oder anderen Tieren, das heißt, er konnte ihre Eigentümlichkeit überhaupt nicht einschätzen. »Nach dieser Deutung nahm das Leben seinen Anfang in urtümlicher Einfachheit und bewegte sich dann mit vorhersagbarer Zwangsläufigkeit in Richtung des immer Größeren und Besseren«, seufzte Gould.16

Walcott starb 1927, und danach gerieten die Fossilien aus dem Burgess-Schiefer mehr oder weniger in Vergessenheit. Fast ein halbes Jahrhundert schlummerten sie in den Schubladen des American Museum of Natural History in Washington. In dieser Zeit wurden sie nur selten untersucht und nie in Frage gestellt. Erst 1973 besichtigte Simon Conway Morris, ein Doktorand der Universität Cambridge, die Sammlung. Er war über das, was er dort sah, verblüfft. Die Fossilien waren weitaus vielgestaltiger und großartiger, als Walcott in seinen Schriften angedeutet hatte. In der zoologischen Systematik bezeichnet man die Kategorie, die dem Grundbauplan des Tieres entspricht, als Stamm. Conway Morris erkannte, dass hier eine Schublade nach der anderen solche anatomischen Einzigartigkeiten enthielt - dass der Mann, dem solche Funde gelungen waren, dies nicht erkannt hatte, fand er erstaunlich und völlig unerklärlich.

Mit seinem Doktorvater Harry Whittington und einem zweiten Doktoranden namens Derek Briggs machte sich Conway Morris in den folgenden Jahren an eine grundlegende Neubewertung der gesamten Sammlung. Als sich dabei eine Entdeckung an die nächste reihte, verfassten sie in schneller Folge ein Buch nach dem anderen. Die Körperbaupläne vieler Tiere waren nicht nur ganz anders als alles, was man zuvor oder seitdem gefunden hatte, sondern die Unterschiede waren auch wahrhaft bizarr. Eines zum Beispiel mit dem Namen Opabinia hatte fünf Augen und eine rüsselartige Schnauze mit Klauen am Ende. Ein anderes, die scheibenförmige Peytoia, ähnelte auf fast lächerliche Weise einer Scheibe Ananas. Ein drittes war offensichtlich auf Reihen stelzenförmiger Beine durch die Gegend gewankt und sah so seltsam aus, dass sie es auf den Namen Hallicugenia tauften. Die Sammlung enthält derart viele bis dahin unbekannte Neuentwicklungen, dass Conway Morris beim Öffnen einer neuen Schublade einmal den berühmten Ausspruch getan haben soll: »Verdammt noch mal, nicht schon wieder ein neuer Stamm.« 18

Durch die Untersuchungen der englischen Arbeitsgruppe stellte sich heraus, dass das Kambrium eine Zeit beispielloser Neuerungen und Experimente mit Körperbauplänen war. Fast eine Milliarde Jahre lang hatte das Lebendige vor sich hin gedämmert und nicht die geringste Neigung zu einer Zunahme der Komplexität erkennen lassen; dann plötzlich, in einem Zeitraum von nur fünf oder zehn Millionen Jahren, hatte es alle grundlegenden Körperbaupläne hervorgebracht, die noch heute existieren. Ganz gleich, welches Tier man betrachtet, vom Fadenwurm bis zu Cameron Diaz sind alle nach Konstruktionsprinzipien gebaut, die bei der großen Party im Kambrium erschaffen wurden.19

Am überraschendsten aber war, dass so viele Körperbaupläne gewissermaßen den Sprung nicht geschafft und keine Nachkommen hinterlassen hatten. Insgesamt gehörten nach Goulds Angaben mindestens 15, vielleicht

aber auch 20 Tiergruppen aus dem Burgess-Schiefer zu keinem der heute bekannten Stämme. (Die Zahl wuchs in manchen populärwissenschaftlichen Beschreibungen schnell auf bis zu 100 - weit mehr, als die Wissenschaftler aus Cambridge jemals behauptet hatten.) Gould: »Die Geschichte des Lebendigen ist nicht der altbekannte Ablauf mit stetig zunehmender Leistung, Komplexität und Formenvielfalt, sondern eine Geschichte der umfangreichen Dezimierung, gefolgt von Differenzierung der wenigen überlebenden Abstammungslinien.« Evolutionerfolg, so schien es jetzt, war eine Lotterie.

Ein Lebewesen, dem der Durchbruch tatsächlich gelang - es war ein kleines, wurmähnliches Geschöpf namens Pikaia graeilens - besaß den Feststellungen zufolge eine primitive Wirbelsäule, und damit war es der älteste bekannte Vorfahre aller späteren Wirbeltiere einschließlich unserer selbst. Pikaia war unter den Fossilien aus dem Burgess-Schiefer keineswegs häufig vertreten, wir können also nicht wissen, wie nahe es dem Aussterben war. Gould lässt in einem berühmten Zitat keinen Zweifel, dass er unseren geradlinigen Erfolg für eine Laune des Schicksals hält: »Man spule das Band des Lebens bis in die Frühzeit des Burgess Shale zurück und lasse es noch einmal vom gleichen Ausgangspunkt ablaufen: die Chance, dass sich bei der Wiederholung so etwas wie menschliche Intelligenz als höchste Zierde ergeben könnte, ist dabei verschwindend gering.«

Goulds Buch, das 1989 erschien, wurde allgemein kritisch aufgenommen, war aber ein großer wirtschaftlicher Erfolg. Es hatte sich nicht allgemein herumgesprochen, dass viele Wissenschaftler durchaus nicht mit Goulds Schlussfolgerungen übereinstimmten, und das Ganze sollte bald in einen hässlichen Streit ausarten. Im Zusammenhang mit dem Kambrium hatten »Explosionen« schon bald mehr mit dem Temperament heutiger Menschen zu tun als mit physiologischen Tatsachen aus der Vorzeit.

Tatsächlich wissen wir heute, dass es schon mindestens 100 Millionen Jahre vor dem Kambrium kompliziert gebaute Lebewesen gab. Das hätte eigentlich schon sehr viel früher klar werden müssen. Fast 40 Jahre nach Walcotts großartiger Entdeckung in Kanada fand der junge Geologe Reginald Sprigg auf der anderen Seite der Erdkugel, in Australien, etwas noch Älteres, das in seiner Art genauso bemerkenswert war.

Im Jahr 1946 war Sprigg ein junger Geologe und Assistent in den Diensten des Bundesstaates South Australia. Er bekam den Auftrag, aufgelassene Bergwerke in den Ediacara Hills des Flinders-Gebirges zu vermessen, einer sonnendurchglühten Region des australischen Outback rund 500 Kilometer nördlich von Adelaide. Man wollte wissen, ob man manche der alten Minen mit neueren technischen Verfahren wieder in Betrieb nehmen und daraus Gewinn schöpfen konnte; deshalb untersuchte er also überhaupt kein Gestein an der Oberfläche, und erst recht war er nicht auf Fossilien aus. Als Sprigg aber eines Tages gerade beim Mittagessen saß, drehte er aus Langeweile ein Stück Sandstein um, und was er dann sah, war, gelinde gesagt, eine Überraschung: Die Oberfläche des Gesteins zeigte fein gezeichnete Fossilien, ganz ähnlich den Abdrücken, die Blätter in Schlamm hinterlassen. Das Gestein war älter als die kambrische Explosion. Er hatte den Anbeginn sichtbarer Lebensformen vor Augen.

Sprigg reichte bei dem Fachblatt Nature einen Aufsatz ein, der aber abgelehnt wurde. Stattdessen berichtete er bei der nächsten Jahrestagung der Australian and New Zealand Association for the Advancement of Science über seine Funde, aber auch dort fand er beim Vorsitzenden der Gesellschaft keine Gnade: Dieser behauptete, die Abdrücke aus Ediacara seien nur »zufällige anorganische Spuren« - Muster, die auf Wind, Regen oder Gezeiten zurückzuführen waren, aber nicht auf Lebewesen. Immer noch gab Spriggs die Hoffnung nicht auf: Er reiste nach London und legte seine Befunde 1948 dem Internationalen Geologenkongress vor, aber auch dort stieß er weder auf Interesse noch glaubte man ihm. Schließlich veröffentlichte er die Ergebnisse mangels eines besseren Sprachrohrs in den Transactions of the Royal Society of South Australia. Dann gab er seine Stellung im öffentlichen Dienst auf und widmete sich der Ölsuche.

Neun Jahre später, 1957, fand ein Schuljunge namens John Mason bei einem Spaziergang durch den Charnwood Forest in den englischen Midlands einen Stein mit einem seltsamen Fossil.24 Es ähnelte einer Seefeder und sah genauso aus wie einige Funde von Sprigg, über die dieser seitdem immer wieder gesprochen hatte. Der Schuljunge gab den Brocken an einen Paläontologen an der Universität Leicester weiter, und der erkannte darin sofort ein Tier aus der Zeit vor dem Kambrium. Daraufhin erschien das Bild des kleinen Mason in den Zeitungen, und man behandelte ihn als Wunderkind; noch heute wird er in vielen Büchern erwähnt. Der Fund erhielt zu seinen Ehren den Namen Chamia masoni.

Heute kann man einen Teil von Spriggs’ ursprünglichen Funden aus Ediacara sowie viele andere der rund 1500 Stücke, die man seitdem im gesamten Flinders-Gebirge ausgegraben hat, in einer Vitrine im oberen Stockwerk des soliden, angenehmen South Australian Museum in Adelaide bewundern, aber dort ziehen sie kaum Aufmerksamkeit auf sich. Die fein eingegrabenen Muster sind nur schwach zu erkennen und wirken für das ungeübte Auge nicht sonderlich faszinierend. Meist handelt es sich um kleine, scheibenförmige Gebilde, und nur in wenigen Fällen sieht man unscharfe Streifen, die sie hinter sich herschleppen. Fortey bezeichnete sie als »Seltsamkeit mit weichem Körper«.

Auch heute besteht eigentlich keine Einigkeit darüber, worum es sich bei diesen Gebilden handelte oder wie sie lebten. Soweit wir wissen, hatten sie weder einen Mund noch einen Darmausgang, mit denen sie Material zum Verdauen aufnehmen und abgeben konnten, und ebenso wenig besaßen sie innere Organe zur Weiterverarbeitung der Nahrung. »Als sie lebendig waren, lagen die meisten von ihnen wahrscheinlich einfach auf der Oberfläche von Sandablagerungen wie weiche, formlose, unbelebte Plattfische«, schreibt Fortey. Selbst auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung waren sie nicht komplizierter gebaut als Quallen. Alle Ediacara-Tiere waren Diploblasten, das heißt, sie bestanden aus zwei Gewebeschichten. Heute gehören alle Tiere mit Ausnahme der Quallen zu den Triploblasten mit drei solchen Gewebelagen.

Manche Fachleute halten sie überhaupt nicht für Tiere, sondern eher für Pflanzen oder Pilze. Aber die Unterscheidung zwischen Pflanzen und Tieren ist selbst heute nicht immer eindeutig. Die allgemein bekannten Schwämme sind ihr ganzes Leben lang an eine einzige Stelle gebunden und besitzen weder Augen noch ein Gehirn oder ein schlagendes Herz; dennoch werden sie zu den Tieren gerechnet. »Wenn wir uns ins Präkambrium begeben, sind die Unterschiede zwischen Pflanzen und Tieren wahrscheinlich noch weniger deutlich«, sagt Fortey. »Keine Gesetzmäßigkeit besagt, dass man nachweislich das eine oder das andere sein muss.«

Ebenso wenig ist man sich darüber einig, ob die Ediacara-Lebewesen die Vorfahren irgendwelcher heutigen Lebensformen waren (vielleicht mit Ausnahme einiger Quallen). Viele Experten halten sie eher für eine Art fehlgeschlagenes Experiment, für einen Ausflug in die Komplexität, der nicht von Dauer war, vielleicht weil die trägen Ediacara-Organismen von den wendigeren, raffinierter gebauten Tieren des Kambriums gefressen oder in der Konkurrenz verdrängt wurden. Nach Forteys Ansicht gibt es heute nichts, was ihnen auch nur entfernt ähnlich wäre. Sie als Vorfahren irgendwelcher späteren Formen zu deuten, ist ausgesprochen problematisch.26

Insgesamt herrschte der Eindruck, dass diese Lebewesen für die weitere Entwicklung des Lebendigen auf der Erde nicht übermäßig wichtig waren. Nach Ansicht vieler Fachleute gab es an der Grenze zwischen Präkambrium und Kambrium ein Massensterben, wobei keinem der Ediacara-Lebewesen (vielleicht mit der unsicheren Ausnahme der Quallen) der Sprung in die nächste Epoche gelang. Mit anderen Worten: Eigentlich begann das kompliziert gebaute Leben mit der kambrischen Explosion. Gould war davon ohnehin überzeugt.

Was die Neubewertung der Fossilien aus dem BurgessSchiefer anging, so stellten andere die Interpretationen in Frage, insbesondere Goulds Interpretation der Interpretationen. »Von Anfang an gab es eine Reihe von Wissenschaftlern, die Zweifel an Goulds Theorie hatten, so sehr sie auch die Art und Weise bewunderten, in der er sie präsentierte«, schrieb Fortey in Leben - Eine Biographie. Und das ist noch sehr milde ausgedrückt.

»Wenn Stephen Gould doch nur so klar denken könnte, wie er schreibt!«, meckerte der Evolutions forscher Richard Dawkins aus Oxford in der ersten Zeile einer Rezension (im Londoner Sunday Telegraph) über Zufall Menseh. Dawkins räumte ein, das Buch sei »unabweisbar« und eine »literarische Tour de force«, aber gleichzeitig warf er Gould eine »bombastische und nahezu hinterhältige« Falschdarstellung der Tatsachen vor, weil er so getan habe, als sei die Neubewertung der BurgessFossilien für die Paläontologengemeinde eine Überraschung gewesen. »Die Ansicht, die er angreift -dass die Evolution sich zwangsläufig in Richtung eines Höhepunktes in Form des Menschen bewegt - wird schon seit 50 Jahren nicht mehr vertreten«, schimpfte Dawkins.

Dennoch war genau das die Schlussfolgerung, zu der viele Rezensenten gelangten. Einer äußerte in der New York Times Book Review fröhlich die Ansicht, die Wissenschaftler hätten auf Grund von Goulds Buch »einige Vorurteile über Bord geworfen, die sie seit Generationen nicht hinterfragt hatten. Widerstrebend oder begeistert erkennen sie jetzt den Gedanken an, dass die Menschen nicht nur ein Produkt einer geordneten Entwicklung sind, sondern ebenso sehr auch ein Unfall der Natur.« 28

Vor allem aber erwuchsen die Angriffe auf Gould aus der Überzeugung, dass viele seiner Schlussfolgerungen schlicht und einfach falsch oder maßlos übertrieben waren. In der Fachzeitschrift Evolution wandte sich Dawkins gegen Goulds Behauptung, »die Evolution sei im Kambrium ein ganz andersartiger Vorgang gewesen als heute«, und er zeigte sich empört über Goulds mehrmals geäußerte Vermutung, »das Kambrium sei eine Phase der >Evolutionsexperimente< gewesen, des >Herumprobierens< der Evolution mit zahlreichen >Fehlstarts< ... Angeblich war es die fruchtbare Zeit, als alle großen grundlegenden Körperbaupläne< erfunden wurden. Heute dagegen spielt die Evolution nur noch mit den alten Bauplänen herum. Damals im Kambrium entstanden neue Stämme und neue Klassen. Heute bekommen wir nur noch neue Arten!«

Angesichts der Tatsache, dass dieser Gedanke - wonach es heute keine neuen Körperbaupläne mehr gibt - so häufig aufgegriffen wird, schreibt Dawkins: »Es ist, als würde ein Gärtner sich eine Eiche ansehen und erstaunt feststellen: >Eigentlich seltsam, dass an diesem Baum schon so lange keine großen neuen Äste mehr entstanden sind. Heutzutage findet Wachstum anscheinend nur noch auf der Ebene der kleinen Zweige statt.«

»Es war eine seltsame Zeit«, sagt Fortey heute, »insbesondere wenn man bedenkt, dass die Diskussion sich um Dinge drehte, die sich vor 500 Millionen Jahren abgespielt haben. Dennoch ging es gefühlsmäßig hoch her. In einem meiner Bücher habe ich scherzhaft bemerkt, ich hätte das Gefühl gehabt, ich müsste einen Sturzhelm aufsetzen, bevor ich über das Kambrium schreibe. Aber ein wenig hatte ich tatsächlich diesen Eindruck.«

Am seltsamsten reagierte Simon Conway Morris, einer der Helden aus Zufall Menseh. Er verblüffte viele seiner Paläontologenkollegen, indem er mit einem eigenen Buch unter dem Titel The Crueible of Creation über Gould herfiel. Darin behandelt er Gould »mit Verachtung und sogar mit Abscheu«, wie Fortey es formuliert. »Und doch habe ich noch nie ein Buch eines Experten gelesen, in dem ein solcher Zorn zum Ausdruck kommt«, schrieb Fortey später. »Wenn man The Crueible of Creation zufällig liest und die Geschichte nicht kennt, würde man nie darauf kommen, dass der Autor einmal der Sichtweise Goulds sehr nahe gestanden hat - wenn er sie nicht sogar mit ihm geteilt hat.« 31

Als ich Fortey darauf ansprach, erwiderte er: »Nun ja, das war sehr seltsam und ziemlich schockierend, weil Gould ihn sehr schmeichelhaft dargestellt hatte. Ich kann nur annehmen, dass es Simon peinlich war. Wissen Sie, Wissenschaft verändert sich, aber Bücher bleiben erhalten, und ich vermute, er bereute es, dass er so ein für alle Mal mit Ansichten in Verbindung gebracht wurde, die er mittlerweile überhaupt nicht mehr teilte. Es gab die ganzen Geschichten mit< Verdammt noch mal, schon wieder ein neuer Stamm >, und ich glaube, er bedauerte es, dass er damit berühmt wurde.«

Das alles hatte zur Folge, dass die Fossilien aus dem frühen Kambrium eine Phase der kritischen Neubewertung durchmachten. Fortey und Derek Briggs - eine weitere Hauptfigur in Goulds Buch - verglichen die verschiedenen Fossilien aus dem Burgess-Schiefer mit einer Methode, die als Kladistik bezeichnet wird. Vereinfacht gesagt, teilt man Lebewesen in der Kladistik anhand ihrer gemeinsamen Merkmale ein. Als Beispiel nennt Fortey den Vergleich einer Spitzmaus mit einem Elefanten.

Betrachtet man die Größe und den auffälligen Rüssel des Elefanten, so könnte man zu dem Schluss gelangen, dass er mit der winzigen, schnuppernden Maus kaum etwas gemeinsam hat Vergleicht man aber beide mit einer Eidechse, so erkennt man dass Elefant und Maus tatsächlich im Wesentlichen nach dem gleichen Schema gebaut sind. Damit will Fortey letztlich sagen: Gould sah Elefanten und Mäuse, wo andere nur Säugetiere sahen. Nach ihrer Ansicht waren die Lebewesen aus dem Burgess-Schiefer keineswegs so seltsam und vielgestaltig, wie es auf den ersten Blick den Anschein hatte. »Häufig waren sie nicht seltsamer als Trilobiten«, sagt Fortey heute. »Nur hatten wir schon 100 Jahre Zeit, uns an die Trilobiten zu gewöhnen. Aus Gewöhnung erwächst Vertrautheit, wissen Sie.«

Sicherheitshalber sollte ich hinzufügen, dass es sich dabei nicht um Nachlässigkeit oder Unaufmerksamkeit handelte. Form und Verwandtschaftsbeziehungen vorzeitlicher Tiere anhand der häufig verformten, bruchstückhaften Funde zu interpretieren, ist eindeutig ein heikles Geschäft. Eine interessante Anmerkung stammt von Edward O. Wilson: Wenn man einzelne Arten heutiger Insekten als Fossilien nach Art des BurgessSchiefers präsentieren würde, käme niemand auf die Idee, dass alle zu demselben Tierstamm gehören - dazu sind ihre Baupläne viel zu unterschiedlich. Von entscheidender Bedeutung für die Neubewertung waren auch Entdeckungen an zwei anderen Fundstätten aus dem frühen Kambrium, einer in Grönland und einer in China, sowie weitere vereinzelte Funde, durch die man insgesamt in den Besitz zusätzlicher und häufig besserer Stücke gelangte.

Unter dem Strich kann man sagen: Letztlich waren die Fossilien aus dem Burgess-Schiefer nicht übermäßig fremdartig. Wie sich herausstellt, hatte man Hallucigenia falsch herum rekonstruiert. Die stelzenartigen Beine waren in Wirklichkeit Stacheln auf dem Rücken. Peytoia, das seltsame Wesen, das wie eine Ananasscheibe aussah, erwies sich in Wirklichkeit nicht als eigenes Tier, sondern als Teil einer größeren Art namens Anomalocaris. Mittlerweile hat man viele Fundstücke aus dem BurgessSchiefer heutigen Tierstämmen zugeordnet - genau wie Walcott es von Anfang an getan hatte. Hallucigenia und einige andere sind nach heutiger Kenntnis mit den Onychophora verwandt, einer Gruppe raupenähnlicher Tiere. Andere ordnet man als Vorläufer der heutigen Ringelwürmer ein. In Wirklichkeit, so Fortey, »gibt es im Kambrium nur relativ wenige ganz neue Körperbaupläne. Meist stellt sich heraus, dass es sich nur um interessante Verfeinerungen altbekannter Konstruktionen handelt.«

Oder, wie er in seinem Buch Leben schreibt: »Keines dieser Wesen war so merkwürdig wie die Entenmuscheln unserer Tage oder so bizarr wie eine Termitenkönigin.« 33

Am Ende waren die Funde aus dem Burgess-Schiefer also doch nicht so spektakulär. Aber deshalb sind sie, wie Fortey schreibt, »nicht weniger interessant oder seltsam, sondern nur besser erklärlich«.34 Ihre eigenartigen Körperbaupläne waren nur eine Art jugendlicher Überschwang - gewissermaßen in der Evolution die Entsprechung zu Irokesenschnitt und Zungenpiercing. Letztlich gingen die Formen in ein gesetzteres, stabileres mittleres Alter über.

Aber damit blieb immer noch die Frage, wo all diese Tiere ihren Ursprung hatten - wie konnten sie so plötzlich aus dem Nichts auftauchen?

Wie sich herausstellt, war die kambrische Explosion letztlich doch gar nicht so explosiv. Nach heutiger Kenntnis gab es die Tiere vermutlich schon seit längerer Zeit, sie waren nur so klein, dass man sie nicht sehen konnte. Indizien kamen wieder einmal von den Trilobiten - unterschiedliche Typen von ihnen tauchten mehr oder weniger zur gleichen Zeit auf scheinbar rätselhafte Weise an weit voneinander entfernten Orten rund um den Erdball auf.

Auf den ersten Blick sieht es aus, als würde ein solches plötzliches Auftreten voll ausgebildeter, vielgestaltiger Tiere die kambrische Explosion noch rätselhafter machen, aber in Wirklichkeit ist genau das Gegenteil der Fall. Es ist ein großer Unterschied, ob ein vollständig ausgebildetes Tier wie ein Trilobit isoliert auf der Bildfläche erscheint - das wäre tatsächlich ein Wunder -oder ob es viele sind, die sich zwar unterscheiden, aber auch eindeutig verwandt sind. Werden solche Fossilien mit gleichem Alter an weit entfernten Stellen wie China und New York gefunden, so können wir daraus schließen, dass wir einen großen Teil ihrer Vergangenheit schlicht und einfach nicht kennen. Es ist das stärkste Indiz, dass sie einen Vorfahren haben müssen - eine GroßvaterSpezies, die bereits viel früher zum Ausgangspunkt ihrer Abstammungslinie wurde.

Dass wir diese frühere Art nicht gefunden haben, liegt nach heutiger Kenntnis daran, dass sie zu klein war und deshalb nicht erhalten geblieben ist. Fortey schreibt: »Ein gut funktionierender, komplexer Organismus muss nicht unbedingt groß sein. Im Meer wimmelt es heute von winzigen Gliederfüßern, die keine fossilen Spuren hinterlassen haben.« Als Beispiel nennt er die kleinen Ruderfußkrebse, die zu Milliarden in den heutigen Meeren schwimmen und so große Schwärme bilden, dass riesige Abschnitte der Wasseroberfläche schwarz werden. Unsere Kenntnisse über ihre Vorfahren beziehen wir ausschließlich aus einem einzigen Exemplar, das man im Körper eines vorzeitlichen fossilen Fisches gefunden hat.

»Die kambrische Explosion, wenn man diesen Begriff gebrauchen will, war vermutlich mehr eine Größenzunahme als ein plötzliches Auftauchen neuer Baupläne«, sagt Fortey. »Und das kann recht schnell gegangen sein. In diesem Sinn halte ich es tatsächlich für eine Explosion.« Genau wie die Säugetiere, die 100 Millionen Jahre abwarteten und nach dem Verschwinden der Dinosaurier scheinbar plötzlich in üppiger Fülle auf der ganzen Erde auftauchten, warteten nach dieser Vorstellung vielleicht auch Gliederfüßer und andere Triploblasten in mikroskopisch kleiner Anonymität, bis das letzte Stündlein der beherrschenden Ediacara-Organismen geschlagen hatte. Fortey meint: »Wir wissen, dass die Größe der Säugetiere dramatisch zunahm, nachdem die Dinosaurier weg waren - aber wenn ich sage, dass es abrupt geschah, meine ich das natürlich in einem erdgeschichtlichen Sinn. Wir reden immer noch über Jahrmillionen.«

Übrigens wurde auch Reginald Sprigg am Ende ein gewisses Maß der längst überfälligen Ehre zuteil. Eine der wichtigsten frühen Gattungen wurde nach ihm auf den Namen Spriggina getauft, und auch mehrere Arten benannte man nach ihm. Das Ganze wurde nach den Hügeln, auf denen er gesucht hatte, als Ediacara-Fauna bezeichnet. Allerdings war Sprigg mittlerweile längst nicht mehr als Fossilsammler tätig. Nachdem er der Geologie den Rücken gekehrt hatte, gründete er eine erfolgreiche Ölfirma, und schließlich zog er sich auf ein Anwesen in seinen geliebten Flinders-Bergen zurück, wo er dann ein Wildreservat einrichtete. Er starb 1994 als reicher Mann.

22. Tschüss zusammen

Aus Sicht der Menschen betrachtet - und alles andere wäre für uns natürlich schwierig -, ist Leben etwas Seltsames. Zuerst konnte es nicht schnell genug in Gang kommen, und dann, nachdem es einmal angefangen hatte, hatte es mit weiteren Entwicklungen offenbar keine Eile.

Nehmen wir beispielsweise die Flechten. Sie gehören unter allen Lebewesen, die man mit bloßem Auge sehen kann, sicher zu den widerstandsfähigsten, aber gleichzeitig haben sie auch keinerlei Ehrgeiz. Sie wachsen stillvergnügt auf einem sonnigen Friedhof, insbesondere gedeihen sie aber unter Umweltbedingungen, die kein anderes Lebewesen aushalten würde - auf windigen Berggipfeln oder in der Einöde der Arktis, überall da, wo es eigentlich nur Steine, Regen und Kälte gibt, aber so gut wie keine Konkurrenz. In Regionen der Antarktis, wo praktisch nichts anderes wächst, findet man riesige Flächen voller Flechten - insgesamt 400 Formen -, die sich beharrlich an jedem windumtosten Felsblock festklammern.1

Wie sie das schaffen, war lange Zeit nicht klar. Da Flechten auf nacktem Fels wachsen, ohne dass eine Nährstoffquelle oder die Produktion von Samen zu erkennen wären, glaubten viele - auch gebildete -Menschen, sie seien Steine, die gerade im Begriff standen, zu Pflanzen zu werden. »Ganz von selbst wird anorganischer Stein zu einer lebenden Pflanze!«, jubelte ein gewisser Dr. Hornschuch im Jahr 1819.

Bei näherer Untersuchung stellte sich heraus, dass Flechten zwar nichts Magisches an sich haben, aber sehr interessant sind. Sie stellen in Wirklichkeit eine Verbindung aus Pilzen und Algen dar. Der Pilz scheidet Säuren aus, welche die Gesteinsoberfläche auflösen und Mineralstoffe freisetzen. Diese werden dann von der Alge zu so viel Nährstoffen umgesetzt, dass sie für beide Partner ausreichen. Es ist kein übermäßig aufregendes Arrangement, aber ganz offensichtlich ein sehr erfolgreiches. Auf der Erde leben mehr als 20000 Flechtenarten.3

Wie die meisten Lebewesen, die unter unwirtlichen Bedingungen gedeihen, so wachsen auch die Flechten sehr langsam. Häufig dauert es mehr als ein halbes Jahrhundert, bis sie die Ausmaße eines Hemdenknopfes erreicht haben. Sind sie so groß wie ein Essteller, liegt ihr Alter nach Angaben von David Attenborough im Bereich von Jahrhunderten oder sogar Jahrtausenden. Es ist kaum das, was man sich unter einem erfüllten Dasein vorstellt. Attenborough meint dazu: »Sie existieren einfach und sind der Beweis für die Tatsache, dass Leben selbst auf niedrigstem Niveau einfach stattfindet, nur um seiner willen.« 4

Diesen Gedanken, dass das Leben einfach nur da ist, übersieht man nur allzu leicht. Als Menschen neigen wir zu der Vorstellung, jedes Leben müsse einen Sinn haben. Wir haben Pläne, Bestrebungen und Sehnsüchte. Wir wollen die betäubende Existenz, mit der wir ausgestattet sind, ständig zu unserem Vorteil nutzen. Aber was bedeutet Leben für eine Flechte? Und dennoch ist ihr Impuls, zu existieren, zu sein, genauso stark wie unserer -man kann sogar behaupten: noch stärker. Würde mir jemand sagen, dass ich viele Jahrzehnte als pelziges Gewächs auf einem Stein im Wald zubringen soll, ich glaube, ich würde den Willen zum Weiterleben verlieren. Flechten verlieren ihn nicht. Wie praktisch alle Lebewesen erdulden sie sämtliche Unannehmlichkeiten und Verletzungen, wenn sie dafür einen kurzen Augenblick des weiteren Daseins gewinnen. Das Leben will, kurz gesagt, einfach nur sein. Aber - und das ist das Interessante dabei - es will meist nicht besonders viel sein.

Das ist vielleicht ein wenig seltsam, denn eigentlich hatte das Leben reichlich Zeit, Ehrgeiz zu entwickeln. Stellt man sich die 4,5 Milliarden Jahre der Erdgeschichte zusammengedrängt auf einen einzigen Tag vor, beginnt das Leben schon sehr früh, nämlich um vier Uhr morgens, mit dem Aufstieg der ersten Einzeller.5 Dann aber folgt in den nächsten 16 Stunden kein weiterer Fortschritt. Erst gegen halb neun am Abend, wenn der Tag schon zu 80 Prozent vorüber ist, hat die Erde gegenüber dem Universum etwas anderes vorzuweisen als eine Haut aus Mikroorganismen. Jetzt endlich tauchen die ersten Meerespflanzen auf, 20 Minuten später gefolgt von den ersten Quallen und den rätselhaften Ediacara-Tieren, die Reginald Sprigg in Australien zum ersten Mal zu Gesicht bekam. Um 21 Uhr 04 erscheinen schwimmende Trilobiten auf der Bildfläche, und mehr oder weniger unmittelbar danach folgen die wohlgeformten Lebewesen des Burgess-Schiefers. Kurz vor 22 Uhr gedeihen an Land die ersten Pflanzen, und kurz danach - vom Tag sind jetzt nicht einmal mehr zwei Stunden übrig - tauchen die ersten Landtiere auf.

Nachdem rund zehn Minuten lang warmes Wetter geherrscht hat, ist die Erde um 22 Uhr 24 von den großen Wäldern der Karbonzeit bedeckt, deren Überreste uns heute die Kohle liefern, und die ersten geflügelten Insekten sind zu sehen. Die Dinosaurier trampeln kurz vor 23 Uhr auf die Bühne und halten sich dort rund eine Dreiviertelstunde auf. Etwa 21 Minuten vor Mitternacht verschwinden sie wieder, und das Zeitalter der Säugetiere beginnt. Die Menschen tauchen eine Minute und 17 Sekunden vor Mitternacht auf. Unsere gesamte schriftlich belegte Geschichte ist nach diesem Maßstab nur wenige Sekunden lang, das Leben eines einzigen Menschen ist nur ein Augenblick. Während dieses ganzen hektischen Tages schwimmen die Kontinente über die Erde und kollidieren mit einer Geschwindigkeit, die eindeutig gefährlich wirkt. Gebirge steigen auf und schmelzen dahin, Ozeanbecken kommen und gehen, Eiskappen breiten sich aus und ziehen sich wieder zurück. Und während der ganzen Zeit leuchtet dreimal pro Minute irgendwo auf der Erde ein Blitz auf, weil ein Meteor von der Größe des Manson-Himmelskörpers oder sogar etwas noch Größeres eingeschlagen ist. Dass in einem solch hektischen, unruhigen Umfeld überhaupt irgendetwas überleben kann, ist ein Wunder. Tatsächlich gelingt es auch den wenigsten über längere Zeit.

