DRITTES KAPITEL Befreit!

Müller war auf sein Zimmer gegangen, um seine Sachen einzupacken. Der Koffer wurde von einem Stallbediensteten geholt, und dann entfernte sich der so schnell entlassene Hauslehrer, ohne von irgendeinem Menschen Abschied zu nehmen.

Er tat, als sei er willens, den Weg nach der Stadt einzuschlagen, wendete sich aber, als es nicht mehr bemerkt werden konnte, dem Wald zu, wo er an der betreffenden Stelle auf den treuen Fritz Schneeberg traf.

„Hast du alles besorgt?“ fragte er.

„Ja, Herr Doktor.“

„Hm! Es hat sich ausgedoktert, lieber Fritz.“

„Leider. Wir müssen fort. Aber wird man Sie lassen?“

„Ich habe den Abschied bereits.“

„Das hätte ich nicht für möglich gehalten.“

„Oh, der Alte ist froh, daß er mich los ist.“

„Das glaube ich allerdings ohne weiteres. Aber wenn er alles wüßte, würde er Sie gewiß nicht fortlassen.“

„Nein, nein. Ich müßte sterben oder würde eingesperrt gerade wie die anderen da unten.“

„Wir haben sie ja herausgeholt.“

„Allerdings; aber glaubst du, daß nun niemand mehr da unten steckt?“

„Wer denn noch? Ah, Sie meinen Liama!“

„Diese und – mein Vater.“

„Sollten Sie sich denn wirklich nicht täuschen? Sollte Ihr Herr Vater wirklich hier eingemauert sein?“

„Ich denke es. Die Worte des verrückten Barons lassen es mich vermuten.“

„Herr, mein Heiland! Da könnte ich mit Säbeln, Fäusten und Knütteln dreinschlagen. Und – wir müssen fort.“

„Leider! Wir sind die letzte Nacht hier; aber diese Zeit will ich auch benutzen. Ich werde alles, alles durchsuchen.“

„Und wieder nichts finden.“

„Oh, wahrscheinlich doch. Wir glaubten bisher, alle Räumlichkeiten kennengelernt zu haben, aber es ist nicht wahr. Es gibt noch Gänge, welche wir noch nicht gesehen haben.“

„Den Gang, in den der Dicke gestürzt ist?“

„Ja. Und vielleicht ist dieser der richtige. Der blödsinnige Baron sprach von einem Gewölbe oder Keller des Mittelpunktes –“

„Er meinte den Kreuzungspunkt der uns bisher bekannten Gänge.“

„Nein. Ich habe nachgedacht und mir die Situation überlegt. Die Gänge sind oft gewunden. Ihr Kreuzungspunkt liegt nicht, wie ich erst glaubte, in der Mitte. Wenn ich vom Schloß aus eine Linie nach dem Steinbruch und von dem alten Turm eine zweite nach der Klosterruine ziehe, so schneiden sich diese beiden Geraden jedenfalls so ziemlich an dem Punkt, an welchem Herr Hieronymus Aurelius Schneffke in die Tiefe gefahren ist.“

„Sapperlot.“

„Dort soll, nach der Aussage des Verrückten, sich der befinden, dessen Person mit der Kriegskasse in Beziehung steht. Wer könnte das sein, wenn nicht mein Vater?“

„Da müssen wir allerdings auch suchen, Herr Doktor. Sie haben sich dort den Ort gemerkt?“

„Sehr genau. Komm nur. Wir wollen jede Minute zu Rate ziehen und keine Sekunde verschwenden.“

Sie drangen mit großen Schritten in den Wald ein, bis sie den Ort erreichten, auf welchem die gefällten Bäume lagen. Man hatte die jungen, vielleicht zwanzigjährigen Stämmchen von den Ästen entblößt und sie dann in numerierten Haufen geordnet.

„Hier ist es wohl?“ fragte Fritz.

„Nein. Aber wir brauchen einige Stämmchen, welche wir mitnehmen müssen.“

„Um sie als Leitern zu gebrauchen?“

„Vielleicht, vielleicht auch nicht. Die Umgebung des Loches ist nämlich unvergeßlich. Die eigentliche Öffnung ist viel weiter als das Loch, durch welches Schneffke gestürzt ist. Das Moos ruht auf einer dünnen Unterlage, welche leicht nachgeben kann.“

„So müssen wir die Stämme quer darüberlegen.“

„Das meine ich eben auch.“

„An die Stämme können wir dann unsere Stricke befestigen, an denen wir hinab- und wieder hinaufturnen.“

„Das ist der Gedanke, den ich gehabt habe. Greifen wir also zu!“

Bei Schneffke hatte Müller nur einen Stamm gebraucht, der kräftige Fritz nahm jetzt aber deren drei auf die Achseln, und Müller tat dasselbe. Bei dem Loch angekommen, legten sie die Hölzer kreuzweise über dasselbe weg. Dann kniete der letztere, da die Unterlage nun vollständige Sicherheit bot, nieder, um einen der Stricke an den Kreuzungspunkt zweier Stämmchen zu befestigen.

Indem er das tat, war es ihm, als ob er unter sich ein Geräusch vernehme.

„Pst! Still, Fritz!“ warnte er. „Ich höre etwas.“

Er horchte und schob das Moos ein wenig zur Seite. Ein Lichtschein näherte sich.

„Schnell! Knie mit her, ob du etwas siehst oder hörst“, sagte er. „Zwei bemerken mehr als nur einer.“

Im nächsten Augenblick lag Fritz neben ihm. Auch dieser machte sich ein Löchlein in das Moos, um besser sehen zu können. Von unten herauf ertönten die Worte:

„Wir kommen wohl gar ins Freie?“

„Bewahre. Wir befinden uns zwar wieder in gleicher Höhe mit den Gewölben, aber ins Freie führt dieser Gang doch nicht. Der Schimmer kommt von oben herab.“

„Wohl gar ein Fenster?“

„Nein, ein Luftloch, weiter nichts.“

„Wohin mündet es denn?“

„In den Wald.“

„Wenn es nun entdeckt wird?“

„Das ist nicht möglich.“

„Wie nun, wenn einer in dieses Loch stürzt!“

„Das ist nicht denkbar. Das Loch ist mit Moos verschlossen, welches zwar die Luft durchläßt, aber keinen Menschen, da es auf festen Holzprügeln ruht. Doch wollen wir uns dabei nicht aufhalten. Vorwärts wieder!“

„Noch weit?“

„Nein. Sehen Sie die Türen rechts und links?“

„Ja.“

„Rechts die fünfte ist es.“

Der Lichtschein verschwand nach der entgegengesetzten Seite.

„Hast du es gehört?“ fragte Müller.

„Ja.“

„Auch etwas gesehen?“

„Alle drei.“

„Ich nur einen. Das Moos ist hier zu dicht.“

„Wen haben Sie gesehen?“

„Den Kapitän. Wer waren die anderen?“

„Rallion. Die beiden trugen eine gefesselte Person. Es schien ein Frauenzimmer zu sein.“

Sofort kam Müller ein erschreckender Gedanke.

„Ein Frauenzimmer?“ fragte er. „Vielleicht war es nur ein Paket.“

„Nein, ein gefesseltes Frauenzimmer.“

„Hast du das genau gesehen?“

„Ja. Der Kopf war eingewickelt.“

„Herrgott! Hast du nichts vom Kleid bemerkt?“

„Es schien hellgrau zu sein. Aber die beiden Laternen haben so wenig Licht, daß ich mich leicht täuschen kann.“

„Fritz, da ist wieder ein schlimmer Streich ausgeführt worden. Marion hatte ein hellgraues Kleid!“

„Sie meinen doch nicht etwa – – –“

„Ja, grad das meine ich.“

„Das sie Mademoiselle Marion in so ein Loch schleppen?“

„Gewiß meine ich das. Sie haben es doch bereits einmal versucht. Und denke an den Auftritt bei Doktor Bertrand.“

„Alle Teufel! Es ist möglich! Wir müssen sie natürlich heraus holen!“

„Versteht sich! Ich klettere hinunter!“

„Jetzt?“

„Herr Doktor, warten Sie noch.“

„Nein, nein.“

„Nur bis sie wieder fort sind.“

„Fällt mir nicht ein. Wer weiß, was unterdessen geschehen ist.“

„Sie werden sie einfach einschließen und sich dann wieder entfernen. Nachher können wir in Gemütlichkeit und ohne alle Gefahr hinab, um sie zu befreien.“

„Nein, ich klimme jetzt am Seil hinunter!“

„Aber man wird Sie sehen.“

„Ich glaube nicht. Sagte der Alte nicht, daß es die fünfte Tür sei?“

„Ja.“

„Nun, ich war bereits unten und habe bemerkt, daß die Türen in einer Entfernung von ungefähr zwanzig Schritten voneinander angebracht sind. Das gibt über hundert Schritte, eine Entfernung, welche mir vollständig genügt. Sie können mich gar nicht bemerken.“

„Es ist dennoch gefährlich. Darf ich mit?“

„Nein. Du mußt hier bleiben, ich komme mit deiner Hilfe viel rascher hinab und herauf. Du wirst schon merken, wenn ich wiederkomme. Das andere Ende des Seiles behältst du in der Hand. Greift jemand daran, und es ist unten dunkel, so bin ich es. Siehst du aber den Lichtschein wieder kommen, so ziehst du es schnell herauf, damit man es nicht bemerkt. Also rasch!“

„Ihre Revolver sind doch geladen?“

„Ja.“

„Gut. Wenn Sie schießen, komme ich hinab, und dann soll der Teufel diese verdammten Schufte bei den Haaren holen. Also Vorsicht.“

Er sagte diese letzten Worte, weil sein Herr bereits am Seil hing und schnell unter dem Moose verschwand.

Müller faßte festen Boden und blickte sich um; weit, weit hinten sah er den Lichtschein. Er schlüpfte darauf zu, bis er die erste Tür erreichte. Als vorsichtiger Mann zog er den Schlüssel und steckte ihn in das Schloß. Er paßte, und das beruhigte ihn.

Nun schlich er leise und vorsichtig weiter. Es gelang ihm, so nahe zu kommen, daß er nicht nur alles sehen, sondern sogar einiges verstehen konnte.

„Darum ist es möglich, daß ich erst in einigen Stunden zurückkehren kann“, sagte eben der Alte.

„Donnerwetter!“ fluchte Rallion.

„Was?“

„Ich hoffe doch nicht!“

„Was hoffen Sie nicht?“

Das Folgende wurde so schnell und in eigentümlichem Tonfall gesprochen, daß es nur als Gemurmel an Müllers Ohr drang. Sodann hörte er Rallion fragen:

„Wer ist der Mann?“

„Ein Deutscher. Er kam, um die Kriegskasse auszugraben. Ich habe ihn daran gehindert – – –“

„Wie heißt er?“

Die Antwort verstand Müller nicht.

Die beiden Schurken gingen einige Türen weiter und blieben dann vor einer stehen, welche der Kapitän öffnete. Müller schlich sich nach, bis er vor derjenigen stand, an welcher sich die beiden vorher befunden hatten. Er konnte nun nicht weiter, da Rallion in dieser Zeit seine Laterne stehen gelassen hatte. Wäre er in den Schein derselben getreten, so hätte er bemerkt werden müssen. Er horchte um so schärfer hin und hörte den Alten sagen:

„Das ist er!“

„Einer dieser verdammten Deutschen! – – –“

„Ja, er verfault; er verfault bei lebendigem Leib!“

Das andere blieb unverständlich, bis der Alte mit lauter Stimme befahl:

„Steh auf! Laß dich sehen, Hund!“

Nun trat der Kapitän in die Zelle. Was er hier tat und sprach, das konnte Müller nicht sehen und nicht hören. Und das war ein Glück. Hätte er bemerkt, daß der Insasse des Lochs geschlagen wurde, so hätte er sich auf Rallion und Richemonte gestürzt und beide erwürgt.

