Vorher war der Briefträger gekommen und auf dem Hof dem alten Kapitän begegnet.
„Für mich etwas?“ fragte dieser.
„Nein.“
„Für wen sonst?“
„Für das gnädige Fräulein“, antwortete der Briefträger.
„Brief?“
„Ja.“
Marion befand sich bei Nanon und Madelon, als sie den Brief erhielt. Er trug den Poststempel Etain. Das befremdete sie, da sie dorthin keine Korrespondenz hatte. Aber die Erklärung kam sogleich, als sie ihn las. Ihr freudiges Lächeln verkündete den beiden andern, daß der Inhalt ein guter sei.
„Wißt Ihr, wo dieser Brief geschrieben wurde?“ fragte sie.
„Wie können wir das wissen?“ antwortete Nanon.
„Auf Schloß Malineau.“
„Wirklich? Ah! Von wem denn?“
„Hört!“
Sie las vor:
„Meine gute Marion!
Dir für Deine lieben Zeilen herzlich dankend, bin ich gezwungen, Dich um Entschuldigung zu bitten, daß ich Dir nicht eher geantwortet habe. Aber wir hatten so viel zu tun, daß mir das Schreiben zur Unmöglichkeit wurde.
Jetzt nun benutze ich die erste freie Viertelstunde, um Dir mitzuteilen, daß ich mit Großpapa auf Malineau angekommen bin, um die nächste Zeit hier zu verweilen.
Wäre es Dir nicht möglich, meine herzige Freundin, mir Deine Gegenwart zu schenken? Ich sehne mich so sehr nach Dir; ich habe Dir so viel zu erzählen, und nach Ortry zu kommen, das geht ja nicht. Du weißt, welche Furcht ich vor diesem alten, weißbärtigen Kapitän habe.
Also komm, komm recht bald. Auch Großpapa lädt Dich dringend ein, und mit größter Ungeduld erwartet Dich Deine
Ella von Latreau.“
Marion hatte noch das letzte Wort dieses Briefes auf den Lippen, da klopfte es höflich an, und Müller trat ein. Er sah den Brief in Marions Händen und sagte also:
„Ich störe. Entschuldigung! Ich würde mich sofort zurückziehen, aber ich komme mit einer Bitte, welche ich nicht gern aufschieben möchte.“
„Sie sind mir zu jeder Zeit willkommen, Herr Doktor“, antwortete Marion. „Sprechen Sie also die Bitte aus. Ich werde ja sehen, ob es sehr schwer ist, Ihnen die Erfüllung derselben zu gewähren.“
„Ich habe sie nicht an Sie, gnädiges Fräulein, sondern an diese beiden Damen zu richten.“
„Unter vier Augen?“
„Nein. Haben die beiden Demoiselles vielleicht Zeit, einen Spaziergang nach Thionville zu unternehmen?“
„Wann?“
„Allerdings sofort.“
„Was sollen wir dort?“ fragte Nanon.
„Doktor Bertrand erwartet Sie.“
„Bertrand? Sofort? Das muß eine wichtige Veranlassung haben, wie sich vermuten läßt.“
„Sie vermuten richtig.“
„Wissen Sie, was wir bei ihm sollen, und dürfen wir es erfahren?“
„Hm! Ich weiß das nicht genau. Ich denke vielmehr, daß ich jetzt nicht davon sprechen sollte.“
„Oh, dann ist es etwas Schlimmes!“
„Nein, nein, sondern im Gegenteil etwas sehr Erfreuliches.“
„Wirklich? Nun, dann dürfen Sie es uns auch sagen. Bitte, bitte, Herr Doktor!“
Er zuckte zögernd die Achsel. Aber Marion nahm sich der beiden Damen an, indem sie zu dem Schweigsamen sagte:
„Werden Sie auch zu mir so schweigsam bleiben, wenn ich Ihnen sage, daß ich sehr wißbegierig bin?“
„Wer kann da widerstehen, gnädiges Fräulein! Es handelt sich nämlich um das Geheimnis, welches die Abstammung dieser Damen umgibt.“
Sofort eilten Nanon und Madelon auf ihn zu. Die eine faßte ihn hüben und die andere drüben. Beide bestürmten ihn mit dem Verlangen, mehr zu sagen.
„Ich habe wohl bereits mehr verraten, als ich sollte“, meinte er.
„Wer hat Ihnen denn verboten zu sprechen?“
„Niemand.“
„Nun, so dürfen Sie ja reden.“
„Ich möchte Ihnen die Überraschung nicht verderben.“
„Wollen Sie etwa, daß wir unterwegs vor unbefriedigter Neugierde sterben?“
„Nein; so grausam bin ich freilich nicht.“
„Also bitte, bitte!“
„Nun, es hat sich eine Spur entdecken lassen, welche, wenn sie verfolgt wird, auf den Namen Ihres Vaters führt.“
„Unseres Vaters?“ fragte Madelon schnell. „Eine Spur von ihm? Wer hat sie gefunden?“
„Ein Maler, welcher – – –“
„Oh“, fiel Nanon schnell ein, „wohl der wunderbare kleine Dicke, welcher vom Baum stürzte?“
„Der wird es sein, Mademoiselle Nanon.“
„Warum kommt er nicht lieber hierher?“
„Er scheint sich, wie so viele andere, auch vor dem Herrn Kapitän zu fürchten. Er traf mich und hat mich gebeten, Ihnen seine Bitte mitzuteilen.“
„Dann müssen wir zu ihm! Schnell, schnell, Madelon!“
„Ich werde sogleich anspannen lassen“, meinte Marion.
„Bitte, nein, nicht anspannen“, bemerkte Müller.
„Warum nicht?“
„Ich habe Gründe, dem Herrn Kapitän noch nicht merken zu lassen, um was es sich handelt. Gehen Sie zu Fuß. Tun Sie so, als ob Sie einen einfachen Spaziergang unternehmen.“
„Und ich? Wenn ich doch mit dürfte!“
Die beiden Schwestern blickten Müller fragend an. Er nickte mit dem Kopf und antwortete:
„Die Angelegenheit soll für das gnädige Fräulein kein Geheimnis sein. Ich selbst werde auch kommen.“
„Sie auch? Da gehen wir alle vier zusammen.“
„Bitte, mich zu dispensieren! Ich möchte nicht haben, daß der Herr Kapitän mich mit Ihnen gehen sieht.“
„Aber unterwegs können Sie zu uns stoßen?“
„Vielleicht.“
„Dann schnell, Madelon! Komm, wir wollen rasch ein wenig Toilette machen!“
Die beiden Schwestern gingen. Marion legte Müller die Hand auf die Achsel und fragte zutraulich:
„Sie wissen noch mehr, als Sie sagten?“
„Vielleicht, gnädiges Fräulein.“
„Darf ich es wissen?“
Der Blick, den sie dabei auf ihn richtete, war so sprechend. Es lagen in ihm die Worte:
„Ich selbst würde dir alles, alles anvertrauen. Warum willst du Geheimnisse vor mir haben?“
„Ja, Ihnen will ich es sagen. Der Vater der beiden Damen scheint gefunden zu sein.“
„Mein Gott, welches Glück. Wo ist er?“
„In Thionville.“
„Kenne ich ihn?“
„Sehr gut. Er war Gast auf Ortry.“
„Wirklich? Wer? Wer?“
„Deep-hill.“
Sie trat erstaunt zurück. „Dieser – der?“ fragte sie.
„Ja.“
„Ein Amerikaner?“
„Er ist kein Amerikaner, sondern ein Franzose, sogar ein französischer Edelmann, ein Baron de Bas-Montagne.“
„Woher wissen Sie das?“
„Wir haben Freundschaft geschlossen.“
„Das ist allerdings eine Nachricht, welche die beiden Damen mit Entzücken erfüllen wird. Auch ich freue mich mit ihnen. Aber, da fällt mir ein, daß ich eine Frage an Sie richten muß.“
„Welche?“
„Bitte lesen Sie!“
Sie gab ihm den Brief, den sie soeben erhalten hatte. Als er ihn gelesen hatte, fragte sie:
„Soll ich diesen Besuch unternehmen?“
„Dieser Brief kommt ganz zur glücklichen Zeit.“
„Also soll ich?“
„Ja. Weiß der Kapitän davon?“
„Nein.“
„Sehr gut! Es kann nämlich notwendig werden, daß Sie Ortry verlassen, ohne ihm zu sagen, wohin Sie gehen. Lassen Sie also niemand etwas wissen.“
„Aber Madelon und Nanon wissen es bereits.“
„Sie werden wohl schweigen.“
„Warum aber läßt Doktor Bertrand diese beiden zu sich kommen? Sie wohnen ja hier und Deep-hill auch.“
„Dieser letztere nicht mehr.“
„Nicht? Ich habe ihn allerdings seit gestern nicht gesehen. Aber verabschiedet hat er sich nicht.“
„Es war ihm unmöglich. Er war gefangen.“
„Gefangen? Wo?“
„In den unterirdischen Kellern.“
„Herrgott! Wohl so, wie man mich einsperren wollte?“
„Ja, gerade in demselben Keller.“
„Aber warum?“
„Der Kapitän wollte ihm sein Geld abnehmen und ihn dann ermorden.“
„Jesus, mein Heiland! Wer hat ihn befreit?“
„Ich.“
„Sie und Sie und immer wieder Sie! Mir ist so angst. Ich befinde mich unter Teufeln! Herr Doktor, führen Sie mich aus dieser Hölle!“
„Wohin, gnädiges Fräulein?“
„Wohin Sie nur immer wollen.“
Sie blickte ihm voll und groß in die Augen. Es lag auf ihrem schönen Angesicht neben aller Angst ein so großes Vertrauen, daß er vor Dankbarkeit hätte vor ihr niederknien mögen. Er beherrschte sich aber und sagte:
„Ich bin ein armer Lehrer, gnädiges Fräulein. Wenn Sie des Schutzes bedürfen, so sind Mächtigere bereit, Ihnen denselben zu gewähren.“
Sie wendete sich ab. Hatte sie etwas anderes hören wollen? Es war fast, als ob sie ihm zürne. Aber bald drehte sie sich ihm wieder zu und sagte:
„Und doch ist es mir, als ob ich gerade unter Ihrem Schutz am Sichersten sein würde. Von Ihnen kommt alles, was hier gut und erfreulich ist. Ich möchte wetten, daß auch nur Sie den Vater Nanons auffanden.“
„Daß er der Vater ist, habe ich nicht geahnt. Zugeben aber will ich, daß er ohne mein Einschreiten eine Leiche sein würde.“
„Welch ein Glück, einen Vater zu finden! Herr Doktor, mir ist stets, stets so gewesen, als ob ich vaterlos sei. Ich kann diesem schwachsinnigen Mann, den ich doch Vater nennen muß, unmöglich die Liebe eines Kindes entgegenbringen. Und meine Mutter – – – tot! Zwar sagten sie, daß sie möglicherweise noch am Leben sei, aber – – –“
Sie stockte. Er hatte sich vorgenommen, ihr noch nichts zu sagen, aber in dem jetzigen Augenblick floß ihm das Herz über.
Er sagte:
„Ich pflege mir ein jedes Wort genau zu überlegen, gnädiges Fräulein!“
„Das weiß ich; aber dennoch sind Sie dem Irrtum unterworfen. Sie irren sich!“
„Diesmal nicht.“
„Wie, Sie wollen wirklich behaupten, daß Liama, meine Mutter, noch lebe?“
„Ich behaupte es noch jetzt.“
„Sie müssen sich irren!“
„Nein. Ich sage Ihnen sogar, daß Sie dieses Schloß nicht ohne Ihre Mutter verlassen werden.“
Ihre Augen wurden größer, und ihre Wangen entfärbten sich. Es war ihr, als ob sie einen Geist erblicke.
„Herr Doktor“, stieß sie hervor, „was soll ich von diesen Worten denken?“
„Daß sie wahr sind. Ihre Mutter lebt. Sie selbst haben sie gesehen.“
„Damals am alten Turm? Das war ihr Geist.“
„Nein. Sie war es selbst. Ich kann es Ihnen beweisen.“
„Wie denn? Wie?“
„Wollen Sie Ihre Mutter sehen?“
„Ich begreife Sie nicht!“
„Nehmen Sie das, was ich sage, ganz wörtlich. Ich habe mit Liama gesprochen.“
„Herrgott! Ist's wahr? Wann?“
„Als der Kapitän krank war. Die Krankheit kam von mir, gnädiges Fräulein.“
„Wieso?“
„Ich gab ihm Tropfen, welche ihn für diese kurze Zeit an das Lager fesselten. Dadurch gewann ich Muße, in seine Geheimnisse einzudringen.“
„Herr Doktor, Sie sind ein rätselhafter, vielleicht ein fürchterlicher Mensch, und doch habe ich ein so unendliches Vertrauen zu Ihnen.“
„Bitte, halten Sie es fest. Ich werde es nie, nie täuschen. Ich habe während der Krankheit des Kapitäns nach Liama gesucht und sie gefunden.“
„Lebend, wirklich lebend?“
„Ich sagte bereits, daß ich mit ihr gesprochen habe.“
Marion ließ sich ganz kraftlos auf einen Sessel nieder.