Vielleicht noch deutlicher können wir uns klar machen, was für eine neue Erscheinung wir in diesem viereinhalb Milliarden Jahre alten Bild sind, wenn wir die Arme auf beiden Seiten so weit wie möglich ausstrecken und uns dann bewusst machen, dass sie die gesamte Erdgeschichte darstellen.6 In diesem Maßstab, so John McPhee in Basin and Range, nimmt das Präkambrium die Entfernung von den Fingerspitzen einer Hand bis zum Handgelenk der anderen ein. Die gesamte Geschichte der komplexen Lebensformen spielt sich in der zweiten Hand ab, »und die gesamte Menschheitsgeschichte könnte man mit einem einzigen Strich einer Nagelfeile auslöschen«.

Glücklicherweise ist dieser Augenblick noch nicht eingetreten, aber es bestehen gute Aussichten, dass es geschehen wird. Ich möchte hier keine Weltuntergangsstimmung verbreiten, aber das Leben auf der Erde hat auch eine andere äußerst dauerhafte Eigenschaft: Es stirbt aus. Und zwar sehr regelmäßig. Obwohl biologische Arten alle erdenklichen Mühen auf sich nehmen, um sich zusammenzufinden und erhalten zu bleiben, gehen sie mit bemerkenswerter Regelmäßigkeit wieder zu Grunde. Und meist sterben sie umso schneller aus, je komplexer sie sind. Vielleicht ist das ein Grund, warum so viele Lebensformen eigentlich keinerlei Ehrgeiz besitzen.

Wenn das Lebendige etwas Mutiges unternimmt, ist das also immer etwas Besonderes, und eine der ereignisreichsten Phasen spielte sich ab, als die Lebewesen aus dem Meer stiegen und damit das nächste Kapitel ihrer Geschichte einläuteten.

Das trockene Land war eine schwierige Umwelt: heiß, trocken, heftiger Ultraviolettstrahlung ausgesetzt, ohne den Auftrieb, der im Wasser vergleichsweise mühelose Bewegungen ermöglicht. Damit die Lebewesen an Land heimisch werden konnten, musste ihre Anatomie völlig umgestaltet werden. Ein Fisch, den man an beiden Enden festhält, biegt sich in der Mitte durch - seine Wirbelsäule ist so schwach, dass sie den Körper nicht stützen kann. Um außerhalb des Wassers zu überleben, mussten die Lebewesen eine ganz neue, belastungsfähige innere Struktur entwickeln, und eine solche Anpassung entsteht nicht über Nacht. Vor allem aber mussten natürlich alle Landtiere eine Methode finden, um den Sauerstoff nicht mehr aus dem Wasser zu filtern, sondern ihn unmittelbar aus der Luft aufzunehmen. Das alles waren keine einfachen Aufgaben. Andererseits bestand aber auch ein starker Anreiz, das Wasser zu verlassen: Das Leben war dort sehr gefährlich. Nachdem sich alle Kontinente zu der riesigen Landmasse Pangäa vereinigt hatten, stand sehr viel weniger Küstenlinie zur Verfügung als früher, und damit gab es auch weniger küstennahe Lebensräume.

Entsprechend herrschte im Meer harte Konkurrenz. Außerdem erschien eine neue, beunruhigende Art von Raubtieren auf der Bildfläche, die alles fraßen und so vollkommen für Angriffe konstruiert waren, dass sie sich in den ganzen langen Erdzeitaltern seit ihrer Entstehung kaum verändert haben: die Haie. Die Zeiten waren nie besser dafür geeignet, eine Alternative zum Leben im Wasser zu finden.

Die Pflanzen begannen vor rund 450 Millionen Jahren, das Land für sich zu erobern. Dabei wurden sie zwangsläufig von winzigen Milben und anderen Lebewesen begleitet, auf die sie angewiesen waren, weil diese abgestorbenes organisches Material für die Pflanzen abbauten und wieder verwerteten. Bis die ersten großen Tiere auftauchten, dauerte es ein wenig länger, aber vor etwa 400 Millionen Jahren wagten auch sie sich aus dem Wasser. Abbildungen in populärwissenschaftlichen Büchern haben dazu geführt, dass wir uns die ersten abenteuerlustigen Landbewohner meist als eine Art ehrgeiziger Fische vorstellen, ähnlich den heutigen Schlammspringern, die bei Trockenheit von einer Pfütze zur anderen hüpfen können. Manchmal glauben wir sogar, sie seien vollständig ausgebildete Amphibien gewesen. In Wirklichkeit ähnelten die ersten Landbewohner, die sich fortbewegen konnten und mit bloßem Auge zu erkennen waren, wahrscheinlich eher den heutigen Rollasseln oder Kugelasseln - das sind die kleinen Tierchen, die man häufig durcheinander bringt, wenn man einen Stein oder ein Stück Holz umdreht (und die übrigens zu den Krebsen gehören).

Für Lebewesen, die Sauerstoff aus der Luft aufnehmen konnten, herrschten gute Verhältnisse. Im Devon und Karbon, als das Leben an Land seine erste Blütezeit erlebte, hatte die Atmosphäre einen Sauerstoffgehalt von bis zu 35 Prozent (im Gegensatz zu rund 20 Prozent heute). Deshalb konnten die Tiere bemerkenswert schnell zu bemerkenswert großen Ausmaßen heranwachsen.

Nun kann man natürlich zu Recht die Frage stellen: Woher wollen die Wissenschaftler wissen, wie viel Sauerstoff es vor mehreren 100 Millionen Jahren gab? Die Antwort kommt aus einem wenig bekannten, aber höchst geistreichen Forschungsgebiet namens IsotopenGeochemie. In den längst vergangenen Meeren des Karbon und Devon wimmelte es von winzigen Planktonorganismen, und jedes dieser kleinen Lebewesen umgab sich mit einer eigenen Schutzhülle. Diese Schutzhüllen erzeugten die Planktonlebewesen damals wie heute, indem sie den Sauerstoff aus der Atmosphäre aufnahmen und mit anderen Elementen (insbesondere Kohlenstoff) zu widerstandsfähigen Verbindungen wie Calciumcarbonat verarbeiteten. Der gleiche chemische Vorgang spielt sich auch im langfristigen Kohlenstoffzyklus ab (in diesem Zusammenhang erörtern wir ihn an anderer Stelle ebenfalls) - er ist ein Prozess, der zwar keine spannende Story hergibt, für die Schaffung einer lebensfreundlichen Umwelt auf der Erde aber unentbehrlich ist.

Am Ende sterben die winzigen Lebewesen ab und sinken auf den Meeresboden, wo sie im Laufe der Zeit zu Kalkstein zusammengepresst werden. Die winzigen Molekülstrukturen, die das Plankton mit ins Grab nimmt, enthalten zwei sehr stabile Isotope namens Sauerstoff-16 und Sauerstoff-18. (Wer nicht mehr weiß, was Isotope sind, braucht sich keine Sorgen zu machen; nur zur Erinnerung: Das sind Atome mit einer ungewöhnlichen Zahl von Neutronen.) Hier setzt die Geochemie an: Die Isotope sammeln sich mit unterschiedlicher Geschwindigkeit an, je nachdem, wie viel Sauerstoff oder Kohlendioxid die Atmosphäre bei der Entstehung der jeweiligen Verbindungen enthält. Aus dem Vergleich dieser Zahlenverhältnisse aus früheren Zeiten kann man die damaligen Bedingungen ableiten - den Sauerstoffgehalt der Atmosphäre, Luft- und Wassertemperatur, Ausmaß und Zeitpunkt der Eiszeiten und vieles andere. Kombiniert man die Isotopenmessungen mit anderen Beobachtungen an Fossilien - beispielsweise mit Pollenuntersuchungen -, so kann man recht zuverlässig ganze Landschaften nachzeichnen, die kein menschliches Auge je gesehen hat.

Dass der Sauerstoffgehalt in der Frühzeit des Lebens an Land so stark ansteigen konnte, lag vor allem daran, dass die Landschaften der Erde zu einem großen Teil von riesigen Baumfarnen und ausgedehnten Sümpfen beherrscht wurden, die den normalen Prozess der Kohlenstoff-Wiederverwertung beeinträchtigten. Abgefallene Farnwedel und anderes Pflanzenmaterial sammelte sich in dicken, feuchten Sedimenten, und daraus entstanden schließlich die gewaltigen Kohleflöze, die bis heute eine so wichtige Stütze unserer Wirtschaft sind.

Der hohe Sauerstoffgehalt trug sicher zu überdimensionalem Wachstum bei. Der älteste bisher bekannte Anhaltspunkt für ein landlebendes Tier ist eine Spur, die ein Tausendfüßer-ähnliches Geschöpf vor rund 350 Millionen Jahren auf einem Stein im heutigen Schottland hinterließ. Es hatte eine Länge von ungefähr einem Meter. Und bevor die Erdgeschichtsepoche zu Ende war, erreichten manche Tausendfüßer noch einmal mehr als das Doppelte.

Nachdem sich solche Tiere herumtrieben, ist es vielleicht nicht verwunderlich, dass sich bei den Insekten jener Zeit ein Kunstgriff entwickelte, mit dem sie sich außerhalb der Reichweite gefräßiger Mäuler halten konnten: Sie lernten fliegen. Manche beherrschten dieses neue Mittel der Fortbewegung schon bald mit einer derart gespenstischen Leichtigkeit, dass die Methode sich seither eigentlich nicht mehr verändert hat. Damals wie heute konnten Libellen bis zu 50 Stundenkilometer erreichen, schnell anhalten, schweben, rückwärts fliegen und im Verhältnis ein weit größeres Gewicht heben als jede von Menschen gemachte Flugmaschine. »Die US-Luftwaffe steckte sie in den Windkanal, um herauszufinden, wie sie es schaffen. Aber die Experten verzweifelten daran«, schrieb ein Autor.9 Außerdem machten sie in der Luft reiche Beute. In den Wäldern der Karbonzeit wurden die Libellen so groß wie Raben.10 Auch Bäume und andere Pflanzen erreichten gewaltige Ausmaße. Schachtelhalme und Baumfarne wurden bis zu 15 Meter hoch, Lebermoose erreichten 40 Meter.

Die ersten landlebenden Wirbeltiere - das heißt die ersten Landtiere, die zu unseren Vorfahren werden sollten - sind von einem kleinen Rätsel umgeben.Teilweise liegt das daran, dass es nur wenige entsprechende Fossilien gibt, teilweise aber auch an einem eigenwilligen Schweden namens Erik Jarvik, der den Fortschritt bei der Beantwortung dieser Frage mit seltsamen Deutungen und Geheimnistuerei fast ein halbes Jahrhundert lang aufhielt. Jarvik gehörte zu einer Arbeitsgruppe skandinavischer Wissenschaftler, die in den dreißiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts nach Grönland reisten, um nach fossilen Fischen zu suchen. Insbesondere waren sie hinter Quastenflossern her, jener Gruppe von Fischen, die vermutlich nicht nur unsere eigenen Vorfahren waren, sondern auch die aller anderen vierbeinigen Tiere.

Die meisten höheren Tiere sind Vierbeiner, und alle heutigen Vierbeiner haben eine Gemeinsamkeit: Ihre Extremitäten enden jeweils mit maximal fünf Fingern oder Zehen. Dinosaurier, Wale, Vögel, Menschen, sogar die Fische - alle sind ursprünglich Vierbeiner, ein starkes Indiz, dass alle von einem einzigen gemeinsamen Vorfahren abstammen. Anhaltspunkte für diesen Vorfahren, so die allgemeine Annahme, könnte man in der Devonzeit vor rund 400 Millionen Jahren finden. Davor lief auf dem trockenen Land nichts herum, danach war es dicht bevölkert. Tatsächlich hatte die Arbeitsgruppe Glück: Sie fand ein solches Tier - es war knapp einen Meter lang und wurde auf den Namen Ichthyostega getauft.11 Mit der Untersuchung des Fossils wurde Jarvik beauftragt; der begann 1948 mit seinen Arbeiten und trieb sie 48 Jahre lang weiter. Leider aber lehnte Jarvik es ab, dass irgendein anderer seinen Vierbeiner untersuchte. Die Paläontologen der ganzen Welt mussten sich mit zwei skizzenhaften Zwischenberichten zufrieden geben, in denen Jarvik nur mitteilte, das Tier habe an jedem seiner vier Gliedmaßen fünf Finger besessen, und dies sei eine Bestätigung für seine Bedeutung als Vorläufer.

Jarvik starb 1998. Nach seinem Tod untersuchten andere Paläontologen eifrig den Fund, und dabei stellte sich heraus, dass Jarvik die Finger und Zehen falsch gezählt hatte: In Wirklichkeit waren es acht an jeder Extremität. Außerdem hatte er auch nicht berücksichtigt, dass der Fisch vermutlich nicht gehen konnte. Die Flossen waren so gebaut, dass er unter seinem eigenen Gewicht zusammengebrochen wäre. Es braucht wohl nicht besonders betont zu werden, dass diese Erkenntnisse für unser Wissen über die ersten Landtiere keinen großen Fortschritt bedeuteten. Heute kennt man drei frühe Vierbeiner, und keiner davon hat fünf Finger. Kurz gesagt, wissen wir nicht, woher wir eigentlich kommen.

Aber irgendwoher kommen wir, auch wenn der Aufstieg bis zu unserer derzeitigen Vorherrschaft natürlich nicht immer geradlinig verlaufen ist. Seit das Leben auf dem trockenen Land begann, bestand es aus vier großen Dynastien, wie sie manchmal genannt werden. Die erste bildeten die primitiven, schwerfälligen, manchmal aber recht durchsetzungsfähigen Amphibien und Reptilien. Das bekannteste Tier dieser Zeit war das Dimetrodon, ein Lebewesen mit segeiförmigen Fortsätzen auf dem Rücken, das häufig mit den Dinosauriern verwechselt wird (wie ich feststellen musste, auch in einer Bildunterschrift des Buches Komet von Carl Sagan). In Wirklichkeit gehörte das Dimetrodon zu den Synapsiden. Das Gleiche galt auch für unsere Vorfahren. Die Synapsiden waren eine der vier großen Gruppen früher Reptilien - die anderen hießen Anapsiden, Euryapsiden und Diapsiden. Die Namen bezeichnen einfach die Zahl und Lage kleiner Löcher im Schädel der jeweiligen Arten. Bei den Synapsiden befand sich jeweils ein kleines Loch unten an der Schläfe; bei den Diapsiden waren es zwei solche Löcher, bei den Euryapsiden ebenfalls eines, das aber weiter oben lag.

Im Laufe der Zeit spalteten sich diese großen Gruppen weiter in Untergruppen auf, von denen manche gediehen, während andere scheiterten. Aus den Anapsiden gingen die Schildkröten hervor, die - was vielleicht verwunderlich ist - eine Zeit lang im Begriff standen, als fortschrittlichste und aggressivste Tiergruppen die Oberhand auf der Erde zu gewinnen, bevor eine Laune der Evolution sie eher in Richtung der langen Lebensdauer an Stelle einer beherrschenden Stellung drängte. Die Synapsiden bildeten vier große Entwicklungslinien, von denen aber nur eine über die Permzeit hinaus erhalten blieb. Glücklicherweise war das genau jene, zu der auch wir gehören, und sie entwickelte sich im weiteren Verlauf zu einer Familie von Säugetier-Vorläufern, die als Therapsiden bezeichnet wird. Diese Gruppe bildete die Megadynastie Nummer zwei.

Zunächst einmal hatten die Therapsiden jedoch Pech: Ihre Vettern, die Diapsiden, erlebten ebenfalls eine fruchtbare Evolution und wurden (unter anderem) zu den Dinosauriern, denen die Therapsiden auf Dauer nichts entgegenzusetzen hatten. Da sie mit den aggressiven neuen Arten nicht konkurrieren konnten, verschwanden die Therapsiden allmählich von der Bildfläche. Nur einige wenige entwickelten sich zu kleinen, behaarten, unter der Erde lebenden Geschöpfen weiter, die als kleine Säugetiere sehr lange auf ihre Chance warten mussten. Die größten von ihnen waren nicht größer als eine Hauskatze, meist erreichten sie sogar nur knapp die Größe einer Maus. Das sollte eines Tages ihre Rettung sein, aber zunächst mussten sie 150 Millionen Jahre verstreichen lassen, bis die dritte Megadynastie und mit ihr das Zeitalter der Dinosaurier ein abruptes Ende fand. Erst jetzt wurde der Weg frei für die Megadynastie Nummer vier und das Zeitalter der Säugetiere, das bis in unsere Zeit andauert.

Alle diese großen Umwandlungen und auch viele kleinere, die sich dazwischen und danach ereigneten, waren nur durch den großen Motor des Fortschritts möglich, der paradoxerweise so wichtig ist: durch das Aussterben. Seltsamerweise ist das Artensterben auf der Erde im ganz buchstäblichen Sinn ein Weg zum Leben. Wie viele Arten von Lebewesen es seit Anbeginn des Lebens gegeben hat, weiß niemand. Häufig wird eine Zahl von 30 Milliarden genannt, andere Angaben reichen aber auch bis zu vier Billionen. Wie groß auch die Gesamtsumme sein mag, in jedem Fall sind 99,99 Prozent aller Arten, die jemals gelebt haben, heute nicht mehr bei uns. »In erster Annäherung sind alle Arten ausgestorben«, wie David Raup von der University of Chicago es gern formuliert.14 Die durchschnittliche Lebenserwartung kompliziert gebauter biologischer Arten liegt nur bei rund vier Millionen Jahren - etwa diese Zeit ist auch für uns bereits vergangen.15

Das Aussterben ist für die Betroffenen natürlich immer etwas Schlechtes, für unseren dynamischen Planeten als Ganzes birgt es aber offensichtlich große Vorteile. »Die Alternative zum Aussterben ist Stagnation«, sagt Ian Tattersall vom American Museum of Natural History, »und Stagnation ist normalerweise in keinem Bereich wünschenswert.« 16 (Ich sollte hier vielleicht anmerken, dass es dabei um das Aussterben als natürlichen, langfristigen Prozess geht. Es hat nichts mit dem Artensterben zu tun, das auf die Achtlosigkeit der Menschen zurückzuführen ist.)

An Krisen der Erdgeschichte schlossen sich stets dramatische Umwälzungen an. Auf den Niedergang der Ediacara-Fauna folgte der Kreativitätsschub des Kambriums. Durch das Artensterben im Ordovizium vor 440 Millionen Jahren wurden die Ozeane von einer Fülle unbeweglicher Filtrierer befreit, und irgendwie ergaben sich dabei die richtigen Bedingungen für die Entstehung pfeilschneller Fische und riesiger Meeresreptilien. Die wiederum eigneten sich optimal als Vorläufer von Arten, die das trockene Land besiedelten, bevor eine weitere große Vernichtung am Ende des Devon erneut alles durcheinander würfelte. So ging es in unregelmäßigen Abständen während der gesamten Erdgeschichte. Hätten diese Ereignisse sich nicht genau so und genau zu diesen Zeitpunkten abgespielt, würden wir heute mit ziemlicher Sicherheit nicht existieren.

Die Erde hat in dem genannten Zeitraum fünf große Episoden des Artensterbens erlebt - der Reihenfolge nach im Ordovizium, Devon, Perm, Trias und in der Kreidezeit. Hinzu kommen viele kleinere Aussterbe-Ereignisse. Im Ordovizium (vor 440 Millionen Jahren) und Devon (vor 365 Millionen Jahren) wurden jeweils 80 bis 85 Prozent aller biologischen Arten ausgerottet, im Trias (vor 210 Millionen Jahren) und in der Kreidezeit (vor 65 Millionen Jahren) waren es jeweils rund 70 bis 75 Prozent. Das größte Massensterben ereignete sich jedoch im Perm vor 245 Millionen Jahren, und anschließend hob sich der Vorhang für das lange Dinosaurierzeitalter. Im Perm verschwanden mindestens 95 Prozent aller Tierarten, die man aus Fossilfunden kennt, auf Nimmerwiedersehen. Selbst von den Insektenarten verschwand etwa ein Drittel - es war das einzige Mal, dass sie in so großer Zahl ausgerottet wurden.19 Weder vorher noch nachher stand das Leben auf der Erde so knapp vor der völligen Vernichtung.

»Es war wirklich ein massenhaftes Aussterben, ein Gemetzel von einer Größenordnung, das die Erde bis dahin noch nicht gesehen hatte«, schreibt Richard Fortey.20 Besonders verheerend wirkte sich das Ereignis im Perm auf die Meeresbewohner aus. Die Trilobiten verschwanden völlig von der Bildfläche, Muscheln und Seeigel entgingen diesem Schicksal nur knapp. Praktisch alle anderen Meerestiere wurden stark dezimiert. Insgesamt wurden an Land und im Wasser nach heutiger Kenntnis 52 Prozent der Tierfamilien ausgerottet - die Kategorie der Familie steht im großen System der Lebewesen (von dem im nächsten Kapitel die Rede sein wird) über der Gattung und unter der Ordnung -, und vermutlich verschwanden dabei bis zu 96 Prozent aller Arten. Bis die Gesamtzahl der Arten wieder den alten Stand erreichte, sollte eine sehr lange Zeit vergehen.

Zweierlei muss man dabei im Gedächtnis behalten.

Erstens beruhen alle diese Zahlen nur auf begründeten Vermutungen. Die Schätzungen für die Zahl der Tierarten, die am Ende des Perm noch am Leben waren, reichen von 45000 bis 240000.21 Wenn man nicht weiß, wie viele Arten überlebten, kann man auch kaum zuverlässig angeben, welcher Anteil ausstarb. Außerdem reden wir nicht über das Sterben einzelner Lebewesen, sondern über das Ende biologischer Arten. Bei den Individuen war der Verlust viel größer und in vielen Fällen praktisch allumfassend. Die Arten, die erhalten blieben und an der nächsten Phase in der Lotterie des Lebens teilnehmen konnten, verdankten ihre Existenz mit ziemlicher Sicherheit wenigen verängstigten, mitgenommenen Überlebenden.

Zwischen den großen Ereignissen des Artensterbens gab es auch viele kleinere, nicht so bekannte Episoden -Hemphillium, Frasnium, Famennium, Rancholabrium und rund ein Dutzend weitere. Sie waren weniger verheerend, was die Gesamtzahl der Arten anging, sorgten aber bei bestimmten Tierbeständen häufig für eine entscheidende Schwächung. Bei dem Ereignis im Hemphillium vor rund fünf Millionen Jahren wurden zum Beispiel die Grasfresser einschließlich der Pferde nahezu völlig ausgelöscht. Von den Pferden blieb nur eine einzige Art übrig, und auch die taucht in den Fossilfunden nur selten auf - man kann also annehmen, dass sie längere Zeit kurz vor dem Aussterben stand. Man stelle sich eine Menschheitsgeschichte ohne Pferde und andere Gras fressende Tiere vor!

In fast allen Fällen, bei den großen Episoden des Aussterbens ebenso wie bei kleineren Ereignissen, haben wir beunruhigenderweise kaum eine Ahnung, was die Ursache war. Selbst wenn man eher verschrobene Gedanken einmal beiseite lässt, ist die Zahl der Theorien über den Auslöser des Aussterbens größer als die der betreffenden Ereignisse selbst. Mindestens zwei Dutzend potenzielle Faktoren wurden als Ursachen oder wichtige Mitverursacher genannt. Globale Erwärmung, globale Abkühlung, Veränderungen des Meeresspiegels, Sauerstoffmangel im Meerwasser (ein Zustand, der auch als Anoxie bezeichnet wird), Krankheitsepidemien, riesige Methan-Ausbrüche aus dem Meeresboden, Meteor- und Kometeneinschläge, unvorstellbar riesige, als hypercanes bezeichnete Hurrikane, gewaltige Vulkanausbrüche, katastrophale Ausbrüche (Flares) auf der Sonne.

Die zuletzt genannte Möglichkeit ist besonders faszinierend. Wie groß die als Flares bezeichneten Ausbrüche auf der Sonnenoberfläche werden können, weiß niemand, denn wir beobachten sie erst seit dem Beginn des Weltraumzeitalters. Aber die Sonne ist ein gewaltiger Motor, und entsprechend riesig sind auch ihre Stürme. Eine typische Sonnen-Flare, die wir auf der Erde noch nicht einmal bemerken würden, setzt die Energie von einer Milliarde Wasserstoffbomben frei und schleudert 100 Milliarden Tonnen tödliche, energiereiche Teilchen in den Weltraum. Magnetosphäre und Atmosphäre der Erde lenken diese Partikel normalerweise wieder in den Weltraum oder kanalisieren sie in Richtung der Pole (wo sie die hübschen Nord- und Südlichter entstehen lassen), aber man geht davon aus, dass ein ungewöhnlich großer Ausbruch, der beispielsweise das 100-fache Ausmaß eines typischen Flare besitzt, die Abwehrmechanismen unseres Planeten überwinden könnte. Es wäre ein großartiges Lichterspiel, aber mit ziemlicher Sicherheit würde ein großer Anteil aller Lebewesen, die seiner Strahlung ausgesetzt sind, zu Grunde gehen. Außerdem, und das ist besonders beängstigend, »würde es in der Geschichte keinerlei Spuren hinterlassen«, wie Bruce Tsurutani vom Jet Propulsion Laboratory der NASA es formuliert.

Uns selbst bleiben deshalb nach den Worten eines Wissenschaftlers »tonnenweise Vermutungen und nur sehr wenige Belege«. Mindestens drei große AussterbeEreignisse - im Ordovizium, Devon und Perm - stehen offenbar im Zusammenhang mit einer globalen Abkühlung, aber darüber hinaus sind die Fachleute sich kaum in irgendetwas einig, nicht einmal in der Frage, ob sich eine bestimmte Episode schnell oder langsam abspielte. Die Wissenschaftler können sich beispielsweise nicht darauf einigen, ob das Aussterben am Ende des Devon - das Ereignis, in dessen Gefolge die Wirbeltiere das trockene Land besiedelten - mehrere Millionen Jahre, einige Jahrtausende oder nur einen besonders ereignisreichen Tag in Anspruch nahm.

Überzeugende Erklärungen für das Aussterben lassen sich unter anderem deshalb so schwer geben, weil Leben im großen Maßstab eigentlich kaum auszurotten ist. Wie wir am Beispiel des Meteoriteneinschlages von Manson erfahren haben, folgt selbst auf eine gewaltige Katastrophe häufig eine vollständige, wenn auch manchmal ein wenig schwierigere Erholung. Warum war also das Ereignis am Ende der Kreidezeit unter den vielen 1000 Einschlägen, die unser Planet erlebt hat, so besonders verheerend? Nun, zunächst einmal war es wirklich eine riesige Katastrophe. Der Himmelskörper schlug mit einer Energie von 100 Millionen Megatonnen ein. Eine solche Detonation kann man sich fast nicht vorstellen, aber ein anschaulicher Vergleich stammt von James Lawrence Powell: Würde man für jeden heute lebenden Menschen eine Bombe von Hiroshima-Ausmaßen zünden, bliebe man immer noch um ungefähr eine Milliarde Bomben hinter dem Einschlag am Ende der Kreidezeit zurück. Aber selbst das allein dürfte nicht ausgereicht haben, um 70 Prozent aller Lebensformen einschließlich der Dinosaurier hinwegzufegen.

Für die Säugetiere hatte der Meteor am Ende der Kreidezeit noch einen weiteren Vorteil: Er ging in einem flachen, nur zehn Meter tiefen Meer nieder, und das vermutlich genau im richtigen Winkel; außerdem lag der Sauerstoffgehalt der Atmosphäre damals um rund zehn Prozent höher als heute, sodass die ganze Welt leichter in Brand geraten konnte. Vor allem aber bestand der Meeresboden an der Einschlagstelle aus schwefelreichem Gestein. Dies hatte zur Folge, dass sich ein Gebiet des Meeresbodens, das so groß war wie Belgien, nach dem Einschlag in einen Schwefelsäurenebel verwandelte. Danach fiel auf der Erde monatelang saurer Regen, der einem Menschen die Haut verätzt hätte.

Noch schwieriger als die Frage, was zu jener Zeit 70 Prozent aller Arten hinwegfegte, ist vielleicht eine andere: Wie konnten die restlichen 30 Prozent überleben? Warum raffte das Ereignis noch den letzten Dinosaurier dahin, während andere Reptilien, beispielsweise Schlangen und Krokodile, ungeschoren davonkamen? Soweit man bisher weiß, starb in Nordamerika damals keine einzige Kröten-, Molch-, Salamander- oder sonstige Amphibienart aus. »Warum blieben diese empfindlichen Tiere trotz einer so beispiellosen Katastrophe unbehelligt?«, fragt Tim Flannery in The Eternal Frontier, seiner faszinierenden Schilderung der amerikanischen Vorgeschichte.

Ganz ähnlich ging es auch in den Meeren. Hier verschwanden sämtliche Ammoniten, aber ihre Vettern, die Nautilusartigen, die eine ganz ähnliche Lebensweise haben, pflügten weiter durch das Wasser. Auch bei den Planktonorganismen wurden manche Arten praktisch ausgerottet - so unter anderem 92 Prozent der Foraminiferen -, andere dagegen, so die Diatomeen, die ganz ähnlich gebaut sind und ebenso leben, blieben relativ ungeschoren.

Solche Widersprüchlichkeiten sind schwer zu erklären. Richard Fortey meint dazu: »Viele Tiere haben überlebt, und es erscheint nicht ganz befriedigend, sie als diejenigen zu bezeichnen, die« Glück gehabt »haben, und es dabei bewenden zu lassen.« Wenn auf den Einschlag monatelange Dunkelheit und erstickender Rauch folgte, wie es heute den Anschein hat, ist auch das Überleben vieler Insekten ein Rätsel. »Es gibt einige Insekten, die jahrelang auf Totholz überleben können, aber das scheint ein besonderes, den Käfern vorbehaltenes Talent zu sein. Einige Arten starben zweifellos aus, doch die Hauptfamilien der ... Insekten überlebten die Katastrophe.« 30

Die größte Frage jedoch betrifft die Korallen. Sie brauchen Algen zum Leben, und Algen brauchen Sonnenlicht; außerdem sind beide gemeinsam auf eine stabile Mindesttemperatur angewiesen. Die Tatsache, dass Korallen bereits bei einer Veränderung der Wassertemperatur um rund ein Grad absterben können, erregte in den letzten Jahren große öffentliche Aufmerksamkeit. Wenn sie so empfindlich auf kleine Veränderungen reagieren, wie konnten sie dann den langen Winter nach dem Meteoriteneinschlag überleben?

Auch für viele regionale Abweichungen gibt es kaum eine plausible Erklärung. Anscheinend war die südliche Erdhalbkugel vom Aussterben weniger stark betroffen als die nördliche. Insbesondere Neuseeland kam anscheinend im Wesentlichen unbeschadet davon, obwohl es dort fast keine Tiere gibt, die sich unter der Erde verkriechen. Selbst seine Pflanzenwelt blieb weit gehend verschont, auch wenn das Ausmaß der Brände in anderen Gebieten auf weltweite Zerstörungen schließen lässt. Kurz gesagt, wissen wir einfach vieles noch nicht.

Manche Tiere gediehen hervorragend - so unter anderem, ein wenig überraschend, wieder einmal die Schildkröten. Wie Flannery richtig bemerkt, könnte man die Phase unmittelbar nach dem Aussterben der Dinosaurier ohne weiteres als Schildkrötenzeitalter bezeichnen. Allein in Nordamerika blieben 16 Arten erhalten, und drei weitere bildeten sich kurz danach neu.

Dabei kam es ihnen sicher zugute, dass sie im Wasser lebten. Nach dem Einschlag am Ende der Kreidezeit starben 90 Prozent aller landlebenden Arten aus, aber nur zehn Prozent der Süßwasserbewohner. Das Wasser bot offensichtlich einen gewissen Schutz gegen Hitze und Brände, und außerdem konnte es vermutlich auch in den nachfolgenden mageren Jahren eher den Lebensunterhalt der Tiere sichern. Alle überlebenden Landtiere hatten die Gewohnheit, sich bei Gefahr in eine sichere Umgebung zurückzuziehen: Sie gingen ins Wasser oder unter die Erde, und in beiden Fällen waren sie erheblich besser von den Widrigkeiten der Umgebung abgeschirmt. Auch Tiere, die sich von Aas ernährten, waren im Vorteil. Echsen waren - und sind bis heute - im Wesentlichen unempfindlich gegen die Bakterien in verwesenden Tierkadavern. Häufig werden sie von ihnen sogar angezogen, und stinkende tote Körper gab es sicher über längere Zeit hinweg in Hülle und Fülle.

Oft wird fälschlicherweise behauptet, nur kleine Tiere hätten das Ereignis am Ende der Kreidezeit überstanden. In Wirklichkeit überlebten auch die Krokodile, und die waren nicht nur groß, sondern sogar dreimal größer als heute. Insgesamt betrachtet, stimmt es allerdings: In ihrer Mehrzahl waren die Überlebenden kleine Tiere, die im Verborgenen lebten. Die düstere, lebensfeindliche Welt bot hervorragende Voraussetzungen für kleine, warmblütige, nachtaktive Tiere, die mit ihrer Ernährung anpassungsfähig und von Natur aus vorsichtig waren -genau diese Eigenschaften waren für unsere SäugetierVorfahren charakteristisch. Wäre unsere Evolution schon weiter fortgeschritten gewesen, so wären wir wahrscheinlich von der Bildfläche verschwunden. So aber hatten sich die Säugetiere derart gut an ihre Umwelt angepasst, wie es für ein Lebewesen überhaupt nur möglich war.