Er sagte sich, daß seine Ahnung ihn nicht getäuscht habe, daß der, bei dem sich jetzt die beiden befanden, sein Vater sei. Sein Herz bebte vor Wonne, Verlangen, Zorn und Grimm; aber er beherrschte sich. Er mußte ruhig bleiben und seine ganze Besonnenheit zu wahren suchen.

Endlich verschloß der Alte die Tür. Müller hörte ihn sagen:

„Das ist Rache – – – und die Schlüssel zu seinen Fesseln hängen an demselben Nagel, und er kann nicht zu ihnen, eben weil er gefesselt ist!“

Rallion murmelte eine Antwort, welche Müller nicht verstand; der Kapitän antwortete etwas darauf, und dann sagte Rallion:

„Ihr – – – Neffe?“

„Ja. Vielleicht erzähle ich Ihnen – – –“

Müller konnte nichts weiter verstehen, weil er sich zurückziehen mußte, da die beiden wieder zurückkamen. Dabei aber vernahm er doch wieder des Alten Worte:

„Haben Sie nun Vertrauen zu mir?“

„Ja.“

„Sie glauben, daß ich wiederkomme und Sie abhole?“

„Sicher!“

„Gut. So bekämpfen Sie einstweilen diese spröde Unschuld da drin. Ich wünsche, daß Sie Sieger sind, wenn ich zurückkehre.“

Jetzt sah Müller, daß der Kapitän sich entfernen wollte. Darum mußte er fort. Auf den Zehen gehend, lief er beinahe Trab, denn er mußte bereits in Sicherheit sein, wenn der Alte unter dem Luftloch ankam.

Er erreichte dasselbe. Der Strick hing noch. Er ergriff denselben, turnte rasch empor und fühlte dabei, daß Fritz das Ende an sich zog. Oben angekommen, das auseinandergerissene Moos zusammenstreichen und sich niederlegen, was das Werk eines Augenblicks.

„Haben Sie etwas gesehen?“ flüsterte Fritz.

„Pst! Man kommt!“

Sie sahen nun beim Schein seiner Laterne den Alten unten passieren.

„Der Kapitän allein?“ fragte Fritz.

„Ja. Ich hatte mich sehr zu beeilen, um von ihm nicht erwischt zu werden.“

„Wo ist Rallion geblieben?“

„In der fünften Zelle. Er soll da eine Spröde besiegen.“

„Donnerwetter! Wenn das Marion ist.“

„Wahrscheinlich ist sie es. Wir müssen sofort hinab.“

„Ich mit.“

„Ja. Übrigens ist mein Vater unten.“

„Herr des Himmels! Haben Sie ihn gesehen?“

„Nein. Aber ich kann dir jetzt nichts weiter sagen. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Wer weiß, was dieser Schuft mit Marion vor hat. Ich gehe voran und du kommst sofort nach.“

„Aber wenn der Alte zurückkehrt, befinden wir uns zwischen zwei Feuern.“

„Er wird erst nach einigen Stunden kommen, wie ich gehört habe. So lange sind wir sicher. Komm!“

Er griff sich an dem Seil hinunter, und einen Augenblick später stand Fritz neben ihm.

Sie sahen den Schein von Rallions Laterne aus der offenen Kerkertür dringen und schlichen sich leise hinzu.

„Ich höre sprechen!“ sagte Fritz.

„Ich auch. Wollen den Kerl erst belauschen.“

Marion war nämlich aus ihrer Ohnmacht erwacht, und Rallion sprach mit ihr. Die beiden Deutschen kamen unbemerkt bis an die offene Zellentür und blieben da stehen. Müller streckte den Kopf ein wenig vor und sah Marion, an Händen und Füßen gefesselt auf dem Stroh liegen. Rallion kniete neben ihr und sagte eben jetzt:

„Wie, Sie könnten mich wirklich nicht lieben?“

„Ich verachte Sie“, antwortete sie.

„Oh, ich heirate Sie trotz dieser Verachtung.“

„Elender! Geben Sie mir die Hände frei, und ich werde Ihnen zeigen, was Ihnen gehört.“

„Die Hände freigeben? Fällt mir nicht ein.“

„Feigling.“

„Ja, ich springe eines schönen Mädchens wegen nicht in die Mosel, wie Ihr buckeliger Schulmeister; ich weiß mir die Schönheit auf andere Weise untertänig zu machen. Ich frage Sie zum letztenmal, ob Sie meine Frau werden wollen.“

„Nie.“

„Und dennoch werden Sie es.“

„Niemals.“

„Ah, ziehen Sie vielleicht vor, meine Geliebte zu sein?“

„Eher würde ich sterben.“

„Wie wollen Sie sterben? Wollen Sie sich erschießen, ersäufen, vergiften? Sie sind ja gefesselt.“

„Ich werde diese Fesseln nicht immer tragen.“

„Allerdings ist das wahrscheinlich; aber bis dahin sind Sie mein Eigentum geworden. Bis der Kapitän zurückkehrt, habe ich Ihren Widerstand gebrochen. So ist es zwischen uns verabredet worden.“

Jetzt legte Müller sich auf den Boden und kroch näher. Der Franzose kniete so, daß er dem Eingang den Rücken zukehrte; er konnte den Deutschen nicht sehen. Auch Marion sah ihn nicht, da Rallion sich zwischen ihnen befand.

„Ungeheuer!“ antwortete sie voller Abscheu.

Er streckte die Arme nach ihr aus, um sie zu umfassen. Sie schnellte sich trotz ihrer Fesseln zur Seite.

Angst und Abscheu zuckten über ihr schönes Gesicht; aber – was war das? Plötzlich leuchteten ihre Augen auf. Sie warf einen triumphierenden Blick auf Rallion und sagte:

„Rühre mich nicht an, Elender, sonst bis du verloren.“



Da sie eine andere Stellung eingenommen hatte, war ihr Blick auf Müller gefallen, welchen jetzt das Licht traf.

Rallion lachte laut und fragte:

„Ich, verloren? Was willst du mir tun? Du entschlüpfst mir nicht. Komm her. Ich will Liebe und Seligkeit von deinen süßen Lippen trinken.“

Es gelang ihm, sie zu fassen, aber in demselben Augenblick legte ihm Müller seine Linke von hinten um den Hals und schlug ihn mit der geballten Rechten so an die Schläfe, daß er sofort zusammenbrach.

„Ist es so recht, gnädiges Fräulein?“ fragte er dann lächelnd.

Ihr Auge ruhte mit einem Strahl auf ihm, der ihm bis ins tiefe Herz drang.

„Zur rechten Zeit!“ sagte sie. „Im letzten, allerletzten Augenblick!“

„Aber doch nicht zu spät. Bitte, geben Sie her!“

Er zog sein Messer und ergriff ihre Hände, um diese von den Fesseln zu befreien. Da aber erklang es hinter ihm:

„Nicht schneiden. Nicht schneiden, Herr Doktor!“

„Noch jemand hier?“ fragte Marion überrascht.

„Nur ich, Mademoiselle!“ antwortete Fritz, indem er aus dem Dunkel nähertrat.

„Monsieur Schneeberg! Wenn es eine Heldentat gibt, sind Sie doch stets dabei.“

„Oh, hier handelt es sich um kein großes Heldentum!“

„Aber warum mit die Fesseln nicht abnehmen? Soll ich gebunden bleiben?“

„Nein. Nur nicht zerschneiden soll der Herr Doktor die Stricke.“

„Warum?“

„Sie müssen ganz bleiben, weil wir diesen braven Rallion damit binden müssen.“

„Ach so! Soll das wirklich geschehen, Herr Doktor?“

„Fritz hat recht“, antwortete Müller. „Wir müssen diesen Menschen wenigstens für so lange unschädlich machen, als wir uns hier befinden.“

Er begann also die Knoten der Stricke zu lösen und erkundigte sich dabei:

„Aber wie sind Sie in die Hände dieser beiden Elenden gefallen, jetzt, am hellen Tag?“

Sie erzählte es und fragte dann:

„Und wie konnten Sie wissen, daß ich mich in dieser schrecklichen Gefahr befand?“

„Davon nachher. So, jetzt sind Sie frei. Bitte, treten Sie hinaus in den Gang, während wir Rallion binden.“

Sie berücksichtigte diese Bitte. Rallion, welcher noch ohne Bewußtsein war, wurde gefesselt, wie vorher Marion es gewesen war; dann schloß Müller ihn ein, ließ ihm aber die brennende Laterne in der Zelle.

„Was nun?“ fragte jetzt Fritz. „Sie sagten doch vorhin, daß auch Ihr – – –“

Müller warf ihm einen warnenden Blick zu und fiel ihm dabei in die Rede:

„Behalten wir unsere Besonnenheit! Vor allen Dingen muß ich wissen, wie dieser Gang mit den übrigen Gängen in Verbindung steht. Sehen konnten Sie nichts, gnädiges Fräulein?“

„Nein.“

„Aber hören?“

„Vieles habe ich nicht vernommen. Ich bekam fast gar keinen Atem; es rauschte mir in den Ohren, und dann verlor ich die Besinnung. Als ich erwachte, befand sich dieser entsetzliche Rallion bei mir.“

„Darf ich nicht das wenige wissen, was Sie hörten?“

„Man hatte mich auf kalte, feuchte Steine gelegt und da sprachen sie von einem Brunnen.“

„Ah!“

„Von da, wo sie sich befanden, war, wie der Kapitän sagte, ein Gefangener entkommen, den er dann bei Bertrand wieder gesehen hat.“

„Das ist der Maler gewesen.“

„Der Brunnen war nur scheinbar ein Brunnen.“

„Ich war dort; ich habe ihn gesehen.“

„Ich auch“, fügte Fritz hinzu. „Was soll es denn sein, wenn es kein Brunnen ist?“

„Ein Eingang. Es sind Eisenstangen eingefügt, auf welche man treten kann.“

„Dann muß aber die oberste dieser Stangen so tief unten sein, daß man sie mit der Hand nicht erreichen kann.“

„Das eben sagte der Kapitän.“

„Hat man Sie da hinabgetragen?“

„Die beiden stiegen hinunter; ich wurde an einem Strick hinabgelassen.“

„Wohin ging es dann?“

„Ich hörte sagen, daß in halber Tiefe des Brunnens sich ein Gang öffne. Dahinein wird man mich gebracht haben, wie ich vermute.“

„Aber dieser liegt in gleichem Niveau mit den anderen –“

„Ich habe gefühlt, daß ich eine Reihe von Stufen emporgetragen wurde.“

„Ah so! Hörten Sie vielleicht Türen öffnen?“

„Nein.“

„Schön, das genügt! Wir beide, gnädiges Fräulein, werden auf diesem Weg zurückkehren.“

„Wohin?“

Und ehe Müller noch antworten konnte, fiel Fritz ein:

„Aber warum denn nicht zu unserem Loch hinauf, Herr Doktor?“

„Ich habe meine Absicht. Da hinauf wirst du mit dem anderen Gefangenen müssen.“

„Noch ein Gefangener?“ fragte Marion.

„Leider, ja!“

„Natürlich befreien wir ihn?“

„Selbstverständlich!“

„Wo befindet er sich?“

„Gar nicht so weit von hier. Bitte, wollen Sie hier warten?“

„Warum soll ich nicht mit?“

„Der Anblick der Zelle und des Gefangenen ist zu gräßlich für Sie.“

„Alles, was Sie tun, Herr Doktor, ist wohlüberlegt und gut, ich muß Ihnen gehorchen. Aber hier diese Finsternis!“

„Wir werden Ihnen eine der Laternen zurücklassen.“

„Aber bleiben Sie nicht lange!“

Die beiden schritten weiter in den Gang hinein.