„Was höre ich da?“ sagte sie leise. „Träume ich, oder ist es wirklich Wahrheit?“
„Es ist die Wahrheit.“
„Aber wie kann sie leben, da sie doch begraben worden ist! Wer könnte eine solche Täuschung wagen?“
„Der Kapitän.“
„Aus welchem Grunde?“
„Das ist mir noch ein Rätsel, das ich aber hoffentlich noch ergründen werde.“
„Ich muß mich fassen. Ich bin meiner Sinne kaum mächtig; aber ich will ruhig und objektiv sein. Sagen Sie, wo sich Liama befindet!“
„In einem Gewölbe unter ihrem Grab.“
„Dort haben Sie sie gesehen?“
„Und mit ihr gesprochen.“
„Fragte sie nach mir?“
„Ja.“
„Mein Jesus! Wollte sie mich nicht sehen?“
„Nein. Sie hat geschworen, tot zu sein und auf ihr Kind zu verzichten.“
„Ist das wahr?“
„Ja.“
„Dann ist sie es nicht; dann ist es eine andere!“
„Warum?“
„Kann eine Mutter auf ihr Kind verzichten? Kann eine Mutter sich zu etwas hergeben, was man nicht anders als Betrug und Schwindel nennen muß? Kann sie sich dazu hergeben und obendrein ihr Kind verlassen?“
„Ja.“
Dieses Wort war mit so fester Betonung gesprochen, daß sie rasch zu ihm aufblickte.
„Welcher Ton!“ sagte sie. „Ich bin überzeugt, daß auch Sie einer liebenden Mutter eine solche Tat nicht zutrauen. Habe ich recht, Herr Doktor?“
„Sie haben unrecht. Gerade weil es eine liebende Mutter war, hat sie sich dazu bestimmen lassen.“
„Können Sie das erklären?“
„Ja. Liama ist verschwunden, um ihr Kind zu retten. Der Kapitän hat ihr gedroht, dieses Kind zu töten, wenn sie ihm nicht gehorche. Sie hat ihm Gehorsam geleistet, um ihr Kind zu retten. Um es nicht noch jetzt in Gefahr zu bringen, verzichtet sie auch, ihr Kind gegenwärtig zu sehen, obgleich all ihr Denken an demselben hängt.“
Da sprang Marion von ihrem Sitz auf. Ihre Augen glühten wie Irrlichter. Ihre Stimme klang fast heiser, als sie sagte:
„Herr Doktor, Sie wissen, wie sehr ich Ihnen vertraue. Ich schwöre darauf, daß Sie mir nie eine Unwahrheit sagen werden, und dennoch frage ich Sie noch einmal: Irren Sie sich nicht? Haben Sie wirklich mit Liama gesprochen?“
„Ich entsage dem Himmel und der Seligkeit, wenn ich mich geirrt habe! Glauben Sie mir nun?“
„Ja, ja, nun glaube ich es! Es ist entsetzlich! Meine Mutter, meine arme, arme Mutter! Aber ich werde sie rächen, so fürchterlich, wie das Verbrechen ist, welches man an mir und ihr verübt hat. Herr Doktor, darf ich sie sehen?“
„Sie will nicht!“
„Aber ich, ich will sie sehen!“
„Ich gehorche.“
„Wann also?“
„Heute abend. Können Sie um Mitternacht das Schloß verlassen, ohne bemerkt zu werden?“
„Wenn ich es will, so kann ich es. Wissen Sie, was ich tun werde?“
„Ich ahne es.“
„Nun?“
„Sie werden mit Liama von Ortry fortgehen?“
„Nein. Ich werde mit Liama in Ortry bleiben. Ich werde die Polizei der ganzen Umgegend in die Gänge dieses Schlosses führen; ich werde – – – ah, was werde ich tun! Ich weiß es selbst noch nicht!“
Sie befand sich in einer unbeschreiblichen Aufregung. Und gerade jetzt kehrten die beiden Schwestern zurück.
„Schweigen Sie!“ raunte Müller ihr leise zu; dann entfernte er sich.
Als kurze Zeit später die drei Damen die Freitreppe hinabstiegen, kam der alte Kapitän gerade aus dem Stall. Er trat ihnen entgegen und fragte: „Du hat einen Brief bekommen?“
„Ja.“
„Von wem?“
„Von der Person, die ihn geschrieben hat!“
Diesen Ton hatte er von ihr noch nicht gehört, trotzdem sie sich in letzter Zeit öfters so kampfbereit gezeigt hatte. Und so hatten auch ihre Augen ihn noch nicht angeblitzt wie jetzt. Das war nicht allein Haß; das war eine förmliche Herausforderung. Er aber war nicht der Mann, sich in dieser Weise abweisen zu lassen. Er sagte:
„Das versteht sich ganz von selbst. Eine solche Antwort mußt du einem Kind oder einem Irrsinnigen geben, aber nicht mir. Ich frage: Woher ist der Brief?“
„Du wirst ihn kontrolliert haben!“
„Nein. Ich bin ja überzeugt, daß du es sagen wirst!“
„Du hast seit Kurzem immer Überzeugungen, welche sich später als hinfällig erweisen.“
Sie wendete sich ab. Er faßte sie am Arm.
„Halt! Wohin?“
Da schleuderte sie seinen Arm von sich und antwortete:
„Das geht Sie nichts an, Herr – – – Richemonte!“
Sie ging, an ihrer Seite die beiden Schwestern. Er war wie an die Stelle gebannt; es schien ihm unmöglich, ein Glied zu bewegen. In seinem Innern kochte es. Der Atem wollte ihm versagen. Nur mit Mühe stöhnte er vor sich hin:
„Ich ersticke! Was war das? Dieses Verhalten! Diese Worte! Diese Blicke! Was ist heute mit ihr? Sie muß eine Waffe gegen mich gefunden haben, sonst würde sie so einen Widerstand unmöglich wagen! Sie hat etwas vor! Wohin geht sie? Ich muß es erfahren!“
Er rief den Stallknecht.
„Hast du die Damen gehen sehen?“ fragte er.
„Ja.“
„Wohin haben sie sich gewendet?“
„Nach dem Wald.“
„Du schleichst ihnen nach, um zu erfahren, wohin oder zu wem sie gehen! Aber wenn du es so dumm anfängst, daß sie dich bemerken, jage ich dich zum Teufel!“
Damit wendete er sich ab und suchte sein Zimmer auf. In demselben schritt er ruhelos auf und ab. Die Minuten wurden ihm zu Ewigkeiten. Endlich kam der Knecht zurück.
„Kerl, wo treibst du dich herum?“ herrschte ihn der Alte an. „Du mußt doch längst wissen, wohin sie sind!“
„Nach Thionville ist es weit, Herr Kapitän!“
„Ah, nach der Stadt sind sie?“
„Ja.“
„Du bist ihnen gefolgt?“
„Ja. Sie wollten doch wissen, zu wem sie gehen würden.“
„Nun, zu wem?“
„Zu Doktor Bertrand.“
„Schön! Es ist gut!“
Er wandte sich ab, zum Zeichen, daß der Knecht sich entfernen solle. Dieser sagte aber:
„Noch eins, Herr Kapitän!“
„Nun?“
„Wissen Sie, von wem die Damen erwartet wurden?“
„Du hast es einfach zu melden, aber nicht mir Rätsel aufzugeben! Verstanden?“
„Der Maler stand am Fenster.“
„Welcher Maler?“
„Der mit dem Grafen von Rallion kam. Ich habe mir den Namen nicht merken können.“
„Haller?“
„Ja, Haller hieß er!“
„Unsinn. Dieser Maler ist weit, weit weg von hier.“
„Er ist da, in Thionville, bei Doktor Bettrand. Er stand am offenen Fenster und begrüßte die Damen von Weitem.“
„Mensch, du irrst dich!“
„Ich kann es bei allen Heiligen beschwören!“
„Wenn Haller wirklich nach Thionville käme, so wäre ich der erste, den er aufsuchte.“
„Aber er war es wirklich!“
Jetzt war es doch unmöglich, länger zu zweifeln. Was war das? Haller zurück, ohne zu ihm zu kommen? Das Verhalten Marions, welche vorher einen Brief erhalten, aber den Schreiber verheimlicht hatte? War dieser Brief von Haller, dem eigentlichen Grafen Lemarch? Hatte er sie darin zu Bertrand bestellt? Weshalb? Das mußte untersucht werden.
„Spanne sogleich an!“ befahl er.
Als er dann in den Wagen stieg, herrschte er dem Kutscher die Worte zu:
„Nach Thionville! Bei Doktor Bertrand halten!“
Er konnte nicht wissen, daß der Stallknecht den Pflanzensammler für den vermeintlichen Maler Haller gehalten hatte, welche beide sich ja außerordentlich ähnlich waren. –
Als vorher Fritz Schneeberg mit dem Amerikaner die Stadt erreicht hatte, bat er diesen, zu Bertrand zu gehen. Er selbst werde sich nach dem Maler umsehen. Deep-hill ging direkt nach dem Zimmer, welches Emma von Königsau bewohnte. Er klopfte leicht an, und als er dann auf ihren Zuruf eintrat, sprang sie mit einem halblauten Ruf freudiger Überraschung von ihrem Sitze auf.
„Monsieur Deep-hill! Ah! Wieder hier?“
„Um Ihnen zu zeigen, daß ich unversehrt bin“, fügte er hinzu, ihr weißes Händchen küssend.
„Wo aber waren Sie?“
„In Gefangenschaft.“
„Unmöglich!“
„O doch“, nickte er, indem er Platz nahm.
„Aber die Polizei kann doch nicht einen solchen Fauxpas begehen, einen Mann wie Sie in Gewahrsam –“
„Die Polizei? O nein, die war es nicht. Ich befand mich in den Händen eines bodenlos niederträchtigen Schurken.“
„Wer ist er?“
„Kapitän Richemonte.“
„Ah! Was wollte er bezwecken?“
„Mir einige Millionen abnehmen und dann mich jedenfalls zu meinen Vätern versammeln.“
„Ist's möglich?“
„Ja. Sie kennen diesen Menschen ja zur Genüge.“
„Ich?“ fragte sie, ihm mit dem Ausdruck der Spannung in das Gesicht sehend.
„Ja, Sie, die Sie seine Feindin sind“, lächelte er.
„Wie kommen Sie zu dieser Annahme?“
„Auf dem einfachsten Wege: Ihr Herr Bruder hat es mir mitgeteilt.“
„Mein Bruder – – –“
„Ja. Bitte, beunruhigen Sie sich nicht, gnädiges Fräulein. Er hat mir anvertraut, daß Sie ebenso inkognito, oder Pseudonym hier sind wie er.“
Sie war natürlich verlegen geworden.
„Ich weiß nicht, welche Deutung ich Ihren Worten zu geben habe, Herr Deep-hill“, stieß sie hervor.
„Es ist mir sehr erklärlich, daß sie sich durch meine Worte befremdet fühlen. Aber was ich seit gestern erlebt habe, hat mich Ihrem Herrn Bruder so nahe gebracht, daß er Vertrauen zu mir gefaßt hat. Sie sind keine Engländerin.“
„Was sonst?“
„Eine Preußin.“
„Mein Gott! Welche Unvorsichtigkeit.“
„Bitte, erschrecken Sie nicht. Ich habe beinahe auch Lust, ein Preuße zu werden.“
„Hat er Ihnen auch unseren wirklichen Namen genannt?“
„Er hat mir die Geschichte Ihrer Familie erzählt, doch ohne einen Namen zu nennen.“
„So will ich ihm allein die Verantwortung lassen.“
„Es trifft ihn nichts derart. Ich bin sein Freund. Ich weiß, was er hier will, aber ich werde ihn nicht verraten. Er hat mich vom Tod errettet.“
„Er?“
„Ja, er und dieser brave Fritz Schneeberg, welcher jetzt in der Stadt herumläuft, um einen Menschen zu suchen, von welchem ich niemals geglaubt hätte, daß er mir nützlich werden könne.“
„Wen?“
„Den dicken Maler, welcher die Zaunlatten abbrach.“
„Schneffke? Was soll er?“
„Zu Ihnen kommen. Da habe ich wirklich vergessen, Ihnen sogleich die Hauptsache mitzuteilen. Man will sich nämlich bei Ihnen ein Rendezvous geben. Ich muß bitten, die Schuld nicht auf mich zu werfen. Ihr Herr Bruder hat dieses Arrangement entworfen.“
„Wer soll kommen?“
„Er, ich, Schneeberg, Schneffke und die Damen Nanon und Madelon von Schloß Ortry.“
„Eine wahre Volksversammlung! Zu welchem Zweck?“
„Die eigentliche Veranlassung bietet meine Person. Ich muß annehmen, daß Ihnen meine Verhältnisse unbekannt sind, gnädiges Fräulein.“
„Ich weiß, daß Sie Deep-hill heißen und Bankier in den Vereinigten Staaten sind.“
„Deep-hill ist die wirkliche Übersetzung meines französischen Namens. Eigentlich nenne ich mich Baron Gaston de Bas-Montagne. Ich vermählte mich mit einer Deutschen, welche mich während meiner Abwesenheit verließ und die beiden Kinder, zwei herzige kleine Mädchen, mit sich nahm. Ich habe lange, lange Jahre nach ihr gesucht, sie aber nicht gefunden. Heute nun erfahre ich, daß sie gestorben ist, daß aber die beiden Mädchen noch leben.“
Sie hatte ihm mit Teilnahme zugehört und fragte nun: „Wer brachte Ihnen diese Nachricht?“
„Ihr Herr Bruder.“
„Von wem mag er das haben?“
„Von Schneeberg oder Schneffke.“
„Wunderbar! Ich gönne Ihnen von ganzem Herzen das Glück, die Kinder noch am Leben zu wissen; aber man muß da sehr vorsichtig sein. Sind Beweise vorhanden?“
„Man will sie mir bringen.“
„Und wo sind die Kinder?“
„Jetzt in Ortry.“
„Was? Wie? In Ortry?“
„Ja. Der Herr Doktor Müller gab mir die Versicherung.“
„Wer mag das sein?“
„Oh, wenn Sie es hören, werden Sie sich wohl förmlich bestürzt fühlen.“
„Ist es denn gar so schrecklich?“ fragte sie lächelnd.