Dennoch schwärmten die Säugetiere nicht aus, um jede ökologische Nische zu besetzen. »Auch wenn die Evolution das Vakuum wohl verabscheut, so braucht sie doch oft lange Zeit, um es zu füllen«, schrieb der Paläobiologe Steven M. Stanley. Noch bis zu zehn Millionen Jahre lang blieben die Säugetiere vorsichtig und klein.33 Ein Tier von der Größe eines kleinen Luchses war im frühen Tertiär bereits ein Riese.

Nachdem die Evolution der Säugetiere aber erst einmal in Gang gekommen war, wuchsen sie zu üppigen Ausmaßen heran, die manchmal fast die Grenze des Lächerlichen erreichten. Eine Zeit lang gab es Meerschweinchen, die so groß wie die heutigen Nashörner waren, und die Nashörner erreichten die Höhe eines zweistöckigen Hauses.34 Sobald sich in der Kette von Räubern und Beutetieren eine Lücke auftat, wuchsen Säugetiere heran, um sie zu füllen. Die ersten Mitglieder der Waschbärenfamilie wanderten nach Südamerika, entdeckten dort eine freie Nische und entwickelten sich zu Tieren mit der Größe und Aggressivität von Bären. Auch den Vögeln ging es vergleichsweise gut. Mehrere Millionen Jahre lang war ein riesiger, flugunfähiger, Fleisch fressender Vogel namens Titanis vermutlich das aggressivste Lebewesen Nordamerikas. Mit Sicherheit aber war es der eindrucksvollste Vogel, den es jemals gab. Er erreichte eine Schulterhöhe von drei Metern, wog knapp 400 Kilo und konnte praktisch jedem anderen Tier, das ihn ärgerte, mit seinem Schnabel den Kopf abreißen. Seiner Familie ging es rund 50 Millionen Jahre lang recht gut, und doch hatten wir keine Ahnung von seiner Existenz, bis man 1963 in Florida das erste Skelett entdeckte.

Damit sind wir bei einem anderen Grund, warum wir über das Aussterben so schwer sichere Aussagen machen können: Die Fossilfunde sind äußerst lückenhaft. Von der geringen Wahrscheinlichkeit, dass Knochen überhaupt zu Fossilien werden, war bereits die Rede, aber die Funde sind noch spärlicher, als man sich vielleicht vorstellt. Dafür sind die Dinosaurier ein gutes Beispiel. Museen vermitteln uns den Eindruck, als gebe es auf der Welt eine Fülle von Dinosaurierfossilien. In Wirklichkeit sind die Ausstellungsstücke in ihrer großen Mehrheit Kunstprodukte. Der riesige Diplodocus, der die Eingangshalle des Londoner Natural History Museum beherrscht und ganzen Besuchergenerationen zur Freude und Belehrung diente, besteht aus Gips - er wurde 1903 in Pittsburgh angefertigt und dem Museum von Andrew Carnegie gestiftet. In der Halle des American Museum of Natural History in New York sieht man eine noch großartigere Szene: das Skelett eines Barosaurus-Weibchens, das sein Junges gegen den Angriff eines pfeilschnellen Allosaurus mit seinen gewaltigen Zähnen verteidigt. Die Darstellung ist höchst eindrucksvoll - der Barosaurus ragt fast zehn Meter in Richtung des hohen Hallendaches -, aber sie ist ebenfalls eine Nachbildung. Jeder Einzelne der etlichen 100 Knochen ist ein Gipsabguss. Man kann fast jedes große naturhistorische Museum der Welt besichtigen - in Paris, Wien, Frankfurt, Buenos Aires, Mexico City -, immer wird man nicht von vorzeitlichen Knochen, sondern von altertümlichen Modellen begrüßt.

In Wirklichkeit wissen wir über die Dinosaurier eigentlich nicht besonders viel. Für ihr gesamtes Zeitalter hat man noch nicht einmal 1000 biologische Arten identifiziert (und fast die Hälfte davon kennt man nur durch ein einziges Exemplar), das ist ungefähr ein Viertel der heute lebenden Säugetierarten. Und dabei darf man nicht vergessen, dass die Dinosaurier auf der Erde etwa dreimal so lange herrschten, wie es den Säugetieren bisher gelungen ist; entweder waren die Dinosaurier also bemerkenswert wenig produktiv, was die Entstehung neuer Arten angeht, oder wir haben bisher nur an der Oberfläche gekratzt (um ein unwiderstehlich gut geeignetes Klischee zu benutzen).

Aus vielen Jahrmillionen des Dinosaurierzeitalters hat man nicht ein einziges Fossil gefunden. Selbst aus der Phase der späten Kreidezeit - die dank unseres langjährigen Interesses an den Dinosauriern und ihrem Aussterben die bestuntersuchte Periode der Vorgeschichte darstellt - sind vermutlich drei Viertel aller Arten noch nicht entdeckt. Tiere, die noch klobiger als der Diplodocus oder aggressiver als der Tyrannosaurus waren, streiften möglicherweise zu Tausenden über die Erde, ohne dass wir jemals davon erfahren werden. Bis vor sehr kurzer Zeit stammten alle Kenntnisse über die Dinosaurier jener Periode ausschließlich von rund 300 Funden, die nicht mehr als 16 Arten repräsentierten. Diese spärlichen Belege führten allgemein zu der Überzeugung, die Dinosaurier seien bereits auf dem Rückzug gewesen, als der Meteor am Ende der Kreidezeit einschlug.

Ende der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts entschloss sich Peter Sheehan, ein Paläontologe des Milwaukee Public Museum, zu einem Experiment. Mit Hilfe von 200 Freiwilligen machte er sich an eine peinlich genaue Übersichtsuntersuchung der gut abgegrenzten, aber auch bereits gut »abgegrasten« Hell-Creek-Felsformation in Montana. Die Freiwilligen durchstöberten das gesamte Gelände und sammelten jeden Zahn, jeden Wirbelknochen und jeden Knochensplitter ein - alles, was man bei früheren Grabungen übersehen hatte. Die Arbeiten dauerten drei Jahre. Am Ende stellte sich heraus, dass sich die weltweite Gesamtzahl von Dinosaurierfossilien aus der späten Kreidezeit allein durch diese Funde mehr als verdreifacht hatte. Die Untersuchung gelangte zu dem Ergebnis, dass die Dinosaurier noch bis zum Zeitpunkt des Meteoriteneinschlages sehr zahlreich waren. »Es besteht kein Grund zu der Annahme, die Dinosaurier seien während der letzten drei Millionen Jahre der Kreidezeit ganz allmählich ausgestorben«, berichtete Sheehan. Wir haben uns ganz an die Vorstellung gewöhnt, wir selbst seien als alles beherrschende Art von Lebewesen unvermeidlich gewesen, und deshalb begreifen wir kaum, dass wir unser Dasein außerirdischen Explosionen und anderen Zufälligkeiten verdanken, die sich gerade zur richtigen Zeit ereigneten. Nur eines haben wir mit allen anderen Lebewesen gemeinsam: Fast vier Milliarden Jahre lang ist es unseren Vorfahren gelungen, immer wieder gerade rechtzeitig durch eine Tür zu schlüpfen, bevor sie sich schloss. Kurz und bündig formulierte es Stephen Jay Gould in einem allgemein bekannten Satz: »Die Menschen sind heute da, weil ausgerechnet unsere Abstammungslinie nie unterbrochen wurde - an keinem einzigen der vielen Milliarden Punkte, an denen wir aus der Geschichte hätten verschwinden können.«

Am Anfang dieses Kapitels standen drei Aussagen: Leben will da sein; Leben will nicht immer groß sein; Leben stirbt von Zeit zu Zeit aus. Jetzt können wir eine vierte hinzufügen: Das Leben geht weiter. Und das, wie wir noch sehen werden, oftmals auf höchst verblüffende Weise.

23. Die Reichlichkeit des Seins

Im Londoner Natural History Museum, in Nischen entlang der schwach beleuchteten Korridore oder zwischen Vitrinen mit Mineralien, Straußeneiern und anderem lehrreichen Material aus 100 Jahren, gibt es Geheimtüren - ein letztes Geheimnis insofern, als nichts an ihnen ist, was die Aufmerksamkeit der Besucher wecken würde. Gelegentlich sieht man jemanden mit dem zerstreuten Betragen und der eigenwilligen Frisur eines Gelehrten aus einer dieser Türen kommen und einen Flur entlangeilen, vermutlich um ein Stück weiter durch eine ähnliche Tür wieder zu verschwinden. Aber das kommt nur selten vor. Meist bleiben die Türen geschlossen und liefern keinerlei Anhaltspunkte, dass hinter ihnen noch ein anderes, paralleles Natural History Museum liegt. Es ist ebenso riesig und in vielerlei Hinsicht noch großartiger als jenes, das die Öffentlichkeit kennt und bewundert.

Das Natural History Museum besitzt rund 70 Millionen Objekte aus allen Bereichen des Lebendigen und allen Winkeln der Erde, und jedes Jahr wächst die Sammlung um etwa 100000 weitere Stücke. Eigentlich bekommt man aber nur hinter den Kulissen einen Eindruck davon, was für ein Schatzhaus das Museum ist. In Schränken, Vitrinen und langen Sälen voller Regale stehen dicht bei dicht Zehntausende von konservierten Tieren in Flaschen, Millionen Insekten sind mit Nadeln auf Kartonquadrate aufgespießt, in Schubladen liegen hübsche Weichtiere, Dinosaurierknochen, Schädel von Frühmenschen, unzählige Ordner mit säuberlich gepressten Pflanzen. Ein wenig hat man das Gefühl, durch Darwins Gehirn zu wandern. In einem Raum steht auf fast 25 Regalkilometern Flasche neben Flasche mit Tieren, die in Methylalkohol konserviert sind.1

Hier befinden sich Objekte, die von Joseph Banks in Australien, Alexander von Humboldt im AmazonasUrwald oder Charles Darwin auf seiner Reise mit der Beagle gesammelt wurden, aber auch vieles andere, das entweder sehr selten oder historisch bedeutsam ist. Viele Menschen würden diese Dinge gern in die Hand bekommen, und einigen ist es tatsächlich gelungen. Im Jahr 1954 erwarb das Museum eine außergewöhnliche ornithologische Sammlung aus dem Nachlass des engagierten Sammlers Richard Meinertzhagen, der neben anderen Fachbüchern das Werk Bird of Arabia verfasst hatte. Meinertzhagen war ein treuer Museumsbesucher -er kam fast jeden Tag, um sich Notizen für seine Bücher und Aufsätze zu machen. Als die Kisten mit seinen Besitztümern eintrafen, öffneten die Kuratoren sie eilig -alle waren gespannt, was er ihnen hinterlassen hatte. Sie erlebten, gelinde gesagt, eine Überraschung: Zahlreiche Stücke trugen die Etiketten des Museums. Wie sich herausstellte, hatte Meinertzhagen sich jahrelang in den Sammlungen bedient. Damit war auch erklärt, warum er selbst bei warmem Wetter stets einen langen Mantel trug.

Einige Jahre später ertappte man einen liebenswürdigen Stammgast der Weichtierabteilung - mir wurde berichtet, er sei »ein angesehener Gentleman« gewesen -, wie er wertvolle Muschelschalen in den hohlen Beinen seiner Gehhilfe verstaute.

»Ich glaube, hier gäbe es für jedes Stück einen Liebhaber«, sagt Richard Fortey mit nachdenklicher Miene, während er mich durch diese zauberhafte Welt hinter den Kulissen des Museums führt. Wir wandern durch eine verwirrende Fülle von Sälen, wo Menschen an großen Tischen sitzen und konzentrierte Untersuchungen an Gliederfüßern, Palmwedeln oder vergilbten Knochen vornehmen. Überall herrscht eine Atmosphäre der gemächlichen Gründlichkeit - das gigantische Vorhaben, an dem diese Menschen sich beteiligen, ist nie zu Ende und verträgt keine Eile. Wie ich gelesen habe, veröffentlichte das Museum 1967 seinen Bericht über die John-Murray-Expedition, eine Studie über den Indischen Ozean, deren Teilnehmer 44 Jahre zuvor wieder nach Hause gekommen waren. Es ist eine Welt mit eigenem Rhythmus. In einem winzigen Aufzug stehe ich mit Fortey und einem älteren Mann, der wie ein Wissenschaftler wirkt. Entspannt und freundschaftlich unterhält sich mein Begleiter mit ihm, während wir ungefähr mit der Geschwindigkeit, die Sedimente bei der Ablagerung erreichen, aufwärts getragen werden.

Als der Mann sich verabschiedet hat, sagt Fortey zu mir: »Das war ein sehr netter Bursche, Er heißt Norman und untersucht schon seit 42 Jahren eine einzige Pflanzenart, das Johanniskraut. Seit 1989 ist er pensioniert, aber er kommt immer noch einmal in der Woche.«

»Wie kann man sich 42 Jahre mit einer einzigen Pflanze beschäftigen?«, will ich wissen.

»Das ist schon bemerkenswert, nicht?«, pflichtet Fortey mir bei. Dann denkt er einen Augenblick nach. »Offensichtlich ist er sehr gründlich.« Die Aufzugtür öffnet sich und gibt den Blick auf eine zugemauerte Öffnung frei. Fortey ist verblüfft. »Sehr seltsam«, sagt er, »früher war hier die Abteilung für Botanik.« Er drückt den Knopf für ein anderes Stockwerk, und wir suchen uns den Weg zur Botanik über Hintertreppen sowie mit diskreter Durchquerung anderer Abteilungen, wo weitere Wissenschaftler sich liebevoll mit einstmals lebenden Objekten befassen. So kam es, dass ich Len Ellis und die lautlose Welt der Bryophyten kennen lernte - für uns normale Sterbliche sind das die Moose.

Als Emerson mit poetischen Worten feststellte, dass Moose die Nordseite der Bäume bevorzugen ( »Das Moos auf jedes Baumes Haut/im Dunkeln zum Polarstern schaut« ), meinte er in Wirklichkeit die Flechten, denn im 19. Jahrhundert wurde nicht zwischen Flechten und Moosen unterschieden. Echte Moose sind nicht sonderlich wählerisch, was den Ort ihres Wachstums angeht, und deshalb eignen sie sich nicht als natürlicher Kompass. Eigentlich sind Moose sogar für so gut wie gar nichts zu gebrauchen. »Für vielleicht keine andere große Pflanzengruppe gibt es so wenige kommerzielle oder wirtschaftliche Anwendungsmöglichkeiten wie für die Moose«, schreibt Henry S. Conard mit einem Anflug von Bedauern in seinem 1956 erschienenen Buch How to Know the Mosses and Liverworts, das sich noch heute in vielen Bibliotheksregalen findet - es war wohl der einzige Versuch, das Thema populärwissenschaftlich aufzu-bereiten.3

Aber sie sind sehr fruchtbar. Selbst wenn man die Flechten ausklammert, ist im Bereich der Bryophyten eine Menge los: 700 Gattungen umfassen insgesamt über 10000 Arten. Das dicke, ansehnliche Werk Moss Flora of Britain and Ireland von A. J. E. Smith ist 700 Seiten stark, obwohl Großbritannien und Irland keineswegs besonders stark bemooste Gebiete sind. »Die eigentliche Vielfalt findet man in den Tropen«, erklärt mir Len Ellis.4 Der ruhige, hagere Mann arbeitet seit 27 Jahren am Natural History Museum und leitet seit 1990 diese Abteilung.

»Wenn man sich beispielsweise in Malaysia in den Regenwald begibt, findet man relativ leicht neue Formen. Ich selbst habe das vor nicht allzu langer Zeit getan. Ein Blick auf den Boden, und schon hatte ich eine Art gefunden, die noch nicht beschrieben war.«

»Dann wissen wir also nicht, wie viele Arten noch unentdeckt sind?«

»O nein. Keine Ahnung.«

Eigentlich sollte man nicht glauben, dass es auf der Welt eine nennenswerte Zahl von Menschen gibt, die ihr ganzes Leben der Untersuchung derart bescheidener Gewächse widmen, aber in Wirklichkeit gibt es Hunderte von Moosexperten, und die sind in ihrem Fachgebiet sehr engagiert. »Oh ja, auf Tagungen geht es manchmal recht lebhaft zu«, erzählt mir Ellis.

Ich frage nach einem Beispiel für eine solche Meinungsverschiedenheit.

»Nun ja, eine wurde uns beispielsweise von einem Ihrer Landsleute aufgezwungen«, erwidert er mit einem Anflug von Lächeln. Dann schlägt er ein dickes Buch auf und zeigt mir Abbildungen von Moosen, an denen mir vor allem eines auffällt: Für das ungeübte Auge sehen sie sich alle unglaublich ähnlich.

»Das hier«, sagt er und zeigt auf ein Moos, »war früher eine Gattung namens Drepanocladus. Heute wird sie in drei Gattungen unterteilt: Drepanocladus, Wamstorfia und Hamatacoulis.«

»Und das hat zu Auseinandersetzungen geführt?«, frage ich mit schwacher Hoffnung.

»Nun ja, es war sinnvoll. Es war sogar sehr sinnvoll. Aber es bedeutete, dass man in den Sammlungen eine Menge Dinge neu ordnen musste, und eine Zeit lang waren alle Bücher veraltet. Deshalb wurde ein wenig gemurrt, wissen Sie.«

Weiter erklärt er mir, dass die Moose auch Geheimnisse bergen. Ein berühmter Fall - berühmt jedenfalls unter Moosexperten - betraf eine unauffällige Art namens Hyophila stanfordensis. Sie wurde auf dem Gelände der Stanford University in Kalifornien entdeckt, und später fand man sie auch neben einem Fußweg in Cornwall am südwestlichen Ende Englands, aber zwischen diesen beiden Orten begegnete man ihr nie. Wie sie an zwei so weit auseinander liegenden Stellen gedeihen kann, ist für alle ein Rätsel. »Heute wird sie als Hennediella stanfordensis bezeichnet. Auch das war eine Umwälzung«, sagt Ellis.

Wir nicken nachdenklich.

Wenn ein neues Moos entdeckt wird, muss man es mit allen anderen Moosen vergleichen - nur so kann man gewährleisten, dass es nicht bereits bekannt ist. Anschließend muss man eine formelle Beschreibung verfassen, Zeichnungen anfertigen und die Ergebnisse in einer angesehenen Fachzeitschrift veröffentlichen. Das Ganze dauert meist nicht länger als ein halbes Jahr. Insgesamt war das 20. Jahrhundert für die Systematik der Moose nicht gerade eine Blütezeit. In den ganzen Jahren konzentrierten sich die Arbeiten vorwiegend darauf, die Verwirrungen und doppelten Beschreibungen zu beseitigen, die das 19. Jahrhundert hinterlassen hatte.

Damals erlebte das Moossammeln sein goldenes Zeitalter. (Wie bereits erwähnt wurde, war auch der Vater von Charles Lyell ein großer Moosexperte.) Ein Engländer namens George Hunt machte seinem Namen alle Ehre: Er ging so energisch auf die Jagd nach britischen Moosen, dass er vermutlich zur Ausrottung mehrerer Arten beitrug. Aber dank solcher Bemühungen ist die Sammlung von Len Ellis eine der umfassendsten auf der ganzen Welt. Alle 780000 Exemplare sind zwischen großen, schweren Papierblättern gepresst, manche davon sehr alt und mit verschnörkelter viktorianischer Handschrift bedeckt. Einige davon befanden sich nach heutiger Kenntnis vermutlich im Besitz des großen Botanikers Robert Brown, der in viktorianischer Zeit die Brown’sche Molekularbewegung und den Zellkern entdeckte. Brown gründete die botanische Abteilung des Museums und leitete sie dann 31 Jahre lang, bevor er 1858 starb. Alle Sammlungsstücke werden in blank polierten alten Mahagonischränken aufbewahrt, die so fein gearbeitet sind, dass ich eine Bemerkung darüber fallen lasse.

»Ach, die sind von Sir Joseph Banks, aus seinem Haus am Soho Square«, erklärt Ellis beiläufig, als spräche er über eine Neuerwerbung von Ikea. »Er ließ sie bauen, um darin seine Funde von der Reise mit der Endeavour unterzubringen.« Nachdenklich betrachtet er die Schränke, als sähe er sie seit langer Zeit zum ersten Mal. Dann fügt er hinzu: »Wie sie zu uns in die Moosabteilung gekommen sind, weiß ich nicht.«

Ein verblüffendes Eingeständnis. Joseph Banks war der größte Botaniker Englands, und die Reise mit der Endeavour - es war die gleiche, auf der Captain Cook 1769 neben vielem anderen auch den Venusdurchgang aufzeichnete und Australien für die britische Krone in Besitz nahm - war die größte botanische Expedition aller Zeiten. Banks zahlte 10000 englische Pfund - nach heutiger Kaufkraft rund 900000 Euro -, um mit neun Begleitern - einem Naturforscher, einem Sekretär, drei Künstlern und vier Dienern - an der dreijährigen, abenteuerlichen Weltumrundung teilzunehmen. Was der vierschrötige Captain Cook mit einer derart empfindsamen, verwöhnten Reisegruppe anfing, weiß niemand so ganz genau, aber anscheinend mochte er Banks recht gern und konnte seine Bewunderung über dessen Talent als Botaniker nicht verhehlen - ein Eindruck, den auch die Nachwelt teilt.

Niemals zuvor und auch zu keinem späteren Zeitpunkt feierte eine botanische Expedition größere Triumphe. Zum Teil lag es daran, dass die Reise zu so vielen neuen oder wenig bekannten Zielen führte - Feuerland, Tahiti, Neuseeland, Australien, Neuguinea -, vor allem aber war es Banks zu verdanken, einem höchst scharfsinnigen, fantasievollen Sammler. Selbst in Rio de Janeiro, wo sie wegen Quarantänebestimmungen nicht an Land gehen durften, stöberte er in einem Ballen Futter, der für die Tiere des Schiffes an Bord gebracht wurde, und machte dabei neue Entdeckungen.5 Anscheinend entging nichts seiner Aufmerksamkeit. Insgesamt brachte er 30000 Exemplare von Pflanzen nach Hause, darunter 1400, die zuvor noch nie jemand gesehen hatte - genug, um die Gesamtzahl der weltweit bekannten Arten um ein Viertel ansteigen zu lassen.

Aber auch Banks’ große Sammlung war nur ein kleiner Teil der Gesamtausbeute in einem Zeitalter der fast absurden Sammelwut. Das Sammeln von Pflanzen wurde im 18. Jahrhundert zu einer Art internationalen Besessenheit. Ruhm und Reichtum warteten auf jeden, der neue Arten entdeckte, und sowohl Botaniker als auch Abenteurer nahmen fast unglaubliche Strapazen auf sich, um die Gier der Welt nach neuem Grünzeug zu befriedigen. Thomas Nuttall, der die Wisteria nach Caspar Wistar auf ihren Namen taufte, kam als ungebildeter Drucker nach Amerika. Kurz darauf entdeckte er jedoch seine Leidenschaft für Pflanzen, und nun wanderte er kreuz und quer durch das halbe Land, wobei er Hunderte von Gewächsen einsammelte, die noch niemand kannte. John Fraser, Namenspatron der Fraser-Balsamtanne, sammelte jahrelang in der Wildnis Pflanzen im Auftrag von Katharina der Großen, und als er schließlich in die Zivilisation zurückkehrte, hatte Russland einen neuen Zaren, der ihn für verrückt erklärte und den Vertrag nicht erfüllen wollte. Daraufhin brachte Fraser seine Funde nach Chelsea, eröffnete eine Baumschule und verdiente sich einen hübschen Lebensunterhalt, indem er Rhododendren, Azaleen, Magnolien, Wilden Wein, Astern und andere exotische Pflanzen aus den Kolonien an eine begeisterte englische Schickeria verkaufte.

Mit den richtigen Funden konnte man gewaltige Summen verdienen. Der Amateurbotaniker John Lyon verbrachte zwei harte, gefährliche Jahre mit dem Sammeln von Pflanzen, seine Mühen wurden ihm aber nach heutiger Kaufkraft mit rund 180000 Euro belohnt. Für viele andere jedoch war die Liebe zur Botanik das einzige Motiv. Nuttall stiftete fast alle seine Funde dem botanischen Garten von Liverpool. Am Ende wurde er Direktor des botanischen Gartens der Harvard University und verfasste das große Nachschlagewerk Genera of North American Plants (das er nicht nur schrieb, sondern größtenteils auch selbst setzte).

Und neben den Pflanzen gab es ja noch die ganze Tierwelt der neuen Kontinente: Kängurus, Kiwis, Waschbären, Rotluchse, Moskitos und andere seltsame Geschöpfe, von denen sich niemand etwas hätte träumen lassen. Die Erkenntnis, dass das Leben auf der Erde offensichtlich von unendlicher Vielfalt war, fasste Jonathan Swift in seine berühmten Zeilen:

Denn jeder Floh, sagt der Zoolog,

Dient kleinern Flöhn als Futtertrog,

Und wieder kleinern dienen diese

-Ad infinitum, die Devise.

Und all diese neuen Erkenntnisse mussten aufgezeichnet, geordnet und mit dem bereits Bekannten verglichen werden. Die Welt brauchte dringend ein funktionierendes Klassifikationssystem. Glücklicherweise stand in Schweden jemand bereit, der es liefern sollte.

Er hieß Carl Linné (aus dem er später mit königlicher Erlaubnis das adlige von Linné machte), ist aber heute auch unter seinem latinisierten Namen Carolus Linnaeus bekannt. Linné wurde 1707 in dem südschwedischen Dorf Räshult als Sohn eines armen, aber ehrgeizigen luthera-nischen Hilfsgeistlichen geboren und war in der Schule so faul, dass sein verärgerter Vater ihn als Lehrling zu einem Flickschuster schickte (oder dies manchen Berichten zufolge fast getan hätte). Aber die Aussicht, sein Leben lang Nägel in Leder zu klopfen, war dem jungen Linné derart zuwider, dass er um eine zweite Chance bettelte. Sie wurde ihm gewährt, und von nun an ließ er nicht mehr von seinen akademischen Bemühungen ab. Er studierte in Schweden und Holland Medizin, aber seine Leidenschaft galt der Natur. Anfang der dreißiger Jahre des 18. Jahrhunderts, als er erst knapp über 20 war, stellte er bereits Kataloge der Pflanzen- und Tierarten der Erde auf; dabei bediente er sich eines von ihm selbst entwickelten Systems, und allmählich wuchs sein Ruhm.

Kaum ein anderer ging so unbefangen mit seinem Ruf um wie Linné. Seine Freizeit verwendete er größtenteils darauf, lange, schmeichelhafte Berichte über sich selbst zu verfassen. Darin erklärte er, es habe »nie einen größeren Botaniker oder Zoologen gegeben«, und sein Klassifikationssystem sei »die größte Leistung in der Domäne der Wissenschaft«. In aller Bescheidenheit schlug er vor, sein Grabstein solle die Inschrift Princeps Botanicorum tragen - »Fürst der Botaniker«. Seine großzügige Selbsteinschätzung in Frage zu stellen, war unklug. Wer es tat, fand seinen Namen später in einem Unkraut wieder.

Linnés zweite auffallende Eigenschaft war eine ständige und manchmal sogar geradezu fieberhafte Sexbesessenheit. Insbesondere faszinierte ihn die Ähnlichkeit zwischen bestimmten Muscheln und den weiblichen Geschlechtsorganen. Den Körperteilen einer Muschelart gab er die Namen vulva, labia, pubes, anus und hymen 6 Er ordnete die Pflanzen nach dem Bau ihrer Fortpflanzungsorgane und schrieb ihnen ein auffallend menschliches Liebesbedürmis zu. In seinen Beschreibungen über Blüten und ihr Verhalten finden sich immer wieder Ausdrücke wie »promiskuitiver Verkehr«, »unfruchtbare Konkubinen« oder »Brautbett«. Im Frühjahr schrieb er in einem häufig zitierten Absatz:

Sogar die Pflanzen werden von Liebe erfasst ... Männer und Frauen ... vollziehen die Ehe ..zeigen durch ihre Geschlechtsorgane, wer männlich und wer weiblich ist. Die Blütenblätter dienen als Brautbett, welches der Schöpfer so großartig angeordnet hat, so üppig geschmückt mit edlen Bettvorhängen, parfümiert mit so süßen Düften, dass der Bräutigam und die Braut hier ihre Hochzeitsnacht mit umso größerer Erhabenheit feiern können. Ist das Bett auf diese Weise bereitet, wird es Zeit für den Bräutigam, seine geliebte Braut zu umfangen und sich ihr hinzugeben.

Eine Pflanzengattung taufte er auf den Namen Clitoria. Wie nicht anders zu erwarten, hielten ihn viele für einen seltsamen Kauz. Aber sein Klassifikationssystem hatte einen unwiderstehlichen Reiz. Vor Linné gab man den Pflanzen umständliche, beschreibende Namen - die Judenkirsche hieß beispielsweise Physalis amno ramosissime ramis angulosis glabris foliis dentoserratis. Linné stutzte die Bezeichnung auf Physalis angulata zurück, und diesen Namen trägt die Pflanze noch heute. Außerdem sorgten uneinheitliche Benennungen in der Pflanzenwelt für Unordnung. Ein Botaniker konnte nicht mit Sicherheit wissen, ob Rosa sylvestris alba cum rubore, folio glabro die Gleiche war, die andere als Rosa sylvestris inodora seu canina bezeichneten. Linné nannte sie einfach Rosa canina und machte so dem Durcheinander ein Ende. Aber damit die Verkürzung nützlich war und allgemein anerkannt wurde, reichte Entscheidungsfreude allein nicht aus. Die herausragenden Eigenschaften einer Art zu erkennen, erforderte den richtigen Instinkt, eigentlich sogar ein Genie.

Linnés System setzte sich so allgemein durch, dass wir uns heute kaum noch etwas anderes vorstellen können. Bevor es existierte, bediente man sich häufig sehr sonderbarer Klassifikationssysteme. Tiere teilte man danach ein, ob sie wild lebten oder domestiziert waren, ob sie ihr Dasein an Land oder im Wasser fristeten, ob sie groß oder klein waren, ja sogar danach, ob man sie für hübsch und edel oder unbedeutend hielt. Buffon klassifizierte die Tiere auf Grund ihrer Nützlichkeit für den Menschen. Dagegen spielten anatomische Überlegungen kaum eine Rolle. Linné machte es sich zur Lebensaufgabe, diesen Mangel zu beseitigen; dazu teilte er alle Lebewesen nach ihren körperlichen Merkmalen ein. Die biologische Systematik - das heißt die Wissenschaft der Klassifikation von Lebewesen - hat es nie bereut.

Das alles erforderte natürlich viel Zeit. Die erste Auflage von Linnés großem Werk Systema Naturae, die 1735 erschien, umfasste nur 14 Seiten.9 Aber es wuchs und wuchs, und bis zur 12. Auflage - der letzten, die Linné noch zu Gesicht bekam - War es bereits auf drei Bände und 2300 Seiten angewachsen. Am Ende hatte er darin 13000 Pflanzen- und Tierarten aufgeführt und benannt. Andere Werke waren umfangreicher - die dreibändige Historia Generalis Plantarum aus England, die John Ray eine Generation zuvor vollendet hatte, verzeichnete nicht weniger als 18625 Pflanzenarten10 -, aber Linné hatte weit stärker als alle anderen für Einheitlichkeit, Ordnung, Einfachheit und Zeitlosigkeit gesorgt. Obwohl sein Werk schon in den dreißiger Jahren des 18. Jahrhunderts erschien, wurde es in England erst nach 1760 allgemein bekannt, gerade noch rechtzeitig, damit Linné für die britischen Naturforscher zu einer Art Vaterfigur werden konnte.11 Nirgendwo wurde sein System mit größerer Begeisterung aufgenommen (das ist unter anderem auch der Grund, warum die Linnean Society ihren Sitz nicht in Stockholm, sondern in London hat).

Aber auch Linné machte Fehler. Er ließ Platz für Fabelwesen und »monströse Menschen«, deren Beschreibungen er arglos von Seeleuten und anderen fantasievollen Reisenden übernahm. Darunter war beispielsweise ein wilder Mensch namens Homo ferus, der auf allen vieren ging und die Kunst der Sprache noch nicht beherrschte, sowie Homo caudatus, der »Mensch mit einem Schwanz«. Dabei darf man allerdings nicht vergessen, dass es allgemein ein leichtgläubiges Zeitalter war. Selbst der große Joseph Banks interessierte sich noch Ende des 18. Jahrhunderts brennend und völlig ernsthaft für eine Reihe von Berichten über die angebliche Entdeckung von Meerjungfrauen vor der schottischen Küste. Linnés Schwächen wurden jedoch in den meisten Fällen durch eine stichhaltige, häufig höchst scharfsinnige systematische Einordnung wettgemacht. Neben anderen Leistungen erkannte er als Erster, dass die Wale zusammen mit Kühen, Mäusen und anderen allgemein bekannten Landtieren zur Ordnung der Vierbeiner oder Quadrupedia gehören (aus der später die Säugetiere oder Mammalia wurden).