„Warum darf sie nicht mit?“ fragte Fritz leise.

„Weil ich um dich besorgt war.“

„Um mich?“

„Ja. Hättest du nicht vorhin beinahe alles verraten?“

„Verzeihung, Herr Doktor!“

„Von meinem Vater zu sprechen!“

„Aber es muß doch herauskommen!“

„Doch jetzt noch nicht.“

„Ich denke dennoch. Wenn wir ihn hin zu ihr bringen.“

„Wieso denn?“

„Nun, er wird Sie doch seinen Sohn nennen!“

„Ich sage ihm gar nicht, daß ich sein Sohn bin.“

„Herr Doktor, bringen Sie das übers Herz?“

„Es muß sein. Ich habe mit Schmerzen nach ihm gesucht und jetzt, da ich ihn finde, will mir das Herz vor Wonne zerspringen; trotzdem muß ich schweigen.“

„Ich sehe doch keinen Grund!“

„Es gibt sogar mehrere. Zunächst soll Marion noch nicht wissen, wer und was ich bin, und sodann muß ich den Vater schonen. Er ist kaum noch lebendig zu nennen. Der Gedanke, frei zu sein, wird ihn überwältigen. Hört er, daß ich sein Sohn bin, so kann ihn die Freude geradezu töten. Man darf ihm das Glück nur nach und nach beibringen. Das klingt beinahe herzlos, aber du kennst mich; du weißt, daß ich ein Herz habe.“

„Oh, Herr Doktor, was das betrifft, so ist – – – ah, das Licht nähert sich, Mademoiselle kommt also!“

Es war so; Marion kam ihnen nach.

„Zürnen Sie nicht!“ bat sie. „Ich war allein, und Sie standen beratend beieinander, ich glaubte, es gebe irgendeine Gefahr.“

„Es gibt keine“, beruhigt sie Müller. „Aber, da Sie nun hier sind, so sollen Sie auch bleiben. Doch müssen Sie sich auf Schreckliches gefaßt machen.“

„Schrecklicher kann es nicht sein, als die Einsamkeit in diesen Gängen!“

Müller zog den Schlüssel und öffnete. Er holte tief, tief Atem. Er mußte seine ganze Selbstbeherrschung zusammennehmen, um nicht unter lautem Schluchzen sich dem Vater zu erkennen zu geben.

Der Gefangene bewegte sich nicht, als der Schein des Lichtes abermals in seine Zelle drang. Aber bei dem Anblick dieses Elendes stieß Marion einen lauten Schrei des Entsetzens aus.

„Vater im Himmel!“ sagte sie. „Liegt hier ein Mensch?“

„Leider!“ stieß Müller hervor, indem er die Zähne zusammenbiß.

Bei dem Klang der weiblichen Stimme hob der Gefangene den Kopf.

„Ein Weib! Wahrhaftig, ein Weib!“ stammelte er. „Was willst du von mir?“

Sie trat trotz des entsetzlichen Gestankes näher und sagte:

„Ich bringe Ihnen die Freiheit.“

„Die Freiheit? Oh, welcher Hohn!“

„Es ist kein Hohn; es ist die Wahrheit.“

Er richtete sich weiter auf und fragte mit zitternder Stimme:

„Weib, Mädchen, betrüge mich nicht!“

Müllers Stimme zitterte nicht weniger, als er bestätigte:

„Man betrügt Sie nicht; es ist die Wahrheit.“

Er hatte diese Worte in deutscher Sprache gesprochen. Darum fuhr der Gefangene auf:

„Was höre ich? Man spricht deutsch? Deutsch, deutsch! Mein Gott, wie lange habe ich diese Klänge nicht gehört!“

Und laut weinend brach er wieder zusammen.

Marion weinte mit. Fritz schluchzte, und Müller preßte wohl die Zähne zusammen, aber die Tränen flossen ihm doch über die Wangen herab.

„Haben Sie nicht vorhin dem Kapitän gesagt, daß Deutsche kommen würden, um Ihnen die Freiheit zu bringen?“ stieß er dann hervor.

„Ja, das sagte ich. Haben Sie es gehört?“

„Ich stand in der Nähe und lauschte. Wo hängen die Schlüssel zu Ihren Fesseln?“

„Dort, unter der Peitsche.“

Erst jetzt erblickte Müller die Peitsche.

„Eine Peitsche!“ rief er aus. „Sind Sie etwa geschlagen worden? Schnell, schnell, sagen Sie es!“

Der Gefangene schüttelte den Kopf, aber er antwortete nicht.

„Sagen Sie es!“ drängte Müller.

„Kann der Tote sagen, daß er gestorben ist?“

„Herr, mein Gott! Ja, Sie haben recht! Sie können nicht davon sprechen! Aber wehe dir, alter Satan! Du sollst jeden Hieb zehnfach empfinden! Diese Peitsche wird mit uns gehen. Der Name Königsau, welcher durch sie befleckt worden ist, soll – – –“

Er hielt inne. Der Grimm hatte ihn vermocht, diesen Namen zu nennen. Der Gefangene näherte sich rasch, so weit als die Kette und seine Kräfte es erlaubten, und fragte:

„Was war das? Welchen Namen nannten Sie?“

„Königsau“, antwortete Müller, da es nun nicht mehr zu umgehen war.

„Wirklich! Oh, ich hatte doch recht gehört! Kennen Sie diesen Namen?“

„Ich kenne ihn.“

„Können Sie mir von der Familie erzählen?“

„Ja, sobald Sie von hier fort sind.“

„Fort, fort, fort? Ich soll wirklich fort? Ich soll wirklich frei sein?“

„Ja. Hier sind die Schlüssel. Ihre Ketten werden fallen.“

„Gott, mein Gott, mein Gott!“

Er schlug die gefesselten Hände vor das Gesicht; dann sanken sie langsam herab, und er glitt wieder in den entsetzlichen Schmutz.

„Er ist ohnmächtig!“ sagte Marion weinend.

„Er wird wieder zu sich kommen“, suchte Müller mehr sich als sie zu beruhigen.

Dabei kniete er neben dem Besinnungslosen nieder und schloß ihm die eisernen Handschellen auf. Dann trug er ihn hinaus in den Gang und schloß die Tür zu.

„Wollen ihn untersuchen!“ sagte Fritz.

„Nein“, antwortete Müller. „Wir haben keine Zeit zu verlieren. Du mußt mit ihm hinauf in die freie, frische Luft. Komm! Kommen Sie, gnädiges Fräulein!“

„Ich bin wie im Traum“, sagte sie.

„Sie werden fröhlich erwachen.“

Er nahm seinen Vater auf die Arme und trug ihn fort bis unter das Loch.

„Wie ihn aber hinaufbringen?“ fragte Fritz.

„Zieh deinen Rock aus. Wir knöpfen ihn hinein. Dann ziehst du ihn am Seil empor.“

Das wurde gemacht. Fritzens Rock wurde wie ein Tuch benutzt, in welches der Ohnmächtige geknöpft wurde. Dann stieg der erstere empor und zog. Als die Last oben angekommen war, bat Müller:

„Gedulden Sie sich einen einzigen Augenblick, gnädiges Fräulein! Ich kehre gleich zurück.“

Er schwang sich am Seil hinauf und untersuchte den Vater.

„Wie steht es?“ fragte der besorgte Pflanzensammler.

„Er lebt. Er ist außerordentlich schwach. Wenn er erwacht und fragt, so sagst du ihm noch nichts.“

„Aber wenn er fragt, wer wir sind?“

„Du bist Pflanzensammler, und ich bin Hauslehrer. Im übrigen verweist du ihn auf mich.“

„Und hier soll ich warten?“

„Nein. Bis Vater erwacht, trägst du die Stämme fort. Dann suchst du mit ihm nach dem Waldloch zu kommen, wo wir uns treffen werden.“

„Aber warum kommen Sie nicht gleich mit?“

„Weil ich jetzt dem Verstand mehr zu gehorchen habe, als dem Herzen. Ich will, noch ehe der Alte wiederkommt, mit Marion zu ihrer Mutter.“

„Zu Liama?“

„Ja. Wir nehmen sie mit.“

„Sapperment. Welch ein Schlag für den Alten. Wohin wird sie geschafft?“

„Das wird sich finden! Spute dich jetzt und gib dir Mühe, nicht gesehen zu werden!“

Er küßte den Vater auf die eingefallene Wange und ließ sich dann am Seil hinab, welches Fritz sofort wieder hinaufzog.

„Ich hatte bereits wieder Sorge“, gestand Marion.

„Sie müssen entschuldigen! Ich wollte wissen, ob der Schwächezustand dieses armen Menschen besorgniserregend ist.“

„Wie haben Sie ihn gefunden?“

„Er wird sich erholen.“

„Gott sei Dank. Also ist er ein Königsau?“

„Ja.“

„So erklären Sie mir, wie – – –“

„Bitte, bitte!“ unterbrach sie Müller. „Heben wir das für später auf. Jetzt muß es unsere Sorge sein, in Sicherheit zu kommen, bevor der Kapitän zurückkehrt. Wir müssen eilen. Sind Sie bei Kräften?“

„Ich bin bei Ihnen, und da geht es.“

„Stützten Sie sich auf mich.“

Sie legte ihren Arm in den seinigen, und nun schritten sie in den Gang hinein. Dabei flüsterte sie:

„Wenn uns nun der Kapitän entgegenkommt?“

„Er hat uns mehr zu fürchten, als wie ihn. Auf alle Fälle nehme ich es mit ihm auf.“

Sie erreichten die Stufen, welche sie hinabstiegen. Dann ging es wieder eben fort, bis sie die Stelle erreichten, wo der Gang in den Brunnen mündete. Müller leuchtete hinauf.

„Also hier herunter sind Sie gekommen? Nun, da werden wir wohl auch hinauf gelangen.“

„Die Eisenstäbe sind stark“, bemerkte Marion, indem sie einen der Stäbe befühlte.

„Und nur in Fußweite auseinander. Das läßt sich bequem steigen. Wollen Sie es wagen?“

„Gewiß. Es ist kein Wagnis, sondern fast bequemer als eine Leiter.“

„Nur oben werden Sie sich meiner Hand anvertrauen müssen. Also bitte!“

Sie kamen glücklich in dem runden Brunnenraum an. Von hier aus öffnete Müllers Schlüssel die Türen, so daß sie nun in den Kreuzgang gelangten. Da bog Müller links ab, und als er um die Ecke getreten war, blieb er stehen und sagte:

„Jetzt endlich können Sie ein wenig ruhen. Nun mag der Kapitän zurückkehren; er kann uns nicht mehr begegnen.“

„Wissen Sie das sicher?“ fragte sie.

„Ja“, antwortete er. „Der Kapitän kommt von rechts da hinten und geht nach links. Hier herüber kommt er nicht. Übrigens fürchten wir ihn ja nicht.“

„Gott sei Dank!“

Er fühlte, daß sie sich schwer auf seinen Arm legte. Sie war doch nicht so stark, wie sie sich den Anschein gegeben hatte. Nur in seiner Nähe hatte sie Mut gefunden. Jetzt war es ihr nun, als müsse sie vor Schwäche zusammenbrechen.

Er hörte einen tiefen, tiefen Atemzug.

„Wird Ihnen übel, Mademoiselle?“ fragte er.

„So schwach“, hauchte sie.

Da wagte er es, den Arm um ihre Taille zu legen, um sie besser stützen zu können. Da legte sie ihm die Hand auf die Achsel und das Köpfchen an seine Brust.

„Monsieur Müller“, klang es leise.