„Schrecklich nicht, aber – ahnen Sie denn nichts?“
„Wie könnte ich ahnen? Ich bin in Ortry nicht bekannt.“
„Aber grad die beiden Betreffenden kennen Sie.“
„Wohl kaum.“
„Ganz gewiß sogar. Bitte gnädiges Fräulein, denken Sie nach, zwei Schwestern – auf Ortry jetzt.“
Sie schüttelte langsam den Kopf.
„Wie alt?“ fragte sie dann.
„Achtzehn.“
Da hob sie den Kopf schnell empor. Glühende Röte bedeckte ihr Gesicht. Es war, als ob sie erschrocken sei.
„Doch nicht – etwa – Nanon und Madelon?“ fragte sie.
„Ja.“
„Das sind Ihre Töchter?“
Sie war außerordentlich bewegt. Sie trat an das Fenster und blickte stumm hinaus. Er sah, wie ihr Busen auf und nieder wogte, und das gab ihm einen Stich in das Herz. Er sah sehr jung aus. Er war auch eigentlich nicht alt; er hatte nur früh geheiratet. Er hatte gehofft, das Herz dieser Miß de Lissa zu gewinnen, und nun –? Schämte sie sich, dem Vater so großer Töchter, von denen sie die eine sogar Freundin nannte, ihre Teilnahme gezeigt zu haben?
Da drehte Miß de Lissa sich langsam wieder um. Ihr Gesicht war ernst, aber ruhig, und ihre Stimme klang vollkommen klar, als sie, ihm die Hand reichend, sagte:
„Ich gönne es Ihnen von ganzem Herzen, die Langverlorenen wiederzufinden. Beide sind wert, die Töchter eines solchen Mannes zu sein. Ich wünsche jedoch, daß sich Ihre Hoffnung nicht als trügerisch erweise.“
„Ich befinde mich in einer Spannung, in einer Aufregung, von welcher Sie keine Ahnung haben, gnädiges Fräulein.“
„Das läßt sich denken. Wissen die beiden Damen vielleicht bereits davon?“
„Bisher wohl nicht; aber es ist möglich, daß Herr Doktor Müller, welcher sie holen will, Ihnen mitteilte, warum sie zu Ihnen kommen sollen.“
„Warum begaben Sie sich nicht nach dem Schloß?“
„Eben der Herr Doktor riet mir davon ab. Ich sollte von dem Kapitän nicht gesehen werden.“
„Ach so! Dieser soll noch nicht wissen, daß Sie ihm entkommen sind?“
„So ist es.“
„Wie aber gerieten Sie in seine Gewalt?“
„Durch Verrat von seiner und Unvorsichtigkeit von meiner Seite. Darf ich Ihnen erzählen?“
„Ich bitte sogar darum!“
Er begann, ihr zu berichten, was geschehen war, seit er sie gestern verlassen hatte. Dann klopfte es, und Fritz trat ein.
„Nun?“ fragte Emma. „Wo ist der Maler?“
„Ich konnte nur ausfindig machen, wo er wohnt; zu treffen war er nicht. Ich habe aber anbefohlen, ihn sofort, sobald er zurückkehrt, nach hier zu schicken.“
Er erhielt einen Stuhl angewiesen, und nachdem er Platz genommen hatte, fragte ihn Deep-hill:
„Sie kennen also die beiden Schwestern genauer?“
„Nanon war mir bereits längere Zeit bekannt; Madelon aber sah ich erst vor Kurzem hier das erstemal.“
„Haben Sie sich öfters getroffen?“
„Zufällig, bei Spaziergängen. Kürzlich starb ihr Pflegevater. Sie reiste mit der Schwester zu seinem Begräbnis. Sie wollte diese Reise nicht ohne Schutz unternehmen, und da wurde mir die Ehre zuteil, die Damen begleiten zu dürfen.“
„War denn Gefahr zu befürchten?“
„Ja. Diese Befürchtung hat sich dann auch als sehr begründet bewiesen.“
„Was ist geschehen?“
„Wir haben ein kleines Abenteuer erlebt, welches ich Ihnen, bis der Maler kommt, erzählen kann.“
Er begann seinen Bericht, hatte denselben aber noch nicht bis zu Ende gebracht, als er durch einen sehr lauten Wortwechsel gestört wurde, welcher unten auf der Treppe in französischer Sprache geführt wurde.
„Nein! Sie dürfen nicht!“ rief eine Stimme. „Ich verbiete es Ihnen, Monsieur!“
„Mir verbieten? Du? Wurmsamenhändler, der du bist?“
„Pack dich zum Teufel!“ antwortete eine zweite Stimme.
„Es soll kein Fremder hinauf!“
„Ich bin kein Fremder, mein lieber Latwergenmeister!“
„Sie haben herabzugehen und das Haus zu verlassen!“
„Scher dich zu deinen Pillen, holder Salmiakgeist, sonst werfe ich dich zur Bude hinaus.“
„Das wollen wir sehen, Sie Grobian!“
„Pah! Ich stecke dich in eine Klistierspritze und spritze dich hinauf an die Turmuhr, damit du erfährst, welche Zeit es ist, wenn ich beginne, in die Wolle zu geraten!“
„Das ist der dicke Maler“, sagte Fritz. „Ich werde ihn hereinlassen.“
Er öffnete die Tür.
„Herr Schneffke! Kommen Sie!“
„Gleich. Aber darf ich nicht vorher erst diesen Weinsteinsäureheinrich in die Westentasche stecken?“
„Bitte, lassen Sie ihm seine Freiheit.“
„Schön! Er mag diesmal noch mit einem blauen Auge davonkommen. Das nächste Mal sorge ich dafür, daß noch weit mehr blau wird als nur sein Auge.“
Er trat ein und verbeugte sich vor Emma.
„Ihr Diener, Miß! Soll ich mich wieder einmal zu Ihren Füßen legen?“
„Ich danke! Nehmen Sie lieber Platz wie gewöhnliche Leute.“
„Das fällt mir schwer. Ich bin leider nur zu Ungewöhnlichem geboren. Ergebenster Monsieur Deep-hill! Ist der Zaun bereits ausgebessert worden?“
„Ich werde nachsehen.“
„Schön! Wie ich höre, bin ich gesucht worden?“
„Hat man es Ihnen im Gasthof gesagt?“ fragte Fritz.
„Nein.“
„Von wem haben Sie es denn erfahren?“
„Von Herrn Doktor Müller.“
„Von dem? Waren Sie denn in Ortry?“
„Nein.“
„Wo denn?“
„Im Loch.“
„Im Loch? In welchem Loch?“
„Ja, da haben Sie schon wieder einen Beweis, daß ich nur zu Ungewöhnlichem geboren bin. Ich war draußen im Wald und brach in den Erdboden ein, ziemlich tief hinab. Ich befand mich in einem unterirdischen Gang. Da kam der Herr Doktor und half mir heraus. Bei der Gelegenheit erfuhr ich, daß ich erwartet werde. Ich eilte mit der Geschwindigkeit eines Kurierzuges hierher, traf aber unten den gelehrten Apothekerjüngling, welchen ich bereits von früher ins Herz geschlossen hatte. Es wäre zu einem Duell mit beiderseits tödlichem Ausgang gekommen, wenn nicht Sie, Herr Schneeberg, uns gerettet hätten.“
„Sie sind unverbesserlich.“
„Diese hohe Tugend besitze ich bereits seit langer Zeit.“
„Wie konnten Sie denn aber in ein Loch fallen.“
„Wie? Sapperment! So, wie man in ein Loch zu fallen pflegt: Mit dem schwersten Körperteil nach unten.“
Die Anwesenden lachten, und zugleich winkte Fritz, welcher am offenen Fenster stand, mit der Hand nach der Straße.
„Sie kommen“, meldete er.
„Sind sie allein?“ fragte der Amerikaner erregt.
„Fräulein Marion ist mit.“
„Der Herr Doktor nicht?“
„Nein.“
Die drei Damen traten ein und wurden herzlich begrüßt. Marion hatte den Schwestern nichts verraten, dennoch herrschte eine Stimmung, wie sie vor einer wichtigen Entscheidung unausbleiblich ist. Man war gespannt, fühlte sich gepreßt und sogar verlegen.
Bald kam auch Müller. Er wendete sich sofort an Marion:
„Hatten Sie vor Ihrem Fortgehen vielleicht eine Unterredung mit dem Kapitän, gnädiges Fräulein?“
„Ja.“
„Unfreundlich?“
„Noch mehr als das.“
„Sagten Sie ihm, wohin Sie gehen wollten?“
„Nein.“
„Nun, er wird es dennoch sehr schnell erfahren. Ich war eher da als Sie und trat mit Überlegung da drüben in die Restauration. Dort beobachtete ich den Stallknecht von Ortry, welcher aufpaßte. Der Kapitän hat ihn geschickt, es steht vielleicht gar zu erwarten, daß er selbst nachkommen wird.“
„Wozu?“
„Vielleicht malt ihm sein böses Gewissen vor, daß hier etwas ihm feindseliges besprochen werden soll. Das will er unterdrücken.“
„Darf er mich da sehen?“ fragte Deep-hill.
„Und mich?“ fügte Schneffke hinzu.
„Das kommt auf die Umstände an“, antwortete Müller. „Mich aber darf er keineswegs zu Gesicht bekommen. Und stellt er sich wirklich ein, so gehen sämtliche Herren in das Nebenzimmer. Auf sein Verhalten wird es dann ankommen, wie Mademoiselle zu handeln hat. Fritz, bleib am Fenster, um aufzupassen!“
Als dann auch er Platz genommen hatte, sah er sich lächelnd im Kreis um und sagte:
„Meine Herrschaften, ich habe diesen beiden Damen mitgeteilt, daß sie hier vielleicht in Beziehung auf ihre Geburtsverhältnisse eine Neuigkeit hören werden. Herr Schneffke, wollen Sie die Güte haben, zu beginnen!“
„Hm!“ brummte der dicke Maler. „Beginnen? Bei was soll ich anfangen?“
„Sprechen Sie ganz nach Belieben.“
„Nun, da will ich bei dem wichtigen Augenblicke beginnen, an welchem ich mich den Damen und Herrn Schneeberg abends in Etain vorstellte.“
„Dieser Augenblick soll höchst dramatisch gewesen sein“, lachte Müller.
„Entschuldigung! Ich bin stets dramatisch, nicht nur an einem vorübergehenden Augenblick! Eigentlich für die Bühne geboren, habe ich mir mein Dasein mit den Brettern beschlagen, welche die Welt bedeuten. Ich bin der Dichter meines eigenen Lebens und spiele dieses Stück zu meinem eigenen Vergnügen. Trollgäste und Leute mit Freibillets werden geduldet. Abonnements aber dulde ich nie! Also, Herr Doktor, wenn jener große Augenblick an der Tür und auf der Treppe des Hotels zu Etain Ihnen vielleicht zu dramatisch erscheint, so beginne ich bei etwas anderem, bei dem Wichtigsten, nämlich bei der Gage. Nicht wahr, Mademoiselles, Ihre Mutter ist arm gestorben?“
„Ja“, antwortete Nanon.
„So haben Sie gedacht. Aber sie hat dem Schurken Berteu fünfzehntausend Franken geborgt. Sein Sohn mag sie Ihnen zurückgeben.“
„Woher wissen Sie das, Monsieur?“
„Die Anweisung steckt im Pastellbild. Nämlich, Monsieur Deep-hill, ist Ihnen vielleicht der berühmte Porzellanmaler Merlin in Marseille bekannt gewesen?“
„Sehr gut. Er war weit älter als ich, aber mein Freund.“
„Hat er etwas für Sie gemalt?“
„Mein Porträt in Pastellmanier.“
„Das M, sein Faksimile, steht unten in der Ecke?“
„Gewiß.“
„Und auf der hinteren Seite des Bildes steht ‚Baron Gaston de Bas-Montagne‘?“
„So ist es; so ist es! Haben Sie dieses Bild gesehen?“
„Ja. Es war etwas veraltet, und ich habe es nach Kräften aufgefrischt. Ich werde Ihnen zeigen, wie Ihre Figur gehalten ist.“
Er nahm Papier und Bleistift vom Schreibtisch, zeichnete mit größter Gewandtheit eine Figur und reichte sie dem Amerikaner hin.
„Ist es so?“
„Ja, ja“, antwortete Deep-hill. „Sie haben dieses Bild gesehen. Aber wo? Wo?“
„Auf Schloß Malineau bei Etain. Aber noch ein zweites Porträt, Monsieur, wenn Sie gestatten.“
Er nahm ein zweites Blatt und zeichnete. In kaum zehn Minuten war er fertig und gab auch dieses Blatt dem Amerikaner.
Dieser stieß einen Ruf der Überraschung aus.
„Meine Frau, meine Frau! Amély, mein lieber, süßer Kolibri! Sie ist's, sie ist's!“
Er drückte das Blatt in größter Aufregung an seine Lippen, wurde aber in demselben Augenblick von vier weichen Mädchenarmen umschlungen.