Anfangs wollte Linné jeder Pflanze einen Gattungsnamen und eine Zahl geben - Convolvulus 1, Convolvulus 2 und so weiter. Wenig später wurde ihm jedoch klar, dass ein solches System unbefriedigend war, und dann erdachte er die Binominalnomenklatur, die bis heute das Kernstück der biologischen Systematik darstellt. Ursprünglich hatte er vor, das System der zwei Namen auf alles Mögliche anzuwenden - auf Gesteine, Mineralien, Krankheiten, Winde, schlicht auf alles, was es in der Natur gab. Die neue Methode stieß nicht überall auf Gegenliebe. Viele Gelehrte machten sich Sorgen, es könne der Unanständigkeit Vorschub leisten - was nicht der Ironie entbehrt, denn vor Linné waren die Trivialnamen vieler Pflanzen und Tiere von vulgärer Deftigkeit. Der Löwenzahn war in England wegen seiner angeblich Wasser treibenden Wirkung lange Zeit als »Pissnelke« bekannt, und die alltäglichen Namen für andere Pflanzen lauteten unter anderem »Stutenfurz«, »nackte Damen«, »zuckender Hoden«, »Hundepisse«, »offener Arsch« oder »Hinternputzer«.14 Die eine oder andere derart deftige Bezeichnung hat bis heute überlebt. Das Frauenhaarmoos (Polytrichum commune) zum Beispiel ist nicht nach den Haaren auf dem Kopf einer Frau benannt. Insgesamt hatte man jedoch schon lange den Wunsch, der Naturwissenschaft durch eine kräftige Dosis klassischer Namen etwas mehr Würde zu verleihen, und deshalb machte sich ein gewisses Entsetzen breit, als man feststellte, dass der selbst ernannte Fürst der Botanik seine Schriften mit Namen wie Clitoria, Fornicata und Vulva gewürzt hatte.

Im Laufe der Jahre ließ man viele dieser Bezeichnungen stillschweigend fallen (allerdings nicht alle: Die in Amerika sehr verbreitete Pantoffelschnecke hört bei offiziellen Gelegenheiten noch heute auf den Namen Crepidula fornicata), und als die Naturwissenschaften sich immer stärker spezialisierten, kamen viele weitere Verfeinerungen hinzu. Insbesondere wurde das System durch Einführung zusätzlicher Hierarchiestufen ausgebaut. Die Kategorien der Gattung (Genus, Plural Genera) und der Art (Spezies) hatten die Naturwissenschaftler schon vor Linné seit rund 100 Jahren benutzt; Ordnung, Klasse und Familie im biologischen Sinn wurden in den fünfziger und sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts gebräuchlich. Den Begriff Stamm (Phylum) jedoch prägte der deutsche Naturforscher Ernst Haeckel erst 1876, und Familie und Ordnung hatten bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts die gleiche Bedeutung. Eine Zeit lang sprachen Zoologen von der Familie, wo Botaniker den Begriff Ordnung verwendeten, was fast immer zu großer Verwirrung* führte.

Linné hatte die Tierwelt in sechs Kategorien unterteilt: die Säugetiere, Reptilien, Vögel, Fische, Insekten und schließlich die vermes oder Würmer für alle anderen, die nicht in die ersten fünf Gruppen passten. Es lag von Anfang an auf der Hand, dass es unbefriedigend war, Hummer und Krabben in die gleiche Kategorie einzuordnen wie die Würmer, und so schuf man verschiedene neue Kategorien wie Weichtiere (Mollusca) und Krebse (Crustacea), Leider wurden diese neuen Einheiten aber nicht in allen Ländern einheitlich angewandt. In dem Bestreben, die Ordnung wiederherzustellen, verkündeten die Briten 1842 ein neues Regelwerk, das sie als Strickland-Kodex bezeichneten, aber die Franzosen hielten das für anmaßend, und ihre Société Zoologique setzte ihm eigene, widersprechende Regeln entgegen. Zur gleichen Zeit entschloss sich die amerikanische Ornithological Society aus rätselhaften Gründen, die Auflage des Systema Naturae von 1758 als Grundlage für ihre Namensgebung zu verwenden, während anderswo die Auflage von 1766 in Gebrauch war. Das hatte zur Folge, dass viele amerikanische Vögel während des gesamten 19. Jahrhunderts in anderen Gattungen eingesperrt waren als ihre europäischen Vettern. Erst 1902, bei einer der ersten Tagungen des Internationalen Zoologischen Kongresses, waren die Naturforscher endlich kompromissbereit und verabschiedeten ein allgemein anerkanntes Regelwerk.

Die biologische Systematik wird manchmal als Wissenschaft, manchmal auch als Kunst bezeichnet, aber in Wirklichkeit ist sie ein Schlachtfeld. Selbst heute ist das System weniger geordnet, als man meist annimmt. Ein gutes Beispiel ist die Kategorie der Stämme, jener Gruppen, die den verschiedenen Grundbauplänen aller Lebewesen entsprechen. Manche Stämme sind allgemein bekannt, beispielsweise die Weichtiere oder Mollusken (zu denen Muscheln und Schnecken gehören), die Gliederfüßer (Insekten und Krebse) und die Chordatiere (alle Tiere mit einer Wirbelsäule oder einem Wirbelsäulen-Vorläufer einschließlich des Menschen). Darüber hinaus jedoch bewegen wir uns sehr schnell in Richtung des Unbekannten. In diesem Bereich können wir beispielsweise die Kiefermündchen oder Gnathostomulida nennen (eine Gruppe von Meereswürmern), aber auch die Nesseltiere oder Cnidaria (Quallen, Seeanemonen und Korallen) und die empfindlichen Priapswürmer oder Priapulida. Ob sie uns vertraut sind oder nicht - es handelt sich um grundlegende Unterscheidungen. Dennoch besteht bei den Fachleuten erstaunlich wenig Einigkeit darüber, wie viele Tierstämme es gibt oder geben sollte. Die meisten Biologen nennen eine Gesamtzahl von ungefähr 30, einige verlegen sie aber auch in den Bereich knapp über 20; andererseits geht Edward O. Wilson in seinem Buch Der Wert der Vielfalt von ansehnlichen 89 Stämmen aus.15 Es hängt davon ab, wo man die Grenzen zieht, ob man »in einen Topf wirft« oder »splittet«, wie die Biologen in ihrer Umgangssprache sagen.

Auf der eher alltäglichen Ebene der biologischen Art bieten sich sogar noch größere Möglichkeiten für Meinungsverschiedenheiten. Die Frage, ob man eine Grasart als Aegilops incurva, Aegilops incurvata oder Aegilops ovata bezeichnen soll, mag bei Nichtbotanikern vielleicht keine Leidenschaften wecken, aber in den richtigen Kreisen kann sie zum Gegenstand hitziger Debatten werden. Das Problem besteht darin, dass es 5000 Grasarten gibt, von denen viele selbst für Grasexperten schrecklich ähnlich aussehen. Deshalb wurden manche Arten mindestens 20-mal entdeckt und benannt, und anscheinend gibt es kaum eine, die nicht mindestens zweimal unabhängig nachgewiesen wurde. In dem zweibändigen Handbuch Manual of the Grasses of the United States sind 200 eng bedruckte Seiten dem Versuch gewidmet, alle Mehrfachbenennungen aufzuklären, denn die biologische Wissenschaft bezieht sich immer wieder auf diese unabsichtlichen, aber recht häufigen Doppelungen. Und das sind nur die Gräser eines einzigen Landes.

Für Meinungsverschiedenheiten weltweiten Maßstabs ist eine Institution zuständig, die als Internationale Vereinigung für Pflanzen-Taxonomie (International Association for Plant Taxonomy, IAPT) bezeichnet wird.

Sie gibt von Zeit zu Zeit Verlautbarungen heraus und erklärt darin, Zauschneria californica (eine verbreitete Steingartenpflanze) solle zukünftig Epilobium canum heißen, oder Aglaothamnion tenuissimum sei von nun an als die gleiche Art zu betrachten wie Aglaothamnion byssoides, es sei aber nicht identisch mit Aglaothamnion pseudobyssoides. Normalerweise sind das kleine Aufräumungsarbeiten, die kaum Aufmerksamkeit erregen, aber wenn davon beliebte Gartenpflanzen betroffen sind, folgt regelmäßig ein empörter Aufschrei. Ende der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts wurde die allgemein bekannte Chrysantheme (offensichtlich aus stichhaltigen wissenschaftlichen Gründen) aus der Gattung gleichen Namens herausgenommen und der vergleichsweise langweiligen, unattraktiven Gattung Dendranthema zugeordnet.

Die Chrysanthemenzüchter sind eine große, selbstbewusste Branche, und sie protestierten beim Komitee für Spermatophyten - das es tatsächlich gibt, auch wenn es unwahrscheinlich klingt. (Ebenso existieren unter anderem Komitees für Pteridophyten, Bryophyten und Pilze; sie alle sind einer Instanz namens Rapporteur-Général unterstellt, einer Institution, die man wirklich hoch schätzen sollte.) Auch wenn die Nomenklaturregeln angeblich strikt angewandt werden, bleiben die Botaniker nicht unempfindlich für Gefühlsregungen, und 1995 wurde die Entscheidung rückgängig gemacht. Durch ähnliche Beschlüssse rettete man auch Petunien, Pfaffenhütchen und eine beliebte Narzissenart vor der Degradierung, nicht aber mehrere Geranienarten, die vor einigen Jahren trotz allen Protestgeheuls der Gattung Pelargonium zugeschlagen wurden.16 Einen unterhaltsamen Überblick über die Auseinandersetzungen gibt Charles Elliott in The Potting-Shed Papers.

Ganz ähnliche Diskussionen und Neuzuordnungen gibt es auch in allen anderen Gruppen der Lebewesen, und stets auf dem Laufenden zu bleiben, ist nicht so einfach, wie man es sich vielleicht vorstellt. Daraus ergibt sich eine verblüffende Folge: Wir haben nicht die leiseste Ahnung -»nicht einmal eine annähernde Größenordnung«, wie Edward O. Wilson es ausdrückt -, wie viele Arten von Lebewesen auf unserem Planeten zu Hause sind. Die Schätzungen reichen von drei Millionen bis 200 Millionen. Und noch erstaunlicher ist, dass nach einem Bericht der Zeitschrift Economist bis zu 97 Prozent der Tier- und Pflanzenarten auf der Erde noch ihrer Entdeckung harren.18

Von den Arten, die wir bereits kennen, sind über 99 Prozent nur skizzenhaft beschrieben - nach Wilsons Worten beschränken sich unsere Kenntnisse meist auf einen wissenschaftlichen Namen, eine Hand voll Exemplare in einem Museum und ein paar bruchstückhafte Beschreibungen in wissenschaftlichen Zeitschriften. In seinem Buch Der Wert der Vielfalt schätzt Wilson die Gesamtzahl der bekannten biologischen Arten - Pflanzen, Insekten, Mikroorganismen, Algen und alle anderen - auf l,4 Millionen, aber er fügt sofort hinzu, dies sei nur eine Vermutung.19 Andere Fachleute setzen die Zahl der bekannten Arten ein wenig höher bei rund 1,5 bis 1,8 Millionen an, aber ein zentrales Register gibt es nicht, und deshalb lassen sich die Angaben nicht überprüfen. Kurz gesagt, befinden wir uns in einer eigenartigen Lage: Eigentlich wissen wir nicht, was wir eigentlich wissen.

Im Prinzip sollte es möglich sein, Fachleute für die einzelnen Spezialgebiete zu befragen, wie viele Arten es in ihrem Bereich jeweils gibt, und dann die Zahlen zusammenzuzählen. Das haben tatsächlich viele Autoren getan, aber dabei kamen nur in den seltensten Fällen übereinstimmende Angaben heraus. Manche Quellen geben eine Zahl von 70000 bekannten Pilzarten an, andere sprechen von 100000, fast anderthalbmal so viel. Man hört die selbstbewusste Behauptung, die Zahl der bekannten Regenwürmer betrage 4000, und ebenso selbstbewusst nennen andere eine Zahl von 12000. Bei den Insekten reichen die Angaben von 750000 bis zu 950000 Arten. Wohlgemerkt: Das ist jeweils nur die Zahl der angeblich bekannten Arten. Bei Pflanzen liegen die allgemein anerkannten Zahlen zwischen 248000 und 265000. Das mag sich nach einem geringen Unterschied anhören, aber allein die Differenz ist zwanzigmal so groß wie die Zahl aller Blütenpflanzenarten in Nordamerika.

Ebenso ist es alles andere als einfach, Ordnung in die Sache zu bringen. Anfang der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts machte sich Colin Groves von der Australian National University an eine systematische Übersichtsuntersuchung der mehr als 250 bekannten Primatenarten. Dabei stellte sich in vielen Fällen heraus, dass die gleiche Art zweimal oder sogar mehrere Male beschrieben worden war, und in allen Fällen hatten die Entdecker nicht erkannt, dass das Tier, mit dem sie es zu tun hatten, der Wissenschaft bereits bekannt war. Vier Jahrzehnte brauchte Groves, um alle Zusammenhänge zu entwirren, und das in einer vergleichsweise kleinen Gruppe von Tieren, die leicht zu unterscheiden sind und um die es in der Regel keine Meinungsverschiedenheiten gibt. Was die Folgen wären, wenn jemand sich auf ähnliche Weise mit den schätzungsweise 20000 Flechtenarten der Erde, den 50000 Weichtieren oder den mehr als 400000 Käfern befassen würde, weiß niemand.

Nur eines ist sicher: Es gibt eine ungeheure Fülle von Lebensformen. Wie viele es aber tatsächlich sind, kann man nur schätzen, und solche Schätzungen stützen sich auf - manchmal sehr gewagte - Hochrechnungen. Eine Untersuchung, die recht bekannt wurde, unternahm Terry Erwin von der Smithsonian Institution in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts: Er sprühte im Regenwald von Panama eine Gruppe von 19 Bäumen reichlich mit einem Insektizid ein und sammelte alles, was aus den Baumkronen in seine Netze fiel. Zu seinem Fang (in Wirklichkeit waren es mehrere Fänge, denn er wiederholte das Experiment zu verschiedenen Jahreszeiten, um auch wandernde Tierarten zu erfassen) gehörten 1200 Käferarten. Gestützt auf Kenntnisse über die Verteilung von Käfern in anderen Gebieten, die Zahl der Baumarten in dem Wald, die Zahl der Wälder auf der Erde, die Zahl anderer Insektenarten und zahlreicher weiterer Variablen gelangte er für die ganze Welt zu einer Schätzung von 30 Millionen Insektenarten - eine Zahl, die er später als zu vorsichtig bezeichnete. Andere gingen von den gleichen oder ähnlichen Daten aus und nannten Zahlen von 13 Millionen, 80 Millionen oder 100 Millionen Insektenarten; damit bestätigten sie wieder einmal die Erkenntnis, dass solche Zahlen, so sorgfältig man sie auch ermittelt, sich zwangsläufig ebenso sehr auf Vermutungen stützen wie auf handfeste wissenschaftliche Arbeit.

Nach Angaben des Wall Street Journal gibt es auf der Welt rund 10000 aktive biologische Systematiker, keine große Zahl, wenn man bedenkt, was es alles aufzuzeichnen gilt. Aber wie das Journal hinzufügt, werden wegen der hohen Kosten (fast 2000 Euro je Art) und des notwendigen Papierkrieges jedes Jahr insgesamt nur rund 15000 neue Arten registriert.

»Wir haben keine Krise der biologischen Vielfalt, sondern eine Krise der biologischen Systematik!«,

schimpft der aus Belgien stammende Koen Maes, Leiter der Abteilung für wirbellose Tiere am kenianischen Nationalmuseum in Nairobi, mit dem ich im Herbst 2002 auf einer Reise in das Land kurz zusammentreffe. Wie er mir erklärt, gibt es in ganz Afrika keine Fachleute für biologische Systematik. »An der Elfenbeinküste lebte früher einer, aber ich glaube, der ist pensioniert«, sagt er. Die Ausbildung eines Systematikers dauert acht bis zehn Jahre, aber in Afrika gibt es keinen Nachwuchs. »Das sind echte Fossilien«, fügt Maes hinzu. Wie er mir berichtet, wird er selbst Ende des Jahres entlassen. Nach sieben Jahren in Kenia wird sein Vertrag nicht verlängert. »Kein Geld da«, erklärt Maes.

Wie der britische Biologe G. H. Godfray letztes Jahr in der Fachzeitschrift Nature feststellte, leiden die biolo gischen Systematiker überall unter einem chronischen Mangel an Ansehen und Finanzmitteln. Deshalb »werden viele Arten in abgelegenen Zeitschriften schlecht beschrieben, ohne dass der Versuch unternommen wird,* ein neues Taxon mit den bereits bekannten Arten und ihrer Klassifikation in Verbindung zu bringen«. Außerdem verbringen Systematiker den größten Teil ihrer Zeit nicht mit der Beschreibung neuer Arten, sondern damit, Ordnung in die bereits vorhandenen Beschreibungen zu bringen. Nach Godfrays Angaben »verwenden viele fast ihre gesamte Berufslaufbahn darauf, die Arbeiten der Systematiker aus dem 19. Jahrhundert zu interpretieren: Sie nehmen die häufig unzureichenden veröffentlichten Beschreibungen auseinander und suchen in den Museen der ganzen Welt nach Belegmaterial, das dann häufig in sehr schlechtem Zustand ist.« Insbesondere

* Der Fachausdruck für zoologische Kategorien wie Stamm oder Gattung. Mehrzahl ist Taxa.


weist Godfray darauf hin, wie wenig Aufmerksamkeit man den Möglichkeiten schenkt, die das Internet für die systematische Erfassung der Lebewesen bietet. Die biologische Systematik ist noch heute im Großen und Ganzen eine altmodische Papierwissenschaft.

Einen Versuch, die Dinge in die moderne Zeit zu versetzen, unternahm Kevin Kelly, Mitbegründer der Zeitschrift Wired, im Jahr 2001: Er setzte ein Unternehmen namens All Species Foundation in Gang. Das Ziel: alle Lebewesen zu finden und in einer Datenbank aufzunehmen. Die Kosten für ein solches Projekt liegen nach verschiedenen Schätzungen irgendwo zwischen zwei Milliarden und 50 Milliarden US-Dollar. Im Frühjahr 2002 verfügte die Stiftung aber erst über 1,2 Millionen Dollar und vier Vollzeitbeschäftigte. Wenn es stimmt, dass noch bis zu 100 Millionen Insektenarten zu entdecken bleiben und wenn die Entdeckungen sich mit der bisherigen Geschwindigkeit fortsetzen, haben wir erst in etwas mehr als 15000 Jahren endgültig alle Insektenarten erfasst. Für das übrige Tierreich dürfte es noch ein wenig länger dauern.

Warum wissen wir eigentlich so wenig? Die Zahl der Gründe ist fast ebenso groß wie die der Tiere, die noch zu zählen bleiben, aber einige der wichtigsten möchte ich nennen:

Die meisten Lebewesen sind klein und leicht zu übersehen. Unter praktischen Gesichtspunkten ist das häufig gar nicht so schlecht. Wir würden wahrscheinlich weniger ruhig schlafen, wenn wir wahrnehmen würden, dass unsere Matratze etwa zwei Millionen mikroskopisch kleine Milben beherbergt. Sie kommen zu nächtlicher Stunde heraus, schlagen sich mit unserem Hauttalg den Bauch voll und tun sich an den leckeren, knusprigen

Hautschuppen gütlich, die wir abwerfen, während wir uns im Schlummer herumwälzen. Allein im Kissen leben vielleicht 40000 von ihnen. (Unser Kopf ist für sie ein fetter Leckerbissen.) Und man sollte nicht denken, dass ein sauberer Kissenbezug daran etwas ändert. Für ein Lebewesen von der Größe einer Bettmilbe sieht noch das dichteste Gewebe der Menschen aus wie die Takelung eines Segelschiffes. Wenn das Kissen sechs Jahre alt ist -offenbar das Durchschnittsalter für einen solchen Gegenstand -, besteht sein Gewicht nach Schätzungen zu rund einem Zehntel aus »abgeschilferter Haut, toten Milben und Milbenexkrementen«, so Dr. John Maunder vom British Medical Entomology Center, der entsprechende Untersuchungen angestellt hat. (Aber wenigstens sind es unsere Milben. Man denke nur daran, was wir alles aufschnappen, wenn wir in ein Hotelbett* steigen.) Die Milben begleiten uns seit undenklichen Zeiten, aber entdeckt wurden sie erst 1965.

Wenn Lebewesen, die so eng mit uns zusammenleben wie die Bettmilben, unserer Aufmerksamkeit bis ins Zeitalter des Farbfernsehens entgehen konnten, ist es eigentlich kein Wunder, dass wir über die Welt des Allerkleinsten auch sonst kaum etwas wissen. Man braucht nur in den Wald zu gehen - in irgendeinen Wald, egal wo - und eine Hand voll Boden aufzuheben. Immer hält man dann bis zu zehn Milliarden Bakterien in der Hand, von denen die meisten der Wissenschaft nicht bekannt sind. Außerdem enthält die Bodenprobe vielleicht eine Million dicke Hefezellen, rund 200000 behaarte

* In manchen Hygienefragen verschlechtern sich die Verhältnisse sogar. Nach Ansicht von Dr. Maunders hat der Trend zu Niedrigtemperatur-Waschmitteln die Vermehrung des Ungeziefers begünstigt. Er formuliert es so: »Wenn man verlauste Kleidung bei niedrigen Temperaturen wäscht, bekommt man nur saubere Läuse.«


kleine Schimmelpilze, 10000 Protozoen (das bekannteste Lebewesen aus dieser Gruppe ist die Amöbe) sowie eine Vielzahl von Rädertierchen, Plattwürmern, Fadenwürmern und anderen mikroskopisch kleinen Tieren, die zusammenfassend als Kryptozoa bezeichnet werden. Auch sie sind größtenteils unbekannt.

Bergey ’s Manual of Systematic Bacteriology, das umfassendste Nachschlagewerk über Mikroorganismen, führt rund 4000 Bakterienarten auf. In den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts holten sich die beiden norwegischen Wissenschaftler Jostein Goksoyr und Vigdis Torsvik ein Gramm ganz gewöhnlichen Erdboden aus einem Buchenwald in der Nähe ihres Labors in Bergen und analysierten sehr sorgfältig seinen Bakteriengehalt. Nach ihren Feststellungen enthielt allein diese kleine Bodenprobe zwischen 4000 und 5000 verschiedene Bakterienarten, mehr als im gesamten Bergey’s Manual verzeichnet sind. Anschließend fuhren sie wenige Kilometer zu einer Stelle an der Küste, holten dort wiederum ein Gramm Erde und stellten fest, dass sie 4000 bis 5000 andere Arten enthielt. Edward O. Wilson formuliert es so: »Wenn in zwei winzigen Substratproben von zwei Orten in Norwegen bereits 10000 Mikrobentypen nachzuweisen sind, wie viele mehr harren dann ihrer Entdeckung in anderen, grundverschiedenen Habitaten?« Nun, nach einer Schätzung könnten es bis zu 400 Millionen sein.31

Wir suchen nicht an den richtigen Stellen.

In seinem Buch Der Wert der Vielfalt schildert Wilson, wie ein Botaniker einige Tage lang auf Borneo durch ein zehn Hektar großes Dschungelgebiet streifte und dabei 1000 neue Arten von Blütenpflanzen entdeckte - mehr, als in ganz Nordamerika heimisch sind. Die Pflanzen zu finden, war nicht schwer - in der betreffenden Region hatte einfach noch nie jemand gesucht. Koen Maes vom kenianischen Nationalmuseum erzählte mir von einem Ausflug in den Nebelwald, wie die Bergwälder in Kenia genannt werden. Dort fand er in einer halben Stunde »ohne besonders angestrengtes Suchen« vier neue Tausendfüßerarten, von denen drei sogar neue Gattungen repräsentierten, und eine neue Baumart.

»Einen großen Baum«, fügte er hinzu und streckte die Arme aus, als wollte er mit einer sehr großen Partnerin tanzen. Die Nebelwälder gedeihen in Hochebenen und sind in manchen Fällen schon seit Jahrmillionen von anderen Lebensräumen abgeschnitten. »Sie bieten das ideale Klima für biologische Forschungen und sind bisher kaum untersucht«, sagt er.

Die tropischen Regenwälder bedecken insgesamt nur rund sechs Prozent der Erdoberfläche, beherbergen aber mehr als die Hälfte aller Tierarten und etwa zwei Drittel der Blütenpflanzen. Der größte Teil dieser Lebensformen ist uns nach wie vor unbekannt, weil nur wenige Wissenschaftler sich in solchen Gebieten aufhalten. Dabei ist es durchaus nicht ohne Bedeutung, dass ein großer Teil der Vielfalt sehr wertvoll sein dürfte. Mindestens 99 Prozent der Blütenpflanzen wurden nie auf einen möglichen medizinischen Nutzen untersucht. Da Pflanzen vor natürlichen Feinden nicht da vonlaufen können, mussten sie chemische Abwehrmechanismen entwickeln, und deshalb sind sie besonders reich an interessanten Inhaltsstoffen. Noch heute wird fast ein Viertel aller verschriebenen Medikamente aus nur 40 Pflanzen gewonnen, und weitere 16 Prozent stammen von Tieren oder Mikroorganismen. Mit jedem Hektar abgeholzten Regenwaldes wächst also die Gefahr, dass lebenswichtige medizinische Potenziale vernichtet werden. Eine Methode namens kombinatorische Chemie erlaubt es den Wissenschaftlern, im Labor bis zu 40000 Verbindungen gleichzeitig herzustellen, aber diese Substanzen sind Zufallsprodukte und in aller Regel nutzlos; jedes natürliche Molekül dagegen »hat bereits das bestmögliche Testprogramm hinter sich: mehr als dreieinhalb Milliarden Jahre der Evolution«, wie die Zeitschrift Economist es formuliert.34

Aber um Unbekanntes zu finden, braucht man nicht einmal in abgelegene, weit entfernte Gegenden zu reisen. Richard Fortey berichtet in seinem Buch Leben. Eine Biographie, wie man ein urtümliches Bakterium in der Toilette einer Landgaststätte fand, wo die Männer seit Generationen an eine Wand pinkelten35 - eine Entdeckung, für die neben selten großem Glück und Engagement möglicherweise auch andere, nicht näher benannte Aspekte eine Rolle spielten.

Es gibt nicht genügend Experten.

Die Zahl der Dinge, die noch zu entdecken, zu untersuchen und aufzuzeichnen bleiben, ist um ein Vielfaches größer als die Kapazität der Wissenschaftler, die für solche Tätigkeiten zur Verfügung stehen. Ein gutes Beispiel sind die widerstandsfähigen, kaum erforschten Bdelloidea, mikroskopisch kleine Tiere aus der Gruppe der Rotifera oder Rädertierchen, die unter fast allen Bedingungen überleben können. Sind die Lebensumstände ungünstig, rollen sie sich zu einer kompakten Form zusammen, schalten ihren Stoffwechsel ab und warten auf bessere Zeiten. In diesem Zustand kann man sie in kochendes Wasser fallen lassen oder fast bis zum absoluten Nullpunkt - das ist die Temperatur, bei der selbst die Atome zum Stillstand kommen - einfrieren; sobald die Tortur vorüber ist und sie sich wieder in einer angenehmeren Umgebung befinden, rollen sie sich auseinander und leben weiter, als wäre nichts geschehen.

Bisher wurden 500 Tiere aus dieser Gruppe identifiziert (andere Quellen sprechen allerdings nur von 360), aber niemand hat auch nur entfernt eine Ahnung, wie viele von ihnen es insgesamt gibt. Jahrelang verdankten wir unsere Kenntnisse über sie fast ausschließlich der Arbeit des Londoner Büroangestellten David Bryce, eines engagierten Liebhabers, der sich in seiner Freizeit mit ihnen beschäftigte. Man findet die Bdelloidea überall, und doch könnte man alle Experten für diese Tiergruppe aus der ganzen Welt zum Abendessen einladen, ohne dass man sich Teller von den Nachbarn leihen müsste.

Selbst eine so wichtige, allgegenwärtige Gruppe wie die Pilze zieht relativ wenig Aufmerksamkeit auf sich. Pilze gibt es überall und in vielerlei Formen - Großpilze, Schimmelpilze, Rostpilze und Hefepilze, um nur eine kleine Auswahl zu benennen -, und ihre Biomasse ist größer, als man gemeinhin annimmt. Alle Pilze von einem typischen Hektar Wiese würden zusammen rund 2500 Kilo wiegen. Sie sind also durchaus keine nebensächliche Gruppe von Lebewesen. Ohne Pilze gäbe es keine Kartoffelfäule, keine Ulmenkrankheit und keinen Fußpilz, aber auch keinen Joghurt, kein Bier und keinen Käse. Insgesamt wurden rund 70000 Pilzarten nachgewiesen, ihre Gesamtzahl wird aber auf bis zu 1,8 Millionen geschätzt. Viele Pilzforscher arbeiten in der Industrie an der Produktion von Käse, Joghurt und Ähnlichem; deshalb ist schwer zu sagen, wie viele von ihnen aktive Forschung betreiben, aber man kann mit Sicherheit davon ausgehen, dass es noch mehr unentdeckte Pilzarten als potenzielle Entdecker gibt.

Die Welt ist groß.

Flugverkehr und andere Formen der Kommunikation erwecken heute häufig den falschen Eindruck, die Welt sei in Wirklichkeit nicht besonders groß. Unten am Boden jedoch, wo die Wissenschaftler arbeiten müssen, ist sie in Wirklichkeit riesig - so riesig, dass sie voller Überraschungen steckt. Das Okapi, der nächste noch lebende Verwandte der Giraffe, lebt nach heutiger Kenntnis in beträchtlicher Zahl im Regenwald von Zaire - der Gesamtbestand wird auf rund 30000 Tiere geschätzt -, und doch ahnte bis ins 20. Jahrhundert hinein niemand, dass diese Spezies existiert. Der Takahe, ein großer, flugunfähiger Vogel in Neuseeland, galt seit 200 Jahren als ausgestorben, aber dann fand man ihn lebendig in einer zerklüfteten Gegend auf der Südinsel des Landes.39 Als sich eine Gruppe französischer und britischer Wissenschaftler 1995 während eines Schneesturms in einem abgelegenen Tal in Tibet verirrte, stieß sie auf eine Pferderasse namens Riwoche, die man bis dahin nur aus prähistorischen Höhlenmalereien kannte. Die Bewohner des Tales staunten, als sie erfuhren, dass diese Pferde in der Außenwelt als Rarität galten.40

Manche Fachleute sind sogar der Ansicht, dass uns noch größere Überraschungen bevorstehen. »Ein führender britischer Ethnobiologe ist davon überzeugt, dass in den Schlupfwinkeln des Amazonasbeckens ein Megatherium lebt, eine Art Riesenfaultier von der Größe einer Giraffe ...«, schrieb der Economist 1995.41 Vielleicht ist es bezeichnend, dass der Name des Ethnobiologen nicht genannt wurde; und noch bezeichnender dürfte es sein, dass man sowohl von ihm als auch von seinem Riesenfaultier nie wieder etwas hörte. Aber andererseits kann niemand definitiv behaupten, so etwas gebe es nicht, solange man nicht jede Lichtung im Dschungel untersucht hat - und davon sind wir weit entfernt.

Aber selbst wenn wir Tausende von Freilandforschern rekrutieren und in die abgelegensten Winkel der Erde schicken würden, wären unsere Bemühungen zu gering: Wo Leben existieren kann, existiert es auch. Die außerordentliche Fruchtbarkeit des Lebendigen ist verblüffend und beruhigend, sie birgt aber auch ihre Probleme. Um uns einen Gesamtüberblick zu verschaffen, müssten wir jeden Stein umdrehen, das Laub auf jedem Waldboden durchstöbern, unvorstellbare Mengen von Sand und Erde durchsieben, in jede Baumkrone klettern und viel effizientere Methoden zur Erforschung der Meere entwickeln. Und selbst dann würden wir noch ganze Ökosysteme übersehen. In den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts drangen Hobby-Höhlenforscher in Rumänien in einen unterirdischen Hohlraum ein, der über einen langen, aber unbekannten Zeitraum von der Außenwelt abgeschnitten gewesen war. Sie fanden dort 33 Arten von Insekten und anderen kleinen Tieren - Spinnen, Hundertfüßer, Läuse -, alle blind, farblos und in der Wissenschaft bis dahin völlig unbekannt. Sie ernährten sich von den Mikroorganismen im Schaum auf der Oberfläche von Wassertümpeln, und die wiederum bezogen ihre Nährstoffe aus dem Schwefelwasserstoff heißer Quellen.

Auf den ersten Blick mag uns die Tatsache, dass wir nicht alles bis ins Letzte verfolgen können, frustrierend, entmutigend oder sogar widerwärtig erscheinen, aber man kann darin ebenso gut auch etwas fast unerträglich Spannendes sehen. Wir leben auf einem Planeten mit dem mehr oder weniger unendlichen Potenzial, uns immer wieder zu überraschen. Welcher vernünftige Mensch könnte sich etwas Schöneres vorstellen?