„Mademoiselle“, flüsterte er zurück.

„Wie oft retteten Sie mich!“

„Oh, noch tausend, tausendemale, wenn es möglich wäre.“

„Ich glaube es. Sie sind meine Vorsehung.“

Sie preßte sich fester an seine Brust, und als er nicht antwortete, fuhr sie leise fort:

„Wissen Sie noch, als ich Sie im Steinbruch traf, und was Sie mir da sagten?“

„Ich weiß es noch.“

„Sie versicherten, mich zu lieben.“

„Ich wagte das.“

„Und es ist wahr?“

„Gewiß, o gewiß!“

„Ist es jetzt anders?“

„Nein, gnädiges Fräulein. Meine Liebe würde nur mit meinem Leben sterben.“

„Haben Sie vielleicht geglaubt, daß ich Ihnen wegen dieser Liebe zürne?“

„Muß ich es denn nicht glauben?“

„Warum?“

„Sie, das von Gott mit allen Gaben begnadete Kind der Aristokratie, und ich – – – ah!“

„Bitte, geben Sie mir einmal ihre Hand.“

Sie hatte die Linke noch immer auf seiner Achsel liegen. Jetzt ergriff sie mit der Rechten seine Hand und sagte:

„Ich fühle mich jetzt ganz und gar nicht als Aristokratin. Ich bin recht arm und elend, so arm und elend, wie selten eine. Was ich jetzt besitze, das ist Ihr Schutz und Ihre Freundschaft. Was wäre ich ohne Sie? Herr Müller, ich wollte, es bliebe so! Ich möchte stets nirgends weiter als bei Ihnen und mit Ihnen sein!“

Sie schwieg und erwartete seine Antwort. Sie kam sich in diesem Augenblick so hilflos und verlassen vor, und doch wußte sie, daß er nie das erste Wort sprechen werde. Darum hatte sie jetzt den Bann gebrochen.

Es dauerte eine Weile, ehe er antwortete:

„Mademoiselle Marion haben Sie diese Worte überlegt, ehe Sie sie aussprachen?“

„Nein. Herzensworte braucht man nicht zu überlegen.“

„O doch! Ich bin arm!“

„Sie sprachen von einer Stelle, welche Sie haben.“

„So tief dürfen Sie nie herabsteigen.“

„Ich steige nicht herab, sondern zu Ihnen hinauf.“

„Und ich bin nicht nur arm, sondern – – –“

„Sondern – – –?“

„Ich bin nicht Wohlgestalt.“

„Oh, sprechen Sie nicht davon. Man liebt an dem Mann ja vor allen Dingen den Geist, das Herz!“

„Wenn Sie wüßten, in welche Versuchung Sie mich führen.“

„Folgen Sie dieser Versuchung.“

Da beugte er sich zu ihre herab.

„Ist das Ihr Ernst, Marion?“

„Ja, mein größter, heiligster Ernst.“

Sie erwartete, daß er sie jetzt in heißer Liebe umschlingen werde, und sie hätte ihm mit Freunden den Mund zum Kuß geboten; aber statt dessen erklang es mahnend:

„Und jene Photographie?“

„Welche Photographie?“

„Welche Ihnen im Steinbruch entfiel.“

Er hatte die Laterne eingesteckt. Es war vollständig finster, und darum sah er nicht, welch glühende Röte sich bei diesen Worten über ihr Gesicht verbreitete. Aber er fühlte, daß ihre Hand leise erzitterte.

„Die ich Ihnen dann zeigte?“ fragte sie.

„Ja, die Photographie des preußischen Ulanenoffiziers.“

„Was ist's mit ihr?“

„Enthält sie nicht die Züge, welche sie im Herzen getragen haben?“

Sie schwieg, und erst nach einer Weile fragte sie:

„Warum sagen Sie mir das? Jetzt, jetzt?“

„Weil ich ehrlich gegen Sie sein will.“

„Sie sind nicht ehrlich gegen mich, sondern grausam gegen sich selbst.“

„Und Sie, Mademoiselle, sind dankbar gegen mich, und halten diese Dankbarkeit für ein zarteres Gefühl.“

Ihr Köpfchen zog sich langsam von seiner Brust zurück, und ihre Hand sank von seiner Schulter. Sie fühlte in diesem Augenblick, daß sie diesem äußerlich unscheinbaren und geistig doch so überlegenen Mann zu eigen sein müsse für ihr ganzes Leben; aber dürfte sie weiter gehen?

Und er, als er fühlte, daß sie sich zurückzog, sagte sich, daß er mit seinen Worten recht gehabt habe. Ihm wollte sie dankbar sein, aber den Offizier liebte sie.

„Meinen Sie nicht, daß Sie sich irren?“ fragte sie noch.

„Nein.“

„Es war ja nur ein Phantom, eine Fata morgana.“

„Aber eine unvergeßliche. Ich habe Ihnen den Namen dieses Offiziers genannt, da ich die Familie zufällig kenne. Heute finden Sie einen Königsau in den unterirdischen Kerkern von Ortry. Können Sie wirklich sagen, daß Sie die Herrin Ihres Herzens sind?“

„Sind Sie nicht gar zu viel Herr des Ihrigen?“

„Seien Sie gnädig, Mademoiselle. Geben Sie diesem Herzen Zeit! Das Ihrige wird ja sogleich auf das Außerordentlichste in Anspruch genommen werden.“

„Wodurch?“

„Ich stehe im Begriff, Sie zu jemand zu führen. Ich will Ihnen beweisen, daß ein körperliches Wesen kein Geist ist.“

„Gott! Sie meinen meine Mutter, von der Sie behaupten, daß sie lebt?“

„Sie befindet sich hier in der Nähe.“

„Und ich soll sie sehen?“

„Fühlen Sie sich stark genug dazu?“

„O ja, ja, ja. Kommen Sie; kommen Sie schnell!“

„Warten Sie noch! Es liegt mir nämlich sehr daran, sie von hier zu entfernen. Sie soll einsehen, daß sie dem alten Betrüger ihr Versprechen nicht zu halten braucht.“

„Wohin wollen Sie sie bringen?“

„Dahin, wohin ich Sie morgen begleiten werde. Erraten Sie auch das nicht?“

„Nein.“

„Bitte, denken Sie an den Brief, welchen Sie mir zu lesen gaben!“

„Ah, nach Malineau, zu Ella von Latreau?“

„Zu dieser Ihrer Freundin. Der Vater derselben, der General, wird Sie gern in seinen Schutz nehmen. Bei ihm sind Sie sicher vor jeder Gefahr, auch sicher vor Rallion und dem Kapitän.“

„Sie haben recht, sehr recht“, sagte sie schnell. Aber langsamer fügte sie hinzu: „Aber Sie –?“

„Ich kann allerdings nicht in Malineau bleiben; aber wir werden uns wiedersehen.“

„Wirklich?“

„Ja, sicher.“

„Wann?“

„Das ist nicht genau zu bestimmen.“

„Wohin werden Sie gehen?“

„Mein Beruf führt mich in nächster Zeit nach Paris.“

Er dachte dabei an einen siegreichen Einzug in die französische Hauptstadt; sie ahnte das nicht und bat also:

„Aber Ihre Adresse werden Sie mir zurücklassen!“

„Ich kenne sie jetzt selbst noch nicht, werde sie Ihnen aber dann mitteilen. Aber jetzt, bitte, gehen wir weiter!“

Er zog seine Laterne vor. Nach den ersten Schritten blieben sie wieder stehen.

„Monsieur Müller“, sagte sie zaghaft.

„Mademoiselle?“

„Lebt sie wirklich?“

„Ja, sie lebt.“

„O Gott, o Gott! Fühlen Sie hier!“

Sie führte seine Hand an ihr Herz, welches er schlagen fühlte. Er fragte besorgt:

„Sind sie wirklich stark genug.“

Ihr Angesicht war jetzt tiefblaß; sie blickte ihn mit großen, dunklen Augen an und sagte dann:

„Ja, ich bin stark genug, denn ich habe Sie bei mir.“

Ohne ein weiteres Wort zu sagen, schritt er mit ihr vorwärts. Die Tür, welche bei seinem vorigen Besuch offen gestanden hatte, war jetzt verschlossen. Er zog den Schlüssel hervor und öffnete.

Der Raum, welchen er bereits gesehen hatte, war durch eine Lampe erleuchtet. Liama saß mit gekreuzten Beinen nach orientalischer Weise am Boden und ließ die Gebetkugeln durch die Finger gleiten. Sie hielt den Rücken gegen die Tür gerichtet und bewegte sich auch dann nicht, als sie hörte, daß diese geöffnet wurde.

Marion war draußen geblieben, Müller aber trat herein.

„Liama“, sagte er.

Sie mochte doch sofort hören, daß dies nicht die Stimme des Kapitäns sei. Sie wandte den Kopf. Als sie den Deutschen erblickte, sprang sie schnell auf.

„Du?“ fragte sie.

„Ja, ich“, antwortete er, ihr freundlich zunickend.

„Warum kommst du wieder?“

„Weil ich mit dir sprechen will.“

„Habe ich dich nicht gewarnt?“

„Ich fürchte ihn nicht.“

„Der Weißbart ist schrecklich in seinem Grimm.“

„Ich verachte denselben.“

„So mußt du sehr mächtig sein.“

„Ich bin nicht mächtig, aber ich habe ein gutes Gewissen, während das seinige nie zur Ruhe kommt.“

„Er selbst hat keine Ruhe. Er wandelt stets. Er kann auch jetzt kommen, und dann bist du verloren.“

„Er hat mich mehr zu fürchten, als ich ihn. Er ist ein Lügner und Betrüger. Er betrügt auch dich.“

„O nein. Mich betrügt er nicht. Allah verlieh mir klare Augen. Ich würde es sehen, wenn er mich täuschte.“

„Und dennoch betrügt er dich. Er ist dein Feind und ein Feind deines Kindes.“

„Meines Kindes? Nein. Er hat mir versprochen, Marion zu schützen, und er wird Wort halten.“

„Er hat sein Wort gebrochen. Er trachtet, Übles mit deiner Tochter zu tun. Ich habe mit ihr gesprochen.“

„Du hast sie gesehen? Spricht sie von Liama, ihrer Mutter?“

„Sie spricht von dir und will dich sehen.“

„Nein, nein, sie darf mich nicht sehen. Ich habe es geschworen.“

„Und er hat dafür geschworen, sie zu schützen?“

„Er hat es geschworen, bei Allah und bei seinem Gott.“

„Er hat den Schwur gebrochen.“

„Beweise es.“

Er trat zur Seite. Hinter ihm stand Marion unter der Tür. Liama starrte sie mit weit geöffneten Augen an. Dann breitete sie langsam die Arme aus und fragte:

„Wer ist das? Wen bringst du da? Wer ist dieses?“

„Mutter!“

Dieses eine Wort nur sprach Marion, dann eilten beide sich entgegen und lagen sich in den Armen.

Müller trat aus der Tür und machte dieselbe zu. Er wollte die Seligkeit der beiden nicht durch seine Gegenwart entweihen und lieber Wächter ihrer Sicherheit sein. Jubelnde und klagende Töne erklangen drinnen in dem Raum. Niemand schien an ihn zu denken. Er zog die Uhr. Eine Viertelstunde verging und noch eine. Da wurde die Tür geöffnet.

„Bist du noch da?“ fragte Liama heraus.

„Hier!“

„Komm herein.“

Er trat ein und zog die Tür hinter sich zu. Die einstige Liama war eine ganz andere geworden. Ihre Augen blitzten, und ihre Wangen hatten sich gerötet.