„Vater, Vater, lieber Vater!“ Mit diesem Ausruf schmiegten die beiden Schwestern sich an seine Brust. Er zog sie fester an sich und rief:
„Es ist kein Zweifel; es bedarf keines weiteren Beweises. Unsere Herzen haben gesprochen. Ihr seid meine Kinder! Gott, Gott, ich danke dir!“
Er weinte laut, seine beiden Töchter ebenso, und auch kein anderes Auge blieb tränenleer. Es bedurfte einer ganzen Weile, bis der Sturm der Aufregung sich legte, dann fragte Deep-hill:
„Monsieur Schneffke, daß Sie mein Bild zeichnen können, das begreife ich, da Sie mein Porträt gesehen haben; aber wie kommen Sie dazu, auch meinen Kolibri zeichnen zu können?“
„Ich fand das Porträt Ihrer Frau bei einem Bekannten.“
„Was ist er?“
„Sonderling.“
„Er muß doch einen Beruf haben.“
„Ja. Er ist von Beruf nämlich Quälgeist. Das heißt, er macht sich und anderen das Leben so sauer wie möglich. Am besten ist's, ich zeichne Ihnen seinen Kopf.“
Sein Stift fuhr über ein drittes Blatt, und als dann Deep-hill die Zeichnung betrachtete, rief er aus:
„Mein Vater, mein Vater! Zwar um vieles älter, aber er ist es! Ich habe lange, lange Jahre nach dem Vater, nach Weib und Kindern gesucht, ohne nur eine Spur zu finden, und Sie, Monsieur Schneffke, wissen alles. Wie haben Sie das angefangen?“
„Beim richtigen Zipfel. Hören Sie!“
Er begann zu erzählen, von Anfang bis zu Ende: aber er sagte nicht, daß der Vater des Amerikaners in Berlin wohne und nannte auch dessen jetzigen Namen nicht. Als er mit seiner Anwesenheit auf Schloß Malineau zu Ende war, sagte Müller:
„Mein bester Schneffke, ich habe Ihnen sehr Unrecht getan, als ich Ihnen heute da unten im Loch etwas scharf entgegentrat. Sie sind ein tüchtiger Junge!“
„Ein prachtvoller Mensch!“ fügte Deep-hill hinzu. „Sie haben mit einer Umsicht gehandelt, welche Ihnen alle Ehre macht. Ihnen allein habe ich es zu verdanken, daß ich meine Kinder sehe und auch den Vater finden werde.“
„Mir allein? Unsinn! Übertreiben Sie nicht! Diesen beiden Damen haben Sie es zu verdanken, daß Sie sie haben. Wenn sie nicht mehr lebten, wäre mein ganzer berühmter Scharfsinn der reine Quark!“
„Sie sind bescheiden! Aber, Herr, ich bin Millionär; wenden Sie sich in jeder Lebenslage an mich!“
„Das werde ich bleiben lassen. Ich habe, was ich brauche. Aber, Herr, ich bin Maler; wenden Sie sich in jeder Körperlage an mich! Ich male Sie von allen Seiten, sogar von unten, wenn Sie es wünschen.“
Alle lachten, nur der Maler allein blieb ernsthaft.
„Aber“, wendete sich der Amerikaner an ihn, „Sie haben noch gar nicht gesagt, wie mein Vater sich jetzt nennt. Er muß seinen Namen verändert haben, sonst hätte ich ihn gefunden.“
„Er hat ihn nicht verändert, sondern ihn nur, ganz so wie Sie, in eine andere Sprache übersetzt, nämlich in die deutsche. Er nennt sich Untersberg.“
„So wohnt er in Deutschland und ist doch Deutschenhasser fast bis zum Übermaß!“
„Das wird einen Grund haben, den ich ahne, einen psychologischen Grund.“
„Welchen?“
„Er war Deutschenfeind. Sie heirateten eine Deutsche. Er verstieß Sie deshalb. Er machte Ihre Frau unglücklich. Er trieb sie mit den Kindern in die Fremde hinaus. Er schilderte sie Ihnen als treulos!“
„Ja, das tat er.“
„Aber er war doch immer Mensch. Er hatte ein Herz, ein Gewissen. Die Reue kam, je später desto gewaltiger. Der Sohn war fort, Weib und Kinder auch. Er konnte nichts wiedergutmachen; darum legte er sich wenigstens die eine Buße auf: Er verließ Frankreich und ging nach Deutschland. Er lernte die verhaßte Sprache dieses Landes und wurde Einsiedler, um auf die Vorwürfe seines Gewissens Tag und Nacht ungestört hören zu können.“
„Einsiedler? Lebt er so in der Abgeschiedenheit?“
„O nein. Er lebt in einer großen Stadt.“
„In welcher?“
„Hm. Werden Sie ihn aufsuchen?“
„Das versteht sich ganz von selbst. Er hat schlimm an mir gehandelt, aber er ist mein Vater. Wir werden ihm vergeben, nicht wahr, meine Kinder?“
Die beiden Mädchen nickten ihm freudig zu; dann setzte er seine Erkundigung fort:
„Also in welcher Stadt?“
„In Berlin.“
„Wie lautet seine Adresse? Welche Straße und auch welche Nummer, Herr Schneffke?“
„Halt, halt! Das geht nicht so schnell wie das Bretzelbacken. Man muß hier vorsichtig sein. Wann wollen Sie hin zu ihm?“
„Morgen fahren wir nach Schloß Malineau, um mit Monsieur Melac zu sprechen. Sodann geht es gleich nach Berlin, direkt vom Bahnhof zum Vater.“
„Sachte, sachte. Der würde Sie hinausschmeißen, gerade wie meinen Freund, den Maler Haller.“
„Maler Haller?“ fragte Müller schnell. „Kennen Sie denn diesen Herrn?“
„Oh, sehr gut.“
„Wo lernten Sie ihn kennen?“
„Bei einer Schlittenpartie im Tharandter Wald.“
„Warum“, fragte Bas-Montagne, „warum glauben Sie denn, daß mein Vater uns nicht empfangen wird?“
„Weil er überhaupt außer mir keinen einzigen Menschen zu sich läßt.“
„Aber, seinen Sohn, seine Enkelinnen!“
„Erst recht nicht. Man durfte ja davon gar nicht sprechen. Er muß auf ganz andere Weise gepackt werden.“
„Wie denn?“
„Mit Ihrem Bild. Ich habe Ihnen bereits gesagt, daß er sich bestrebt, Ihren Kopf zu zeichnen. Eines schönen Tages muß ihm das gelingen. Was darauf folgt, das muß abgewartet werden.“
„Ihr Rat ist nicht zu verwerfen. Werden Sie sich auf der Reise nach Berlin anschließen?“
„Gern.“
„Und ebenso lieb wäre es mir, wenn Sie morgen mit uns nach Etain fahren wollten.“
„Lieber heute noch.“
„Das geht nicht. So wichtig mir diese Angelegenheit ist, ich mag sie doch nicht überstürzen.“
„Pst“, warnte Fritz in diesem Augenblick. „Ein Wagen aus Ortry!“
„Der Alte?“ fragte Müller.
„Ich weiß es noch nicht. Das Verdeck ist zu. Ich kenne aber die Pferde.“
Er trat vom Fenster zurück, um nicht selbst auf seinem Posten bemerkt zu werden, ließ aber trotzdem den Blick nicht von unten weg und meldete nun auch:
„Ja, der Kapitän. Gehen wir hinaus?“
„Gewiß“, antwortete Müller. „Kommen Sie, meine Herren. Ich darf auf keinen Fall anwesend sein.“
Kaum hatte sich die eine Türe hinter den vier Herren geschlossen, so ging die andere auf, um Richemonte eintreten zu lassen. Er verbeugte sich höflich vor Emma von Königsau und sagte:
„Verzeihung, daß ich störe, Miß. Ich hörte, daß meine Enkelin sich hier befindet, und komme, sie abzuholen.“
„Sie stören keineswegs. Bitte, nehmen Sie Platz, Herr Kapitän.“
Er setzte sich auf die Hälfte des Sessels, so wie einer, welcher bereits im nächsten Augenblick wieder aufbrechen will. Sein Auge schweifte forschend im Zimmer umher; dann sagte er:
„Ich glaubte, Herrengesellschaft hier zu finden.“
„Wieso?“
„Ich sah Hüte draußen liegen. War vielleicht Herr Maler Haller hier?“
„Nein“, antwortete Emma.
„Ich möchte aber doch behaupten, daß er hier gewesen ist.“
Die scheinbare Engländerin erriet sofort den Zusammenhang, da sie die Ähnlichkeit Fritzens mit Haller kannte.
„Sie dürften sich sehr irren“, sagte sie.
„Wohl nicht“, lachte er höhnisch überlegen.
Sie stand von ihrem Stuhl auf und antwortete in stolzem, verweisendem Ton:
„Sie scheinen nicht gelernt zu haben, mit Leuten von Bildung zu verkehren, Herr Kapitän.“
„Ah“, stieß er hervor.
„Es ist eine gesellschaftliche Infamie, eine Dame einer Lüge zu zeihen.“
„Infamie. Donnerwetter. Wenn ich nun beweisen kann, daß diese Dame wirklich gelogen hat.“
„So wäre Ihr Verhalten immer noch ein rüdes. Übrigens würde Ihnen dieser Beweis wohl schwerfallen.“
Sie trat zur Nebentür, öffnete diese und sagte:
„Herr Schneeberg, bitte.“
Fritz trat in das Zimmer.
„Nun, das ist ja Herr Haller“, sagte der Alte, indem er höchst befriedigt dem Deutschen die Hand entgegenstreckte. „Diese Dame hat also doch gelogen.“
Marion hatte sich bisher völlig teilnahmslos verhalten. Jetzt hielt sie es für an der Zeit, auch ein Wort zu sagen:
„Verzeihen Sie, Miß de Lissa. Mein Großvater wird alt. Er leidet an Halluzination und hat sogar zuweilen Anfälle eines allerdings höchst ungefährlichen Irrsinnes. Man darf nicht auf ihn hören.“
Der Alte stand da, als ob er zur Statue geworden sei. Das war ihm denn noch noch nicht geboten worden.
„Was sagst du? Was meinst du?“ stieß er zischend zwischen den Zähnen hervor.
Dies sollte nur der Anfang eines Wutausbruchs sein. Aber Marion fiel ihm in die Rede: „Eine Dame von solcher Distinktion eine Lügnerin schimpfen, das ist Irrsinn, und diesen Herrn hier für den Maler halten, das ist ein Beweis von Halluzination. Mache dich nicht lächerlich, sondern siehe diesen Herrn genauer an. Herr Schneeberg, Pflanzensammler bei Herrn Doktor Bertrand.“
Da trat der Alte einen Schritt zurück, stieß einen erstaunten Pfiff aus und fragte:
„So, so. Berteu sprach von diesem Mann. Ein deutscher Spion, den wir unschädlich machen werden. Gibt es vielleicht in Etain oder Malineau noch etwas für Sie zu tun, Monsieur Schneeberg?“
Draußen im Nebenzimmer hatte Müller die drei anderen instruiert, was sie vorkommenden Falles antworten sollten. Fritz entgegnete einfach:
„Wüßte nicht, was ich dort zu suchen hätte.“
„Aber Sie hatten etwas zu suchen.“
„Freilich. Ich suchte fünfzehntausend Francs, welche der ehrenwerte Monsieur Berteu an Mademoiselle Nanon und deren Schwester schuldet.“
„Hm. Sie sind wohl der Beschützer dieser Damen?“
„Es kam mir ganz so vor, als ob in Malineau Damen gar sehr des Schutzes bedürften. Ist das auf Schloß Ortry vielleicht auch der Fall, Herr Richemonte?“
„Frecher Kerl. Ich werde mit der hiesigen Polizei sprechen. Man wird Ihnen das Handwerk legen.“
„Verbrennen Sie sich nicht, alter Herr. Wer weiß, was Sie selbst für ein Handwerk betreiben.“
„Pah. Ich werde Sie zertreten wie einen Wurm.“
Und sich an Marion wendend, fragte er höhnisch:
„Gibt es vielleicht noch mehrere solche Spione hier? Die Hüte draußen scheinen auf die Anwesenheit von dergleichen Gesellen zu deuten.“
Sie zuckte die Achseln und antwortete in überlegener Ruhe:
„Du scheinst dich für diese Hüte außerordentlich zu interessieren.“
„Natürlich.“
„Nun, wollen doch einmal sehen, ob sie wirklich ein solches Interesse verdienen.“
Sie öffnete den Eingang, griff auf den neben der Tür stehenden Tisch und trat, mit dem Hut des Malers in der Hand, dann zu dem Alten heran:
„Wem mag dieser da gehören?“ fragte sie.
„Jedenfalls einem Subjekte.“
„Du kennst ihn also nicht?“
„Nicht so nahe. Fort mit ihm. Er stinkt und duftet nach Spitzbubenfleisch.“
„Ich werde mir erlauben, dir diesen Spitzbuben vorzustellen.“
Sie öffnete die Nebentür und sagte:
„Bitte, Herr Hieronymus!“
Schneffke trat ein.
Hätte den alten der Schlag getroffen, er hätte kein anderes Bild geben können. Er wußte ganz genau, daß er diesen Menschen eingesperrt hatte und noch dazu in Fesseln und hinter mehreren verschlossenen Türen. Er hätte tausend Eide geschworen, daß er sich tief unter der Erde befinde, und nun stand jener hier, vor ihm, leibhaftig, lebendig. Der Alte fragte sich, ob Marion denn vielleicht doch vorhin recht gehabt habe, als sie behauptete, daß er an periodischem Irrsinn leide.
Der kleine dicke Maler lachte den konsternierten Alten lustig an und sagte:
„Sie machen ja ein Gesicht, wie eine geräucherte Schlackwurst, die von den Ratten angefressen worden ist. Kommen Sie gefälligst zu sich, Alter, sonst denke ich, daß Ihnen Ihr letztes bißchen Verstand flötengegangen ist.“
„Wie – wie – heißen Sie?“ stammelte der Kapitän.