Das Faszinierendste bei jedem Streifzug durch die vielfältigen Fachgebiete der modernen Naturwissenschaft ist fast immer die Erkenntnis, wie viele Menschen bereit waren, ihr ganzes Leben den abgelegensten Fragestellungen zu widmen. Stephen Jay Gould berichtet in einem seiner Essays über den von ihm besonders verehrten Henry Edward Crampton, der 50 Jahre lang, von 1906 bis zu seinem Tod im Jahr 1956, in aller Stille eine polynesische Landschneckengattung namens Partula erforschte. Immer und immer wieder, Jahr für Jahr, vermaß Crampton mit äußerster Genauigkeit - bis auf die achte Stelle nach dem Komma - die Spiralen, Bögen und sanften Biegungen unzähliger Partula-Gehäuse und trug die Ergebnisse in komplizierte, detaillierte Tabellen ein. Hinter einer einzigen Zeile in einem Text von Crampton standen unter Umständen wochenlange Messungen und Berechnungen.

Kaum weniger engagiert und sicher eine größere Überraschung war Alfred C. Kinsey, der in den vierziger und fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts mit seinen Untersuchungen zum Sexualverhalten der Menschen berühmt wurde. Aber bevor ihn der Sex gewissermaßen völlig in Anspruch nahm, war Kinsey Insektenforscher, und zwar ein besonders hartnäckiger. Auf einer Expedition, die sich über zwei Jahre hinzog, wanderte er 4000 Kilometer und fing dabei insgesamt 300000 Wespen.43 Wie viele Stiche er sich unterwegs einfing, ist leider nicht überliefert.

Für mich war es ein besonderes Rätsel, wie man in einem derart abgelegenen Fachgebiet für eine ununterbrochene Kette von Nachfolgern sorgen kann. Es gibt auf der Welt sicherlich nicht sonderlich viele Institutionen, die darauf aus sind oder auch nur bereit wären, Spezialisten für Rankenfußkrebse oder Pazifikschnecken finanziell zu fördern. Als ich mich am Londoner Natural History Museum von Richard Fortey verabschiede, frage ich ihn, wie in der Wissenschaft gewährleistet wird, dass eine Person nach ihrem Abgang stets durch eine andere ersetzt wird.

Er muss über meine Naivität herzlich lachen. »Ich fürchte, wir haben keine Ersatzspieler, die irgendwo auf der Bank sitzen und warten, bis sie eingesetzt werden. Wenn ein Spezialist pensioniert wird oder - noch unglücklicher - stirbt, geht es in seinem Fachgebiet vielfach nicht mehr weiter, und zwar manchmal für lange Zeit.«

»Und ich nehme an, genau deshalb haben Sie so große Hochachtung vor jemandem, der 42 Jahre lang eine einzige Pflanzenart untersucht, selbst wenn dabei nichts aufregend Neues herauskommt?«

»Genau«, erwidert er. »Ganz genau.« Ich habe den Eindruck, er meint es ernst.

24. Zellen

Es beginnt mit einer einzigen Zelle. Sie teilt sich, wird zu zwei Zellen, aus zwei werden vier, und so weiter. Nach nur 47 Verdoppelungen sind zehn Billiarden (10000000000000000) Körperzellen entstanden und* bilden einen Menschen. Und jede einzelne Zelle weiß genau, was sie tun muss, damit der Mensch vom Augenblick der Empfängnis bis zum letzten Atemzug am Leben bleibt und ernährt wird.

Vor unseren Zellen haben wir keine Geheimnisse. Sie wissen weit mehr über uns als wir selbst. Jede trägt ein vollständiges Exemplar der genetischen Anweisungen -der Bauanleitung für den Körper -, und deshalb weiß sie nicht nur, welche Aufgabe sie zu erfüllen hat, sondern sie kennt auch alle anderen Körperfunktionen. Eine Zelle braucht nie daran erinnert zu werden, dass sie auf den Adenosintriphosphatspiegel achten soll oder dass sie einen Platz für den kleinen Folsäureüberschuss finden muss, der unerwartet angefallen ist. Das und Millionen andere Dinge tut sie ganz automatisch.

Jede lebende Zelle ist ein kleines Wunder. Schon die einfachsten Formen gehen weit über die Grenzen unseres menschlichen Erfindungsreichtums hinaus. Um beispielsweise eine ganz primitive Hefezelle zu bauen, müsste man

* In Wirklichkeit gehen während der Entwicklung eine Menge Zellen verloren - über die endgültige Zellzahl kann man deshalb nur Vermutungen anstellen. In verschiedenen Quellen findet man dazu Angaben, die sich um mehrere Zehnerpotenzen unterscheiden. Die Zahl von zehn Billiarden stammt aus Margulis und Sagan, 1986.


die gleiche Zahl von Einzelteilen, die in einer Boeing 777 enthalten sind, auf winzige Abmessungen verkleinern und in eine Kugel mit einem Durchmesser von nur fünf Mikrometern packen. Und anschließend müsste man diese Kugel irgendwie dazu bringen, dass sie sich fortpflanzt.1

Aber Hefezellen sind noch gar nichts im Vergleich zu den Zellen des Menschen: Die sind nicht nur weitaus vielgestaltiger und komplizierter, sondern wegen ihrer komplexen Wechselbeziehungen auch erheblich faszinierender.

Unsere Zellen bilden einen Staat mit zehn Billiarden Bürgern, von denen jeder auf ganz gezielte Weise zu unserem Wohlbefinden beiträgt. Sie tun wirklich alles für uns. Sie lassen uns Freude empfinden und erzeugen Gedanken. Sie versetzen uns in die Lage, zu stehen, uns zu strecken oder Luftsprünge zu machen. Wenn wir essen, entziehen sie der Nahrung die Nährstoffe, verteilen die Energie und entsorgen die Abfallstoffe - all das, was wir in den ersten Jahren unseres Biologieunterrichts gelernt haben. Sie sorgen aber auch dafür, dass wir überhaupt erst hungrig werden, und belohnen uns anschließend mit einem angenehmen Gefühl, sodass wir nicht vergessen, irgendwann wieder Nahrung zu uns zu nehmen. Sie sind dafür verantwortlich, dass die Haare wachsen, dass die Ohren mit Ohrenschmalz geschmiert werden, dass unser Gehirn reibungslos funktioniert. Sie regeln alle Aspekte unseres Daseins. Sobald wir bedroht werden, verteidigen sie uns, und sie geben ohne Zögern für uns ihr Leben -jeden Tag sterben viele Milliarden von ihnen. Und in all den Jahren haben wir ihnen dafür nicht ein einziges Mal gedankt. Halten wir also einen Augenblick inne, und betrachten wir unsere Zellen mit dem Staunen und der Wertschätzung, die sie verdienen.

Heute wissen wir einiges darüber, wie Zellen ihre Aufgaben erfüllen - wie sie Fett ablagern, Insulin produzieren und viele der anderen Tätigkeiten ausführen, die notwendig sind, damit ein so kompliziertes Gebilde wie der menschliche Organismus am Leben bleibt. Aber unsere Kenntnisse sind nur bescheiden. In uns arbeiten mindestens 200000 verschiedenartige Proteine, aber was sie im Einzelnen tun, wissen wir nur bei zwei Prozent davon. (Andere geben eine Zahl an, die eher bei 50 Prozent liegt; es hängt offensichtlich davon ab, was man unter »wissen« versteht.)

Im Zusammenhang mit den Zellen erleben wir ständig neue Überraschungen. Stickoxid zum Beispiel ist in der Natur ein wirksames Gift, das vielfach zur Luftverschmutzung beiträgt. Deshalb waren die Wissenschaftler nicht wenig überrascht, als sich Mitte der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts herausstellte, dass dieses Gas in den Zellen des Menschen zu einem ganz bestimmten, nützlichen Zweck produziert wird. Welche Aufgabe es erfüllt, war zunächst ein Rätsel, aber dann fand man es plötzlich überall. Es steuert die Durchblutung und den Energiegehalt der Zellen, greift Krebszellen und Krankheitserreger an, reguliert die Geruchsempfindung und wirkt sogar bei der Erektion des Penis mit. Außerdem ist es der Grund, warum der allgemein bekannte Sprengstoff Nitroglycerin die Angina pectoris lindert, eine schmerzhafte Herzkrankheit. (Das Nitroglycerin wird im Blut zu Stickoxid umgesetzt, das dann für eine Entspannung der Muskulatur in den Gefäßwänden sorgt, sodass das Blut ungehindert fließen kann.4) In noch nicht einmal einem Jahrzehnt verwandelte sich dieses Gas in unserer Vorstellung von einem körperfremden Giftstoff zu einer allgegenwärtigen, lebensnotwendigen Substanz.

Ein Mensch besteht nach Angaben des belgischen Biochemikers Christian de Duve aus »ein paar 100« 5 verschiedenen Zelltypen, die sich in Größe und Form vielfach stark unterscheiden: von den Nervenzellen, deren Fasern bis zu einem Meter lang werden können, über die winzigen, scheibenförmigen roten Blutzellen bis hin zu den Stäbchen der lichtempfindlichen Zellen, die uns das Sehen ermöglichen. Auch ihr Größenspektrum ist riesig; das zeigt sich vielleicht nirgendwo so deutlich wie im Augenblick der Empfängnis, wenn eine einzige Samenzelle es mit einer Eizelle zu tun bekommt, die 85000-mal so groß ist wie sie selbst (was die Vorstellung von der Eroberung durch den Mann in einem anderen Licht erscheinen lässt). Durchschnittlich hat eine menschliche Zelle aber nur einen Durchmesser von rund 20 Mikrometern - das sind zwei Hundertstel eines Millimeters. Damit ist sie zu klein, als dass man sie mit bloßem Auge sehen könnte, und doch bietet sie ausreichend Platz für Tausende von komplizierten Gebilden wie die Mitochondrien sowie für Millionen und Abermillionen von Molekülen. Außerdem unterscheiden sich Zellen auch ganz buchstäblich in ihrer Lebendigkeit. Hautzellen sind tot. Die Vorstellung mag ein wenig ärgerlich erscheinen, aber tatsächlich ist jeder Quadratzentimeter unserer Oberfläche bereits gestorben. Ein durchschnittlich großer Erwachsener trägt rund zwei Kilo tote Haut mit sich herum, und davon werden jeden Tag mehrere Milliarden winzige Stückchen abgeschilfert.6 Wer mit dem Finger über ein verstaubtes Regalbrett fährt, zeichnet das Muster vorwiegend in alte Haut.

Die meisten Zellen bleiben nur rund einen Monat lang erhalten, diese Regel hat aber einige sehr bemerkenswerte Ausnahmen. Leberzellen können mehrere Jahre überleben, die Bestandteile in ihrem Inneren jedoch werden alle paar Tage erneuert. Gehirnzellen leben so lange wie der ganze Mensch. Rund 100 Milliarden von ihnen bekommen wir bei der Geburt mit, und mehr werden es auch später nicht. Schätzungen zufolge gehen in jeder Stunde unseres Lebens 500 von ihnen verloren, wer also noch ernsthaft nachdenken möchte, sollte keinen Augenblick verlieren. Das Gute dabei ist allerdings, dass die einzelnen Bestandteile der Gehirnzellen ständig erneuert werden, sodass wahrscheinlich genau wie bei den Leberzellen keine Einzelkomponente älter als ungefähr einen Monat ist. Man hat sogar die Vermutung geäußert, dass kein einziges Stückchen von uns - nicht einmal ein einzelnes, verlorenes Molekül - vor neun Jahren schon zu uns gehört hat. Es fühlt sich vielleicht nicht so an, aber auf der Ebene der Zellen sind wir alle sehr jung.

Der Erste, der eine Zelle beschrieb, war Robert Hooke - er ist uns bereits begegnet, weil er mit Isaac Newton über das Erstlingsrecht an der Entdeckung des Gesetzes der umgekehrten Quadrate stritt. Hooke erbrachte in seinen 68 Lebensjahren zahlreiche Leistungen - er war sowohl ein hervorragender Theoretiker als auch ein geschickter Erfinder fantasievoller, nützlicher Instrumente -, aber nichts anderes brachte ihm so viel Bewunderung ein wie sein beliebtes, 1665 erschienenes Buch Microphagia Or Some Physiological Descriptions of Miniature Bodies Made by Magnifying Glasses ( »Mikrophagie. Einige physiologische Beschreibungen kleinster Körper, hergestellt mit Vergrößerungsgläsern« ). Darin enthüllte er einer bezauberten Leserschaft ein Universum des Allerkleinsten, das weitaus vielgestaltiger, bevölkerter und feiner strukturiert war, als irgendjemand sich auch nur entfernt ausgemalt hätte.

Zu den ersten mikroskopisch kleinen Gebilden, die Hooke entdeckte, gehörten winzige Kammern in den

Pflanzen, die er »Zellen« nannte, weil sie ihn an die kleinen Zimmer von Mönchen erinnerten. Nach Hookes Berechnungen musste ein Korkstück von sechseinhalb Quadratzentimetern nicht weniger als 1259712000 dieser winzigen Kämmerchen enthalten9 - es war das erste Mal, dass irgendwo in der Naturwissenschaft eine derart große Zahl genannt wurde. Mikroskope gab es zu jener Zeit bereits seit ungefähr einer Generation, die von Hooke waren aber wegen ihrer technischen Überlegenheit etwas Besonderes. Sie erreichten eine 30-fache Vergrößerung, und damit waren sie das Beste, was die optische Technik des 17. Jahrhunderts zu bieten hatte.

Deshalb wirkte es ein Jahrzehnt später wie ein Schock, als Hooke und die anderen Mitglieder der Londoner Royal Society die ersten Zeichnungen und Berichte eines ungebildeten Tuchhändlers aus Holland in den Händen hielten, in denen von einer 275-fachen Vergrößerung die Rede war. Der Mann hieß Antoni van Leeuwenhoek. Er verfügte zwar nur über eine geringe Schulbildung und keinerlei wissenschaftliche Vorkenntnisse, aber er war nicht nur ein aufmerksamer, engagierter Beobachter, sondern auch ein technisches Genie.

Wie er eine derart hervorragende Vergrößerung erreichte, ist bis heute nicht geklärt. Seine Instrumente, die man in der Hand halten musste, waren eigentlich nur bescheidene hölzerne Stäbe mit einer kleinen eingelassenen Glasblase - heute würde man sie eher als Lupen denn als Mikroskope bezeichnen, aber letztlich waren sie keines von beiden. Leeuwenhoek baute für jedes Experiment ein neues Instrument und machte um seine Methoden ein großes Geheimnis; immerhin gab er den Briten aber Tipps, wie sie das Auflösungsvermögen ihrer Geräte verbessern konnten.*

Im Laufe von 50 Jahren - die bemerkenswerterweise erst begannen, als er schon über 40 war - schrieb er fast 200 Berichte an die Royal Society; alle waren auf Niederländisch verfasst, der einzigen Sprache, die er beherrschte. Leeuwenhoek lieferte keine Interpretationen, sondern nur eine genaue Schilderung seiner Beobachtungen, angereichert mit hervorragenden Zeichnungen. Er berichtete über fast alles, was man sinnvollerweise untersuchen konnte - Bäckerhefe, den Stachel einer Biene, Blutzellen, Zähne, Haare, seinen eigenen Speichel, Exkremente und Sperma (Letzteres mit einer mürrischen Entschuldigung wegen seiner Unschicklichkeit); fast nichts davon hatte zuvor schon einmal jemand unter dem Mikroskop gesehen.

Nachdem er 1676 berichtet hatte, er habe in einem Pfefferaufguss animalculi ( »kleine Tiere« ) gefunden, suchte man bei der Royal Society ein Jahr lang mit den besten Instrumenten, welche die englische Technologie hervorgebracht hatte, nach den »Tierlein«, bevor man endlich die richtige Vergrößerung gefunden hatte.10 Leeuwenhoek hatte die Protozoen entdeckt. Nach seinen Berechnungen enthielt ein einziger Wassertropfen 8280000 dieser winzigen Geschöpfe11 - mehr als die Zahl aller Menschen in Holland. Auf der Welt wimmelte es von Lebewesen in einer Mannigfaltigkeit und Zahl, die sich zuvor niemand hätte träumen lassen.

Angeregt durch Leeuwenhoeks unglaubliche Befunde starrten nun auch andere eifrig in die Mikroskope, und dabei fanden sie manchmal Dinge, die es in Wirklichkeit nicht gab. Der angesehene niederländische Gelehrte Nicolaus Hartsoecker war überzeugt, er habe in Samenzellen »winzige vorgeformte Menschen« gesehen.

Diese kleinen Wesen bezeichnete er als »Homunculi« , und eine Zeit lang machte sich die Vorstellung breit, jeder Mensch - und auch jedes andere Lebewesen - sei einfach eine gewaltig aufgeblasene Version eines winzigen, aber bereits vollständig geformten Vorläufers. Auch Leeuwenhoek selbst ließ sich gelegentlich von seiner Begeisterung hinreißen. In einem seiner letzten gelungenen Experimente wollte er die Sprengkraft von Schießpulver untersuchen, indem er eine kleine Explosion aus nächster Nähe beobachtete; dabei wäre er um ein Haar blind geworden.13

Im Jahr 1683 entdeckte Leeuwenhoek die Bakterien, aber damit war der Fortschritt wegen der Beschränkungen der mikroskopischen Technik für eineinhalb Jahrhunderte zu Ende. Erst 1831 sah jemand zum ersten Mal einen Zellkern - er wurde von dem schottischen Botaniker Robert Brown entdeckt, jener häufig, aber stets nur schattenhaft auftauchenden wissenschaftshistorischen Gestalt. Brown, der von 1773 bis 1858 lebte, bezeichnete das Gebilde als nucleus nach dem lateinischen nucula, das »Nuss« oder »Kern« bedeutet. Aber erst 1839 wurde klar, dass alle lebende Materie aus Zellen besteht.14 Diese Erkenntnis des deutschen Gelehrten Theodor Schwann kam nicht nur vergleichsweise spät, sondern sie wurde auch wie so viele wissenschaftliche Einsichten nicht sofort allgemein anerkannt. Erst in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts, nach einigen bahnbrechenden Arbeiten des Franzosen Louis Pasteur, war es schlüssig nachgewiesen: Leben kann nicht spontan entstehen, sondern geht immer aus bereits vorhandenen Zellen hervor. Diese Überzeugung, die unter dem Namen »Zelltheorie« bekannt wurde, bildet die Grundlage der gesamten modernen Biologie.

Die Zelle wurde mit vielerlei Dingen verglichen, von »einer komplizierten chemischen Raffinerie« (so der Physiker James Trefil) bis zu einer »riesigen, wimmelnden Metropole«, wie der Biochemiker Guy Brown es formulierte.15 In Wirklichkeit ist eine Zelle beides und doch keines von beiden. Wie eine Raffinerie sorgt sie in großem Umfang für chemische Umsetzungen, und wie eine Metropole ist sie übervoll von hektischen Wechselwirkungen, die zunächst verworren und zufällig wirken, hinter denen in Wirklichkeit aber eindeutig ein System steckt. Aber sie ist auch viel albtraumhafter als jede Stadt oder Fabrik. Zunächst einmal gibt es in der Zelle kein Oben oder Unten (die Schwerkraft hat im Größenmaßstab der Zellen keine sinnvolle Bedeutung), und nirgendwo bleibt auch nur ein Raum von der Breite eines Atoms ungenutzt. Überall spielt sich etwas ab, und unaufhörlich fließt elektrische Energie. Auch wenn wir uns nicht elektrisch geladen fühlen, wir sind es. Unsere Nahrung und der eingeatmete Sauerstoff verbinden sich in den Zellen und lassen Elektrizität entstehen. Dass wir einander keine elektrischen Schläge versetzen und beim Sitzen das Sofa nicht versengen, liegt einfach daran, dass sich alles in einem winzigen Maßstab abspielt: Nur 0,l Volt wandern über Entfernungen, die sich nach Nanometern bemessen. Entsprechend vergrößert, würde dies aber einem Impuls von 20 Millionen Volt pro Meter entsprechen,16 einer Ladung, die der in einem großen Gewitter vergleichbar ist.

Unabhängig von Größe und Form sind fast alle unsere Zellen nach dem gleichen Grundbauplan konstruiert: Sie besitzen eine Membran als äußere Umhüllung, einen Zellkern, in dem die notwendigen genetischen Informationen für das Funktionieren des Organismus liegen, und zwischen beiden einen Bereich vielfältiger Aktivitäten, den man als Cytoplasma bezeichnet. Anders als man sich meist vorstellt, ist die Membran keine zähe, gummiähnliche Haut, die man nur mit einer spitzen Nadel durchstoßen könnte, sondern sie besteht aus Lipiden, fettartigen Substanzen, die ungefähr die Konsistenz leichten Maschinenöls haben, um Sherwin B. Nuland zu zitieren. Das mag sich nach etwas überraschend wenig Handfestem anhören, aber man muss daran denken, dass viele Dinge sich im mikroskopischen Maßstab anders verhalten. Wasser wird im Größenbereich der Moleküle zu einer Art zähflüssigem Gel, und Lipide sind so fest wie Eisen.

Angenommen, wir könnten eine Zelle besichtigen: Sie würde uns nicht gefallen. Würde man sie so weit vergrößern, dass Atome ungefähr die Abmessungen von Erbsen haben, wäre die Zelle eine Kugel von rund 800 Metern Durchmesser, die durch ein Gerüst von Tragbalken, Cytoskelett genannt, in Form gehalten wird. In ihrem Inneren würden Millionen und Abermillionen von Gegenständen - manche so groß wie ein Basketball, andere mit den Ausmaßen von Autos - hin und her flitzen wie Gewehrkugeln. Wir könnten nirgendwo stehen, ohne dass wir in jeder Sekunde aus allen Richtungen Tausende von Stößen und Stichen erhielten. Auch für ihre ständigen Bewohner ist die Zelle ein gefährlicher Ort. Jeder DNA-Strang wird durchschnittlich alle 8,4 Sekunden - 10000mal am Tag - angegriffen oder geschädigt: Chemische Substanzen und andere Objekte prallen mit ihr zusammen oder durchtrennen sie einfach, und jede derartige Verletzung muss schnell wieder geflickt werden, damit die Zelle nicht zu Grunde geht.

Besonders lebhaft sind die Proteine: Sie rotieren, pulsieren und stoßen rund eine Milliarde Mal in der Sekunde zusammen. Die Enzyme, auch sie Proteine, sausen überall herum und führen in einer Sekunde bis zu 1000-mal ihre Aufgaben aus. Wie stark beschleunigte Ameisen bauen sie eifrig Moleküle auf und um, trennen von diesem ein Stück ab, fügen an jenes ein Stück an. Andere überwachen vorüberkommende Proteinmoleküle und markieren solche, die irreparabel beschädigt oder fehlerhaft sind, mit einer chemischen Substanz. Die so gekennzeichneten Moleküle sind zum Untergang verdammt und gelangen in das Proteasom, eine Struktur, in der ihre Bausteine auseinander genommen und zum Aufbau neuer Proteine wieder verwendet werden. Die Proteine mancher Typen bleiben noch nicht einmal eine Stunde erhalten; andere überleben mehrere Wochen. Aber für alle ist das Dasein unvorstellbar hektisch. De Duve meint dazu: »Ganz offensichtlich muss die molekulare Welt - so sehr wir uns auch bemühen, in sie einzudringen - schon deshalb jenseits unseres Vorstellungsvermögens bleiben, weil die Dinge sich in ihr so unglaublich schnell abspielen.« 19

Verlangsamen wir die Abläufe aber so weit, dass wir die Wechselbeziehungen beobachten können, erscheint alles nicht mehr ganz so nervtötend. Dann sehen wir, dass es in einer Zelle Millionen von Objekten gibt: Lysosomen, Endosomen, Ribosomen, Liganden, Peroxisomen, Proteine jeder Form und Größe. Sie stoßen mit Millionen anderen Objekten zusammen und erfüllen ganz banale Aufgaben: Unter anderem entziehen sie den Nährstoffen die Energie, setzen Zellstrukturen zusammen, beseitigen Abfallstoffe, wehren Eindringlinge ab, senden und empfangen Nachrichten, reparieren Schäden. Eine typische Zelle enthält rund 20000 verschiedenartige Proteine, und davon sind etwa 2000 jeweils mit mindestens 50000 Molekülen vertreten. »Das heißt, selbst wenn wir nur diejenigen Proteine betrachten, die mit mehr als 50000 Molekülen vorhanden sind, kommen wir auf mindestens 100 Millionen Proteinmoleküle in einer einzigen Zelle. Diese gewaltige Zahl vermittelt eine Vorstellung von der riesigen Vielfalt der biochemischen Vorgänge in uns«, schreibt Nuland.

Die Vorgänge sind unglaublich anspruchsvoll. Um alle Zellen ständig mit frischem Sauerstoff zu versorgen, muss unser Herz in jeder Stunde 300 Liter Blut pumpen, 7200 Liter am Tag, 2 628000 Liter im Jahr - genug, um vier Schwimmbecken von Olympiamaßen zu füllen. (Und das ist nur die Ruheleistung. Bei körperlicher Anstrengung kann die Menge bis auf das Sechsfache zunehmen.) Der Sauerstoff fließt in die Mitochondrien, winzig kleine Kraftwerke, von denen eine typische Zelle rund 1000 Stück enthält - die Zahl schwankt allerdings beträchtlich, je nachdem, welche Aufgabe eine Zelle erfüllt und wie viel Energie sie benötigt.

In einem früheren Kapitel wurde bereits erwähnt, dass die Mitochondrien wahrscheinlich ursprünglich eingefangene Bakterien waren, die heute als Untermieter in unseren Zellen wohnen. Sie besitzen nach wie vor ihre eigenen genetischen Anweisungen, teilen sich nach ihrem eigenen Zeitplan und sprechen ihre eigene Sprache. Ebenso sei daran erinnert, dass wir ihnen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind. Der Grund: Praktisch alle Nährstoffe und der gesamte Sauerstoff, die unser Körper aufnimmt, werden nach der Verarbeitung in die Mitochondrien transportiert, und dort entstehen daraus die Moleküle einer Substanz, die als Adenosintriphosphat oder kurz ATP bezeichnet wird.

Der Name ATP ist nicht unbedingt geläufig, aber es ist die Substanz, die uns am Leben erhält. ATP-Moleküle sind eigentlich kleine Batterien: Sie wandern durch die Zelle und liefern die Energie für fast sämtliche Vorgänge, das heißt, sie werden in großer Zahl umgesetzt. Eine typische menschliche Körperzelle enthält in jedem Augenblick rund eine Milliarde ATP-Moleküle; sie alle sind nach zwei Minuten verbraucht, und eine neue Milliarde ist an ihre Stelle getreten. Ein Mensch produziert und verbraucht jeden Tag eine ATP-Menge, die der Hälfte des Körpergewichts entspricht. Dass unsere Haut warm ist, liegt an der Wirkung des ATP.

Wenn eine Zelle nicht mehr gebraucht wird, stirbt sie, und zwar auf eine Art, die man nur als äußerst würdig bezeichnen kann. Sie baut alle Streben und Stützen ab, die sie zusammenhalten, und löst ihre Bestandteile in aller Stille auf- ein Vorgang, den man als programmierten Zelltod oder Apoptose bezeichnet. Jeden Tag opfern sich viele Milliarden Zellen zum Nutzen des Gesamtorganismus, und Milliarden weitere beseitigen den Abfall. Zellen können auch eines gewaltsamen Todes sterben -beispielsweise wenn sie mit Krankheitserregern infiziert sind -, aber meist gehen sie zu Grunde, weil sie den Befehl dazu erhalten. Sie töten sich sogar selbst, wenn sie nicht zum Weiterleben aufgefordert werden - wenn sie nicht irgendeine aktive Anweisung von einer anderen Zelle erhalten. Zellen brauchen viel Bestätigung.

Hin und wieder kommt es vor, dass eine Zelle nicht auf die vorgeschriebene Weise ihr Leben aushaucht, sondern sich plötzlich wild teilt und vermehrt. So etwas bezeichnen wir als Krebs. Krebszellen sind eigentlich nur Zellen, in denen etwas durcheinander geraten ist. Derartige Fehler machen die meisten Zellen ziemlich regelmäßig, aber unser Organismus verfügt über ausgefeilte Mechanismen, um mit solchen Vorkommnissen umzugehen. Nur sehr selten gerät der Vorgang völlig außer Kontrolle. Im Durchschnitt kommt es beim Menschen unter 100 Millionen Milliarden Zellteilungen ein Mal zu einer bösartigen Entartung.23 Krebs ist Pech in jeder Hinsicht.

Das Erstaunliche an den Zellen ist nicht, dass gelegentlich etwas schief geht, sondern dass alles jahrzehntelang so reibungslos funktioniert. Zu diesem Zweck tauschen sie mit dem gesamten Organismus ständig eine ununterbrochene Folge - und ein riesiges Durcheinander - von Nachrichten aus: Anweisungen, Anfragen, Korrekturen, Hilferufe, Aktualisierungen, Befehle zur Teilung oder zum Absterben. Die meisten derartigen Signale werden durch Kuriere übermittelt, die wir als Hormone bezeichnen, chemische Substanzen wie Insulin, Adrenalin, Östrogen oder Testosteron. Solche Botenmoleküle übermitteln Informationen von weit entfernten Orten wie der Schilddrüse oder anderen endokrinen Drüsen. Andere Nachrichten treffen telegrafisch vom Gehirn oder von nahe gelegenen Befehlszentren ein. Und schließlich kommunizieren die Zellen unmittelbar mit ihren Nachbarn, um ihre Tätigkeiten zu koordinieren.

Am bemerkenswertesten ist vielleicht, dass es sich bei alledem um zufällige, hektische Abläufe handelt, um eine endlose Folge von Zusammenstößen, die durch nichts anderes gesteuert wird als durch die Grundprinzipien von Anziehung und Abstoßung. Hinter sämtlichen Tätigkeiten der Zellen steht eindeutig keine denkende Kraft. Alles geschieht in ständiger Wiederholung reibungslos und so zuverlässig, dass es uns nur in den seltensten Fällen bewusst wird, und gleichzeitig erzeugt das alles nicht nur eine raffinierte Ordnung in der Zelle, sondern auch eine vollkommene Harmonie im gesamten Organismus. Auf eine Art, die wir gerade erst ansatzweise zu verstehen beginnen, addieren sich Billionen und Aberbillionen wechselseitige chemische Reaktionen zu einem beweglichen, denkenden, entscheidungsfähigen Menschen - oder auch zu einem nicht unbedingt denkenden, aber dennoch unglaublich kompliziert gebauten Mistkäfer. Jedes Lebewesen, das sollte man nie vergessen, ist ein Wunder an atomarem Aufbau.

Manche Lebewesen, die wir für primitiv halten, erfreuen sich sogar einer derart hoch stehenden Zellorganisation, dass unsere eigene dagegen rettungslos einfach wirkt. Wenn man einen Schwamm in seine einzelnen Zellen zerlegt - beispielsweise indem man ihn durch ein Sieb streicht - und diese dann in eine Nährlösung bringt, finden sie sich wieder zusammen und bauen einen neuen Schwamm auf. Der gleichen Prozedur kann man die Zellen beliebig oft unterwerfen, und immer wieder lagern sie sich hartnäckig zusammen. Der Grund: Wie du und ich und jedes andere Lebewesen haben sie vor allem ein Bestreben: weiter zu existieren.

Und alles liegt an einem seltsamen, komplexen, noch kaum erforschten Molekül, das selbst nicht lebendig ist und meist überhaupt nichts tut. Es heißt DNA, und wenn wir seine überragende Bedeutung für die Wissenschaft und uns Menschen verstehen wollen, müssen wir uns um 160 Jahre in die Vergangenheit begeben, ins viktorianische England. Es war die Zeit, als der Naturforscher Charles Darwin »die beste Einzelidee aller Zeiten« 24 hatte und sie dann - aus Gründen, die einiger Erklärungen bedürfen - während der nächsten 15 Jahre in einer Schublade liegen ließ.

25. Darwins einzigartiger Gedanke

Im Spätsommer oder Frühherbst 1859 ging bei Whitwell Elwin, dem Redakteur der angesehenen britischen Zeitschrift Quarterly Review, der Vorabdruck eines neuen Buches des Naturforschers Charles Darwin ein. Elwin las das Buch mit großem Interesse und gelangte zu der Meinung, dass es durchaus etwas für sich habe; gleichzeitig fürchtete er aber, das Thema sei so speziell, dass es keine breite Leserschaft anziehen werde. Stattdessen drängte er Darwin, ein Buch über Tauben zu schreiben. »Für Tauben interessiert sich jeder«, meinte er hilfsbereit.1

Aber Elwins hilfreicher Ratschlag wurde übergangen, und im November 1859 erschien On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life ( »Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung der bevorzugten Rassen im Kampf ums Dasein« ) zu einem Preis von 15 Schilling. Die Erstauflage von 1250 Exemplaren war noch am selben Tag ausverkauft. Seither war das Buch nie vergriffen und kaum einmal unumstritten - keine schlechte Bilanz für einen Mann, dessen zweites Hauptinteresse die Regenwürmer waren und der - abgesehen von einer einzigen, impulsiven Entscheidung, rund um die Welt zu segeln -wahrscheinlich sein ganzes Leben lang ein anonymer Landpfarrer geblieben wäre, der nur durch seine Begeisterung für - nun ja - Regenwürmer auffiel.

Charles Robert Darwin wurde am 12. Februar 1809" in Shrewsbury geboren, einem ruhigen Marktflecken im Westen der englischen Midlands. Sein Vater war ein angesehener, wohlhabender Arzt. Die Mutter - sie starb, als Charles erst acht Jahre alt war - war die Tochter von Josiah Wedgwood, der als Porzellanhersteller berühmt wurde.