„Was du mir gesagt hast, das ist wahr“, sagte sie. „Warst du es, der mein Grab öffnete?“

„Ja.“

„Wer war dabei?“

„Hassan, der Zauberer.“

„Ich dachte es; ich hatte ihn erkannt. Du willst, daß Marion vor dem Weißbart fliehen soll, und ich soll mit ihr gehen?“

„Ja.“

„Wann soll ich gehen?“

„Jetzt, sogleich.“

„Gut. Ich gehorche dir. Mein Schwur hat keine Gültigkeit, denn er hat den seinigen gebrochen.“

„Bist du das Weib des Barons gewesen?“

„Nie.“

„Ah, unbegreiflich.“

„Liama hat ihn nie geliebt. Ich mußte ihm folgen, um den Vater und den Geliebten zu retten, aber nicht der Kadi hat mich ihm gegeben, und von einem Eurer Priester habe ich keinen Segen verlangt.“

„So ist Marion nicht seine Tochter?“

„Nein. Er durfte mich nie berühren.“

„Wessen Tochter ist sie dann?“

„Das werde ich ihr sagen, wenn die Zeit dazu gekommen ist. Wohin ist Abu Hassan gegangen?“

„Ich weiß es nicht.“

„Auch nicht, ob er wiederkommen wird?“

„Auch nicht. Aber warum bist du bei dem Baron geblieben?“

„Ich hatte es ihm geschworen, und er bedurfte meiner, wenn der Wahnsinn seinen Geist verfinsterte.“

„Wie aber kam es, daß du sterben mußtest?“

„Ich sollte es nicht wissen, aber ich habe es belauscht. Eine andere liebte den Baron. Sie wurde sein Weib, und ich mußte weichen.“

„Ich habe es mir gedacht. Du folgst mir also. Hast du etwas mitzunehmen?“

„Nein, gar nichts.“

Da fragte Marion:

„Werde ich wieder in das Schloß zurückkehren?“

„Nein, Mademoiselle.“

„Aber ich habe doch manches, was ich mitnehmen muß.“

„Ich werde es Ihnen besorgen. Wir gehen jetzt zu Doktor Bertrand. Dort schreiben Sie alles auf, was Sie brauchen. Können wir also gehen?“

„Ja.“

Liama ließ alles stehen und liegen, wie es stand und lag. Sie erfaßte die Hand ihrer Tochter und sagte:

„Komm, mein Kind. Fluchen wir dem alten Graubart nicht. Allah wird ihn treffen mit seinem Zorn und ihn vernichten mit seinem Grimm.“

Müller schritt mit der Laterne voran, und sie folgten ihm durch den Gang bis hinaus in das Waldloch. Es war unterdessen dunkel geworden, und man konnte nicht weit sehen. Schon wollte Müller einen Ruf nach Fritz ausstoßen, als jener ihm zuvor kam.

„Pst!“ erklang es hinter einem Baum hervor.

„Fritz?“

„Ja. Ah, ich konnte Sie doch nicht gleich erkennen.“

Er trat zu ihm heran. Müller erkundigte sich:

„Ist – der Gefangene mit da?“

„Ja. Er liegt dort im Moos und schläft. Die frische Luft ermüdet ihn.“

„Hat man euch gesehen?“

„Kein Mensch. Ich habe den – – – den Herrn bis hierher tragen müssen. Es ist ein Herzeleid, wie es ihm ergangen ist.“

„Wie lange ist er gefangen gewesen?“ fragte Marion.

„Volle sechzehn Jahre.“

„Und diese Ewigkeit hat er in dieser Zelle gesteckt?“

„Ja.“

Sie schlug die Hände zusammen, fühlte sich aber unfähig, ein Wort zu sagen.

„Führe uns zu ihm“, bat Müller.

Fritz brachte sie eine Strecke weiter in den Wald hinein, wo Gebhard von Königsau schlafend lag. Sein Atem ging ruhig. Man merkte förmlich, daß bei jedem Atemzug Erquickung in seinen Körper strömte.

„Lassen wir ihn schlafen“, sagte Müller.

„Aber dürfen wir hier warten?“ bemerkte Fritz.

„Kann er nach der Stadt gehen? Und darf Liama in ihrer orientalischen Kleidung gesehen werden? Eile du, so schnell du kannst, zu Doktor Bertrand; spanne seinen Wagen an und komme heraus, uns abzuholen.“

„Schön! Wo treffe ich Sie?“

„Drüben am Waldrand, wo der Vikinalweg vorüber geht.“

„Und wenn Bertrand fragt – – –?“

„Du sagst nichts.“

„Oder das gnä – – – wollte sagen, Miß de Lissa?“

„Kein Wort! Beeile dich! Wir haben heute noch sehr viel zu tun.“

Der treue Kerl eilte fort, so schnell er vermochte. Die andern ließen sich im Gras und Moos nieder, Marion neben der Mutter und Müller neben seinem Vater. Er bewachte dessen Atemzüge, während Mutter und Tochter, die Arme eng verschlungen, leise miteinander flüsterten.

Müller wollte nichts hören, aber es drang doch, wenn auch nur schwer verständlich, zu ihm herüber:

„Und du liebst ihn, mein Kind?“

„So sehr, so sehr!“

„Er ist es wert.“

Von wem sprachen sie? Müller veränderte seinen Platz, so daß er nichts mehr zu hören vermochte. –

Unterdessen war der alte Kapitän auf den heimlichen Wegen in sein Zimmer gekommen. Er hatte lange Zeit acht gegeben, ob er unbemerkt in die Vorratskammer kommen könne. Ehe ihm dies gelang, waren wohl zwei Stunden vergangen. Dann eilte er mit Brot und Wasser zurück. Einen großen Krug voll des letzteren und ein Brot ließ er im Kreuzgang, um es später Liama zu bringen. Mit dem anderen Vorrat passierte er mühsam den Brunnen und gelangte endlich in den Gang, in welchem, seiner Meinung nach, Rallion als Sieger auf ihn wartete.

Er wunderte sich nicht wenig, als er von weitem keinen Lichtschein bemerkte.

„Hm!“ erklärte er sich, grimmig schmunzelnd, diesen Umstand. „Schäferstunde! Er hat die Tür zugezogen!“

Er trat so laut wie möglich auf, um von seinem Verbündeten bereits bemerkt zu werden, blieb aber dann ganz verblüfft stehen, als er bemerkte, daß die Tür nicht nur von innen herangezogen, sondern sogar von außen verschlossen sei.

„Donnerwetter!“ murmelte er. „Was ist da geschehen? Sollte der Kerl also doch die Schlüssel haben, wie ich gleich erst vermutete?“

Er setzte die zwei Wasserkrüge, welche er in der Hand hatte, nieder und nahm den Schlüssel aus der Tasche. Als er geöffnet hatte, drang ihm der Schein der Laterne entgegen, und bei demselben bemerkte er den Gefesselten auf dem Boden liegen.

„Alle Teufel!“ rief er aus. „Rallion! Sie gefesselt!“

„Wie Sie sehen!“ antwortete dieser. „Wo stecken Sie denn diese lange Zeit?“

„Habe ich es Ihnen denn nicht gleich gesagt, daß es so lange dauern könnte?“

„Das wohl; aber mehr sputen konnten Sie sich doch!“

„Es war nicht möglich. Aber das ist ja Nebensache. Hauptsache ist, wie ich Sie hier finde. Wo ist Marion?“

„Das weiß der Teufel.“

„Wer hat Sie gefesselt?“

„Das weiß derselbe Teufel.“

„Und eingeschlossen?“

„Richten Sie Ihre Frage an dieselbe Adresse.“

„Aber, zum Donnerwetter! Sie müssen doch wissen, wie Sie in diese Lage gekommen sind!“

„Muß ich es wissen? Wirklich? Ach so! Aber, nehmen Sie mir doch vorher gefälligst diese verdammten Stricke ab. Dann können wir weiter sprechen!“

„Ich sollte Sie so liegen lassen. Ich bin ganz konsterniert! Wüßte ich nicht genau, daß ich wache, so hielt ich es für einen Traum. Erzählen Sie doch!“

„Erst die Stricke herunter!“

„Na, da!“

Er zog sein Messer und schnitt die Stricke entzwei. Rallion sprang auf, dehnte die Glieder und sagte dann:

„Hören Sie, Kapitän, Ihr Ortry mag der Satan holen! Mich bringen Sie niemals wieder her!“

„Schimpfen Sie nicht, sondern erzählen Sie!“

„Hier geht in Wirklichkeit der Teufel um oder ein sonst ihm sehr verwandtes Gespenst! Ich mache, daß ich so schnell wie möglich fortkomme!“

„Halt. Stehen bleiben! Erst wird erzählt. Ich will vor allen Dingen wissen, was geschehen ist. Ich verließ Sie ganz siegesgewiß und treffe Sie als Gefangenen! Wie ist das zugegangen?“

Rallion zeigte auf das Stroh und antwortete:

„Hier lag Marion – – –“

„Das weiß ich!“

„Ich kniete neben ihr und stellte ihr vor, daß aller Widerstand vergeblich sei, daß sie mich erhören müsse.“

„Was antwortete sie?“

„Daß sie lieber sterben wolle.“

„Oh, diese Mädchen wollen da immer sterben!“

„Es schien ihr wirklich ernst zu sein. Als ich ihr einen Kuß geben wollte, drohte sie mir, daß ich verloren sei, wenn ich sie anrühren würde.“

„Das klingt ja, als ob sie überzeugt gewesen wäre, auf irgendeine Weise oder durch irgend jemand Hilfe zu finden.“

„Allerdings!“

„Was taten Sie?“

„Ich achtete nicht auf diese Drohung, welche ich geradezu lächerlich fand; ich hielt sie vielmehr fest und wollte sie küssen. Beinahe berührte ich ihre Lippen, da legte sich eine Faust wie ein Schraubstock um meinen Hals, und ich erhielt einen Hieb an den Kopf, daß mir auf der Stelle Hören und Sehen verging.“

„Von wem?“

„Weiß ich es?“

„Aber Sie müssen doch etwas gesehen oder gehört haben!“

„Nicht das geringste. Ich verlor, wie gesagt, die Besinnung. Als ich wieder zu mir kam, war ich an Armen und Beinen gefesselt und sah, daß die Tür verschlossen war.“

„Unbegreiflich!“

Rallion sah ihn von der Seite an und fragte:

„Ist es Ihnen wirklich so ganz und gar unbegreiflich?“

„Wie denn sonst?“

„Hm! Wissen Sie denn, daß ich Sie sehr stark im Verdacht hatte?“

„Mich?“

„Ja.“

„Sind Sie toll?“

„Toll? Die Sache schien mir nicht so sehr toll zu sein. Sie haben eine gewisse Leidenschaft, andere einzuschließen?“

„Ich glaube, der Hieb, den Sie auf den Kopf erhalten haben, hat Ihren Verstand in Unordnung gebracht!“

„Möglich, denn wenn Sie es nicht gewesen sind, so gebe ich überhaupt die Hoffnung auf, die Sache zu begreifen. Wo aber ist Marion?“

„Das frage ich Sie.“

„Donnerwetter! Sie muß einen heimlich Verbündeten haben. Anders ist es nicht möglich.“

„So werden wir ihn jetzt fangen. Begegnet ist mir kein Mensch. Alle Türen sind zu gewesen. Er hält sich also hier versteckt. Durchsuchen wir den Gang. Er ist glücklicherweise nicht sehr lang.“

Er nahm den Revolver in die Hand und schritt mit der einen Laterne voran. Rallion folgte ihm mit der anderen. Sie erreichten das Ende des Ganges, ohne irgend etwas bemerkt zu haben.

„Nun?“ fragte Rallion, halb höhnisch und halb erwartungsvoll.

Er traute dem Alten noch immer nicht.

„Nichts und niemand!“ antwortete dieser.