„Hieronymus Aurelius Schneffke, mein lieber, alter Groß-, Ur- und Kapitalspitzbube. Sie denken, die Klugheit mit Löffeln gegessen zu haben; aber prosit die Mahlzeit. Sie werden von Ihren Untertanen doch über den Löffel balbiert. Kaum hatten Sie mich fest, so kam einer, der ließ mich wieder heraus. Ich glaube, er hieß Ribeau, der Busenfreund eines gewissen Berteu.“
„Lügner.“
„Mach keinen Unsinn, alter Karfunkelhottentott. Du bist so dumm, daß der, welcher dich betrügen will, die Wahrheit sagen muß, denn du glaubst sie ja doch nicht. Dein Verstand ist ganz von den Motten zerfressen, und dein Gehirn ist der reine Mehlwürmertopf, zerwühlt und zerfressen durch und durch. Alter Halunke, du kannst mich dauern. Mit dir geht es gewaltig auf die Neige. Für dich ist's am besten, du legst das Licht ins Bett und bläst dich selber auf.“
Dem Kapitän wollte der Atem vergehen. Er schnappte nach Luft – endlich, endlich gurgelte er hervor.
„Schuft. Spion verdammter.“
„Sei still. Du brauchst dich hier gar nicht erst vorzustellen. Wir kennen dich schon.“
„Ich werde sofort nach der Polizei schicken.“
„Tue das, trautes Giraffengerippe. Ich habe gar nichts dagegen, daß sie dich in Sicherheit bringen. Deine Stunden sind gezählt. Du pfeifst auf dem letzten Loch.“
„Spotte nur, Erbärmlicher. Sobald ich dieses Haus verlassen habe, wird man sich deiner und dieses Kräutermenschen bemächtigen. Das also ist die Gesellschaft, mit welcher die Baronesse Marion de Sainte-Marie umgeht.“
Marion antwortete kalt:
„Es fehlt noch einer, um sie vollständig zu machen. Oder sollte es nicht eher die Gesellschaft sein, mit der du selbst umgegangen bist? Wollen sehen.“
Sie öffnete abermals die Tür, und Deep-hill trat ein. Der Kapitän stieß einen unartikulierten Schrei aus. Seine Adern traten weit hervor, und seine Augen starrten gläsern auf den Amerikaner.
„Nun, kennst du ihn?“ fragte Marion.
Man hörte seine Zähne knirschen, aber sprechen konnte er nicht. Deep-hill trat auf ihn zu und sagte in höhnisch mitleidigem Ton:
„Deine Krallen sind stumpf geworden, alte Hyäne. Du wirst in deinem eigenen Bau verhungern. Du hast mich morden wollen und deshalb den Zug entgleisen lassen. Da dies nicht gelang, hast du mich in eine Falle gelockt; aber diese war nicht gut genug. Ich könnte dich den Gerichten übergeben, aber selbst dem Galgen graut vor dir, du bist so erbärmlich, daß ich dich nicht einmal verachten kann. Geh nach Hause. Kein Mensch wird dir etwas tun. Aber grüße mir den jungen Rallion. Er weiß die Hauptschlüssel, welche du verloren glaubtest, sehr gut zu gebrauchen. Du siehst, daß du von deiner eigenen Brut verraten wirst. Deine besten Verbündeten betrügen dich, obgleich du sie zum Eidam haben willst. Geh schlafen, alter Skorpion.“
Ein Wink an Fritz. Dieser trat herbei und faßte den Kapitän bei beiden Schultern. Er schob ihn zur Tür hinaus bis an die Treppe.
„So, mach dich nun fort, Kellerunke! Und sieh zu, daß du mir nicht wieder unter die Hände kommst.“
Der Alte widerstrebte nicht. Wie im Traum stieg er die Treppe hinab, und wie im Traum gelangte er auch in seinen Wagen. Eben als dieser sich in Bewegung setzen wollte, fuhr ein zweiter vorüber, in welchem ein Mann saß. Als dieser den Kapitän erblickte, ließ er halten.
„Herr Kapitän“, sagte er. „Wie gut, daß ich Sie hier sehe. Ich wollte hinaus nach Ortry zu Ihnen.“
Der Alte wendete ihm sein leichenstarres Antlitz zu. Beim Anblick dieses Mannes belebte es sich sofort. Er gewann augenblicklich die Sprache wieder:
„Herr Haller! Ah, das ist die Erlösung. Wann kamen Sie nach Thionville?“
„Vor zwei Minuten mit dem Zug.“
„Warum blieben Sie nicht in Berlin?“
„Man hat mich telegraphisch zurückgerufen.“
„Sprechen Sie leiser. Man belauscht uns wahrscheinlich. Zurückgerufen nach Paris?“
„Ja. Ich stieg hier aus, um es Ihnen zu melden. Nun habe ich nicht nötig, nach Ortry zu fahren.“
„Haben Sie etwas ausgerichtet, Graf?“
„Viel, sehr viel.“
„Mit diesem Königsau?“
„Mit seinem Vater. Er selbst war verreist, zu einem Verwandten. Aber ich habe alle seine Arbeiten und Manuskripte gelesen. Diese Preußen sind tausendmal dümmer, als ich annahm.“
„Ich weiß es.“
„Wir werden leichtes Spiel haben. Preußen ist nicht gerüstet, und Süddeutschland geht mit uns. Leben Sie wohl.“
„Wollen Sie wirklich nicht mit nach Ortry?“
„Nein. Der Zug hält eine Viertelstunde; er steht noch da, ich komme noch mit ihm fort. Baldigst mehr. Umkehren.“
Die beiden hatten so nahe nebeneinander gestanden, daß es den Sprechern leicht geworden war, das Gespräch flüsternd zu führen. Nicht einmal einer der Kutscher hatte ein Wort erlauschen können. Das Lohngeschirr des Grafen Lemarch, alias Maler Haller, lenkte um.
„Also Glück auf den Weg“, sagte der Alte noch. „Adieu, Monsieur!“
„Adieu, Herr Kapitän!“
Der eine fuhr dahin und der andere dorthin.
„Gut, gut“, brummte der Alte in sich hinein. „Die Rache beginnt bereits. Ah, ich werde mich mit wahrer Wollust in ihr wälzen.“
Droben am Fenster hatte Müller gestanden, um den Alten einsteigen und fortfahren zu sehen. Schneffke befand sich an seiner Seite. Er blickte aus dem Hinterhalt hinab.
„Sapperment! Wer ist das?“ sagte er.
„Wer?“
„Der dort in dem Wagen kommt.“
Müller bog sich ein wenig weiter vor, fuhr aber sofort wieder zurück.
„Haller.“
„Ja, Haller“, stimmte der Dicke bei. „Ich werde ihn rufen.“
Er fuhr mit dem Kopf zum Fenster hinaus, aber Müller faßte ihn und zog ihn schnell zurück.
„Um aller Welt willen, begehen Sie keine Dummheit.“
„Dummheit? Mein Freund Haller aus Stuttgart.“
„Lassen Sie sich das nicht weismachen. Er ist kein Maler, sondern Chef d'Escadron Graf Lemarch. Er ist als Spion nach Berlin gegangen.“
„Tausendschwerebrett!“
„Ja, ja, mein Bester.“
„Sie irren.“
„Nein. Er war in Ortry, ehe er nach Berlin ging und kommt jetzt wieder, um dem Alten Bericht zu erstatten. Ah, er lenkt wieder nach dem Bahnhof zu. Gut, so sind wir ihn los und brauchen nicht mit seiner Anwesenheit zu rechnen.“
Die beiden kehrten in das Hauptzimmer zurück. Marion fragte Müller:
„Haben Sie Haller gesehen, Herr Doktor?“
„Ja, gnädiges Fräulein.“
„Welche Ähnlichkeit mit Fritz.“
„Mit mir?“ fragte der Genannte.
„Ungeheuer.“
„Dann schade, daß ich nicht auch am Fenster war.“
Da steckte das Dienstmädchen den Kopf zur Tür herein.
„Herr Schneeberg, eine Depesche.“
Fritz nahm und öffnete sie.
„Ist's wichtig?“ fragte der Maler neugierig.
„Gar nicht. Der Mann konnte auch schreiben“, antwortete Fritz gleichmütig. „Jetzt meine Herren, können wir wieder auf unsere Angelegenheiten zurückkommen. Ist vielleicht noch irgend etwas aufzuklären?“
Dabei spielte er Müller die Depesche heimlich in die Hand.
„Für den Augenblick wohl nicht“, antwortete Deep-hill. „Wir haben uns nur über unsere morgige Abreise zu besprechen.“
Müller hatte einen raschen Blick auf das Papier geworfen. Es enthielt nur das eine Wort ‚Zurück‘. Das war das Zeichen, Ortry zu verlassen und in Berlin wieder einzutreffen. Er fühlte einen schmerzlichen Stich in seinem Innern, ließ sich aber nichts merken, sondern antwortete in gleichmütigem Ton:
„Wann fahren Sie?“
„Doch wohl morgen früh mit dem ersten Zug“, meinte der Amerikaner. „Wenn ich auch heute noch bleibe, so will ich doch von morgen an jede Stunde benutzen. Kinder, packt eure Sachen zusammen und kommt dann hierher. Auf dem Schloß sollt ihr keinen Augenblick mehr bleiben. Dieser alte Schurke – Verzeihung gnädiges Fräulein! Er ist Ihr Großvater; aber ich kann mir nicht helfen – er ist ein Schurke.“
„O bitte! Ich habe ihn nie als Verwandten anerkannt.“
„Das beruhigt mich. Wie gut, Herr Doktor, daß Sie uns vorher im Zimmer instruierten. Nun fällt sein Verdacht auf Ribeau und Rallion.“
„Diesen letzteren wird er sich sofort vornehmen. Aber, Herr Deep-hill, was haben Sie in Beziehung auf den Kapitän beschlossen?“
„Ich folge Ihrem Rat.“
„Ich danke Ihnen.“
Bei diesen Worten aber winkte er dem Amerikaner zu, nichts weiter zu sagen, um ihn nicht zu verraten. Marion war ja noch gar nicht eingeweiht. Darum lenkte Deep-hill ab und wendete sich an Fritz:
„Wie hübsch, Herr Schneeberg, wenn auch Sie mit nach Malineau könnten.“
Der Angeredete warf einen schnellen Blick auf seinen Vorgesetzten. Dieser antwortete an seiner Stelle:
„Vielleicht gibt ihm Herr Doktor Bertrand noch einmal Urlaub. Wenn Sie meinem Rat folgen wollen, so packen Sie ein, was Mademoiselle Nanon in Ortry hat, und schicken es nach Berlin voraus. So sind Sie von allen Weiterungen befreit. Das ist das allerbeste.“
„Wird mich der Kapitän gehen lassen?“ meinte Nanon.
„Der wird gar nicht gefragt“, antwortete ihr Vater.
„Wenn er doch auch mit könnte“, seufzte Marion. „Das wäre eine Erlösung für mich. Brechen wir auf?“
„Ja, wir erwarten euch hier, Kinder“, antwortete der Amerikaner. „Bleibt nicht zu lange aus.“
Die drei Damen brachen auf. Müller flüsterte dem Vater, der seine Tochter bis zur Tür begleiten wollte, schnell und unbemerkt noch zu:
„Bitte, sagen Sie heimlich den beiden Damen, daß sie Marion nicht verraten sollen, was sie von mir wissen.“
„Schön!“
Dann trat Müller an Marions Seite.
„Kommen Sie bald nach, Herr Doktor?“ fragte sie.
„In einigen Minuten.“
„Mir ist so bang. Ich verliere Nanon. Wen habe ich noch, außer Ihnen. Ich wiederhole: Könnte ich doch nun auch fort.“
„Sie können fort“, antwortete er leise.
„Wirklich?“
„Ja. Aber es muß ein Geheimnis bleiben. Niemand darf es ahnen, nicht einmal die Schwestern. Wir reisen auch.“
„Wann?“
„Morgen.“
„Wohin?“
„Nach Malineau.“
„Ist's wahr?“ fragte sie, freudig erregt.
„Ja, ich gebe Ihnen mein Wort.“
„Gott sei Dank! Aber Sie müssen zurück.“
„Leider! Aber bitte, sorgen Sie sich nicht; ich werde an alles, alles denken.“
Die drei Damen gingen, und Müller kehrte mit dem Amerikaner zu den anderen zurück. Dieser letztere sagte dann zu ihm:
„Herr Doktor, haben Sie Vertrauen zu mir?“
„Ja, Herr Baron.“
„Nun, so lassen Sie mich sehen, woran ich bin. Die Depesche, welche Herr Schneeberg erhielt, war eigentlich für Sie bestimmt?“
„Woraus schließen Sie das?“
„Ich sah, daß er sie Ihnen zusteckte.“
„Gut, ich leugne es nicht.“
„War sie wichtig?“
„Ja.“
„Darf man den Inhalt erfahren?“
„Ich reise auch.“
„Ah, dachte es mir! Gnädiges Fräulein mit?“
„Natürlich.“
„Bitte, wohin?“
„Ich habe dasselbe Ziel wie Sie: Berlin.“
„Herrlich, herrlich! Aber ich muß leider erst nach Malineau.“
„Ich werde dafür sorgen, daß wir uns treffen.“
„Wollen wir das telegraphisch tun?“
„Nein. Ich will mich nicht in Gefahr begeben. Ich verspreche Ihnen, daß wir uns treffen werden; und ich pflege Wort zu halten. Für jetzt aber muß ich mich verabschieden. Fritz, du begleitest mich.“
Da zog ihn seine Schwester in die Fensternische und sagte:
„Das kommt so plötzlich! Befehl vom Kommando?“
„Ja. Es macht mir einen Strich durch die Rechnung.“
„Wenn Vater sich wirklich als Gefangener in Ortry befände. Mein Gott!“
„Ich will eben jetzt noch mein Möglichstes tun. Ich wage alles.“
„Aber sei vorsichtig.“
„Habe keine Sorge. Jetzt brauche ich keine Rücksicht mehr zu nehmen. Wer mir heute widerstrebt, der ist verloren. Ich bin bewaffnet.“
„Wäre es nicht dennoch besser gewesen, ihr hättet den Kapitän der Polizei überwiesen?“
„Nein. Die Lösung meiner Aufgabe geht mir über alles.“
„Aber muß er denn durchaus frei bleiben?“
„Unbedingt. Ich kenne das Schloß, die Niederlagen und alles Nötige. Käme der Kapitän fort, so würden Änderungen eintreten, welche meinen ganzen Plan vernichteten. Es muß so bleiben.“
Er ging mit Fritz. Unten trafen sie auf den Arzt.