Darwin erfreute sich aller Vorteile einer guten Erziehung, bereitete seinem Vater aber mit seinen mäßigen schulischen Leistungen ständige Sorgen. »Du interessierst Dich für nichts als Jagen, Hunderennen und Rattenhetzen, und Du wirst Dir und der ganzen Familie nur Schande machen«, schrieb sein Vater - ein Satz, der sich in fast jedem Bericht über Darwins Jugendjahre 2

wiederfindet. Obwohl Charles einen Hang zur Naturgeschichte hatte, fing er seinem Vater zuliebe an der Universität Edinburgh ein Medizinstudium an. Schon bald jedoch konnte er den Anblick von Blut und Leiden nicht mehr ertragen. Als er einmal eine Operation an einem unglückseligen Kind miterlebte - zu jener Zeit gab es natürlich noch keine Narkose -, behielt er ein dauerhaftes 3

Trauma zurück. Als Nächstes versuchte er es mit Jura, aber das Fach erschien ihm entsetzlich langweilig, und schließlich gelang es ihm mangels besserer Alternativen, in Cambridge ein Examen in Theologie abzulegen.

Zuerst sah es so aus, als würde ihn ein Leben in einer ruhigen Landpfarrei erwarten, aber dann erhielt er aus heiterem Himmel ein reizvolleres Angebot. Darwin wurde eingeladen, auf dem Marine-Erkundungsschiff HMS Beagle mitzufahren. Er sollte dem Kapitän Robert FitzRoy als Tischgesellschafter dienen, denn dessen Rang verbot es

* Ein schicksalsträchtiges historisches Datum: Am gleichen Tag kam in Kentucky Abraham Lincoln zur Welt.


ihm, gesellschaftlichen Umgang mit jemand anderem als einem Gentleman zu pflegen. FitzRoy, ein sehr verschrobener Mann, entschied sich unter anderem deshalb für Darwin, weil ihm die Nasenform des Naturforschers gefiel. (Sie verriet nach seiner Überzeugung einen tiefsinnigen Charakter.) Darwin war nicht FitzRoys erste Wahl, aber er erhielt den Zuschlag, als der bevorzugte Begleiter des Kapitäns absprang. Aus der Sicht des 21. Jahrhunderts bestand die auffälligste Gemeinsamkeit der beiden Männer in ihrem äußerst jugendlichen Alter. Als sie abreisten, war FitzRoy erst 23 und Darwin 22 Jahre alt.

FitzRoy hatte offiziell den Auftrag, Küstengewässer zu vermessen, aber sein Hobby - eigentlich sogar eine richtige Leidenschaft - war die Suche nach Belegen für eine wörtliche Interpretation des biblischen Schöpfungsberichts. Für seine Entscheidung, Darwin an Bord zu nehmen, war dessen geistliche Ausbildung von entscheidender Bedeutung. Als sich später herausstellte, dass Darwin nicht nur liberale Ansichten hatte, sondern auch alles andere als ein überzeugter Anhänger christlicher Grundsätze war, entwickelten sich zwischen den beiden dauerhafte Spannungen.

Die Reise mit der HMS Beagle, die von 1831 bis 1836 dauerte, war ganz offensichtlich das prägende Ereignis in Darwins Leben, es war aber auch eines der anstrengendsten. Er teilte mit dem Kapitän eine kleine Kabine, und das war sicher alles andere als einfach: FitzRoy bekam häufig Wutanfälle, auf die eine Phase unterschwelligen Widerwillens folgte. Zwischen ihm und Darwin kam es immer wieder zu Streitigkeiten, die manchmal »an Wahnsinn grenzten«, wie Darwin später berichtete.4 Schiffsreisen waren zu jener Zeit auch im besten Fall häufig melancholische Unternehmungen - der frühere Kapitän der Beagle hatte sich in einem Anfall von Schwermut und Einsamkeitsgefühlen eine Kugel durch den Kopf gejagt -, und FitzRoy stammte aus einer Familie, die für ihre Veranlagung zu Depressionen bekannt war. Sein Onkel, der Viscount Castlereagh, hatte sich zehn Jahre zuvor während seiner Amtszeit als Schatzkanzler die Kehle durchgeschnitten. (Auf die gleiche Weise beging auch FitzRoy selbst 1865 Selbstmord.) Und selbst in ruhigerer Stimmung erwies sich der Kapitän als seltsam undurchschaubar. So erfuhr Darwin nach dem Ende ihrer Reise zu seinem Erstaunen, dass FitzRoy fast unmittelbar danach eine junge Frau geheiratet hatte, mit der er seit langem verlobt war. In den fünf Jahren mit Darwin hatte er kein einziges Mal auf die Verbindung angespielt oder auch nur den Namen seiner Auserwählten erwähnt.5

In jeder anderen Hinsicht jedoch war die Reise mit der Beagle ein Triumph. Darwin erlebte so viele Abenteuer, dass sie für den Rest seines Lebens vorhielten, und das von ihm gesammelte Material reichte aus, um ihm seinen Ruf zu sichern und ihn auf Jahre hinaus zu beschäftigen. Er fand einen großartigen Schatz riesiger vorzeitlicher Fossilien, darunter das schönste Megatherium, das man bis heute kennt; in Chile überlebte er ein schreckliches Erdbeben; er entdeckte eine neue Delfinart (die er pflichtschuldigst auf den Namen Delphinus fitzroyi taufte); in den Anden nahm er sorgfältige, nützliche geologische Untersuchungen vor; und er entwickelte eine neue, vielfach bewunderte Theorie für die Entstehung der Korallenatolle, die nicht ganz zufällig besagt, dass diese ringförmigen Gebilde mindestens eine Million Jahre zum Heranwachsen brauchen6 - der erste Anhaltspunkt dafür, dass er schon längst an ein sehr hohes Alter der erdgeschichtlichen Vorgänge glaubte. Im Jahr 1836, mit 27 Jahren, kam er nach einer Abwesenheit von fünf Jahren und zwei Tagen wieder nach Hause. Von nun an verließ er England nicht mehr.

Eines allerdings tat Darwin auf der Reise nicht: Er entwickelte nicht seine Theorie - oder überhaupt eine Theorie - für die Evolution. Zunächst einmal war der Begriff der Evolution in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts bereits mehrere Jahrzehnte alt. Darwins eigener Großvater Erasmus hatte dem Evolutionsprinzip schon mehrere Jahre vor Charles’ Geburt in einem geistreich-mittelmäßigen Gedicht mit dem Titel »The Temple of Nature« Tribut gezollt. Erst nachdem Darwin der Jüngere wieder in England war und das Buch Essay on the Principle of Population von Thomas Malthus gelesen hatte (das die Ansicht vertrat, die Zunahme der Lebensmittelproduktion könne aus mathematischen Gründen nie mit dem Bevölkerungswachstum Schritt halten), setzte sich in seinem Kopf allmählich die Idee fest, dass das Leben ein ständiger Kampf ist und dass es an der natürlichen Selektion liegt, wenn manche biologischen Arten gedeihen, während andere versagen. Insbesondere erkannte Darwin, dass alle Lebewesen um Ressourcen konkurrieren, und wer einen angeborenen Vorteil besitzt, gedeiht und kann den Vorteil an die Nachkommen weitergeben. Auf diese Weise ergibt sich bei den Arten eine ständige Verbesserung.

Das hört sich nach einer entsetzlich einfachen Idee an -und es ist tatsächlich eine entsetzlich einfache Idee -, aber man konnte damit vieles erklären, und Darwin war bereit, ihr sein Leben zu widmen. »Wie dumm von mir, dass ich darauf nicht gekommen bin!«, rief Thomas Henry Huxley, nachdem er Die Entstehung der Arten gelesen hatte. Das Gleiche hört man seither immer wieder.

Interessanterweise verwendete Darwin die Formulierung »survival of the fittest« ( »Überleben des Geeignetsten« ) in seinen Werken nie (seine Zustimmung ließ er allerdings erkennen). Der Ausdruck wurde erst 1864, fünf Jahre nach dem Erscheinen der Entstehung der Arten, von Herbert Spencer in dem Buch Principles of Biology geprägt. Auch den Begriff Evolution benutzte er in gedruckter Form erst in der sechsten Auflage der Entstehung der Arten (als er sich bereits so weit durchgesetzt hatte, dass er ihn nicht mehr vermeiden konnte). Stattdessen bevorzugte er die Formulierung »descent with modification« ( »Abstammung mit Abwandlung« ).Vor allem aber bezog er die Anregung zu seinen Erkenntnissen keineswegs daraus, dass er sich während seines Aufenthalts auf den Galapagos-Inseln mit der interessanten Formenvielfalt der Schnäbel von Finken beschäftigte. Nach der üblichen Version der Geschichte (oder zumindest nach der Version, an die wir uns meist erinnern) reiste Darwin von Insel zu Insel und bemerkte dabei, dass die Schnäbel der einheimischen Finken jeweils ausgezeichnet an die Nutzung der örtlichen Ressourcen angepasst waren - auf einer Insel waren sie kurz und kräftig, sodass sie sich gut zum Nüsseknacken eigneten, auf der nächsten lang und dünn, sodass der Vogel damit in Ritzen nach Nahrung stochern konnte -, und das brachte ihn auf den Gedanken, die Vögel seien vielleicht nicht so erschaffen worden, sondern hätten sich in gewisser Weise selbst erschaffen.

Die Vögel hatten sich tatsächlich selbst erschaffen, aber das bemerkte Darwin nicht. Zur Zeit seiner Reise auf der Beagle, kurz nach Abschluss seines Studiums, war er noch kein erfahrener Naturforscher, und deshalb fiel ihm nicht auf, dass die Vögel auf den Galapagos-Inseln alle zu derselben Gruppe gehörten. Stattdessen erkannte sein Freund, der Ornithologe John Gould, dass Darwin zahlreiche Finkenarten mit unterschiedliehen Fähigkeiten gefunden hatte.9 Leider hatte der unerfahrene Darwin nicht notiert, welchen Vogel er auf welcher Insel gefunden hatte. (Einen ähnlichen Fehler beging er auch bei den Schildkröten.) Bis das Durcheinander aufgeklärt war, sollten noch Jahre vergehen.

Wegen solcher Fehler und da er eine Unmenge von Kisten mit anderen Funden von der Beagle ordnen und sortieren musste, formulierte Darwin erst 1842, sechs Jahre nach seiner Rückkehr, die ersten Umrisse seiner neuen Theorie. Zwei Jahre später erweiterte er seine Gedanken zu einer »Skizze« von 230 Seiten.10 Anschließend tat er etwas Ungewöhnliches: Er legte seine Notizen beiseite und beschäftigte sich während der nächsten 15 Jahre mit anderen Themen. Er wurde Vater von zehn Kindern, widmete sich fast acht Jahre lang der Aufgabe, ein umfangreiches Werk über Entenmuscheln zu schreiben ( »Ich hasse Entenmuscheln wie kein Mensch vor mir«, seufzte er verständlicherweise, nachdem er das Buch vollendet hatte11), und zog sich eine seltsame Krankheit zu, die ihn chronisch antriebslos, müde und »unruhig« machte, wie er es formulierte. Eines der Symptome war fast immer eine entsetzliche Übelkeit, und hinzu kamen in der Regel auch Herzrasen, Migräne, Erschöpfung, Zittern, Sehstörungen, Atemnot, ein »schwimmender Kopf« und - kaum verwunderlich -Depressionen.

Die Ursache der Krankheit wurde nie geklärt, aber die romantischste und vielleicht auch wahrscheinlichste der vielen Vermutungen besagt, dass Darwin an der Chagas-Krankheit litt, einer langwierigen Tropenkrankheit, die er sich in Südamerika durch einen Insektenstich zugezogen haben könnte. Nach einer eher prosaischen Erklärung hatte sein Zustand psychosomatische Ursachen. Jedenfalls ging es ihm wirklich schlecht. Häufig konnte er nicht länger als zwanzig Minuten ununterbrochen arbeiten, manchmal noch nicht einmal das.

Seine übrige Zeit verwendete er auf eine Reihe immer verzweifelterer Therapieversuche - Eiswasser-Tauchbäder, Essiggüsse. Anlegen von »elektrischen Ketten«, die ihm kleine Stromschläge versetzten. Er wurde fast zum Einsiedler und verließ sein Anwesen, das Down House in Kent, nur noch selten. Nachdem er dort eingezogen war, bestand eine seiner ersten Maßnahmen darin, dass er vor dem Fenster seines Studierzimmers einen Spiegel anbrachte, sodass er jeden Besucher sehen und ihm gegebenenfalls aus dem Weg gehen konnte.

Seine Theorie behielt Darwin für sich, wusste er doch nur allzu gut, welchen Sturm der Entrüstung sie auslösen würde. 1844, in dem Jahr, als er seine Notizen beiseite legte, versetzte ein Buch namens Vestiges of the Natural History of Creation große Teile der Geisteswelt in Aufruhr: Darin wurde die Vermutung geäußert, die Menschen könnten sich ohne Zutun eines Schöpfergottes aus niederen Primaten entwickelt haben. Der Autor hatte den Aufschrei der Empörung vorausgesehen und alles unternommen, um seine Identität zu verheimlichen, und bei dieser Haltung blieb er während der nächsten 40 Jahre auch gegenüber seinen engsten Freunden. Vielfach wurde12 spekuliert, Darwin selbst könne der Autor sein. Andere hatten Prinz Albert in Verdacht. In Wirklichkeit handelte es sich bei dem Verfasser um einen erfolgreichen, unauffälligen schottischen Verleger namens Robert Chambers, und dass er sich nicht offenbaren mochte, hatte neben persönlichen Motiven auch einen ganz pragmatischen Grund: Sein Unternehmen war ein führender Verlag für Bibeln. Die Vestiges wurden von den Kanzeln in ganz Großbritannien und weit darüber hinaus gegeißelt, zogen aber auch ein gerüttelt Maß von eher akademischem Zorn auf sich. Die Edinburgh Review verwendete fast eine ganze Ausgabe - insgesamt 85 Seiten - darauf, es zu zerpflücken. Selbst T. H. Huxley, ein Anhänger der Evolution, griff das Buch recht giftig an, ohne zu wissen, dass er mit dem Verfasser befreundet war.*

Darwin hätte sein Manuskript möglicherweise bis zu seinem Tod unter Verschluss gehalten, wäre nicht im Frühsommer 1848 aus dem Fernen Osten ein Alarmzeichen in Form eines Päckchens gekommen. Es stammte von einem jungen Naturforscher namens Alfred Rüssel Wallace und enthielt neben einem freundlichen Brief den Entwurf einer Abhandlung mit dem Titel On the Tendency of Varieties to Depart Indefinitely from an Original Type ( »Über die Neigung der Varietäten, unbegrenzt von einem ursprünglichen Typus abzuweichen« ). Darin skizzierte Wallace eine Theorie der natürlichen Selektion, die geradezu gespenstisch Darwins geheimen Aufzeichnungen ähnelte. Selbst in den Formulierungen erinnerte der Aufsatz an Darwin. »Ein verblüffenderes Zusammentreffen habe ich nie erlebt«, notierte Darwin entsetzt. »Hätte Wallace meinen Manuskriptentwurf von 1842 gelesen, er hätte keine bessere Zusammenfassung schreiben können.« 13

Wallace platzte nicht ganz so unerwartet in Darwins Leben, wie manchmal behauptet wird. Die beiden führten bereits einen Briefwechsel, und Wallace hatte Darwin mehr als einmal großzügig mit Funden versorgt, die nach seiner Ansicht interessant waren. Während dieses Meinungsaustausches hatte Darwin den jungen Mann mehrfach diskret gewarnt, er betrachte das Thema der Artentstehung als seine eigene Domäne. »In diesem Sommer wird es 20 Jahre her sein (!), dass ich mein erstes Notizbuch über die Frage, wie und worin Arten und Varietäten voneinander abweichen, begonnen habe«, hatte er schon einige Zeit zuvor an Wallace geschrieben und dann hinzugefügt: »Ich bereite jetzt mein Werk für die Veröffentlichung vor« 14 - was eigentlich nicht stimmte.

Jedenfalls begriff Wallace nicht, was Darwin ihm sagen wollte, und natürlich konnte er keine Ahnung haben, dass seine Theorie mit jener, die Darwin seit zwei Jahrzehnten entwickelte, nahezu vollständig übereinstimmte.

Jetzt befand Darwin sich in einem entsetzlichen Dilemma. Wenn er sein Buch eilig in Druck gab, um sein Erstlingsrecht zu sichern, hätte er den arglosen Hinweis eines weit entfernten Bewunderers auf unfaire Weise ausgenutzt. Hielt er sich aber zurück, wie es das Benehmen eines Gentleman eigentlich erforderte, verlor er das Verdienst für eine Theorie, die er eigenständig formuliert hatte.Wallaces Theorie war nach dessen eigenem Eingeständnis das Ergebnis eines Geistesblitzes; bei Darwin dagegen war sie das Produkt jahrelangen, mühsamen, systematischen Nachdenkens. Diese Ungerechtigkeit ließ ihn schier verzweifeln.

Als wäre dies noch nicht genug des Elends, hatte Darwins jüngster Sohn, der ebenfalls Charles hieß, sich eine lebensbedrohliche Scharlach-Erkrankung zugezogen. Am 28. Juni, auf dem Höhepunkt der Krise, starb das Kind. Obwohl die Krankheit seines Sohnes ihn ablenkte, fand Darwin noch die Zeit, Briefe an seine Freunde Charles Lyell und Joseph Hooker zu schreiben. Darin bot er an, einen Rückzieher zu machen, gleichzeitig stellte er aber fest, dies müsse bedeuten, dass seine gesamte Arbeit, »was sie auch bedeuten mag, zerstört wäre«.15 Lyell und Hooker schlugen einen Kompromiss vor: Sie wollten eine gemeinsame Zusammenfassung der Ideen von Darwin und Wallace vortragen. Als Forum wählten sie eine Tagung der Linnaean Society, die zu jener Zeit eifrig bestrebt war, sich als Ort hervorragender wissenschaftlicher Leistungen wieder ins Gespräch zu bringen. Am 1. Juli 1858 wurde Darwins und Wallaces Theorie der Welt bekannt gemacht. Darwin selbst war nicht anwesend. Am Tag der Zusammenkunft trugen er und seine Frau ihren Sohn zu Grabe.

Der Darwin/Wallace-Vortrag war an jenem Abend einer von sieben - ein anderer beschäftigte sich mit der Pflanzenwelt Angolas -, und wenn die rund dreißig Zuhörer eine Ahnung hatten, dass sie gerade Zeugen der wissenschaftlichen Sensation des Jahrhunderts wurden, so zeigten sie es jedenfalls nicht. Anschließend gab es keine Diskussion, und auch anderswo erregte das Ereignis keine Aufmerksamkeit. Wie Darwin später vergnügt feststellte, erwähnte nur ein Einziger, ein gewisser Professor Haughton aus Dublin, die beiden Vorträge in gedruckter Form, und dabei gelangte er zu dem Schluss, alles Neue darin sei falsch, und alles Richtige sei schon alt.16

Wallace, der sich immer noch im Fernen Osten aufhielt, erfuhr erst viel später von den Ereignissen, blieb aber erstaunlich gelassen und freute sich offenbar, dass man ihn überhaupt erwähnt hatte. Er selbst bezeichnete die Theorie später immer als »Darwinismus«. Viel weniger akzeptierte ein schottischer Gärtner namens Patrick Matthew Darwins Erstlingsrecht - er war bemerkenswerterweise ebenfalls auf die Gesetzmäßigkeiten der natürlichen Selektion gestoßen, und zwar genau in dem Jahr, als Darwin mit der Beagle auf die Reise gegangen war. Leider hatte Matthew seine Erkenntnisse aber in einem Buch mit dem Titel Naval Timber and Arboriculture ( »Schiffsbauholz und Holzanbau« ) veröffentlicht, das nicht nur Darwin, sondern auch die gesamte übrige Welt übersehen hatte. Als Matthew merkte, dass Darwin überall das Verdienst für eine Idee einheimste, die eigentlich von ihm stammte, meldete er sich mit einem lebhaften Brief an die Zeitschrift Gardener’s Chronicle zu Wort. Darwin entschuldigte sich unverzüglich, stellte aber gleichzeitig fest: »Ich glaube, es wird niemanden überraschen, dass weder ich noch offensichtlich irgendein anderer Naturforscher schon einmal von Mr. Matthews Ansichten gehört hat, werden sie doch nur sehr kurz erläutert, und das im Anhang eines Werkes über Schiffsbauholz und Holzanbau.«

Wallace war noch 50 Jahre lang als Naturforscher und Denker tätig. Gelegentlich hatte er gute Einfälle, in der wissenschaftlichen Welt fiel er aber zunehmend in Ungnade, weil er sich für zweifelhafte Themen wie Spiritualismus und das Leben an anderen Orten im Kosmos interessierte. So wurde die Theorie mehr oder weniger mangels einer Alternative zu Darwins alleiniger Leistung.

Darwin quälte sich auch weiterhin ständig mit seinen Ideen herum. Er bezeichnete sich selbst als »des Teufels Kaplan« 18; seine Theorie bekannt zu machen, so sagte er selbst, sei, »als ob man einen Mord gesteht«.19 Neben allem anderen wusste er ganz genau, dass sie seiner geliebten frommen Frau großen Schmerz bereitete. Dennoch ging er sofort an die Arbeit und erweiterte sein Manuskript auf den Umfang eines Buches, den er mit der provisorischen Überschrift An Abstract of an Essay on the Origin of Species and Varieties Through Natural Selection ( »Zusammenfassung einer Abhandlung über die Entstehung der Arten und Varietäten durch natürliche Selektion« ) versah. Der Titel war so unbestimmt und nichtssagend, dass sein Verleger John Murray nur 500 Exemplare drucken lassen wollte. Als er aber das Manuskript mit seinem geringfügig interessanteren Titel vor sich hatte, überlegte Murray es sich anders und erhöhte die Erstauflage auf 1250 Stück.

Die Entstehung der Arten wurde geschäftlich sofort zum Erfolg, inhaltlich allerdings weniger. Darwins Theorie enthielt zwei unlösbare Probleme. Erstens erforderte sie viel mehr Zeit, als Lord Kelvin zugestehen mochte, und zweitens konnte sie sich kaum auf Fossilfunde stützen. Nachdenklichere Kritiker fragten: Wo sind die Übergangsformen, die Darwin mit seiner Theorie so eindeutig postuliert? Wenn sich ständig neue Arten entwickeln, müsste sich eine Fülle von Zwischenformen* über die Fossilfunde verteilen, aber das ist nicht der Fall. Die damals (und noch lange danach) bekannten Fossilfunde lieferten bis zur berühmten kambrischen Explosion keinerlei Anhaltspunkte für Lebewesen.

Aber nun kam Darwin daher und behauptete ganz ohne Belege, es müsse in den Meeren der Vorzeit eine Fülle von Lebewesen gegeben haben, die wir nur noch nicht gefunden hätten, weil sie aus irgendwelchen Gründen nicht erhalten geblieben seien. Anders, so beharrte Darwin, könne es einfach nicht sein.

»Der Fall muss also vorerst ohne Erklärung bleiben; er kann in der Tat als berechtigter Einwand gegen die hier20 entwickelten Ansichten vorgebracht werden« , räumte er offenherzig ein, aber er lehnte es ab, eine andere Möglichkeit in Erwägung zu ziehen. Als Erklärung äußerte er die - fantasievolle, aber falsche -Vermutung,

* Zufällig tauchte gerade 1861, auf dem Höhepunkt der Kontroverse, ein solches Beweisstück auf: In Bayern fanden Arbeiter die Knochen eines vorzeitlichen Archaeopteryx, der in der Mitte zwischen Vögeln und Dinosauriern stand. (Er besaß Federn, aber auch Zähne.) Es war ein eindrucksvoller, äußerst nützlicher Fund, über dessen Bedeutung vielfach diskutiert wurde; allerdings konnte eine einzige derartige Entdeckung kaum als schlüssiger Beweis gelten.


die Meere könnten im Präkambrium so klar gewesen sein, dass sich keine Sedimente ablagern konnten, und deshalb21 seien auch keine Fossilien erhalten geblieben.

Selbst Darwins engste Freunde waren beunruhigt darüber, wie unbekümmert er manche Behauptungen aufstellte. Adam Sedgwick, der in Cambridge Darwins Lehrer gewesen war und ihn 1831 auf eine geologische Exkursion nach Wales mitgenommen hatte, empfand beim Lesen des Buches nach eigenem Bekunden »mehr Schmerz als Freude«. Louis Agassiz tat es als schlechte Spekulation ab.

Und selbst Lyell gelangte zu dem mürrischen Schluss:22 »Darwin geht zu weit.«

T. H. Huxley war nicht damit einverstanden, dass Darwin beharrlich gewaltige erdgeschichtliche Zeiträume forderte; Huxley war nämlich Saltationist, das heißt, nach seiner Überzeugung spielten sich Veränderungen in der Evolution nicht allmählich ab, sondern plötzlich. Die Saltationisten (der Begriff kommt von dem lateinischen Wort für »Sprung« ) konnten sich nicht mit der Idee anfreunden, dass komplizierte Organe möglicherweise langsam und stufenweise entstehen. Wozu, so fragten sie, ist ein Zehntel Flügel oder ein halbes Auge gut? Sie glaubten, solche Organe hätten nur dann einen Sinn, wenn sie fix und fertig auftauchen.

Dass ein radikaler Geist wie Huxley solche Ansichten vertrat, war verwunderlich, denn sie ähnelten stark einer sehr konservativen religiösen Überzeugung, die der englische Theologe William Paley 1802 zum ersten Mal vertreten hatte und die später als Gestaltungsargument bekannt wurde. Wenn man eine Taschenuhr auf dem Boden liegen sieht, so Paley, wird man sofort den Eindruck gewinnen, dass sie von einem intelligenten Wesen hergestellt wurde, selbst wenn man nie zuvor einen solchen Gegenstand zu Gesicht bekommen hat. Genauso verhielt es sich nach seiner Überzeugung auch mit der Natur: Ihre Komplexität galt als Beweis für gezielte Gestaltung. Dieser Gedanke hatte im 19. Jahrhundert großen Einfluss und ließ auch Darwin nicht zur Ruhe kommen. »Das Auge jagt mir bis heute einen kalten Schauer den Rücken hinunter« , räumte er in einem Brief an einen Freund ein. Und in der Entstehung der Arten schreibt er: »Es scheint, ich will es offen gestehen, im höchsten möglichen Grade absurd zu sein« , dass die natürliche Selektion eine solche Vorrichtung in kleinen Schritten hervorbringen könne.

Dennoch beharrte Darwin zur nie endenden Verzweiflung seiner Anhänger nicht nur darauf, Wandel laufe ausschließlich in kleinen Stufen ab, sondern er verlängerte auch noch in fast jeder neuen Auflage der Entstehung der Arten den Zeitraum, der nach seiner Überzeugung für den Ablauf der Evolution erforderlich war; dies führte dazu, dass seine Gedanken zunehmend in Misskredit gerieten. »Am Ende verlor Darwin praktisch alle Unterstützung, die ihm in den Reihen seiner Naturforscherund Geologenkollegen noch geblieben war«, schreibt der Wissenschaftshistoriker Jeffrey Schwartz.

Der Titel von Darwins Buch birgt eine gewisse Ironie: Wie Arten entstehen, konnte er nämlich nicht erklären. Seine Theorie schlug einen Mechanismus vor, durch den eine Art stärker, besser oder schneller - mit einem Wort: lebensfähiger - werden kann, sie lieferte aber keinen Anhaltspunkt dafür, wie eine neue Art auf der Bildfläche erscheint. Der schottische Ingenieur Fleeming Jenkin dachte über diese Frage nach, und dabei stieß er auf einen wichtigen Schwachpunkt in Darwins Argumentation. Darwin war überzeugt, dass jede nützliche Eigenschaft, die in einer Generation entsteht, an spätere Generationen weitergegeben wird und so die Spezies stärker werden lässt.

In Wirklichkeit, so Jenkin, kann sich eine nützliche Eigenschaft eines Elternteils in den nachfolgenden Generationen nicht durchsetzen, sondern sie wird durch Vermischung verdünnt. Schüttet man Whisky in ein Glas mit Wasser, so wird der Whisky nicht stärker, sondern schwächer. Und wenn man diese verdünnte Lösung wiederum in ein Glas Wasser schüttet, schwächt man sie noch weiter ab. Nach dem gleichen Prinzip würde auch jede günstige Eigenschaft, die ein Elternteil mitbringt, durch weitere Paarungen verwässert, bis sie überhaupt nicht mehr wahrzunehmen ist. Darwins Theorie war also kein Rezept für den Wandel, sondern für die Unveränderlichkeit. Von Zeit zu Zeit konnten zwar glückliche Wendungen eintreten, diese mussten aber bald darauf in dem allgemeinen Trend, alles im stabilen Mittelmaß zu erhalten, untergehen. Wenn die natürliche Selektion funktionieren sollte, brauchte man einen anderen, bis dahin nicht berücksichtigten Mechanismus.

Was Darwin und alle anderen nicht wussten: 1300 Kilometer entfernt, in einem ruhigen Winkel Mitteleuropas, war ein bescheidener Mönch namens Gregor Mendel der Lösung auf der Spur.

Mendel wurde 1822 als Sohn einer armen Bauernfamilie im österreichischen Kaiserreich geboren, und zwar in einer abgelegenen Region, die heute zur Tschechischen Republik gehört. Schulbücher zeichneten früher von ihm das Bild eines einfachen, aber aufmerksamen Provinzgeistlichen, der seine Entdeckungen im Wesentlichen dem Zufall verdankte - angeblich bemerkte er interessante, erbliche Merkmale, als er im Nutzgarten seines Klosters mit Erbsenpflanzen herumspielte. In Wirklichkeit verfügte Mendel über eine naturwissenschaftliche Ausbildung - er hatte am Philosophischen Institut von Olmütz und an der Wiener Universität Physik und Mathematik studiert -, und er betrieb seine Arbeiten mit strenger wissenschaftlicher Disziplin. Außerdem war das Kloster in Brunn, wo er seit 1843 lebte, als gelehrte Institution bekannt. Es besaß eine Bibliothek von 20000 Bänden, und sorgfältige wissenschaftliche Untersuchungen hatten hier eine lange Tradition.

Bevor Mendel sich an seine Experimente machte, verwendete er zwei Jahre auf die Vorbereitung des Ausgangsmaterials: Er stellte sicher, dass sieben Erbsensorten reinerbig waren. Dann stellte er mit Hilfe von zwei Vollzeit-Assistenten durch wiederholte Kreuzungen insgesamt Hybride von 30000 Erbsenpflanzen her. Es waren heikle Arbeiten, bei denen er sorgfältig darauf achten musste, dass unabsichtliche Kreuzbefruchtung vermieden wurde, und gleichzeitig musste er noch die geringsten Abweichungen in Wachstum und Aussehen von Samen, Schoten, Blättern, Stängeln und Blüten festhalten. Mendel wusste genau, was er tat.

Das Wort Gen verwendete er nie - es wurde erst 1913 in einem englischen medizinischen Wörterbuch geprägt -, er erfand jedoch die Begriffe dominant und rezessiv. Vor allem aber gelangte er zu der wichtigen Erkenntnis, dass jeder Samen zwei »Faktoren« oder »Elemente« enthält, wie er sie nannte, von denen der eine dominant, der andere rezessiv ist. Aus der Kombination dieser Faktoren ergeben sich vorhersehbare Vererbungsmuster.

Aus seinen Befunden leitete Mendel genaue mathematische Formeln ab. Insgesamt brachte er acht Jahre mit seinen Experimenten zu, und anschließend bestätigte er die Ergebnisse mit ähnlichen Versuchen an Blumen, Mais und anderen Pflanzen. Wenn überhaupt, dann ging Mendel mit seinen Arbeiten allzu wissenschaftlich vor: Als er seine Befunde im Februar und März 1865 bei Konferenzen des Naturforschenden Vereins in Brunn vortrug, hörte das ungefähr 40-köpfige Publikum zwar höflich zu, es ließ aber verdächtig wenig Interesse erkennen, obwohl die Pflanzenzucht für viele Mitglieder von großer praktischer Bedeutung war.

Als Mendels Bericht veröffentlicht war, schickte er mit großen Erwartungen ein Exemplar an den bekannten Schweizer Botaniker Karl-Wilhelm von Nägeli. Dessen Unterstützung war mehr oder weniger unentbehrlich, wenn die Theorie sich durchsetzen sollte. Leider begriff Nägeli aber die Bedeutung von Mendels Befunden überhaupt nicht. Er schlug vor, dieser solle mit dem Habichtskraut experimentieren. Gehorsam tat der Mönch, wie Nägeli ihn geheißen hatte, aber dann erkannte er sehr schnell, dass das Habichtskraut nicht die richtigen Voraussetzungen für Erbuntersuchungen mitbrachte. Ihm wurde klar, dass Nägeli seinen Aufsatz entweder überhaupt nicht oder zumindest nicht gründlich gelesen hatte. Frustriert gab Mendel seine Erforschung der Erbgesetze auf; den Rest seines Lebens verbrachte er damit, besonders gutes Gemüse zu züchten und neben vielem anderen auch Bienen, Mäuse und Sonnenflecken zu untersuchen. Schließlich wurde er zum Abt ernannt.