„Aber mir brummt der Kopf noch immer von dem Hieb, den ich erhalten habe. Soll das etwa dieser Monsieur Niemand gewesen sein?“

„Ich möchte an diesen Hieb gar nicht glauben, aber Sie haben wirklich eine ziemliche Beule hier an der Schläfe.“

„Habe ich? Na, das ist Beweis genug. Ein Mann muß es gewesen sein, denn ein Weib vermag nicht, so kräftig zuzuschlagen.“

„Das versteht sich von selbst.“

„Und Schlüssel muß er haben, sonst hätte er mich nicht einschließen können.“

„Richtig! Aber – ah, da kommt mir ein Gedanke: Sie sind miteinander hier noch in irgendeiner Zelle versteckt. Suchen wir!“

„Was befindet sich in den Zellen?“

„Sie sind leer, außer der, in welcher der Deutsche steckt. Sehen wir also nach!“

Er öffnete eine Zelle nach der anderen; sie waren alle ohne Ausnahme leer. Als er dann die zuletzt erwähnte aufschloß und mit der Laterne hineinleuchtete, stieß er einen lauten Fluch aus:

„Tod und Teufel! Was ist das?“

„Was gibt's?“ fragte Rallion, schnell hinzutretend.

„Was es gibt? Da sehen Sie her!“

„Wetter noch einmal! Das ist verflucht!“

„Der Kerl ist fort!“

„Oder hat er sich in dem Kot versteckt?“

„Unsinn! Sehen Sie denn nicht, daß die Ketten geöffnet worden sind?“

„Wirklich! Der Schlüssel steckt noch im Schloß!“

„Und da ist auch die Peitsche fort!“

„Unbegreiflich!“

„Haben Sie denn wirklich so ohne alle Besinnung in Ihrer Zelle gelegen?“

„Ja.“

„Nichts gehört?“

„Gar nichts.“

„So ist es. Ihr Kopf scheint von Pappe zu sein! Jetzt ist mir gar der Deutsche ausgebrochen?“

„Aber wohin?“

„In dem Gang befindet sich kein Mensch! Oder sollte – Sapperment, da kommt mir ein Gedanke. Kommen Sie!“

Er eilte bis an das Luftloch und leuchtete empor.

„Sie denken, da hinauf?“

„Ja.“

„Wie kann ein Gefangener von hier aus da empor kommen? Er müßte eine Leiter haben.“

„Das ist richtig! Also hier nicht. So bleibt also nur übrig, daß der Mann, welcher die Schlüssel hat, denselben Weg genommen hat, den auch wir einschlagen. Sehen wir einmal, ob wir Spuren finden.“

Sie schlugen die Richtung nach dem Brunnen ein, mit den Laternen am Boden suchend, hart am Brunnen blieb der Alte, welcher voranging, stehen.

„Sehen Sie her!“ sagte er. „Was ist das?“

„Stearin am Boden!“

„Ja. Ganz frisch. Aus einer Laterne getropft. Wir beide aber brennen Öl. Was folgt daraus?“

„Hier sind sie gegangen.“

„Richtig. Sie kennen also auch diesen Gang und diesen Weg. Steigen wir empor. Vielleicht findet sich noch eine Spur.“

Sie kamen bis dahin, wo Müller mit Marion gestanden, vorher aber seine Laterne eingesteckt hatte. Beim Verschließen der Blende hatte er wieder einen Tropfen Stearin verloren.

„Hier wieder“, sagte der Alte, „sehen Sie?“

„Ja, ganz deutlich.“

„Kein Zweifel. Sie sind hier gegangen und – sollten sie etwa –“

„Was?“

„Da hinten steckt auch so eine Art Gefangene.“

„Vielleicht haben sie diese auch befreit!“

„Dann schlage das Wetter drein. Wollen sehen.“

Er stürmte vorwärts und untersuchte die Tür.

„Sie ist verschlossen.“

Er öffnete und trat ein. Rallion folgte. Die Lampe brannte noch.

„Hier ist sie nicht“, meinte der Alte, indem er sich geradezu voller Angst zeigte. „Vielleicht ist sie draußen in der Nebenstube.“

Rallion wollte ihm auch da folgen; aber er wies ihn mit den barschen Worten zurück:

„Bleiben Sie. Da draußen haben Sie nichts zu suchen.“

Als er nach einiger Zeit zurückkam, zeigte sein Gesicht geradezu den Ausdruck der Verstörtheit.

„Auch sie ist fort“, murmelte er grimmig.

„Entflohen?“

„Ja.“

„Wer?“

„Das ist Nebensache. Ich hatte der Person gewisse Freiheiten gewährt, schloß sie aber heute ein. Beide Schlösser sind verschlossen, sie aber ist fort.“

„Das ist freilich Pech über Pech.“

„Mehr als Pech. Sie wissen nicht, was dabei für mich auf dem Spiel steht. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als die Eingänge zu vernichten oder zuzuschütten und einstweilen das Weite zu suchen.“

„Ist es denn so gefährlich?“

„Ja. Ich muß Gras darüber wachsen lassen. Das wird, falls der Krieg losbricht, nicht lange dauern.“

„Aber die Eingänge zerstören, das erfordert Arbeit und Zeit.“

„Gar nicht. Ich habe bereits für einen derartigen Fall meine Vorbereitungen getroffen. Kommen Sie.“

Er kehrte mit ihm nach dem Kreuzgang zurück. Dort schien eine der Steinplatten zerbrochen zu sein. Er nahm zwischen zwei Rissen ein Steinchen heraus, und sofort kam ein Draht zum Vorschein. Er zog daran, und in demselben Augenblick rollte ein donnerartiges Geräusch durch die Gewölbe. Es schien von mehreren Seiten zu kommen.

„Was war das?“ fragte Rallion.

„Kleine Minen.“

„Ah! Die Eingänge zusammengestürzt?“

„Alle. Und auch noch anderes ist vernichtet.“

Er zog die Uhr und blickte auf das Zifferblatt. Dann sagte er:

„In einer Stunde geht ein Zug nach dem Süden. Mit diesem fahren wir.“

„Warum nicht erst morgen?“

„Ich werde mich nicht hersetzen, wenn man die Hände ausstreckt, mich festzunehmen. Ein lustiger Krieg, und dann ist alles wieder gut!“

Eine Viertelstunde später verließen beide das Schloß. Der Kapitän trug all sein vorrätiges Geld bei sich. Er glaubte einer Gefahr entfliehen zu müssen, die es gar nicht gab. –

Noch saß Müller bei seinem Vater und den Frauen, als es in der Nähe zu prasseln begann. Es krachte einige Augenblicke lang, und dann war alles ruhig.

„Was war das?“ fragte Marion.

„Ich werde nachsehen“, antwortete er.

Er brannte die Laterne an, welche er verlöscht gehabt hatte, und ging zu dem Eingang, aus welchem sie vorhin gekommen waren. Er war verschüttet.

„Der Kapitän hat die Flucht bemerkt“, sagte er, „und verschüttet die Eingänge, damit niemand entkommen soll.“

„Doch wohl nur diesen?“

„Wohl nicht. Ich glaube, das Krachen, welches wir gehört haben, kam auch von anderen Orten. Am besten wird es sein, wir brechen auf.“

Auch Königsau war bei dem rollenden Geräusch erwacht.

„Was war das?“ fragte er.

„Nichts Gefährliches“, beruhigte ihn Müller.

„Wo bin ich denn?“

„Bei Freunden.“

„Und wer sind Sie?“

„Kennen Sie mich nicht?“

Er beleuchtete sein Gesicht mit der Laterne.

„Oh, mein Retter!“

„Sie sehen also, daß Sie ruhig sein können. Sind Sie sehr ermüdet?“

„Ich werde gehen können.“

„Stützen Sie sich auf mich.“

Er ging mit ihm voran, und Marion folgte langsam mit ihrer Mutter. Als sie an der Waldecke ankamen, hörten Sie Pferdegetrappel. Bald hielt Fritz bei ihnen.

„Wie arrangieren wir das?“ fragte er.

„Die Damen in den Wagen“, antwortete Müller. „Ich fahre und nehmen diesen Herrn zu mir auf den Bock. Du läufst nach Hause. Warst du verschwiegen?“

„Ich habe kein Wort gesagt.“

Er half den beiden Frauen in den Wagen und dem schwachen Königsau auf den Bock. Müller schlang den Arm um seinen Vater und trieb die Pferde an.

„Fritz, komm baldigst nach“, sagte er noch.

„Sehr wohl, Herr Doktor!“

Als später der Wagen vor Doktor Bertrands Tür hielt, wollte Marion den Schlag öffnen, um zuerst auszusteigen, aber da sagte eine bekannte Stimme:

„Bitte, Mademoiselle, das kommt mir zu.“

Müller hörte das und traute seinen Ohren nicht.

„Fritz“, sagte er.

„Herr Doktor?“

„Du hier?“

„Ja.“

„Wie kommst du so schnell hierher?“

„Ich habe mich hinten festgehalten und bin mit fortgetrabt. Das geht ganz prächtig, viel besser, als wenn man auf dem Bock sitzt.“

Recht gelegen trat jetzt der Arzt aus der Tür.

„Herr Doktor“, fragte ihn Müller, „haben Sie nicht ein separates Zimmer für diesen Herrn? Er ist Patient.“

„Ein allerliebstes Zimmerchen, gerade neben demjenigen, welches Sie für heute bekommen werden.“

„Schön! Bitte, bringen Sie ihn sofort hinauf. Er ist so angegriffen, daß er der Ruhe bedarf.“

Müller hob seinen Vater vom Bock, Bertrand bot demselben den Arm und brachte ihn in das erwähnte Zimmer. Hier brannte Licht, und nun erst bemerkte der Arzt, in welchem Zustand sich sein Patient befand.

Schon unterwegs war ihm der penetrante Geruch, der von diesem ausging, aufgefallen.

„Mein Gott!“ sagte er. „Sie sind ja fast unbekleidet! Woher kommen Sie?“

„Ich war gefangen“, seufzte der Gefragte.

„Wo?“

„In einem unterirdischen Loch in Ortry.“

„Was? Wirklich? Wer nahm Sie gefangen?“

„Der Kapitän.“

„Wie lange waren Sie da?“

„Sechzehn Jahre.“

„Herrgott! Widerrechtlich?“

„Gewiß!“

„Bitte, darf ich Ihren Namen hören?“

„Gebhard von Königsau.“

Der Arzt fuhr zurück. Dann fragte er:

„Wer hat Sie befreit?“

„Ein Herr Doktor Müller.“

„Dieser Herr ist wohl ein Bekannter von Ihnen?“

„Ich kenne ihn nicht.“

Nun wußte der Arzt, daß Müller sich noch nicht zu erkennen gegeben hatte und daß auch er schweigen mußte.

„Gedulden Sie sich einen Augenblick“, bat er. „Ich kehre sogleich zurück.“

Wenige Minuten später kam er mit dem Apotheker, welcher eine Badewanne trug. Das Hausmädchen brachte heißes Wasser. Königsau mußte vor allen Dingen ein Bad nehmen.

Unterdessen war Müller mit Marion und ihrer Mutter nach oben gegangen. Dort waren die Engländerin, der Amerikaner, Nanon und Madelon beisammen. Die Frau des Arztes befand sich bei ihnen.