„Herr Doktor“, sagte Müller, „haben Sie bemerkt, daß der Kapitän oben war?“
„Ja.“
„Wir hatten einen bedeutenden Auftritt.“
„Ich habe es bemerkt.“
„Er wird Ihnen zürnen, daß diese Personen hier waren. Sie werden in Ungelegenheiten kommen, vielleicht sogar in Gefahr geraten.“
„Ich fürchte mich nicht. Miß de Lissa wohnt bei mir. Ich kann ihr nicht vorschreiben, wen sie in ihrer Wohnung empfangen darf und wen nicht. Und was den Alten betrifft, so verstehe ich, ihm entgegenzutreten.“
„Vielleicht kommt die Zeit, in welcher ich Ihnen so danken kann, wie ich es wünsche. Haben Sie nicht einige feste, längere Stricke? Ich brauche sie und möchte mich doch dadurch, daß ich welche kaufe, nicht verraten.“
„Genug. Ich selbst werde nachsehen.“
„Und noch eines: Sie haben für Ihre Landpraxis Pferd und Wagen?“
„Ja.“
„Ist das Pferd gut?“
„Ein sehr flotter Läufer.“
„Wie viele Personen faßt der Wagen?“
„Zwei, außer dem Kutscher.“
„Würden Sie ihn mir verkaufen?“
„Hm! Ich möchte Ihnen nicht Ausgaben verursachen, welche nicht unbedingt nötig sind. Wie lange brauchen Sie das Geschirr, Herr Doktor?“
„Auf höchstens zwei Tage.“
„Warum denn da kaufen? Ich leihe es Ihnen ja ganz gern.“
Müller ging natürlich darauf ein. Die Stricke wurden ausgesucht. Fritz machte ein Paket daraus, und dann erhielt er von seinem Herrn den Befehl:
„Jetzt kaufst du noch Licht für die Laterne, und dann erwartest du mich am Waldweg, wo wir uns immer zu treffen pflegen.“
„Reisen wir wirklich morgen?“
„Ja.“
„Aber heimlich?“
„Warum diese Vermutung?“
„Weil Sie einen Wagen nehmen.“
„Richtig! Adieu jetzt!“
Er ging nach Ortry.
Dort war lange vorher der Kapitän in einer ganz unbeschreiblichen Stimmung angekommen. Er begab sich, ganz so, wie vermutet worden war, zu Rallion, dem Jüngeren. Dieser lag nachlässig auf dem Sofa und las in einem Buch.
„Ah, Herr Kapitän!“ sagte er. „Unerwarteter Besuch!“
„Wirklich?“
„Gewiß.“
„Ich denke, Sie haben mich jetzt immer zu erwarten.“
„Wieso? Weshalb?“
„Das wissen Sie nicht?“
„Nein.“
„Ahnen es auch nicht?“
„Kein Wort.“
„Nun, der Schlüssel wegen.“
„Welcher Schlüssel?“
„Zu den unterirdischen Gewölben.“
„Was gibt es denn wieder mit diesen Schlüsseln?“
„Donnerwetter, wissen Sie sich gut zu verstellen!“
„Ich mich verstellen?“
„Ja. Sie haben diese Schlüssel!“
„Das sagten Sie bereits einmal.“
„Sie leugneten, jetzt aber habe ich den Beweis.“
„Gut. Bringen Sie diesen.“
„Der, welchen Sie heute befreit haben, hat es mir mitgeteilt.“
„Alle Wetter! Ich habe jemand befreit? Das heißt, einen Gefangenen?“
„Natürlich!“
„Der da unten steckte?“
„Wen sonst!“
„Wer war es denn?“
„Das wissen Sie ebensogut wie ich.“
Da sagte Rallion in seinem ernstesten Ton:
„Kapitän, Sie sind seit einiger Zeit höchst unbegreiflich. Sie versprachen mir Ihre Enkelin und halten nicht Wort. Sie schleppen mich in Versammlungen, in denen ich verwundet werde. Sie nennen mich nun gar einen Dieb! Das habe ich satt. Ich weiß sehr genau, was ich meiner Ehre und meinem Stand schuldig bin. Ich lasse mich nicht länger hänseln. Vater hat vorhin telegraphiert! Morgen oder übermorgen reise ich.“
„Donnerwetter! Was hat er telegraphiert?“
„Hier das!“
Er gab ihm das Telegramm zu lesen. Es enthielt die Worte:
„Dränge auf Entscheidung und komme dann sofort. Alles ist vorbereitet.“
„Sie sehen also“, fuhr er fort, „wie es steht. Bekomme ich Marion oder nicht?“
„Verdammt! Das Mädchen wird immer obstinater! Und nun dazu diese Schlüsselgeschichte!“
„Darf man sie denn nicht erfahren?“
„Hol's der Teufel! Ich habe doch nur Sie im Verdacht!“
„Da sind Sie dümmer als dumm.“
„Denken Sie sich: Gestern ergriffen wir einen Spion. Ich lasse ihn fesseln und schließe ihn hinter drei Türen ein. Einen anderen Gefangenen brachte ich in dasselbe Karzer, in welcher wir die Zofe anstatt Marions steckten – ich bin überzeugt, beide fest zu haben. Vorhin fällt mir Marions Wesen auf. Ich lasse sie beobachten und erfahre, daß sie zu dieser verdammten Engländerin ist. Ich fahre nach. Wen finde ich dort?“
„Nun?“
„Diese beiden Gefangenen!“
„Unsinn!“
„Weiß Gott, es ist keine Lüge! Ich muß ausgesehen haben wie ein Nilpferd!“
„Was Sie da erzählen, ist doch ganz unmöglich!“
„Unmöglich gerade nicht, da mir ja die Schlüssel fehlen.“
„Hm!“
„In Ihrer Gegenwart habe ich sie verloren.“
„Das heißt, ich habe sie?“
„Ich denke es wahrhaftig. Der eine Gefangene sagte mir, ich solle Sie grüßen, und Sie hätten die Schlüssel.“
Da lachte Rallion laut auf und meinte dabei:
„Und das haben Sie geglaubt?“
„Was sonst!“
„Merken Sie denn nicht, daß der Kerl Sie nur irreführen will?“
„Irreführen? Hm!“
„Wer war denn noch bei den Gefangenen?“
„Marion und –“
„Donnerwetter!“
„Was?“
„Marion war bei Ihnen? Und Sie ahnen noch immer nichts?“
„Denken Sie etwa, daß sie die Schlüssel hat?“
„Wer denn sonst?“
„Wie will sie diese denn erhalten haben?“
„Auf zehnerlei Weise. Vielleicht sind Sie von ihr schon längst beobachtet worden.“
„Ich möchte schwer daran glauben. Aber wenn ich mir überlege, daß sie –“
Er zauderte.
„Was?“
„Daß sie es war, welche mir die befreiten Gefangenen in die Stube brachte!“
„Sie brachte jene? Na, wollen Sie noch andere Beweise?“
„Aber wie soll sie zu den Schlüsseln gekommen sein?“
„Das fragte ich nicht; das muß sie selbst gestehen. Schlüssel hat sie, das ist sicher und gewiß.“
„Wieso?“
„Sie legte die Zofe in ihr Bett, anstatt sich; sie muß also unseren Plan belauscht haben.“
„Wahrscheinlich.“
„Sie kann uns aber nur dann belauschen, wenn Sie die heimlichen Gänge, Treppen und Türen kennt.“
„Satan!“
„Sie kann sich also ganz leicht, während Sie schlafen, bei Ihnen einschleichen und die Schlüssel borgen oder sich einen Wachsabdruck machen.“
„Daran dachte ich mit keiner Silbe.“
„Sie durchkreuzt unsere Pläne; sie wird immer obstinater, wie Sie selbst sagen; es entkommen Ihnen Gefangene, welche ganz sicher hinter Schloß und Riegel waren; Marion wird bei diesen Gefangenen gefunden, denen sie den Rat gegeben hat, mich zu verdächtigen. Das tut sie auch wieder nur, weil sie mich haßt – wenn Sie nun noch nicht wissen, woran Sie sind, so sind Sie vollständig blind!“
Der Alte schritt hin und her, mit den Armen gestikulierend und dabei allerhand unverständliche Laute ausstoßend. Endlich sagte er, stehenbleibend:
„Sie haben recht. Ich war blind, vollständig blind. Sie aber haben mir jetzt den Star gestochen.“
„Endlich! Was aber weiter?“
„Ich mache sie unschädlich!“
„Auf welche Weise?“
„Indem ich nun doch den Plan ausführe, den sie uns vereitelt hat.“
„Und sie einstecken?“
„Ja.“
„Hm! Vielleicht lauscht sie jetzt wieder.“
„Nein. Sie ist noch in der Stadt.“
„Sie wird wieder entkommen.“
„Diesmal nicht. Ich habe noch Orte, die Sie gar nicht kennen. Dahin bringen wir sie.“
„Wann?“
„Sobald sie zurückgekehrt ist.“
„Sapperment!“
„Wir binden sie sogar im Kerker an, so daß sie sich gar nicht bewegen kann.“
Der Graf schnalzte mit der Zunge und mit den Fingern.
„Und dann?“ frage er. „Dann?“
„Was dann?“
„Dann gehört sie mir?“
„Ja, ich gebe sie Ihnen; aber erst nach vierundzwanzig Stunden, Verehrtester!“
„Warum so spät?“
„Ich gewähre ihr diese Bedenkzeit, weil es für die Zukunft besser ist, sie wird freiwillig ihre Braut, als gezwungen.“
„Einverstanden! Unter diesen Umständen bleibe ich trotz der Depesche einen Tag länger hier. Ich habe es nun einmal auf diese Marion abgesehen. Was kann ich gegen diese dumme Liebe? Wie also arrangieren wir uns?“
„Ich warte, bis sie in ihrem Zimmer ist; dann hole ich Sie ab. Wir treten durch das Täfelwerk bei ihr ein.“
„Schön! Aber sie wird schreien!“
„So weit dürfen wir es nicht kommen lassen.“
„Gut, gut! Ich bin gespannt, ganz außerordentlich gespannt. Aber man wird sie vermissen?“
„Lassen Sie es meine Sorge sein, hierauf eine Antwort zu geben, welche die Frager befriedigen wird.“
„Alle?“
„Ich denke.“
„Hm! Einen doch wohl nicht!“
„Wen?“
„Diesen verdammten, buckligen Hauslehrer.“
„Sie hassen ihn einmal!“
„Pah! Ich weiß ganz genau, daß Sie ihn ebenso hassen, ja, daß Sie ihn sogar fürchten.“
„Fürchten? Sind Sie toll?“
„Nein. Ich beobachte gut. Sehen Sie denn nicht, daß Marion am Fenster steht, wenn er unten im Garten sitzt? Sie geben sich heimliche Zeichen; sie stützt sich auf ihn. Hätte sie ihn nicht, so wagte sie keinen solchen Widerstand.“
„Was Sie da sagen, klingt nicht ganz unwahrscheinlich. Ich habe Beweise, daß er horcht, daß er heimlich beobachtet. Er hat zu mir von Dingen gesprochen, die nur ich allein wissen kann. Das ist höchst auffällig.“
„Und da dulden Sie ihn?“
„Was will ich tun? Der Junge hängt an ihm!“
„Pah! An dem nächsten wird er ebenso hängen und vielleicht noch mehr.“
„Möglich. Aber, aber –“
„Was denn?“
„Ich will Ihnen aufrichtig sagen, daß ich ihn nicht gern aufregen möchte. Ich habe mich doch ein wenig in acht zu nehmen. Dieser Lauscher hat einige Kleinigkeiten bemerkt, deren Ruchbarwerden mir zwar keinen Schaden, aber Unannehmlichkeiten bringen könnte.“
„Dachte es mir doch! Sie fürchten sich vor ihm!“
„Fürchten? Nicht die Spur; ich habe ihn nur zu berücksichtigen; das ist alles.“
„Nun gut, so legen Sie es darauf an, daß er selbst kündigt.“
„Da wird er sich hüten.“
„Hat er kein Ehrgefühl?“
„Mehr als genug.“
„Hm, ich zweifle daran! Mir gegenüber hat er sich als Feigling benommen. Sie wissen ja!“
„Das mußte damals einen ganz besonderen Grund haben. Ich habe keinen zweiten kennengelernt, der so wie er zum Raufbold prädestiniert wäre. Ehrgefühl hat er; aber er wird lieber manches verschlucken, als eine so fein dotierte Stellung aufzugeben.“
„Es gilt den Versuch.“
„Ich werde ihn machen. Werde ich den Menschen so halb und halb in Frieden los, so soll es mir auch auf ein Vierteljahrsgehalt nicht ankommen.“
„Ist er denn fleißig? Er scheint stets abwesend zu sein, wie ich bemerkt habe.“
„Er geht allerdings sehr viel aus. Dies gibt vielleicht die Veranlassung zu einer Auseinandersetzung. Also halten Sie sich bereit. Ich werde Sie abholen.“
Er ging und beobachtete dann von seinem Fenster aus die Straße, welche nach der Stadt führte. Unterdessen schickte er den Diener, um sich nach Müller zu erkundigen und auch zu erfahren, welchen Unterricht er heute erteilt habe.
„Er hat heute gar keinen Unterricht gegeben“, lautete der Bescheid.