Mendels Beobachtungen blieben nicht überall so unbeachtet, wie häufig behauptet wird. Seine Untersuchungen waren der Encyclopaedia Britannica -die damals mehr als heute eine führende Rolle für das wissenschaftliche Denken einnahm - einen lobenden Eintrag wert, und auch der deutsche Wissenschaftler Wilhelm Olbers Focke zitierte ihn mehrfach in einem wichtigen Artikel. Und da Mendels Ideen nie ganz in wissenschaftliche Vergessenheit geraten waren, konnte man sie auch ohne weiteres wieder entdecken, als die Zeit dafür reif war.

Ohne es zu erkennen, hatten Darwin und Mendel gemeinsam die Grundlagen für die gesamten Biowissenschaften des 20. Jahrhunderts gelegt. Darwin erkannte, dass alle Lebewesen verwandt sind, dass sie »ihre Abstammung letztlich alle auf einen einzigen, gemeinsamen Ursprung zurückführen können«, und Mendel steuerte den Mechanismus bei, mit dem sich erklären ließ, wie das geschieht. Die beiden hätten einander sehr nützlich werden können. Mendel besaß die deutsche Übersetzung der Entstehung der Arten und hatte sie bekanntermaßen auch gelesen; ihm muss also klar gewesen sein, dass sich seine Befunde auf Darwins Erkenntnisse anwenden ließen. Dennoch unternahm er offenbar keinen Versuch, Kontakt mit dem Briten aufzunehmen. Darwin studierte seinerseits bekanntermaßen Fockes einflussreichen Aufsatz, in dem dieser wiederholt Bezug auf Mendels Arbeiten nahm, brachte ihn aber nicht mit seinen eigenen Forschungen in Verbindung.

Eine Aussage, die allgemein als zentraler Bestandteil von Darwins Argumentation gilt - nämlich dass der Mensch vom Affen abstammt -, kommt in seinem Buch in Wirklichkeit nur in einer flüchtigen Anspielung vor. Dennoch konnte man ohne großen Gedankensprung erkennen, welche Folgerungen sich aus Darwins Theorie für die Entwicklung des Menschen ergaben, und tatsächlich wurde dies sofort zu einem zentralen Streitpunkt.

Ihren Höhepunkt fand die Auseinandersetzung am Samstag, dem 30. Juni 1860 auf einer Tagung der British Association for the Advancement of Science in Oxford.

Huxley war von Robert Chambers, dem Autor von Vestiges of the Natural History of Creation, zur Teilnahme gedrängt worden, er wusste aber nichts über Chambers’ Verbindung zu dem umstrittenen Buch. Darwin war wie gewöhnlich abwesend. Die Konferenz fand im Zoologischen Museum von Oxford statt. In dem Saal drängten sich über 1000 Menschen, und mehrere 100 weitere mussten abgewiesen werden. Alle wussten, dass etwas Besonderes bevorstand, aber zunächst mussten sie warten, bis ein Sprecher namens John William Draper von der New York University tapfer seinen zweistündigen, einschläfernden Vortrag über »Die geistige Entwicklung Europas unter dem Gesichtspunkt der Ansichten von Mr. Darwin« hinter sich gebracht hatte.

Schließlich ergriff Samuel Wilberforce, der Bischof von Oxford, das Wort. Allgemein nimmt man an, dass er von dem überzeugten Darwin-Gegner Richard Owen, der am Abend zuvor in seinem Haus zu Gast gewesen war, instruiert worden war. Wie fast immer, wenn ein Ereignis im Aufruhr endet, gehen die Berichte über die tatsächlichen Geschehnisse weit auseinander. Nach einer verbreiteten Version wandte sich Wilberforce, der mit seinem Vortrag richtig in Fahrt gekommen war, schließlich mit trockenem Lächeln an Huxley und wollte wissen, ob er auf dem Weg über die Großmutter oder den Großvater von den Affen abstammte. Die Bemerkung war zweifellos witzig gemeint, wirkte aber wie ein eiskalter Angriff. Huxley wandte sich seinem eigenen Bericht zufolge an seinen Nachbarn und flüsterte: »Der Herr hat ihn in meine Hände gegeben.« Dann erhob er sich genüsslich.

Andere dagegen erinnerten sich, Huxley habe vor Wut und Empörung gezittert. Jedenfalls erklärte der Wissenschaftler, die Abstammung von einem Affen sei ihm lieber als die Verwandtschaft mit jemandem, der seine herausragende Stellung benutzte, um auf einer angeblich ernsthaften wissenschaftlichen Veranstaltung ungebildetes Geschwätz von sich zu geben. Diese Antwort war nicht nur eine skandalöse Unverschämtheit, sondern auch eine Beleidigung für Wilberforces Amt, und in der Versammlung brach sofort ein Tumult aus. Eine gewisse Lady Brewster fiel in Ohnmacht. Robert FitzRoy, den Darwin 25 Jahre zuvor auf der Beagle begleitet hatte, lief durch den Saal, hielt eine Bibel in die Höhe und rief: »Das Buch, das Buch!« (Er nahm an der Tagung teil, weil er in seiner Eigenschaft als Leiter des neu gegründeten Instituts für Meteorologie einen Vortrag über Stürme halten sollte.) Interessanterweise behauptete hinterher jede Partei, sie habe der anderen eine vernichtende Niederlage beigebracht.

Dass Darwin von der Verwandtschaft des Menschen mit den Affen überzeugt war, legte er 1871 in seinem Werk Die Abstammung des Menschen dar. Es war eine kühne Behauptung, denn damals gab es keine Fossilfunde, die für eine solche Vorstellung gesprochen hätten. Die einzigen Überreste von Frühmenschen, die man zu jener Zeit kannte, waren die berühmten Neandertalerknochen aus Deutschland sowie einige zweifelhafte Bruchstücke von Kieferknochen, und viele angesehene Fachleute waren nicht einmal bereit, das hohe Alter dieser Stücke anzuerkennen. Insgesamt war Die Abstammung des Menschen noch umstrittener als Die Entstehung der Arten, aber als es erschien, ließ die Welt sich nicht mehr so leicht aus der Ruhe bringen, und deshalb erregten seine Argumente weit weniger Aufruhr.

Den größten Teil seiner letzten Jahre verbrachte Darwin jedoch mit anderen Vorhaben, von denen die meisten nur sehr am Rande mit Fragen der natürlichen Selektion zu tun hatten. Er stocherte lange in Vogelexkrementen herum und untersuchte ihre Bestandteile, um die Verbreitung von Samen zwischen den Kontinenten zu verstehen, und mehrere Jahre lang beschäftigte er sich auch mit dem Verhalten von Würmern. In einem seiner Experimente spielte er ihnen auf dem Klavier etwas vor - nicht um ihnen Freude zu bereiten, sondern um die Auswirkungen der Schallwellen zu untersuchen. Außerdem erkannte er als Erster, wie unentbehrlich Würmer für die Fruchtbarkeit des Erdbodens sind. »Man darf bezweifeln, dass es viele andere Tiere gibt, die für die Weltgeschichte eine so wichtige Rolle gespielt haben«, schrieb er in dem 1881 erschienenen Buch The Formation of Vegetable Mould Through the Action of Worms ( »Die Entstehung von Pflanzendung durch die Tätigkeit von Würmern« ), seinem Meisterwerk über dieses Thema, das seinerzeit sogar beliebter war als Die Entstehung der Arten je zuvor. Weitere Bücher trugen die Titel On the Various Contrivances by Which British and Foreign Orchids Are Fertilised by Insects ( »Über die verschiedenen Vorrichtungen, durch die britische und ausländische Orchideen von Insekten befruchtet werden«, 1862), Expressions of Emotions in Man and Animals ( »Der Ausdruck der Gefühle bei Menschen und Tieren«, 1872), von dem am ersten Tag fast 5300 Exemplare verkauft wurden, und The Effects of Cross and Self Fertilisation in the Vegetable Kingdom ( »Die Auswirkungen von Kreuz-und Selbstbestäubung im Pflanzenreich«, 1876) - mit diesem Thema kam er Mendels Arbeiten erstaunlich nahe, ohne auch nur annähernd zu den gleichen Erkenntnissen zu gelangen. Darwins letztes Buch schließlich trug den Titel The Power of Movement in Plants ( »Die Kraft der Bewegung bei Pflanzen« ). Last but not least verwendete er große Anstrengungen darauf, die Folgen der Inzucht zu untersuchen, ein Thema, das ihn aus privaten Gründen interessierte. Da Darwin seine eigene Cousine geheiratet hatte, hegte er den finsteren Verdacht, bestimmte körperliche und geistige Schwächen seiner Kinder könnten auf die mangelnde Vielfalt in seinem Stammbaum zurückzuführen sein.

Darwin wurde zu Lebzeiten häufig geehrt, allerdings nie für Die Entstehung der Arten oder Die Abstammung des Menschen. Als die Royal Society ihm die prestigeträchtige Copley Medal verlieh, erkannte sie damit seine Arbeiten in Geologie, Zoologie und Botanik an, nicht aber seine Evolutionstheorie, und mit ähnlicher Begeisterung ehrte ihn auch die Linnaean Society, ohne sich deshalb Darwins radikale Vorstellungen zu Eigen zu machen. Er wurde auch nie geadelt, aber man setzte ihn in der Westminster Abbey unmittelbar neben Newton bei. Darwin starb im April 1882 im Down House. Mendels Tod folgte zwei Jahre später.

Allgemeine Anerkennung fand Darwins Theorie eigentlich erst in den dreißiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts,34 als man sie zu einem Gedankengebäude weiterentwickelte, das mit einer gewissen Arroganz als »moderne Synthese« bezeichnet wird. Darin flossen Darwins Gedanken mit denen von Mendel und anderen zusammen. Auch Mendel fand erst posthum die gebührende Anerkennung, dies geschah allerdings ein wenig früher. Im Jahr 1900 entdeckten drei Wissenschaftler, die unabhängig voneinander in Europa tätig waren, seine Arbeiten mehr oder weniger gleichzeitig wieder. Auch das geschah allerdings nur, weil einer der drei, der Niederländer Hugo de Vries, offenbar gewillt war, Mendels Erkenntnisse für sich selbst zu beanspruchen; daraufhin machte ein Konkurrent lautstark klar, dass das Verdienst in Wirklichkeit dem längst vergessenen Mönch gebührte.35

Jetzt war die Welt fast (allerdings noch nicht ganz) so weit, dass man allmählich begreifen konnte, wie wir entstehen - wie wir einander gemacht haben. Es ist eigentlich ein verblüffender Gedanke: Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts und einige Jahre danach konnten die besten wissenschaftlichen Köpfe der Welt nicht genau erklären, woher die kleinen Kinder kommen. Und wie gesagt: Die gleichen Leute glaubten, das Ende der Naturwissenschaft sei nahezu erreicht.

26. Der Stoff, aus dem das Leben ist

Hätten meine Eltern sich nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt - möglicherweise auf die Sekunde, möglicherweise auch auf die Nanosekunde genau - zusammengetan, es gäbe mich nicht. Hätten ihre Eltern sich nicht zur richtigen Zeit zusammengetan, es gäbe mich ebenfalls nicht. Und hätten deren Eltern es nicht genauso gemacht, und die Eltern davor, und so unendlich immer weiter - es gäbe mich nicht.

Je weiter wir in die Vergangenheit vordringen, desto mehr solcher zeitlich abgestimmten Handlungen addieren sich. Schon vor nur acht Generationen, ungefähr zu der Zeit, als Charles Darwin und Abraham Lincoln geboren wurden, hängt unser Dasein von rund 250 Personen und ihrer rechtzeitigen Paarung ab. Noch weiter zurück, in der Zeit Shakespeares und der Pilgerväter von der Mayflower, mussten nicht weniger als 16384 Vorfahren ihr genetisches Material austauschen, damit auf wundersame Weise schließlich eine von uns entstehen konnte.

Vor 20 Generationen liegt die Zahl der Menschen, die sich um unseretwillen fortpflanzten, bereits bei l048576. Noch einmal fünf Generationen früher sind es nicht weniger als 33554432 Männer und Frauen, von deren leidenschaftlicher Paarung unsere Existenz abhängt. Vor 30 Generationen beträgt die Gesamtzahl der Vorfahren -wie gesagt, das sind keine Vettern und Tanten oder andere zufällige Verwandte, sondern nur Eltern und Eltern von Eltern in einer Linie, die unausweichlich zu uns führt -über eine Milliarde (l073741824, um genau zu sein). Gehen wir 64 Generationen zurück, also in die Römerzeit, ist die Zahl der Menschen, auf deren gemeinsame Anstrengungen unsere Existenz sich letztendlich zurückführen lässt, auf ungefähr l000000000000000000 gestiegen, ein Mehrtausendfaches der Gesamtzahl aller Menschen, die jemals gelebt haben.

Mit unserer Berechnung stimmt also ganz eindeutig irgendetwas nicht. Die Antwort ist für manch einen vielleicht eine Überraschung: Unsere Abstammungslinie ist nicht rein. Ohne ein wenig Inzest - oder eigentlich sogar eine ganze Menge Inzest - wären wir nicht da. Allerdings liegen die fraglichen Ereignisse in diskreter genetischer Entfernung. Bei so vielen Millionen Vorfahren tat sich bei vielen Gelegenheiten ein Verwandter aus der mütterlichen Seite unserer Familie mit einem entfernten Vetter aus der väterlichen Linie zusammen. Wer heute in einer Partnerschaft mit einem Menschen der eigenen ethnischen Gruppe und Nationalität lebt, ist mit diesem wahrscheinlich auch bis zu einem gewissen Grade verwandt. Wenn wir uns in einem Bus, einem Park, einem Café oder an einem anderen bevölkerten Ort umsehen, sind höchstwahrscheinlich sogar die meisten Menschen dort unsere Verwandten. Behauptet jemand, er sei ein Nachkomme Karls des Großen oder der Mayflower-Pilger, können wir immer im Brustton der Überzeugung sagen: »Ich auch!« In einem ganzen buchstäblichen und grundsätzlichen Sinn sind wir alle eine große Familie.

Wir sind uns auch geradezu gespenstisch ähnlich. Vergleichen wir unsere Gene mit denen aller anderen Menschen, dann stimmen sie im Durchschnitt zu 99,9 Prozent überein. Deshalb sind wir eine einzige biologische Art. Für unsere Individualität sorgen die winzigen Unterschiede in den restlichen 0,l Prozent - »ungefähr eine unter jeweils 1000 Nukleotidbasen«, um den kürzlich mit dem Nobelpreis geehrten britischen Genetiker John Sulston zu zitieren.1 Vor wenigen Jahren erregte die Entschlüsselung des menschlichen Genoms großes Aufsehen. In Wirklichkeit gibt es »das« menschliche Genom nicht. Jedes menschliche Genom ist anders, sonst wären wir alle genau gleich. Die endlose Neukombination unserer Genome, die sich alle nahezu, aber nicht genau gleichen, macht uns zu dem, was wir sind, als Individuen wie auch als Spezies.

Aber was ist dieses Gebilde eigentlich, das wir als Genom bezeichnen? Und was sind eigentlich Gene? Nun, gehen wir wieder einmal von der Zelle aus. In ihrem Inneren befindet sich ein Zellkern, und in jedem Zellkern liegen die Chromosomen - 46 kleine, kompliziert gebaute Bündel, 23 von unserer Mutter und 23 von unserem Vater. Mit wenigen Ausnahmen tragen alle Zellen unseres Körpers - ungefähr 99,999 Prozent - die gleiche Chromosomenausstattung. (Die Ausnahmen sind die roten Blutzellen, manche Zellen des Immunsystems sowie die Ei- und Samenzellen, die aus unterschiedlichen Gründen nicht das vollständige genetische Gepäck bei sich führen. ) Die Chromosomen stellen die Gesamtheit aller Anweisungen dar, die notwendig sind, um einen menschlichen Organismus hervorzubringen und in Stand zu halten. Sie bestehen aus langen Strängen der chemischen Wundersubstanz, die wir Desoxyribonukleinsäure oder DNA nennen und die als »das ungewöhnlichste Molekül auf Erden« bezeichnet wurde.

Die DNA existiert nur aus einem einzigen Grund: um mehr DNA zu produzieren. Ein Mensch besitzt sie in beträchtlicher Menge: In jede Zelle sind rund zwei Meter hineingequetscht. Diese DNA-Menge besteht aus rund 3,2 Milliarden Codebuchstaben, genug, um 103480000000 Kombinationen hervorzubringen, und damit ist sie bei jedem Menschen »unter allen erdenklichen Wahrscheinlichkeiten garantiert einzigartig«, wie Christian de Duve es formuliert. Das ist eine ungeheure Zahl von Möglichkeiten - eine l mit mehr als drei Milliarden Nullen.

»Es wären allein 5000 normal große Bücher nötig, bloß um diese Zahl zu drucken«, stellt de Duve fest. Sehen wir einmal in den Spiegel und denken wir daran, dass wir dort etwa 10000 Billionen Zellen sehen, von denen jede zwei Meter dicht gepackte DNA enthält - dann bekommen wir eine Ahnung davon, wie viel von dieser Substanz wir mit uns herumtragen. Die gesamte DNA eines Menschen, zu einem einzigen dünnen Faden verknüpft, würde nicht nur ein oder zwei Mal von der Erde bis zum Mond reichen, sondern immer und immer wieder.4 Einer Berechnung zufolge dürften in jedem Menschen dicht gebündelt bis zu 20 Millionen Kilometer DNA liegen.5

Kurz gesagt, produziert unser Organismus sehr gern DNA, und ohne sie könnten wir nicht leben. Aber die DNA selbst lebt nicht. Kein Molekül lebt, aber die DNA ist tatsächlich ganz besonders unlebendig. Sie gehört zu den »am wenigsten reaktionsfähigen, chemisch trägsten Molekülen in der Welt des Lebendigen«, so der Genetiker Richard Lewontin.6 Das ist der Grund, warum man sie bei der Aufklärung von Verbrechen aus einem getrockneten Blut- oder Spermaflecken wieder gewinnen und sogar aus den Knochen vorzeitlicher Neandertaler rekonstruieren kann. Und es erklärt auch, warum die Wissenschaftler erst nach so langer Zeit herausfanden, wie eine so rätselhaft einfache - mit einem Wort: leblose -Verbindung das Kernstück des Lebens darstellen kann.

Als chemische Verbindung ist die DNA schon länger bekannt, als man vielleicht annimmt. Sie wurde 1869 von dem Schweizer Wissenschaftler Johann Friedrich Miescher entdeckt, der damals an der Universität Tübingen arbeitete. Miescher stocherte unter dem Mikroskop in dem Eiter aus Wundverbänden, und dabei stieß er auf eine Substanz, die er nicht kannte. Da sie sich in den Zellkernen befand, bezeichnete er sie als Nuklein. Über die Tatsache hinaus, dass sie existiert, fand Miescher zu jener Zeit kaum etwas heraus, aber das Nuklein ging ihm offensichtlich nicht mehr aus dem Kopf: 23 Jahre später äußerte er in einem Brief an seinen Onkel den Gedanken, solche Moleküle könnten die Träger der Vererbung sein. Es war eine außergewöhnliche Erkenntnis, aber er war damit den wissenschaftlichen Rahmenbedingungen seiner Zeit so weit voraus, dass sie keinerlei Aufmerksamkeit erregte.

Noch fast ein halbes Jahrhundert lang nahm man allgemein an, die Substanz - die jetzt als Desoxyribonukleinsäure oder nach ihrem englischen Namen deoxyribonucleic acid als DNA bezeichnet wurde - spiele bei der Vererbung nur eine untergeordnete Rolle. Sie war zu einfach gebaut, mit nur vier Grundbausteinen, den Nukleotiden. Es war, als hätte man ein Alphabet mit nur vier Elementen. Wie konnte man mit so wenigen Buchstaben die Geschichte des Lebens schreiben? (Die Antwort: ganz ähnlich, wie man auch komplizierte Nachrichten mit den einfachen Punkten und Strichen des Morsealphabets übermittelt - indem man sie kombiniert.) Soweit man damals wusste, hatte die DNA überhaupt keine Funktion. Sie lag einfach im Zellkern, hielt möglicherweise auf irgendeine Weise die Chromosomen zusammen, sorgte je nach Bedarf für ein wenig Säuregehalt oder erfüllte irgendeine andere banale Aufgabe, an die bisher noch niemand gedacht hatte. Die notwendige Komplexität für die Vererbung, so glaubte man, müsse man in den Proteinen des Zellkerns finden.9

Diese Geringschätzung der DNA warf aber zwei Probleme auf. Das erste war ihre große Menge: fast zwei Meter in jedem Zellkern. Den Zellen war sie also offensichtlich aus irgendeinem Grund wichtig. Außerdem tauchte sie wie der Verdächtige in einem Kriminalroman in den Experimenten immer wieder auf. Insbesondere zwei Untersuchungen - die eine mit Pneumococcus-Bakterien, die andere mit Bakteriophagen (Viren, die Bakterien befallen) - ließen auf eine größere Bedeutung der DNA schließen, und das war nur zu erklären, wenn sie eine wichtigere biologische Rolle spielte, als es die allgemeine Lehrmeinung zuließ. Die Indizien deuteten darauf hin, dass die DNA in irgendeiner Form an der Proteinproduktion beteiligt war, einem Vorgang, der für das Leben unentbehrlich ist. Gleichzeitig war aber auch klar, dass die Proteine außerhalb des Zellkerns gebildet werden, weit weg von der DNA, die vermutlich ihren Zusammenbau steuerte.

Wie die DNA eine Nachricht an die Proteine übermitteln konnte, verstand niemand. Heute wissen wir, dass die Antwort in der Ribonukleinsäure oder RNA liegt, die zwischen den beiden Seiten eine Art Dolmetscherfunktion ausübt. Dass DNA und Proteine nicht die gleiche Sprache sprechen, ist ein bemerkenswerter, seltsamer Aspekt der Biologie. Seit fast vier Milliarden Jahren sind sie die große Doppelnummer der Natur, und doch bedienen sie sich inkompatibler Codes, als ob der eine Spanisch und der andere Hindi spräche. Um sich verständigen zu können, brauchen sie einen Vermittler in Form der RNA. Mit Unterstützung eines chemischen Gehilfen, den man Ribosom nennt, übersetzt die RNA die Information aus der DNA einer Zelle in Begriffe, mit denen die Proteine etwas anfangen können.

Aber Anfang des 20. Jahrhunderts, wo wir jetzt unsere Geschichte wieder aufnehmen, war man noch weit von solchen Kenntnissen entfernt und auch von fast allem anderen, was mit den verworrenen Mechanismen der Vererbung zu tun hat.

Was eindeutig fehlte, waren fantasievolle, kluge Experimente, und glücklicherweise brachte die Zeit auch einen jungen Menschen hervor, der die dazu notwendige Sorgfalt und Begabung mitbrachte. Er hieß Thomas Hunt Morgan, und 1904, nur vier Jahre nach der Wiederentdeckung von Mendels Experimenten mit den Erbsen und noch fast ein Jahrzehnt, bevor es das Gen überhaupt nur als Wort gab, machte er sich mit bemerkenswertem Engagement an die Untersuchung von Chromosomen.

Die Chromosomen waren 1888 durch einen Zufall entdeckt worden, und man hatte sie so genannt, weil sie Farbstoffe leicht aufnahmen und deshalb unter dem Mikroskop deutlicher hervortraten. Um die Jahrhundertwende hatte man allgemein den Verdacht, dass sie für die Weitergabe von Erbmerkmalen eine Rolle spielten, aber ob das tatsächlich der Fall war und wenn ja, wie, wusste niemand.

Als Studienobjekt wählte Morgan eine winzige, empfindliche Fliege, die mit wissenschaftlichem Namen Drosophila melanogaster heißt, allgemein aber als Taufliege (oder Essigfliege, Bananenfliege oder Obstfliege) bekannt ist. Die meisten Menschen kennen sie als zerbrechliches, farbloses Insekt, das anscheinend einen zwanghaften Hang hat, sich in unseren Trinkgläsern zu ertränken. Als Laborobjekt haben Taufliegen einige sehr reizvolle Vorteile: Ihre Haltung und Fütterung kostet fast nichts, man kann sie in leeren Milchflaschen zu Millionen züchten, die Phase vom Ei bis zum fortpflanzungsfähigen, erwachsenen Tier dauert nur zehn Tage oder noch weniger, und sie besitzen nur vier Chromosomen, was vieles erheblich einfacher macht.

In einem kleinen Labor (das natürlich als Fliegenzimmer bekannt wurde) in der Schermerhorn Hall der New Yorker Columbia University machten sich Morgan und seine Mitarbeiter an ein genau berechnetes Arbeitsprogramm mit der Züchtung und Kreuzung vieler Millionen Fliegen (nach Angaben eines Biografen waren es Milliarden, aber das ist vermutlich eine Übertreibung). Jede Einzelne davon musste mit einer Pinzette eingefangen und unter einer Uhrmacherlupe auf winzige, erbliche Abweichungen untersucht werden.10 Sechs Jahre lang versuchte die Arbeitsgruppe mit allen nur denkbaren Methoden, Mutationen zu erzeugen: Sie beschossen die Fliegen mit Röntgen- und anderen Strahlen, erhitzten sie vorsichtig in einem Ofen, schleuderten sie in Zentrifugen; aber nichts hatte eine Wirkung. Morgan wollte schon aufgeben, da ereignete sich plötzlich eine Mutation, die sich mehrfach wiederholen ließ: Eine Fliege hatte weiße statt der üblichen roten Augen. Nach diesem Durchbruch konnten Morgan und seine Assistenten eine ganze Reihe nützlicher Missbildungen erzeugen, mit deren Hilfe sie Merkmale über mehrere Generationen hinweg verfolgten. Auf diese Weise konnten sie einen Zusammenhang zwischen bestimmten Eigenschaften und einzelnen Chromosomen herstellen und damit schließlich mehr oder weniger zur allgemeinen Genugtuung beweisen, dass die Chromosomen der Sitz der Vererbung sind.

Damit war aber die Frage nach der nächsten Ebene der biologischen Vielschichtigkeit nicht beantwortet. Sie betraf die rätselhaften Gene und die DNA, aus denen sie bestehen. Sie zu isolieren und zu verstehen, erwies sich als wesentlich schwieriger. Noch 1933, als Morgan für seine Arbeiten den Nobelpreis erhielt, waren viele Wissenschaftler nicht davon überzeugt, dass Gene überhaupt existieren. Wie Morgan zu jener Zeit berichtete, gab es keine Übereinstimmung in der Frage, was die Gene eigentlich sind - ob sie etwas Reales oder reine Fantasieprodukte darstellen.11 Dass die Wissenschaftler Schwierigkeiten damit hatten, die physische Realität einer so grundlegenden Zelltätigkeit anzuerkennen, mag heute verwunderlich erscheinen, aber wie Wallace, King und Sanders in ihrem Buch Biology. The Science of Life (das eine wahre Seltenheit ist: ein lesbares Lehrbuch) berichten, befinden wir uns heute im Zusammenhang mit geistigen Vorgängen wie Denken und Gedächtnis in einer ganz ähnlichen Lage. Wir wissen natürlich, dass es sie gibt, aber wir haben keine Ahnung, ob sie eine physikalische Form haben, und wenn ja, welche. Genauso war es lange Zeit mit den Genen. Die Vorstellung, man könne eines davon aus dem Körper entnehmen und getrennt untersuchen, erschien vielen von Morgans Kollegen ebenso absurd wie heute die Idee, Wissenschaftler könnten einen zufälligen Gedanken einfangen und unter das Mikroskop legen.

Eines allerdings war sicher: Irgendetwas, das mit den Chromosomen im Zusammenhang stand, steuert die Zellvermehrung. Im Jahr 1944 schließlich gelang einer Arbeitsgruppe am Rockefeiler Institute in Manhattan unter Leitung des hochintelligenten, aber schüchternen Kanadiers Oswald Avery nach 15-jähriger Arbeit ein äußerst heikles Experiment: Sie kreuzten einen harmlosen Bakterienstamm mit fremder DNA und machten ihn damit auf Dauer zu einem Krankheitserreger. Auf diese Weise bewiesen sie, dass die DNA keineswegs nur ein passives Molekül ist, sondern mit ziemlicher Sicherheit den aktiven Träger der Vererbung darstellt. Der in Österreich geborene Biochemiker Erwin Chargaff erklärte später ganz ernsthaft, Avery habe für seine Entdeckung eigentlich zwei Nobelpreise verdient.13

Leider hatte Avery aber in einem seiner Kollegen am Institut einen leidenschaftlichen Gegner. Dieser, ein willensstarker, unangenehmer Proteinanhänger namens Alfred Mirsky, tat alles Erdenkliche, um Averys Arbeit in Misskredit zu bringen - angeblich setzte er sich sogar bei den Behörden am Stockholmer Karolinska-Institut dafür ein, dass sie dem Kanadier keinen Nobelpreis verliehen.14 Avery war zu jener Zeit bereits 66 und lebte im Ruhestand. Er hatte Stress und Streitigkeiten nicht ausgehalten, war von seiner Position zurückgetreten und betrat nie wieder ein Labor. Seine Erkenntnisse wurden aber von anderen überzeugend bestätigt, und bald darauf ging es nur noch darum, die Struktur der DNA aufzuklären.

Hätte man Anfang der fünfziger Jahre wetten wollen, man hätte mit ziemlicher Sicherheit darauf gesetzt, dass Linus Pauling vom California Institute of Technology, der führende Chemiker der Vereinigten Staaten, die Struktur der DNA knacken würde. Was die Aufklärung des Molekülaufbaus anging, konnte niemand Pauling das Wasser reichen, und außerdem hatte er Pionierarbeit in der Röntgenstrukturanalyse geleistet, einer Methode, die sich für den Blick ins Innerste der DNA als entscheidend erweisen sollte. Im Rahmen seiner höchst erfolgreichen Berufslaufbahn sollte er zwei Nobelpreise bekommen (1954 für Chemie und 1962 den Friedensnobelpreis), aber er war überzeugt davon, dass die Struktur der DNA keine doppelte, sondern eine dreifache Spirale war, und deshalb kam er nie auf die richtige Spur. Den Triumph feierte vielmehr ein ungleiches Wissenschaftler-Quartett in England; die vier arbeiteten nicht zusammen, häufig redeten sie nicht einmal miteinander, und zum größten Teil waren sie Neulinge auf diesem Gebiet.

Von allen vieren entsprach Maurice Wilkins noch am ehesten dem üblichen Bild einer wissenschaftlichen Autorität: Er hatte fast während des gesamten Zweiten Weltkrieges an der Entwicklung der Atombombe mitgearbeitet. Zwei andere, Rosalind Franklin und Francis Crick, hatten sich während der Kriegsjahre im Auftrag der britischen Regierung mit Minen beschäftigt - Crick mit denen, die explodieren, Franklin mit solchen, die Kohle produzieren.

Die ungewöhnlichste Gestalt in dem Quartett war James Watson, ein amerikanisches Wunderkind, das bereits als Junge in der höchst populären Radiosendung The Quiz Kids von sich reden gemacht hatte15 (und deshalb von sich behaupten konnte, er habe zumindest einen Teil der Anregungen für einige Mitglieder der Familie Glass in Franny und Zooey und andere Bücher von J. D. Salinger geliefert). Außerdem war er bereits mit 15 Jahren von der Universität Chicago aufgenommen worden. Mit 22 hatte er seinen Doktor gemacht, und jetzt arbeitete er an dem berühmten Cavendish Laboratory in Cambridge. Im Jahr 1951 war er ein schlaksiger junger Mann von 23 Jahren mit einer auffallend lebhaften Frisur, die auf Fotos so aussieht, als würde sie von einem unsichtbaren, starken Magneten angezogen.

Crick, zwölf Jahre älter und immer noch ohne Doktortitel, hatte erheblich weniger Haare und ein wenig mehr Unbefangenheit. Watson zeichnet ihn als aufbrausenden, neugierigen, liebenswert diskussionsfreudigen Menschen, der schnell ungeduldig wurde, wenn jemand etwas nicht sofort begriff und bei dem ständig die Gefahr der Abwerbung bestand. Keiner von beiden hatte eine ordnungsgemäße Ausbildung in Biochemie.

Watson und Crick gingen von einer Annahme aus, die sich im Nachhinein als richtig erwies: Wenn man die Struktur der DNA ermitteln konnte, so glaubten sie, würde man auch sofort erkennen, wie sie ihre Aufgabe erfüllt. Um dies zu erreichen, wollten sie offensichtlich über das reine Denken hinaus so wenig wie möglich arbeiten und nur das Allernötigste tun. In seinem autobiografisch gefärbten Buch Die Doppel-Helix schreibt Watson fröhlich (aber auch ein wenig hinterhältig), er habe gehofft, »das Gen-Problem zu lösen, ohne dass ich deswegen Chemie lernen müsste«.16 Eigentlich hatten sie nicht den Auftrag, an der DNA zu arbeiten, und irgendwann erhielten sie die Anweisung, damit aufzuhören. Watson sollte ursprünglich die Kunst der Kristallografie erlernen, und Crick sollte seine Doktorarbeit über die Röntgenstrukturanalyse großer Moleküle fertig stellen.