Diese letztere sprang, als sie Liama erblickte, leichenblaß von ihrem Stuhl auf und rief:

„Alle guten Geister – – –! Wer ist das? Wen bringen Sie da?“

„Kennen Sie diese Dame nicht?“

„Freilich kenne ich Sie! Die Frau Baronin von Sainte-Marie!“

Dieser Name brachte kein geringes Aufsehen hervor. Alle drängten sich um sie und stürmten mit Fragen auf sie ein. Doch Müller nahm sie in seinen Schutz und sagte:

„Bitte, meine Herrschaften, diese Dame ist zu sehr angegriffen, als daß sie Ihnen Rede und Antwort stehen könnte. Übrigens muß ich bemerken, daß diese Angelegenheit ganz unter uns, das heißt, Geheimnis bleiben muß. Kommen Sie, Frau Baronin; folgen Sie mir in das Zimmer Miß de Lissas! Ich habe einige Fragen an Sie zu richten.“

Während nun Marion den Zurückbleibenden ihre Einkerkerung und Rettung erzählte, führte Müller Liama in dem genannten Zimmer zum Sofa und nahm ihr gegenüber Platz.

„Darf ich fragen“, sagte er, „ob Sie einiges Vertrauen zu mir haben können?“

Er sagte das in arabischer Sprache, die er von seinem Vater gelernt hatte. Liama war freudig bewegt, so unerwartet die heimatlichen Laute zu hören, und antwortete:

„Alles, alles will ich Ihnen sagen.“

„Nicht wahr, Sie sind eine Tochter des Stammes der Ben Hassan?“

„Ja. Mein Vater Menalek war der Scheik desselben.“

„Sie kannten einen Angehörigen dieses Stammes, welcher Saadi hieß?“

Ihre Augen leuchteten auf.

„Er war mein Geliebter, mein Verlobter, mein Mann“, antwortete sie.

„Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?“

„Hier in Ortry.“

„Nicht damals, als er von Ihnen gerissen wurde als Gefangener der Franzosen?“

„Nein. Ich wollte ihn und den Vater retten, indem ich mit dem Fakihadschi Malek Omar und seinem Sohn Ben Ali fortging. Beide heißen jetzt Richemonte und Sainte-Marie.“

„Sie wurden aber von ihnen betrogen?“

„Ja. Die Unseren wurden trotzdem niedergemacht. Mein Vater war tot; aber als die Franzosen fort waren, zeigte es sich, daß in Saadi noch Leben sei. Er wurde geheilt und verließ sein Land, um nach mir zu suchen.“

„Da Sie ihn in Ortry gesehen haben, hat er Sie also gefunden?“

„Ich ging spazieren im Wald und begegnete ihm. Er wohnte bei mir auf dem Schloß, ohne daß es jemand wußte; er war mein Bräutigam; er wurde im stillen mein Gemahl. Er ist Marions Vater. Nie hat mich ein anderer Mann anrühren dürfen.“

„So ist also Marion nicht die Tochter des wahnsinnigen Barons de Sainte-Marie?“

„Nein.“

„Das ist mir eine große Beruhigung. Wo aber ist Saadi hingekommen?“

„Ich weiß es nicht. Er war eines Tages verschwunden. Ich habe ihn niemals wiedergesehen.“

„Später zwang man Sie, zu verschwinden, um das Leben Ihrer Tochter zu retten?“

„Der Kapitän wollte Marion töten, wenn ich nicht tun wollte, war er befahl.“

„Weiß die jetzige Baronin, daß Sie nicht wirklich gestorben sind?“

„Ich weiß es nicht.“

„Hat sie Sie einmal gesehen?“

„Mehrere Male. Sie besuchte, da sie noch eine Hirtentochter war, den Baron und den Kapitän auf Ortry; da hat sie mich gesehen.“

„Glauben Sie, daß dieselbe Sie jetzt wiedererkennen würde?“

„Sie kennt mich.“

„Fürchten Sie sich vor ihr?“

„Ja.“

„Aber wenn ich bei Ihnen bin?“

„Dann fürchte ich mich nicht.“

In diesem Augenblick entstand draußen ein außerordentliches Gepolter. Mehrere Türen öffneten sich, und auch Müller eilte hinaus.

„Was gibt es denn da?“ fragte er laut.

„Abermals eine Schlittenpartie!“ antwortete eine Stimme unten am Fuß der Treppe.

„Schlittenpartie? Wie denn?“

„Grad wie damals im Tharandter Wald, nur diesesmal auf dem Bauch anstatt auf der anderen Seite.“

Derjenige, welcher diese Worte sprach, kam eben herauf; Herr Hieronymus Aurelius Schneffke.

„Ach, Sie sind es! Was machen Sie denn da?“

„Na, man wird doch wohl noch zur Treppe herunterpurzeln dürfen, Herr Doktor.“

„Heruntergefallen sind Sie also?“

„Ja; das ist so Usus bei mir, wie Sie wohl wissen. Ich hatte Eile.“

„Sie sehen allerdings ganz danach aus. Sie haben wohl eine Neuigkeit?“

„Ja. Die wollte ich so schnell wie möglich bringen. Ich gedachte daher, die Treppe in zwei oder drei Sprüngen zu nehmen, da aber nahm die Treppe mich. Ein Glück ist es nur, daß sie nicht gebrochen hat!“

„Was haben Sie denn für eine Neuigkeit?“

„Ich trank auf dem Bahnhof ein Glas Bier. Der Zug kam an, und da ging ich. Draußen am Billettschalter standen zwei. Raten Sie, wer sie waren!“

„Besser ist's, Sie sagen es.“

„Das ist so richtig wie Pudding, denn Sie erraten es doch nicht. Der alte Kapitän war's – – –“

„Der? Unmöglich!“

„Na, ich werde ihn doch kennen! Ein Maler ist gar wohl imstande, sich so eine Physiognomie zu merken.“

„Und noch einer war dabei?“

„Ja. Er hatte ein zerschnittenes Gesicht.“

„Sapperlot! Rallion! Was taten sie?“

„Ich stand ganz nahe bei ihnen; sie aber hatten es so eilig, daß sie mich gar nicht beachteten. Der Alte bezahlte zwei Billets erster Klasse nach Paris.“

„Wirklich?“

„Glauben Sie, daß er sie nur zum Jux bezahlt?“

„Ah! Er fürchtet sich!“

„So ist er fort?“ fragte Marion den Maler.

„Ich sah ihn einsteigen, und dann ging der Zug ab. Wenn Ihnen das genügt, so ist er allerdings fort. Oder muß einer durch die Wolken fliegen, um fort zu sein?“

„Bitte, kommen Sie mit hier hinein!“ bat nun Müller Marion, indem er sie zu ihrer Mutter führte.

Dort bemerkte er:

„Jetzt gibt es die beste Gelegenheit, zu holen, was Sie zu der Reise brauchen. Sie kehren zu diesem Zwecke selbst mit nach Ortry zurück.“

„Das tue ich. Wer geht noch mit?“

„Ihre Mutter hier.“

„Wie! Darf sie gesehen werden?“

„Ich wünsche sogar, daß sie von der jetzigen Baronin gesehen wird. Auch ich gehe mit.“

„Auch Sie? Ich denke, Sie wollen Ortry nie mehr betreten!“

„Vielleicht komme ich später doch wieder hin. Übrigens möchte ich Sie um Ihretwillen begleiten.“

„Das ist dankenswert. Wenn Sie zugegen sind, haben wir nichts zu befürchten. Wann gehen wir?“

„Wir werden fahren, doch nicht gleich jetzt. Wie ich vermute, gnädiges Fräulein, haben Sie drüben unser heutiges Abenteuer erzählt?“

„Ja.“

„Haben Sie auch den Namen des unglücklichen langjährige Gefangenen genannt?“

„Zufälligerweise, nein.“

„Ich danke. Das ist mir lieb.“

Er suchte nun seinen Vater auf. Dieser hatte das Bad verlassen und Wäsche und Kleider von Doktor Bertrand angelegt, dessen Statur er hatte. Er saß ganz allein auf dem Sofa und hatte eine Tasse Boullion vor sich stehen.

Müller blickte nur zur Tür herein, schloß diese dann wieder und ging in das Familienzimmer, wo alle außer Marion und deren Mutter beisammen waren.

Schneffke erzählte sein Bahnhofsereignis noch einmal. Das gab Müller Gelegenheit, seine Schwester an das Fenster zu winken.

„Liebe Emma, ich muß dich auf ein wichtiges Ereignis aufmerksam machen, von welchem Marion noch nichts wissen darf“, sagte er.

„Was ist es?“

„Du wirst in Herrenbegleitung nach Berlin zurückkehren.“

„Natürlich! Du fährst doch wohl mit!“

„Noch einer.“

„Fritz!“

„Noch einer.“

„Schneffke?“

„Noch einer.“

„Du meinst Deep-hill?“

„Ja, aber noch einen.“

„Ich weiß weiter keinen.“

„Ich meine den, welchen ich heute befreit habe.“

„Auch er will nach Berlin?“

„Ja. Ich wünsche, dich ihm vorzustellen. Hast du Zeit?“

„Jetzt gleich?“

„Ich möchte es nicht für später aufschieben.“

„So komm!“

Sie gingen. Als sie bei ihm eintraten, befand er sich noch auf seinem Sitz. Ein wohliges Lächeln schwebte auf seinem eingefallenen, leidenden Angesicht. Bart und Haar waren in Ordnung gebracht, und nun machte er einen ehrwürdigen und sogar vornehmen Eindruck. Als er die beiden erblickte, streckte er Müller die Rechte entgegen und sagte:

„Mein Retter! Nun ich mich von den schlimmen äußeren Anhängseln des Elends befreit sehe, fühle ich doppelt, was ich Ihnen zu danken habe. Wen bringen Sie mir da?“

„Eine Freundin dieses Hausen, Miß Harriet de Lissa, welche wünscht, Ihnen ihre herzliche Teilnahme zu erweisen.“

„Ich danke Ihnen, Miß. Es tut unendlich wohl, in ein gutes Menschenantlitz blicken zu dürfen, nachdem man über ein Dezennium hinaus nur die Züge eines teuflischen Schurken gesehen hat. Nehmen Sie Platz!“

Dabei war sein Auge mit sichtlichem Wohlgefallen auf das schöne Mädchen gerichtet.

„Sie meinen Kapitän Richemonte?“ fragte Emma.

„Ja. Ihm habe ich und haben all die Meinen unser ganzes Unglück zu verdanken.“

„Er scheint der Teufel mehrerer Familien zu sein. Ich lernte in Berlin eine Familie kennen, die er mit wirklich satanischer Lust verfolgt hat und auch wohl noch verfolgt.“

„In Berlin?“ fragte er, aufmerksam werdend. „Darf ich den Namen dieser Familie wissen?“

„Königsau.“

Sein Gesicht nahm fast eine rote Färbung an.

„Königsau!“ sagte er. „Sind Ihnen die Glieder dieser Familie bekannt?“

„Ja.“

„Es gab einen Königsau, welcher ein Schützling des berühmten Blücher war.“

„Ja, das ist Großvater Königsau.“

„Und sein Sohn?“

„Der ist spurlos verschwunden.“

„Hat man nicht nach ihm geforscht?“

„Oh, wie sehr! Leider aber vergeblich.“

„Lebt seine Frau noch?“

„Nein. Sie ist kürzlich gestorben.“

Er nagte eine Zeitlang an der Lippe, um nicht merken zu lassen, wie ihn diese Botschaft erschüttere. Dann sagte er:

„Vielleicht irren Sie sich, Miß? Sie war eine geborene Gräfin Ida de Rallion.“

„Ja, sie ist es doch, ich weiß es ganz genau“, antwortete sie traurig. „Auch Sie scheinen die Familien zu kennen?“

„Vor Jahren stand ich ihr sehr nahe. Ich glaube, Gebhard von Königsau hatte zwei Kinder, einen Knaben und ein Mädchen?“

Sie nickte ihm bejahend zu. Darum fragte er weiter.