„Ist er denn nicht da?“
„Er ist heute stets fort gewesen. Nur einige Augenblicke hat man ihn gesehen; dann ist er wieder verschwunden.“
Nach einiger Zeit sah der Alte Marion mit den beiden Schwestern die Straße nach dem Schloß daherkommen, und zugleich schritt Müller nachdenklich auf dem Wiesensteig herbei. Er hatte die Stadt später als die Damen verlassen, war aber einen kürzeren Weg gegangen: so kam es, daß er fast in demselben Augenblick mit ihnen auf dem Schloßhof anlangen mußte.
Dies bemerkte der Alte. Er ging hinab und wartete. Draußen vor dem Tor traf Müller mit den Damen zusammen und betrat mit ihnen den Hof.
„Herr Doktor“, sagte der Alte laut. „Sie wurden gesucht.“
„Von wem?“
„Von mir.“
„Ich stehe zu Diensten.“
„Das habe ich nicht gefunden. Wenn man Sie braucht, sind Sie nicht vorhanden. Haben Sie heute Unterricht erteilt?“
„Nein“, antwortete der Gefragte, welcher sehr ruhig vor dem Frager stand.
Auch die Damen waren unwillkürlich stehengeblieben.
„Warum nicht? Weshalb sind Sie engagiert?“
„Um meinen Zögling zu erziehen. Die Erziehung aber besteht nicht im Unterricht allein. Man muß individualisieren. Ich habe es für nötig befunden, dem jungen Herrn Baron jetzt einige Ruhe zu gewähren.“
„Ihm oder Ihnen, Herr Doktor?“
„Vielleicht beiden zugleich.“
„Das kann ich nicht billigen. Ich bezahle keinen Erzieher zu dem Zweck, sich Ruhe zu gönnen. Ein anderer würde sich sein Gehalt zu verdienen suchen.“
„Meinen Sie, das dies bei mir nicht der Fall sei?“
„Durch dieses sich Ruhe gönnen, allerdings nicht. Es gibt gerade jetzt Überfluß an tüchtigen Pädagogen.“
„Dann möchte ich raten, es doch einmal mit einem anderen zu versuchen, Herr Kapitän.“
„Wir haben lange Kündigung.“
„Ich gehe auch ohne diese.“
„Wann?“
„Heute noch, wenn es Ihnen beliebt.“
„Schön! Ich werde, damit Sie nicht darunter leiden, Ihnen einen Vierteljahrsgehalt auszahlen.“
„Danke! Ich bin noch bei Kasse!“
„Wann holen Sie sich Ihre Zeugnisse?“
„Ich brauche keine. Ich bitte nur noch, meinen Koffer zu Herrn Doktor Bertrand schaffen zu lassen.“
„Wird besorgt! Also, leben Sie wohl, Herr Doktor.“
„Ebenso, Herr Kapitän.“
Der Alte hatte nicht gedacht, den unbequemen Menschen so leicht loszuwerden. Er hatte ihn vor den Damen blamiert und schritt im Bewußtsein eines Sieges stolz von dannen. Er ahnte nicht, daß sowohl Müller als auch die beiden Schwestern ihn heimlich auslachten und daß Marion auf der Freitreppe leise zu ihm sagte:
„Was haben Sie getan, Herr Doktor?“
„Einen Sieg errungen.“
„Wieso?“
„Sie werden es erfahren. Jetzt ist nicht Zeit dazu, gnädiges Fräulein.“
„Aber Sie haben nun keine Stellung.“
„Oh, eine viel, viel bessere und ehrenvollere. Ich dachte nicht, so gut von ihm loskommen zu können.“
„Aber ich –!“
„Lassen Sie mich sorgen.“
„Nun wohl! Ich möchte mich so gern auf Sie verlassen.“
„Sie können es, Sie können es, gnädiges Fräulein. Nur liegt in unserem Interesse, den Kapitän jetzt noch nicht ahnen zu lassen, daß wir Verbündete sind. Sie dürfen vollständig versichert sein, daß ich alles tun werde, was in meinen Kräften steht, Sie gegen die Intentionen Ihres Großvaters in Schutz zu nehmen.“
„Wie aber wollen Sie dies tun können, wenn Sie sich nicht mehr bei mir befinden?“
„Ich bitte Sie abermals, dies jetzt nur meine Sorge sein zu lassen. Wir können nicht weiter darüber sprechen, da wir jetzt hier bei Ihrem Zimmer angelangt sind. Es würde das auffallen, denn wir dürfen nicht vergessen, daß wir jedenfalls scharf beobachtet werden.“
Sie trennten sich, er, um seine eigenen Sachen einzupacken, und sie, um über alles nachzudenken, was sie heute erfahren und gehört hatte.
Sie schritt einsam und in Gedanken versunken in ihrem Zimmer auf und ab, wohl über eine halbe Stunde lang, dann ließ sie sich auf den Sessel nieder, welcher vor dem Tisch stand. Sie stemmte den Ellbogen auf den letzteren und legte das schöne Köpfchen in die Hand. Sie hatte eine solche Stellung eingenommen, daß sie dem Eingang, welcher nach dem Vorzimmer führte, den Rücken zukehrte.
Unterdessen hatte der Kapitän den Obersten Rallion aufgesucht, von welchem er mit Spannung erwartet wurde. Er trug einen geöffneten Brief in der Hand.
„Denken Sie, was da angekommen ist“, sagte er. „Der Brief ist bereits einige Stunden da, ohne daß ich es wußte. Man hat ihn mir während meiner Abwesenheit auf den Schreibtisch gelegt.“
„Interessiert der Inhalt auch mich?“
„Sogar sehr.“
„Von wem ist er?“
„Von Ihrem Herrn Vater.“
„Dann muß er mich allerdings sehr interessieren. Vater ist ja sonst kein Freund von Korrespondenz. Was schreibt er denn?“
„Hören Sie!“
Der Alte las:
„Mein bester Kapitän!
Die politische Konstellation ist ganz plötzlich eine solche geworden, daß ich Sie persönlich sprechen muß. Da ich aber nicht so schnell wieder nach Ortry kommen kann, so ersuche ich Sie, spätestens am Tage nach Empfang dieses mit dem ersten Frühzug nach hier abzureisen. Es hat große Eile. Ich habe fast die Gewißheit, daß das Wetter noch eher losbricht, als wir es vermuteten. Natürlich bringen Sie meinen Sohn mit. Es steht ihm die Auszeichnung bevor, zu den Gardezuaven versetzt zu werden.
Ihr Jules, Graf von Rallion.“
„Was sagen Sie dazu?“ fragte der Alte, indem er den Brief wieder zusammenfaltete und einsteckte.
„Viktoria!“
„Ja, dieses eine Wort ist das richtige und enthält alles, was gesagt werden kann. Also zu den Zuaven kommen Sie!“
„Eine große Auszeichnung!“
„Die Zuaven weniger, aber die Garde. Oberst eines Regimentes Gardezuaven. Donnerwetter, das läßt sich hören!“
„Ja“, nickte Rallion, indem sein Auge stolz aufleuchtete. „Wir haben ja nur das eine Zuavenregiment bei der kaiserlichen Garde, zwei Bataillone stark. Das ist es, was mich selbstverständlich freut. Aber das andere –!“
„Was?“
„Die schnelle Abreise.“
„Die ärgert Sie?“
„Natürlich doch.“
„Warum.“
„Hm! Marion! Haben Sie denn vergessen?“
„Pah! Bis zum ersten Zug morgen früh haben Sie mehr als genug Zeit, zum Ziel zu gelangen.“
„Ist sie bereits nach Hause?“
„Ja; ich sah sie soeben kommen.“
„Nun, wann holen wir sie?“
„Gleich jetzt. Ich habe zwei Paar Filzgaloschen draußen stehen, welche wir anziehen, um unsere Schritte unhörbar zu machen.“
„Und wenn sie um Hilfe ruft?“
Der Alte stieß ein höhnisches Lachen aus und antwortete:
„Da habe ich ein Stück alten Pelzes, welches sie schon verhindern wird, zu schreien. Ich drücke ihr dasselbe auf das Gesicht und binde es ihr fest. Zu gleicher Zeit nehmen Sie die Stricke, welche ich mitgebracht und draußen liegen habe, und fesseln ihr Hände und Füße. Sie ist ganz sicher unser, denn jetzt soll es ihr nicht einfallen, anstatt ihrer selbst die Zofe fangen zu lassen.“
„So wollen wir gehen.“
„Vorher noch eins: Ich habe mit diesem Müller gesprochen.“
„Ah, schon?“
„Ja. Ich ging ihm entgegen.“
„Sprachen Sie von seiner Entlassung?“
„Ja.“
„Ging er darauf ein?“
„Mit Vergnügen, wie es schien. Nicht einmal sein Zeugnis will er haben.“
„Der Unvorsichtige. Wie kann er eine weitere Stelle finden, ohne nachzuweisen, daß Sie mit ihm zufrieden gewesen sind?“
„Er mag zusehen, wer ihn engagiert. Ich bot ihm das Gehalt eines Vierteljahres als Entschädigung an, aber er nahm auch dieses nicht an.“
„Nicht? Warum nicht?“
„Weiß ich es? Er sagte, er sei noch bei Kasse.“
„Warum aber boten Sie ihm diese Entschädigung an?“
„Weil er von einer Kündigung absah.“
„Ah! So geht er bereits am Schluß des Monates?“
„O nein, noch besser! Er geht sofort.“
„Heute schon?“
„Nicht nur heute, sondern sofort. Er wird einpacken und dann gehen.“
„Dem Himmel sei Dank! Sind wir diesen arroganten Menschen los! Ich habe ihm nicht getraut.“
„Er war ein verschlossener, undurchdringlicher Charakter, aber trotzdem und trotz seines Buckels doch ein tüchtiger Kerl. Aber, halten wir uns mit ihm nicht auf! Wir haben mehr zu tun. Kommen Sie! Aber schließen Sie vorher den Eingang. Man muß vorsichtig sein.“
„Haben Sie Laternen mit?“
„Das versteht sich ganz von selbst. Laternen und auch alles andere, was wir brauchen.“
Rallion verschloß seine Tür, und dann krochen sie durch das geöffnete Täfelwerk. Draußen zogen sie die Filzschuhe über ihre Stiefel, nahmen die anderen Requisiten an sich und schlichen sich dann zu derjenigen Stelle, an welcher man in Marions Vorzimmer gelangte.
Sie lauschten. Es ließen sich regelmäßige, durch die Entfernung gedämpfte Schritte hören.
„Sie scheint im Zimmer auf und ab zu gehen“, meinte Rallion.
„Ja. Wir müssen also warten.“
Sie warteten eine kurze Weile, dann waren die Schritte nicht mehr zu hören.
„Jetzt“, raunte der Alte seinem Spießgesellen zu. „Aber vorsichtig. Unsere Schritte müssen unhörbar sein. Haben Sie die Stricke bereit?“
„Ja.“
„Sie wird sich natürlich sträuben. Seien Sie nicht so zart mit ihr. Je fester wir zugreifen, desto eher und besser werden wir mit ihr fertig.“
Ein leises Rascheln ließ sich hören, so leise, daß selbst Rallion es kaum zu vernehmen vermochte. Der Alte öffnete das Täfelwerk. Sie blieben einige Augenblicke horchend stehen, und da sich nichts im Zimmer regte, so waren sie überzeugt, nicht gehört worden zu sein.
„Jetzt vorwärts!“ befahl der Kapitän.
„Lassen wir hier offen?“
„Ganz natürlich!“
Sie traten in das Vorzimmer. Es befand sich niemand da. Sie schlichen zu den Portieren und blickten hindurch. Marion saß in der bereits beschriebenen Stellung am Tisch.
Der Alte nickte dem Grafen aufmunternd zu, schob die Portieren zur Seite und trat ein, in den beiden Händen das Pelzstück haltend. Rallion folgte ihm mit den Stricken.
Der Kapitän machte zwei rasche Schritte vorwärts – ein unterdrückter Schrei erscholl oder vielmehr, er wollte erschallen, aber der Alte hielt dem Mädchen den Pelz so fest auf den Mund, daß es nicht laut schreien konnte. Und zugleich schlang Rallion ihm die Stricke um die Arme, mit denen es alle Anstrengung machte, den Kapitän von sich abzuwehren: dann wurden ihm auch die Füße gefesselt – es war gefangen.
„So!“ knurrte Richemonte vergnügt. „Diesmal ist das Täubchen eingefangen. Sie soll uns nicht wieder das Zöfchen in die Hände schieben. Schnell fort mit ihr.“
Sie faßten sie, die nicht im geringsten zu widerstehen vermochte, an und trugen sie hinaus. Dann schob der Alte die Täfelung wieder zu und verriegelte sie.
„Wohin nun?“ fragte Rallion.
„Zunächst hinunter in den Gang, gerade wie bei der Zofe. Hier stehen die Laternen. Brennen wir sie an.“
Rallion fühlte der Gefangenen nach dem Kopf und fragte:
„Haben Sie den Pelz nicht zu fest gebunden?“
„Nein.“
„Mir scheint es doch so. Wenn sie nun erstickt.“
„Pah! Solche Katzen ersticken nicht. Hier, hängen Sie sich die Laterne ins Knopfloch. Und dann hinunter.“
Sie trugen Marion bis zur Tür desjenigen Gewölbes, in dessen hinterem Teil die Zofe eingeschlossen worden war. Da hier der Kapitän seine Last niederlegte, fragte Rallion:
„Hier hinein?“
„O nein. Hier wäre sie nicht sicher aufgehoben, denn von da ist mir einer entkommen, ohne daß ich es mir erklären kann. Ich will einmal nachsehen, ob es mir vielleicht möglich ist, eine Spur zu entdecken. Bleiben Sie hier zurück, um über die Gefangene zu wachen.“
Er öffnete die Tür und trat in das Gewölbe, aus welchem er erst nach längerer Zeit zurückkehrte. Seine Miene war eine höchst verdrießliche.