In den üblichen Berichten über die Lösung des DNA-Rätsels wird das Verdienst zwar fast ausschließlich Crick und Watson zugeschrieben, in Wirklichkeit hing ihre bahnbrechende Erkenntnis aber entscheidend von den experimentellen Arbeiten ihrer Konkurrenten ab, von Befunden, in deren Besitz sie »zufällig« gelangten, wie die Historikerin Lisa Jardine es taktvoll formuliert. Zumindest am Anfang waren ihnen nämlich zwei Wissenschaftler am Londoner Kings College weit voraus: Wilkins und Franklin.

Der in Neuseeland geborene Wilkins war bescheiden bis an die Grenze der Selbstverleugnung. Einer Dokumentarsendung des amerikanischen Fernsehsenders PBS über die Entdeckung der DNA-Struktur - eine Leistung, für die er 1962 gemeinsam mit Crick und Watson den Nobelpreis erhielt - gelang es sogar, ihn völlig zu übersehen.

Die rätselhafteste Gestalt von allen war Franklin. Watson zeichnet von ihr in Die Doppel-Helix das sehr wenig schmeichelhafte Porträt einer unvernünftigen, geheimnistuerischen, chronisch unkooperativen Frau, die - was ihn anscheinend besonders irritierte - fast vorsätzlich unsexy war. Er räumte zwar ein, sie sei »nicht unattraktiv, und sie wäre sogar hinreißend gewesen, hätte sie auch nur das geringste Interesse für ihre Kleidung gezeigt«, aber in diesem Punkt enttäuschte sie alle Erwartungen. Wie er erstaunt feststellte, benutzte sie nicht einmal einen Lippenstift, und sie trug »so fantasielose Kleider wie nur irgendein blaustrümpfiger englischer Teenager«.

Aber Franklin hatte von allen die besten Bilder einer möglichen DNA-Struktur, hergestellt mit Hilfe der Röntgenstrukturanalyse, jener Methode, die Linus Pauling vervollkommnet hatte. Mit ihrer Hilfe war es bereits gelungen, die Anordnung der Atome in Kristallen zu ermitteln, aber die DNA-Moleküle zu untersuchen, war heikler. Franklin war als Einzige in der Lage, dabei gute Ergebnisse zu erzielen, aber zu Wilkins’ ständiger Empörung weigerte sie sich, andere darüber in Kenntnis zu setzen.

Dass Franklin ihre Ergebnisse nicht bereitwillig weitergab, kann man ihr eigentlich nicht vorwerfen. Frauen wurden in den fünfziger Jahren am King’s College mit einer formellen Verachtung bedacht, die uns mit unserer heutigen Sensibilität (oder eigentlich jeder Sensibilität) unvorstellbar erscheint. Unabhängig von Rang oder Leistungen durften sie den Aufenthaltsraum für die Führungskräfte des College nicht betreten, sondern sie mussten ihre Mahlzeiten in einer Kammer einnehmen, die selbst Watson als »schmutzig und schändlich« bezeichnete. Obendrein wurde Franklin noch ständig unter Druck gesetzt - und gelegentlich sogar regelrecht bedrängt -, ihre Ergebnisse an drei Männer weiterzugeben, deren verzweifelter Wunsch, einen Blick darauf zu erhaschen, in den seltensten Fällen durch Respekt und ähnlich motivierende Eigenschaften ergänzt wurde.

»Ich fürchte, wir waren es immer gewohnt, ihr gegenüber eine, na sagen wir mal, väterliche Haltung einzunehmen«, erinnerte Crick sich später. Zwei dieser Männer gehörten einem Konkurrenzinstitut an, und der dritte machte mehr oder weniger offen gemeinsame Sache mit ihnen. Da war es eigentlich kaum verwunderlich, dass Franklin ihre Ergebnisse unter Verschluss hielt.

Offensichtlich nutzten Watson und Crick die Tatsache, dass Wilkins und Franklin nicht miteinander auskamen, zum eigenen Vorteil aus. Obwohl beide recht schamlos in Wilkins’ Revier wilderten, schlug er sich zunehmend auf ihre Seite, was eigentlich keine große Überraschung war, weil auch Franklin zunehmend fragwürdige Verhaltensweisen an den Tag legte. Obwohl ihre Ergebnisse eindeutig zeigten, dass die DNA eine Spiralstruktur hat, beharrte sie gegenüber allen darauf, dies sei nicht der Fall. Besonders entsetzt und peinlich berührt war Wilkins im Sommer 1952, als Franklin im physikalischen Institut des King’s College zum Scherz eine Notiz kursieren ließ, in der es hieß: »Mit Bedauern müssen wir bekannt geben, dass die DNA-Helix am Freitag, dem 18. Juli 1952 verstorben ist ... Wir hoffen, dass Dr. M. H. F. Wilkins eine Rede zum Gedenken an die Verstorbene halten wird.« 19

Dies alles führte dazu, dass Wilkins im Januar 1953 Franklins Aufnahmen holte und sie Watson zeigte, »offenbar ohne ihr Wissen und ohne ihre Zustimmung«. Hier von einer wichtigen Hilfe zu sprechen, wäre eine Untertreibung. Jahre später räumte Watson ein, es sei »das Schlüsselerlebnis« gewesen, das die Dinge in Bewegung brachte. Ausgerüstet mit dem Wissen über die grundlegende Form des DNA-Moleküls und einige wichtige Aspekte seiner Abmessungen, verdoppelten Watson und Crick ihre Anstrengungen. Jetzt schien alles nach ihren Wünschen zu laufen. Irgendwann war Pauling unterwegs zu einer Tagung in England, wo er aller Wahrscheinlichkeit nach mit Wilkins zusammengetroffen wäre und genug gehört hätte, um die Irrtümer zu korrigieren, die ihn mit seinen Untersuchungen auf einen falschen Weg gelenkt hatten. Aber es war die McCarthy-Ära, und Pauling wurde am New Yorker Idlewild Airport festgehalten. Man konfiszierte seinen Pass mit der Begründung, er habe eine zu liberale Einstellung und dürfe deshalb nicht ins Ausland reisen. Ein ebenso glücklicher Zufall war es für Crick und Watson, dass Paulings Sohn am Cavendish Laboratory arbeitete und sie unwissentlich über alle neuen Entwicklungen und Rückschläge in Amerika auf dem Laufenden hielt.

Da Watson und Crick immer noch jeden Augenblick damit rechnen mussten, überrundet zu werden, widmeten sie sich fieberhaft dem Problem. Man wusste, dass die DNA aus vier Arten chemischer Bausteine namens Adenin, Guanin, Cytosin und Thymin besteht, die in ganz bestimmten Mengenverhältnissen vorhanden sind. Watson und Crick spielten mit Pappestücken herum, die sie in der Form der Moleküle zurechtgeschnitten hatten, und auf diese Weise fanden sie heraus, wie die Stücke zusammenpassen. Dann bauten sie nach Art eines Metallbaukastens ein Modell, das zum vielleicht berühmtesten der gesamten modernen Naturwissenschaft wurde: Metallplatten waren spiralförmig mit Bolzen verbunden. Anschließend forderten sie Wilkins, Franklin und alle anderen auf, sich die Sache anzusehen. Wer Bescheid wusste, erkannte nun sofort, dass sie das Problem gelöst hatten. Es war zweifellos eine großartige Detektivarbeit, ob sie nun durch Franklins Bild vorangebracht wurde oder nicht.

Am 25. April 1953 erschien in der Fachzeitschrift Nature ein nur 900 Wörter langer Artikel von Watson und Crick. Er trug den Titel »A Structure for Deoxyribose Nucleic Acid« ( »Eine Struktur für die Desoxyribonukleinsäure« ). Ergänzt wurde er durch getrennte Aufsätze von Wilkins und Franklin. Es war auf der ganzen Welt eine ereignisreiche Zeit: Edmund Hillary stand im Begriff, den Gipfel des Mount Everest zu bezwingen, und Elizabeth II. sollte kurz darauf zur englischen Königin gekrönt werden. Deshalb wurde die Tatsache, dass man das Geheimnis des Lebens gelüftet hatte, weitestgehend übersehen. Der News Chronicle widmete ihr eine kleine Notiz, ansonsten nahm sie kaum jemand zur Kenntnis.23

Rosalind Franklin erhielt keinen Nobelpreis. Sie starb 1958, vier Jahre bevor die Auszeichnung verliehen wurde, mit nur 37 Jahren an Eierstockkrebs. Nobelpreise werden niemals posthum vergeben. Die Krebserkrankung war mit ziemlicher Sicherheit die Folge einer chronischen Belastung mit Röntgenstrahlen durch ihre Arbeit. Dazu hätte es nicht kommen müssen: In ihrer viel gelobten, 2002 erschienenen Franklin-Biografie berichtet Brenda Maddox, die Wissenschaftlerin habe fast nie eine Bleischürze getragen und sei häufig achtlos in den Strahlenweg getreten. Auch Oswald Avery erhielt nie einen Nobelpreis und wurde von der Nachwelt weitestgehend übersehen, aber ihm blieb immerhin noch die Befriedigung, dass er die Bestätigung seiner Befunde erlebte. Er starb 1955.

Die Entdeckung von Watson und Crick wurde eigentlich erst in den achtziger Jahren endgültig bestätigt. In einem seiner Bücher schreibt Crick: »Es hatte über fünfundzwanzig Jahre gedauert, bis unser Modell der DNA zuerst ziemlich plausibel, dann ... sehr plausibel und schließlich praktisch mit Sicherheit korrekt war.«

Dennoch machte die Genetik nach der Aufklärung der DNA-Struktur schnelle Fortschritte, und schon 1968 erschien in dem Fachblatt Science ein Artikel mit der Überschrift »That Was the Molecular Biology That Was« ( »Das war’s in der Molekularbiologie« ).26 Er legte -kaum glaublich, aber wahr - die Vermutung nahe, die Genetik sei mit ihrer Arbeit so ziemlich am Ende angelangt.

In Wirklichkeit stand man damals natürlich gerade am Anfang. Selbst heute gibt es im Zusammenhang mit der DNA noch viele ungeklärte Fragen, nicht zuletzt die, warum ein so großer Teil davon anscheinend keinerlei Funktion hat. Unsere DNA besteht zu 97 Prozent aus langen, sinnlosen Abschnitten - aus »DNA-Schrott« oder »nichtcodierender DNA«, wie die Biochemiker es lieber nennen. Nur hier und da findet man in den Molekülsträngen ein kurzes Stück, das lebenswichtige Funktionen steuert und organisiert. Das sind die rätselhaften, lange gesuchten Gene.

Gene sind nicht mehr (oder weniger) als Anweisungen zur Herstellung von Proteinen. Diese Aufgabe erfüllen sie mit einer gewissen langweiligen Genauigkeit. In einem gewissen Sinn ähneln sie den Tasten eines Klaviers, von denen jede nur einen einzigen Ton hervorbringen kann und sonst nichts - was zweifellos im wahrsten Sinne des Wortes eintönig ist. Viele Gene gemeinsam jedoch können wie die Tastatur des Klaviers eine unendliche Fülle unterschiedlicher Akkorde und Melodien erzeugen. Nimmt man alle Gene zusammen, entsteht (um die Metapher fortzusetzen) die große Symphonie des Daseins, die wir als menschliches Genom bezeichnen.

In einem anderen, häufiger verwendeten Vergleich betrachtet man das Genom als eine Art Bauanleitung für den Körper. In dieser Sichtweise sind die Chromosomen gewissermaßen einzelne Kapitel des Buches, und die Gene sind die Anweisungen zur Herstellung einzelner Proteine. Die Wörter, aus denen die Anweisungen bestehen, nennt man Codons, und die Buchstaben heißen Basen. Die Basen - also die Buchstaben des genetischen Alphabets -sind die entscheidenden Bestandteile der bereits erwähnten Nukleotide Adenin, Thymin, Guanin und Cytosin. Obwohl diese Substanzen eine so wichtige Aufgabe erfüllen, sind sie alles andere als exotische chemische Verbindungen. Guanin beispielsweise kommt in großen Mengen in Vogelkot vor, der auch als Guano bezeichnet wird, und verdankt ihm seinen Namen.

Insgesamt hat das DNA-Molekül, wie allgemein bekannt ist, die Form der berühmten Doppel-Helix: Es ähnelt einer Wendeltreppe oder einer verdrehten Strickleiter. Die »Seile« der Leiter bestehen aus einer Art Zucker, die als Desoxyribose bezeichnet wird, und die gesamte Helix ist eine Nukleinsäure - daher der Name »Desoxyribonukleinsäure«. Die Sprossen bestehen jeweils aus zwei Basen, die sich in dem Zwischenraum der beiden Stränge verbinden, und diese Paarung kann nur auf zweierlei Weise stattfinden: Guanin lagert sich stets mit Cytosin zusammen, und Thymin verbindet sich immer mit Adenin. Die Reihenfolge, in der diese Buchstaben entlang der Leiter aufeinander folgen, enthält die genetische Information; sie zu ermitteln, war das Ziel des HumanGenomprojekts.

Das Großartige an der DNA jedoch ist ihr Verdoppelungsmechanismus. Wenn es an der Zeit ist, ein neues DNA-Molekül hervorzubringen, trennen sich die beiden Stränge wie ein Reißverschluss, und jede der beiden Hälften geht eine neue Partnerschaft ein. Da jedes Nukleotid in einem Strang sich nur mit einem ganz bestimmten anderen Nukleotid paart, kann jeder Strang als Matrize für die Herstellung eines neuen, dazu passenden Stranges dienen. Besäßen wir von unserer eigenen DNA nur einen einzigen Strang, könnten wir den anderen durch Herstellung der erforderlichen Verbindungen leicht rekonstruieren: Besteht beispielsweise die oberste Sprosse in einem Strang aus Guanin, muss an dieser Stelle im anderen Strang Cytosin stehen. Gehen wir auf diese Weise eine Nukleotidpaarung nach der anderen durch, besitzen wir am Ende ein neues Molekül. Genau das geschieht in der Natur, und zwar ausgesprochen schnell: Es ist eine Sache weniger Sekunden - eine beträchtliche Leistung.

Meist verdoppelt sich unsere DNA sehr genau, aber ganz selten - ungefähr in einem unter einer Million Fällen -gelangt ein Buchstabe in die falsche Position. So etwas bezeichnet man als Einzelnukleotid-Polymorphismus oder nach dem englischen Begriff single nucleotide polymorphism als SNP - Biochemiker sprechen von einem »Snip«. In der Regel verstecken sich Snips in den langen Abschnitten nichtcodierender DNA, und deshalb haben sie auf den Organismus keine erkennbaren Auswirkungen. Gelegentlich aber erlangen sie große Bedeutung. Dann ist der betreffende Mensch unter Umständen anfällig für eine Krankheit, sie können ihrem Träger aber auch einen geringfügigen Vorteil verschaffen, indem sie beispielsweise für eine stärkere, schützende Hautpigmentierung sorgen oder die Produktion der roten Blutzellen für das Leben in großer Höhe verstärken. Im Laufe der Zeit sammeln sich solche geringfügigen Abwandlungen sowohl in den einzelnen Individuen als auch in den Populationen an und tragen zu ihren Unterschieden bei.

Zwischen Genauigkeit und Fehlern der DNA-Verdoppelung besteht ein genau ausbalanciertes Gleichgewicht. Zu viele Fehler, und der Organismus funktioniert nicht mehr. Zu wenige, und er verliert seine Anpassungsfähigkeit. Ein ähnliches Gleichgewicht muss in einem Organismus auch zwischen Stabilität und Neuerungen bestehen. Die Vermehrung der roten Blutzellen kann dem Einzelnen oder einer Gruppe in großer Höhe das Atmen und Bewegen erleichtern, denn mehr rote Blutzellen können auch mehr Sauerstoff transportieren. Mehr Zellen lassen aber auch das Blut dicker werden. Zu viele von ihnen, und es ist, »als müsste das Herz zähflüssiges Öl pumpen«, wie der Anthropologe Charles Weitz von der Temple University es formuliert. Das stellt für das Herz eine große Belastung dar. Menschen, die an das Leben in großer Höhe angepasst sind, haben also eine größere Atemleistung, bezahlen dafür aber mit einer größeren Anfälligkeit für Herzkrankheiten. Durch solche Mechanismen wirkt die Darwin’sche natürliche Selektion auf uns ein. Gleichzeitig ist es auch die Erklärung dafür, warum wir uns alle so ähnlich sind: Die Evolution lässt allzu große Unterschiede einfach nicht zu - jedenfalls nicht, ohne dass dabei eine neue Spezies entsteht.

Die 0,1 Prozent Unterschiede zwischen den Genen zweier Menschen liegen in den Snips. Vergleichen wir die DNA dieser beiden mit der einer dritten Person, finden wir ebenfalls 99,9 Prozent Übereinstimmung, aber die Snips würden in ihrer Mehrzahl an anderen Stellen liegen. Je mehr Menschen man in den Vergleich einbezieht, desto mehr Snips an immer mehr verschiedenen Stellen findet man. Für jede der 3,2 Milliarden Basen wird es auf der Erde eine Person oder eine Gruppe von Personen geben, die an der betreffenden Position einen anderen Codebuchstaben besitzen. Es ist also nicht nur falsch, von »dem« menschlichen Genom zu sprechen; in einem gewissen Sinn gibt es nicht einmal »ein« menschliches Genom, sondern 6 Milliarden. Wir alle sind zu 99,9 Prozent gleich, aber ebenso »könnte man auch sagen, dass alle Menschen überhaupt keine Gemeinsamkeit haben, und auch das wäre richtig«, so der Biochemiker David Cox.29

In jedem Fall aber bleibt noch zu erklären, warum nur ein so geringer Teil dieser DNA überhaupt einen erkennbaren Zweck hat. Auch wenn es uns langsam ein wenig auf die Nerven geht: Es sieht wirklich so aus, als habe das Leben nur den Sinn, die DNA fortzupflanzen. Die 97 Prozent unserer DNA, die in der Regel als »Schrott« bezeichnet werden, bestehen zu einem großen Teil aus Buchstabengruppen, »die nur aus einem einzigen, einfachen Grund existieren: weil sie sich gut vermehren* können«, wie Matt Ridley es formuliert. Mit anderen Worten: Unsere DNA ist zum größten Teil nicht für uns da, sondern für sich selbst. Wir sind die Maschine für ihre Vermehrung und nicht umgekehrt. Wie bereits erwähnt, will das Leben einfach da sein, und dafür sorgt die DNA.

* Allerdings ist der DNA-Schrott tatsächlich zu etwas nütze. Man verwendet ihn für die DNA-Fingerabdrücke. Aus diesem praktischen Grund wurde er von Alex Jeffreys, einem Wissenschaftler der Universität Leicester in England, durch Zufall entdeckt. Jeffreys untersuchte 1986 die DNA-Sequenzen von genetischen Markern, die im Zusammenhang mit erblichen Krankheiten stehen. Irgendwann erhielt er eine Anfrage von der Polizei: ob er helfen könne, einen Verdächtigen mit zwei Morden in Verbindung zu bringen. Dabei erkannte er, dass sein Verfahren sich eigentlich großartig zur Lösung von Kriminalfällen eignen müsste - und wie sich herausstellte, stimmte das auch. Ein junger Bäcker mit dem seltenen Namen Colin Pitchfork wurde für die Verbrechen zu zweimal lebenslänglich verurteilt.


Selbst wenn die DNA Anweisungen zur Herstellung von Proteinen enthält - wenn sie die Proteine codiert, wie die Wissenschaftler es formulieren -, steht dahinter nicht unbedingt das Ziel, dass der Organismus reibungslos funktionieren soll. Ein wichtiges Gen des Menschen codiert ein Protein namens Reverse Transcriptase, das in unserem Organismus nach heutiger Kenntnis keinerlei nützliche Funktion erfüllt. Es tut nur eines: Es schafft für Retroviren wie den AIDS-Erreger die Möglichkeit, sich unbemerkt in unseren Körper einzuschleichen.

Mit anderen Worten: Unser Organismus verwendet beträchtliche Energie auf die Produktion eines Proteins, das nichts Nützliches bewirkt und uns manchmal sogar schadet. Er hat keine andere Wahl, denn die Gene befehlen es ihm. Wir sind das Ausführungsorgan für ihre Launen. Insgesamt tut beim Menschen fast die Hälfte aller Gene - der größte Anteil, der überhaupt bei einem Lebewesen gefunden wurde - nach unserer Kenntnis nichts anderes, als sich selbst fortzupflanzen.

Alle Lebewesen sind in einem gewissen Sinn die Sklaven ihrer Gene. Das ist der Grund, warum Lachse, Spinnen und eine Riesenzahl anderer Tiere darauf angelegt sind, bei der Paarung zu sterben. Der Drang, sich fortzupflanzen, die eigenen Gene zu verbreiten, ist der stärkste Impuls in der gesamten Natur. Oder, wie Sherwiri B. Nuland es formulierte: »Königreiche stürzen, festgefügte Charaktere brechen zusammen, große Symphonien werden geschrieben - und hinter allem steht ein einziger Instinkt, der nach Befriedigung verlangt.« Aus der Sicht der Evolution ist Sex nur ein Belohnungsmechanismus, der uns motivieren soll, unser genetisches Material weiterzugeben.

In der wissenschaftlichen Welt hatte man noch nicht ganz die überraschende Erkenntnis verdaut, dass der größte Teil unserer DNA überhaupt keine Funktion hat, da stieß man auf noch unerwartetere Befunde. Zunächst in Deutschland und dann auch in der Schweiz machten Wissenschaftler einige recht bizarre Experimente, deren Ergebnisse erstaunlicherweise alles andere als bizarr waren. So nahmen sie beispielsweise das Gen, das bei der Maus die Entwicklung des Auges steuert, und schleusten es in die Larve einer Taufliege ein. Dahinter stand der Gedanke, das Gen könne in der neuen Umgebung etwas Interessantes, Groteskes entstehen lassen. In Wirklichkeit aber erzeugte das Maus-Gen in der Taufliege nicht nur ein funktionsfähiges Auge, sondern es erzeugte sogar ein Fliegenauge. Die beiden Tiere hatten seit 500 Millionen Jahren keinen gemeinsamen Vorfahren mehr gehabt, und doch konnten sie ihr genetisches Material untereinander austauschen, als wären sie Geschwister.

Wo die Wissenschaftler auch suchten, überall fanden sie das Gleiche. Sie konnten menschliche DNA in bestimmte Linien von Fliegenzellen einschleusen, und die Fliegen nahmen sie auf, als wäre es ihre eigene. Wie sich herausstellt, gleichen mehr als 60 Prozent aller Gene des Menschen grundsätzlich denen von Taufliegen. Und mindestens 90 Prozent stehen in irgendeiner Form mit den Genen von Mäusen im Zusammenhang.34 (Wir besitzen sogar die gleichen Gene für die Herstellung eines Schwanzes, die allerdings nur bei Mäusen eingeschaltet werden. ) Immer wieder stellten die Wissenschaftler das Gleiche fest: Ganz gleich, mit was für Lebewesen sie arbeiteten - ob mit Fadenwürmern oder Menschen -, stets untersuchten sie im Wesentlichen die gleichen Gene. Alles Leben, so schien es, ist nach einem einzigen Satz von Bauanleitungen konstruiert.

Wie sich bei weiteren Forschungsarbeiten zeigte, gibt es eine Reihe von Ober-Steuerungsgenen, die jeweils die Entwicklung eines Körperabschnitts dirigieren. Diese bezeichnete man als homöotische Gene (nach dem griechischen Wort für »ähnlich« ) oder kurz als hox-Gene. Mit ihrer Entdeckung war die alte, verwirrende Frage beantwortet, wie Milliarden Zellen eines Embryos, die alle aus einer einzigen befruchteten Eizelle entstanden sind und die gleiche DNA tragen, so genau wissen, wohin sie wandern müssen und was sie zu tun haben - dass beispielsweise die eine zu einer Leberzelle wird, die andere zu einer lang gestreckten Nervenzelle, die dritte zu einer Blutzelle und die vierte zu einem schimmernden Element auf einem flatternden Flügel. Die entsprechenden Befehle erhalten sie von den hox-Genen, und die funktionieren im Wesentlichen bei allen Lebewesen auf die gleiche Weise.

Interessanterweise spiegelt sich in der Menge des genetischen Materials und seiner Organisation nicht unbedingt und nicht einmal in der Regel die Komplexität des betreffenden Lebewesens wider. Wir Menschen besitzen 46 Chromosomen, bei manchen Farnarten sind es aber mehr als 600. Der Lungenfisch, der unter allen kompliziert gebauten Tieren auf einer der niedrigsten Evolutionsstufen steht, besitzt 40-mal so viel DNA wie wir. Selbst der unscheinbare Wassermolch ist genetisch um den Faktor fünf besser ausgestattet als der Mensch.

Entscheidend ist also offenbar nicht, wie viele Gene man besitzt, sondern was man damit anfängt. Das ist erfreulich, denn die Zahl der Gene eines Menschen wurde bis vor kurzem ein wenig überschätzt. Noch vor nicht allzu langer Zeit glaubte man, ein Mensch müsse mindestens 100000 Gene oder vielleicht sogar noch beträchtlich mehr besitzen, aber nachdem das Human-Genomprojekt die ersten Ergebnisse geliefert hatte, musste man diese Zahl erheblich nach unten korrigieren. Heute geht man eher von 35000 bis 40000 Genen aus - ungefähr genauso viele besitzt auch eine Graspflanze. Diese Erkenntnis war sowohl eine Überraschung als auch eine Enttäuschung.

Wohl jeder hat schon einmal davon gehört, dass man Gene häufig mit einer ganzen Reihe von Krankheiten in Verbindung bringt. Selbstbewusste Wissenschaftler behaupteten immer wieder, sie hätten die verantwortlichen Gene für Fettsucht, Schizophrenie, Homosexualität, Kriminalität, Gewaltbereitschaft, Alkoholismus und sogar für die Neigung zu Ladendiebstählen und Obdachlosigkeit gefunden. Vielleicht seinen Höhepunkt (oder Tiefpunkt) erreichte dieser blinde Glaube an die biologische Vorherbestimmtheit mit einer Untersuchung, die 1980 in dem Fachblatt Science erschien: Darin wurde behauptet, Frauen besäßen aus genetischen Gründen geringere mathematische Fähigkeiten. In Wirklichkeit, das wissen wir mittlerweile, ist die Sache fast nie so einfach und bequem.

In einem gewissen Sinn ist das schade: Gäbe es wirklich einzelne Gene, die über die Körpergröße, die Neigung zur Zuckerkrankheit, den Haarausfall oder andere charakteristische Merkmale bestimmen, dann wäre es auch einfach - jedenfalls relativ einfach -, sie zu isolieren und mit ihnen herumzuspielen. Leider aber reichen 35000 unabhängig voneinander arbeitende Gene bei weitem nicht aus, um die komplexen körperlichen Eigenschaften eines Menschen hervorzubringen. Die Gene müssen also in jedem Fall zusammenwirken. Einige Krankheiten -beispielsweise die Bluterkrankheit, Parkinson, die Huntington-Krankheit und Cystische Fibrose (Mukoviszidose) - sind tatsächlich jeweils auf die Fehlfunktionen eines einzigen, einsamen Gens zurückzuführen, aber in der Regel werden die defekten Gene von der natürlichen Selektion beseitigt, lange bevor sie für eine Spezies oder Population zu einem ernsten Problem werden können. Über unser Schicksal und unser Wohlbefinden - und sogar über unsere Augenfarbe -bestimmen größtenteils nicht einzelne Gene, sondern Gengruppen, die gemeinsam tätig werden. Das ist der Grund, warum man so schwer herausfinden kann, wie alles zusammenpasst, und warum wir in absehbarer Zeit keine Designerbabys herstellen werden.

Im Gegenteil: Je mehr man in den letzten Jahren herausfand, desto komplizierter wurde die Materie. Wie sich herausgestellt hat, wirkt sich sogar das Denken auf die Tätigkeit der Gene aus. Wie schnell der Bart eines Mannes wächst, hängt beispielsweise zum Teil davon ab, wie oft er an Sex denkt (weil sexuelle Gedanken einen Testosteronschub auslösen).40 Anfang der neunziger Jahre machte man eine noch folgenschwerere Entdeckung: Wenn man bei Mäuseembryonen angeblich lebenswichtige Gene ausschaltet, werden die Tiere in vielen Fällen nicht nur gesund geboren, sondern es geht ihnen manchmal sogar besser als ihren Geschwistern, deren Gene nicht manipuliert wurden. Zerstört man bestimmte wichtige Gene, treten andere an ihre Stelle und übernehmen die fehlende Funktion. Für uns als Lebewesen war das eine positive Erkenntnis, für die Aufklärung der Fehlfunktionen jedoch stellt es ein zusätzliches Hindernis dar: Bei Vorgängen, die wir bisher ohnehin erst ansatzweise verstehen, kam auf diese Weise eine weitere Komplexitätsebene hinzu.

Vor allem wegen solcher vielschichtigen Faktoren kann man in der Entschlüsselung des menschlichen Genoms eigentlich nur einen Anfang sehen. Eric Lander vom Massachusetts Institute of Technology sieht im Genom nur eine Liste von Einzelteilen des menschlichen Organismus: Es gibt Auskunft darüber, woraus wir bestehen, sagt aber nichts über die Art, wie wir funktionieren. Als Nächstes brauchen wir die Betriebsanleitung - Anweisungen, um den Apparat zum Laufen zu bringen. Und davon sind wir bisher noch weit entfernt.

Die nächste Aufgabe besteht nun darin, das Proteom des Menschen zu erforschen. Diese Vorstellung ist so neu, dass vor zehn Jahren noch nicht einmal der Begriff Proteom existierte. Er bezeichnet die Gesamtheit aller Informationen, die zur Herstellung von Proteinen dienen. »Leider ist das Proteom erheblich komplizierter als das Genom«, schrieb die Zeitschrift Scientific American im Frühjahr 2002.41

Und das ist noch vorsichtig ausgedrückt. Wie bereits erwähnt, sind Proteinmoleküle die Arbeitspferde aller lebenden Organismen; in einer Zelle dürften stets bis zu 100 Millionen von ihnen tätig sein. Dieses ganze Gewirr von Aktivitäten gilt es aufzuklären. Erschwerend kommt hinzu, dass Verhalten und Funktion von Proteinen im Gegensatz zu den Genen nicht einfach in ihrem chemischen Aufbau begründet liegen, sondern auch in der Form ihrer Moleküle. Damit ein Protein funktioniert, muss es nicht nur aus den erforderlichen, richtig zusammengesetzten chemischen Bausteinen bestehen, sondern es muss sich auch noch äußerst genau zu einer bestimmten Form zusammenfalten. Der Vorgang wird tatsächlich als »Faltung« bezeichnet, aber das ist ein wenig irreführend, denn es lässt an eine geometrische Ordnung denken, die es in Wirklichkeit nicht gibt. Proteinmoleküle bilden Schleifen, Spiralen und Falten, und daraus ergibt sich insgesamt eine eigenartige, höchst komplizierte Form. Sie ähneln eher einem zerknüllten Bettlaken als einem sauber gefalteten Handtuch.

Außerdem sind Proteine (wenn ich einmal einen nahe liegenden, altertümlichen Begriff gebrauchen darf) die Partylöwen der Biochemie. Je nach Stimmungslage und Stoffwechselverhältnissen umgeben sie sich mit Phosphatgruppen, Acetylgruppen, Ubiquitin, Farnesyl-gruppen, Sulfatgruppen, Verbindungen zu Glycophos-phatidylankern und vielem anderen.42 Damit sie in Gang kommen, reicht häufig schon ein kleiner Anlass. Wie der Scientific American feststellt, braucht man nur ein Glas Wein zu trinken, um in Zahl und Art der Proteine, die in unserem Organismus vorhanden sind, eine weit reichende Veränderung herbeizuführen.43 Für Genießer ist das angenehm, den Genetikern, die solche Vorgänge aufklären wollen, legt es aber einen weiteren Stein in den Weg.

Das alles mag hoffnungslos kompliziert wirken, und in mancherlei Hinsicht ist es das tatsächlich. Dahinter steht aber auch eine grundlegende Einfachheit, und die ist darauf zurückzuführen, dass Leben letztlich immer nach den gleichen Grundprinzipien funktioniert. Die vielen winzigen, nützlichen chemischen Vorgänge, die Zellen lebendig machen - die gemeinsame Tätigkeit der Nukleotide, die Transkription der DNA in RNA - sind in der Evolution nur einmal entstanden und seither in der ganzen Natur praktisch unverändert geblieben. Oder, wie der verstorbene französische Genetiker Jacques Monod es nur halb im Scherz formulierte: »Alles, was für E. coli gilt, muss auch für Elefanten gelten, nur noch stärker.« 44

Alle Lebewesen sind Ausprägungsformen eines einzigen, ursprünglichen Plans. Wir Menschen sind nur eine Steigerung - jeder von uns ist ein verstaubtes Archiv aus Abstimmungen, Anpassungen, Abwandlungen und zufälligen Veränderungen, das 3,8 Milliarden Jahre weit in die Vergangenheit reicht. Bemerkenswerterweise sind wir selbst mit Obst und Gemüse noch relativ nahe verwandt. Etwa die Hälfte der chemischen Prozesse, die in einer Banane ablaufen, gleichen grundsätzlich jenen in unserem eigenen Organismus.

Man kann es nicht oft genug wiederholen: Es gibt nur ein Leben. Das ist die tiefgreifendste Wahrheit, die wir jemals erkannt haben, und nach meiner Vermutung wird sie das auch immer bleiben.

Загрузка...