„Etwas gefunden?“ fragte Rallion.
„Nein. Nicht eine Spur.“
„Sonderbar. Wenn einer entkommen ist, muß doch die Tür offen sein.“
„Sie haben gesehen, daß diese hier verschlossen war, und die hintere war es ebenso. Ich begreife das nicht!“
„Es muß jemand den Schlüssel haben.“
„Ganz sicher!“
„Aber wer?“
„Das werde ich schon noch herausbekommen. Fassen Sie wieder an. Wir gehen weiter.“
Sie trugen Marion bis an den Kreuzungspunkt der Gänge und lenkten dann rechts ein. An der Tür, durch welche der dicke Maler geführt worden war, blieben sie halten, um ihre Last niederzulegen.
„Nun sehen Sie“, meinte der Alte, „auch hier ist mir einer entkommen, sogar durch drei verschlossene Türen. Ich werde einmal vorangehen.“
Er öffnete die Tür und verschwand hinter ihr. Es dauerte eine geraume Zeit, ehe er wieder erschien. Er sagte in zornigem Ton:
„Man ist versucht, an Zauberei zu glauben. Auch hier ist der Gefangene verschwunden, ohne die geringste Spur zurückzulassen, aus welcher man schließen könnte, auf welche Art und Weise er entkommen ist.“
„Waren denn die Türen auch hier verschlossen?“
„Alle drei.“
„Ohne eine Spur von Verletzung zu zeigen?“
„Nicht die leiseste Spur.“
„So bleibt es dabei: Es besitzt jemand die Schlüssel. Wohin tragen wir Marion jetzt?“
„Hier herein.“
„Was? Hier herein? Von wo soeben einer entkommen ist?“
„Ja. Aber haben Sie keine Sorge! Die hier entkommt mir nicht. Vorwärts!“
Das gefesselte Mädchen wurde nach dem runden Raum geschafft, in welchem Schneffke gesteckt hatte. Dort legten sie es auf den Boden nieder.
„Sehen Sie, hier war der Gefangene eingeschlossen, und – fort ist er!“ sagte der Kapitän.
„Und Sie haben ihn bereits wiedergesehen?“
„Ja, bei Doktor Bertrand.“
„So kennt der Mensch, welcher die Schlüssel besitzt, auch die betreffenden Ausgänge.“
„Wenigstens einen derselben.“
„Dann ist es wirklich höchst nötig, zu erfahren, wer er ist. Aber was soll dieses Loch? Ist es ein Brunnen?“
„Scheinbar.“
„Also kein Wasser drin?“
„Zuweilen. Es ist der Eingang zu denjenigen Räumen, in welche mir sicherlich kein Unberufener gelangen wird.“
„Gehen denn Stufen hinab?“
„Nein.“
„Eine Leiter?“
„Auch nicht.“
„Donnerwetter! Wie gelangen wir denn da hinab?“
„Ja, das ist ein Rätsel!“ lachte der Alte. „Der dicke Kerl, welcher hier steckte, und derjenige, der ihn befreit hat, sie beide haben jedenfalls auch untersucht, ob da hinabzukommen sei. Sie werden mit der Hand hinabgegriffen haben, um nach Stufen zu suchen, haben aber nichts gefunden. Ich bin überzeugt, daß sie meinen, es wirklich mit einem Brunnen zu tun gehabt zu haben. Es sind Eisenstangen eingefügt, die oberste allerdings so tief, daß man sie nicht mit der Hand erreichen kann.“
„Mittels dieser Stange steigt man hinab?“
„Ja.“
„Auch wir jetzt mit Marion?“
„Natürlich. Auf der halben Tiefe halten wir an. Dort öffnet sich ein Gang, welchen wir passieren müssen. Ich steige voran und halte Marion, welche Sie an einem Strick herablassen. Dann folgen Sie.“
Marion erhielt einen Strick unter den Armen hindurch und wurde an demselben herabgelassen. Rallion stieg dann nach und trat in den neuen Gang, in welchem der Alte bereits seiner wartete. Sie trugen ihre Last den Gang entlang, stiegen mehrere Stufen empor und kamen dann an eine Stelle, wo es merklich heller wurde.
„Wir kommen wohl gar ins Freie?“
„Bewahre. Wir befinden uns zwar wieder in gleicher Höhe mit den Gewölben, aber ins Freie führt dieser Gang doch nicht. Der Schimmer kommt von oben herab.“
„Wohl gar ein Fenster?“
„Nein. Ein Luftloch, weiter nichts.“
„Wohin mündet es denn?“
„In den Wald.“
„Wenn es nun entdeckt wird?“
„Das ist nicht möglich.“
„Wie nun, wenn einer in dieses Loch stürzt.“
„Das ist nicht denkbar. Das Loch ist mit Moos verschlossen, welches zwar die Luft hindurchläßt, aber keinen Menschen, da es auf festen Holzprügeln ruht. Doch wollen wir uns dabei nicht aufhalten. Vorwärts wieder.“
„Noch weit?“
„Nein. Sehen Sie die Türen rechts und links?“
„Ja.“
„Rechts die fünfte ist es.“
Sie schritten weiter und entfernten sich so von dem Loch. Als sie die betreffende Tür erreichten, öffnete der alte Kapitän. Es gähnte ihnen ein finsteres Loch entgegen. Auf dem Boden lag Stroh. Sonst war nichts, gar nichts vorhanden. In dieses Loch wurde Marion gelegt.
„Ob sie noch lebt?“ fragte Rallion, der bei seiner Liebe für das schöne Mädchen sich doch beunruhigt fühlte.
„Wie sollte sie gestorben sein! Machen Sie den Pelz auf.“
Rallion kniete nieder und entfernte das Pelzwerk vom Gesicht, welches er mit der Laterne beleuchtete.
„Alle Teufel!“ rief er. „Sie ist tot!“
„Unsinn!“
„Sehen Sie her!“
Marions Augen waren geschlossen; ihr Gesicht hatte allerdings die Blässe des Todes. Der Alte bückte sich nieder und befühlte die gefesselte Hand.
„Pah!“ sagte er. „Haben Sie keine Sorge! Sie ist ohnmächtig, aber nicht tot.“
„Wirklich?“
„Ja; ihr Puls geht doch.“
„Gott sei Dank!“
„Na, verliebt scheinen Sie wirklich zu sein!“ höhnte er. „Soll ich Sie mit der Angebeteten allein lassen?“
„Hm! Was soll ich hier?“
„Narr! Die Zeit benutzen! Sie ist gefesselt; sie befindet sich ja in Ihren Händen.“
„Wohin gehen Sie?“
„Zurück, um Lebensmittel zu holen.“
„Für Marion?“
„Für sie und für andere. Sie wird nämlich nicht meine einzige Kostgängerin sein. Ich habe noch zwei andere Personen zu versorgen, und da ich nach Paris muß und nicht weiß, wann ich wiederkomme, will ich sie mit hinreichendem Wasser und Brot versehen.“
„Sie kommen aber doch wieder?“
„Natürlich.“
„Wann?“
„In vielleicht einer Stunde.“
„So spät?“
„Sie haben ja den Weg selbst mitgemacht. Und zudem habe ich das Wasser und das Brot zu schleppen. Dieses letztere kann ich mir nur heimlich nehmen, wenn niemand sich im Speisegewölbe befindet. Darum ist es möglich, daß ich erst in einigen Stunden zurückkehren kann.“
„Donnerwetter!“ fuhr Rallion auf.
„Was?“
„Ich hoffe doch nicht –“
„Was hoffen Sie nicht?“
„Daß Sie mich hier sitzen lassen werden.“
„Sind Sie verrückt!“
„Nein, das nicht; aber –“
„Was aber –“
„Sie scheinen hier ziemlich viele Gemächer zu haben, welche für unfreiwillige – Sommerfrischler bestimmt sind –“
„Und Sie meinen –“
„Wie nun, wenn Sie bei der Verwundung, welche ich in dem verdammten, alten Kloster erhalten habe, für mich auch eine solche Erholung, eine solche Sommerfrische für nötig hielten!“
„Ich frage noch einmal, ob Sie verrückt sind.“
„Das nicht, aber vorsichtig bin ich.“
„Ich werde Sie doch nicht hier zurückhalten.“
„Nicht? Werden Sie mich mit Marion hier einschließen?“
„Nein. Die Tür bleibt offen, bis ich zurückkehre, vorausgesetzt, daß Sie das Mädchen nicht entfesseln. Wie können Sie auf den ganz und gar hirnverbrannten Gedanken kommen, daß ich Sie feindlich behandle, da wir doch morgen miteinander verreisen.“
„Hm! Sie sind allen denen, welche Ihnen unbequem werden, ein gefährlicher Mann, und ich weiß doch nicht recht genau, ob ich Ihnen bequem bin.“
„Lassen Sie diese albernen Gedanken. Sie sollen ja mein Schwiegersohn werden! Würde ich Sie so vertrauensvoll in diese unterirdischen Gänge einführen, würde ich Ihnen meine Enkelin in dieser Weise widerstandslos in die Hände liefern, wenn ich Ihnen feindselig gesinnt wäre! Ja, ich will Ihnen noch einen großen Beweis meines Vertrauens geben, indem ich Ihnen den einzigen Gefangenen zeige, welcher sich noch hier unten befindet. Kommen Sie!“
„Wer ist der Mann?“
„Ein Deutscher. Er kam, um eine Kriegskasse auszugraben, welche den Franzosen gehört. Ich habe ihn daran gehindert, indem ich mit ihm kämpfte und ihn dann heimlich als Gefangenen nach Ortry schaffte.“
„Wie heißt er?“
„Er ist ein Königsau, ein Angehöriger einer Familie, welche ich hasse, wie ich niemand weiter gehaßt habe.“
Er ging nun einige Türen weiter und öffnete eine derselben. Ein fürchterlicher Gestank quoll ihnen entgegen. Als der Alte in das Loch leuchtete, sah Rallion, daß dasselbe fußhoch mit mistigem Stroh und Menschenkot angefüllt war. Es hatte ganz das Aussehen einer Düngergrube. Und da lag ein Mensch, zusammengeringelt wie ein Hund, mit Fetzen auf dem Leib, welche kaum noch Fetzen genannt werden konnten.
„Das ist er!“ sagte der Alte, in dessen Gesicht es wie eine teuflische Freude leuchtete.
„Einer dieser verdammten Deutschen!“ meinte Rallion. „Ah, ihnen gehört nichts anderes. Möchten sie alle so verfaulen wie dieser eine hier!“
„Ja, er verfault; er verfault bei lebendigem Leib. Ich räche an ihm, was ich an seiner Familie nicht mehr rächen kann. Er weiß, wo die Kasse vergraben liegt; er soll es mir sagen, und er tut es nicht. Er bleibt so lange hier, bis er es gesteht, und dann – – –“
Er hielt inne.
„Und dann?“ fragte Rallion.
„Dann muß er dennoch sterben!“ flüsterte ihm der Alte zu, damit der Gefangene es nicht hören solle.
Und lauter fügte er hinzu:
„Steh auf. Laß dich sehen, Hund!“
Der Gefangene bewegte sich nicht. Da griff der Kapitän an die Mauer. Dort hing eine Peitsche am Nagel. Er nahm sie herab und schlug damit auf den Unglücklichen los, bis dieser sich langsam und mühsam erhob.
Er war an Ketten gefesselt, so daß er sich kaum drei Fuß weit bewegen konnte. Sein langes graues Haar hing ihm bis auf die Hälfte des Rückens herab, und sein ebenso langer und ebenso grauer Bart berührte mit seiner Spitze beinahe das Knie. Die Wangen waren eingefallen, und die Augen lagen tief. Bart und Haar waren mit Kot besudelt.
„Hast du Hunger, Königsau?“ fragte der Alte.
Der Gefragte antwortete nicht. Da gab ihm der Kapitän einen Hieb mit der Peitsche und wiederholte:
„Ob du Hunger hast, frage ich.“
„Nein“, erklang es matt und hohl.
„Durst?“
„Nein.“
„Willst du frei sein?“
„Nein.“
„Sterben?“
„Nein.“
„Hund! Sage die Wahrheit, sonst bekommst du die Peitsche wieder. Willst du frei sein?“
„Durch dich nicht!“
„Ah! Durch wen denn?“
„Die Meinigen werden kommen und mich holen.“
Da schlug der Alte eine heisere, höhnende Lache an und sagte:
„Wenn sie kommen, so stecke ich sie zu dir. Ich würde deine ganze Brut ausrotten, wenn sie sich zu mir wagte!“
Er hing die Peitsche wieder an die Wand und schloß die Tür zu.
„Das ist Rache!“ sagte er. „Die Peitsche hängt drin bei ihm, und er kann dieses Folterwerkzeug nicht vernichten. Die Schlüssel zu seinen Fesseln hängen an demselben Nagel, und er kann nicht zu ihnen, eben weil er gefesselt ist.“
„Eigentlich schrecklich.“
„Und doch nicht schrecklich genug. Und dazu sage ich Ihnen, daß dieser Mensch mein – Neffe ist.“
„Ihr – – – Neffe?“ fragte Rallion erschrocken.
„Ja. Vielleicht erzähle ich Ihnen einmal davon. Ihr Vater weiß bereits einiges. Aber jetzt gehe ich. Haben Sie nun Vertrauen zu mir und glauben Sie, daß ich wiederkomme und Sie abhole?“
„Sicher.“
„Gut. So bekämpfen Sie einstweilen diese spröde Unschuld da drin. Ich wünsche, daß Sie Sieger sind, wenn ich zurückkehre.“
Er ging, während Rallion in die Zelle trat, in welcher Marion lag.