„Leben Sie noch?“

„Sie leben beide.“

„Ich möchte wohl wissen, was aus ihnen geworden ist.“

„Nun, Richard, der Sohn, ist Rittmeister bei den Gardeulanen.“

„Ah, das läßt sich hören!“ sagte er, indem sein Gesicht sich freudig aufhellte. „Hat er Aussicht auf Avancement?“

„Man sagt, daß er im höchsten Maß das Vertrauen seiner Vorgesetzten besitze.“

„Das freut mich herzlich. Und die Tochter? Hieß sie nicht Emma? Sie wird sich längst verheiratet haben.“

„Nein; sie ist noch unvermählt und wird es bleiben, falls ihr verschwundener Vater verschollen bleibt.“

„Das gute Kind. Sie braucht nicht zu entsagen, denn ihr Vater kehrt zurück.“

„Wie? Er kehrt zurück?“ fragte sie hastig.

„Ja“, lächelte er. „Ich bin überzeugt davon.“

„Mein Gott! Haben Sie Grund, dies zu sagen?“

Er nickte ihr lebhaft zu und antwortete:

„Sogar einen sehr guten Grund.“

Da sprang sie von ihrem Sessel auf und bat schnell:

„Sagen Sie ihn! O bitte, sagen Sie ihn sogleich.“

„Sie scheinen dieser Familie eine sehr große Teilnahme zu widmen?“

„Oh, die größte, welche es gibt!“

„Das macht mich stolz und dankbar zugleich, da ich ein Glied derselben bin.“

„Sie?“ fragte sie erstaunt.

„Ja. Verzeihen Sie, daß ich Sie ausforschte, ohne Ihnen meinen Namen vorher zu nennen. Ich bin Gebhard von Königsau.“

Sie stand vor ihm in der höchsten, unbeschreiblichsten Überraschung. Ihre Augen waren weit geöffnet. Ihre Lippen ließen die weißen, blitzenden Zähne sehen; ihre Arme waren bewegungslos ausgestreckt.

„Was ist Ihnen, Miß?“ fragte er.

Das gab ihr die Sprache zurück.

„Gebhard von Königsau wären Sie?“ fragte sie.

„Ja.“

Da trat sie auf Müller zu, faßte ihn am Arm und fragte auch ihn:

„Ist es wahr, wirklich wahr?“

Er mußte seine ganze Kraft zusammennehmen, um nicht laut aufzuschluchzen.

„Ja“, nickte er.

„Vater, mein Vater! Mein teurer, teurer Vater!“

Mit diesem Ausruf flog sie auf ihn zu und schlang die Arme um ihn. Sie drückte ihn an sich, immer und immer wieder und küßte ihm dabei die Hände, die Augen, Mund, Stirn und Wangen.

Er wußte nicht, wie ihm geschah. Er war zu schwach, sich dieser stürmischen Liebkosungen zu erwehren. Er ließ sie über sich ergehen, ohne Widerstand leisten zu können. Aber ein unbeschreiblich seliges Gefühl wollte sein Herz fast sprengen.

„Vater, Vater! O du armer, lieber, guter Vater“, fuhr sie fort, ihn mit beiden Händen streichelnd. „Was hast du gelitten, und was haben wir uns um dich gesorgt! Nun aber ist alles, alles gut.“

Dabei drückte sie seinen Kopf an ihr Herz und küßte ihn abermals auf die Stirn.

„Aber, Miß de Lissa, was hat das zu – – –“

„Miß de Lissa!“ jubelte sie auf. „So heiße ich nur hier. Ich bin Emma von Königsau, dein Kind, deine Tochter!“



„Wirklich? Wirklich?“ jubelte nun auch er.

„Ja, ja; du kannst es glauben.“

Da schlang er die Arme um sie und schluchzte:

„Mein Kind, mein gutes, süßes, schönes Kind.“

Die Sprache versagte ihm. Er weinte, als ob ihm das Herz brechen wolle. Emma streichelte ihm die Tränen von den Wangen. Dabei fiel ihr Blick auf Müller, welcher, das Gesicht an den Kaminsims gelehnt, ebenso weinte wie sie beide. Warum gab er sich nicht zu erkennen? Hielt er den Vater für zu schwach, das doppelte Glück zu ertragen?

Auch diesem fiel trotz seiner Tränen die tiefe Bewegung seines Retters auf.

„Herr Doktor“, stammelte er, „Sie sehen, welch ein Glück Sie uns gebracht haben. Ich kann es Ihnen nie vergelten.“

„O doch, doch“, schluchzte Müller.

„Nein, nie.“

„Ja, Vater, er hat recht. Du kannst es vergelten, und wie leicht“, sagte Emma. „Welch eine Fügung, daß gerade er dich befreien mußte, er, er!“

„Wieso eine Fügung?“

„Sieh ihn doch an. Ahnst du nichts?“

„Ahnen? Mein Gott, was soll ich ahnen? Kenne ich eine Familie Müller, welche – – –“

„Und auch er heißt nicht so, auch er läßt sich nur so nennen.“

„Herrgott. Wären Sie – warst du etwa – Richard?“

Er breitete die Arme aus.

„Vater!“

Sie hielten sich umschlungen; sie sagten kein Wort mehr, diese drei; sie bildeten im Übermaß ihres Glücks eine still weinende Gruppe. Endlich, nach längerer Zeit schob der Vater seine Kinder sanft von sich, trocknete sich tief aufatmend die Tränen und fragte:

„Richard, hattest du meinen Namen da drunten im unterirdischen Gang nicht gehört?“

„O doch!“

„Du wußtest es, daß du deinen Vater befreitest?“

„Ja.“

„Warum verschwiegst du es? Warum gabst du dich nicht zu erkennen?“

„Es wollte mir zwar das Herz abdrücken; aber ich mußte schweigen, weil ich noch nicht wußte, ob du stark genug sein würdest, und weil Marion es nicht wissen durfte.“

„Warum nicht?“

„Sie darf nicht wissen, daß ich ein Deutscher bin.“

„Ich achte deine Gründe, auch ohne sie zu verstehen. Du bist Offizier und mußt –“

Er schwieg plötzlich. Sein Auge verlor den Glanz, der es belebt hatte. Er fragte mit tonloser Stimme:

„Richard, bist du wirklich Rittmeister?“

„Ja, Vater!“

„Aber diese Gestalt. Dieser, dieser – du warst als Knabe so wohl gewachsen.“

„Oh, ich bin es auch noch“, lachte Richard.

„Aber – ich begreife nicht.“

Da neigte sich der Rittmeister zu ihm nieder und sagte leise:

„Ich habe ihn nur angeschnallt.“

„Den Buckel?“

„Ja, den Buckel. Und dieser dunkle Teint ist erzeugt durch den Saft der Walnußschale.“

„Wozu diese Komödie?“

„Ah, du kannst noch nichts davon gehört haben. Wir stehen vor einem Kriege mit Frankreich –“

„Gott sei Dank! Jetzt werden wir alle Scharten auswetzen. Geht es bald los?“

„Vermutlich. Ich bin als Eclaireur unter der Flagge eines Erziehers auf Schloß Ortry.“

„Welch eine Himmelsfügung!“

„Heute aber erhielt ich die Depesche, welche mich nach Hause ruft.“

„Wir fahren zusammen. Aber als was ist Emma hier?“

Der Rittmeister wollte antworten, sie aber legte ihm errötend die Hand auf den Mund und sagte:

„Auch als Spionin, lieber Vater. Wir werden die alles später erklären.“

„Das ist freilich notwendig; ich muß doch alles kennenlernen, was euch betrifft, denn –“

Er hielt inne, denn die Tür öffnete sich und Deep-hill trat ein. Er bemerkte die trauliche Gruppe: er sah die freudige Erregung aus ihren Augen leuchten.

„Oh, bitte um Entschuldigung“, sagte er, im Begriff, sich schnell wieder zurückzuziehen.

„Nein; bleiben Sie!“ rief ihm der Rittmeister entgegen. „Sie stören nicht, sondern Sie sind uns im Gegenteil sehr willkommen.“

Da zog der Amerikaner die Tür hinter sich zu und sagte:

„Ich hörte den Bericht von der Befreiung eines Opfers dieses höllischen Kapitäns und kam herbei, um meine lebhafteste Sympathie auszudrücken.“

„Für welche wir alle drei Ihnen herzlich danken. Baron Gaston de Bas-Montagne – Gebhard von Königsau, unser lieber, wiedergefundener Vater.“

Königsau verbeugte sich höflich, der Amerikaner aber war so betreten, daß er vergaß, es auch zu tun.

„Wie?“ fragte Deep-hill. „Ist dies der Herr, den Sie befreit haben?“

„Ja, das ist er.“

„Und Sie nennen ihn Ihren Vater?“

„Das ist er ja auch.“

„Wunderbar.“

„Erinnern Sie sich der Familiengeschichte, welche ich Ihnen erzählte, als wir uns unten im Gewölbe fanden?“

„Vollständig, natürlich.“

„Nun, es waren die Schicksale meiner eigenen Familie. Und dieser ist der verschollene Vater, den ich erwähnte.“

„Wunderbar, wie gesagt, wunderbar! Herr von Königsau, ich gratuliere Ihnen aus freudigstem Herzen nicht nur zu Ihrer endlichen Erlösung, sondern auch zu solchen Kindern. Ihr Herr Sohn ist ein außerordentlicher Mensch. Sie hat er errettet; Mademoiselle Marion hat er errettet; den Maler hat er errettet; mich hat er errettet. Er scheint es als eine spezielle Aufgabe zu betrachten, die Kerker der Unglücklichen zu öffnen. Dieser Herr Doktor Müller –“

„O bitte!“ fiel Richard lachend ein. „Rittmeister von Königsau von den preußischen Gardeulanen, wenn Sie gütigst gestatten!“

„Ritt – – –“

Das Wort blieb ihm im Mund stecken.

„Ja, es ist ganz richtig so, Herr Baron!“ stimmte Emma bei.

„Aber, Rittmeister, bei dies – – – dies – – –“

„Bei diesem Buckel! Nicht wahr?“ lachte Richard.

„Ich gebe es beschämt zu.“

„Nun, ich will Ihnen im Vertrauen mitteilen, daß ich gar nicht bucklig bin, doch allerdings nur im Vertrauen, mein lieber Baron.“

„So also, so ist das! Sie großartiger Pfiffikus! Na, hier meine Hand; es wird nichts verraten!“

„Danke! Ganz besonders darf Baronesse Marion keine Ahnung haben, daß ich nicht der Hauslehrer Müller bin.“

„Warum gerade diese nicht?“ fragte sein Vater.

„Weil ich sie liebe, Vater!“

„Du liebst diese gute, wundervolle Blume?“

„Ja.“

„Höre, Richard, diese Freude ist ja fast wie diejenige des Wiedersehens. Aber – liebst du glücklich, trotzdem sie dich für bucklig hält?“

„Trotzdem.“

„Junge, das möchte ich denn doch bezweifeln.“

„Sie hat mich in Dresden in Uniform gesehen und seitdem meine Fotografie bei sich getragen, ohne daß ich es ahnte. Ich habe sie gleichfalls da gesehen und dann ihr Bild im Herzen getragen, ohne daß sie es ahnte.“

„Wie poetisch.“

„Es wird noch poetischer, lieber Vater! Wir wußten beide nichts voneinander. Da komme ich verkleidet als Erzieher hierher und finde sie als die Tochter des Hauses.“

„Nachdem er ihr bei einem Dampfschiffsunglück das Leben gerettet hat“, schaltete sich Emma ein.

„Das ist wirklich wunderbar. Erkannte sie dich?“

„Nein. Sie fand nur eine große Ähnlichkeit heraus. Nun setze ich meinen Stolz darein, von ihr geliebt zu werden trotz der beengten, bürgerlichen Stellung.“

„Du bist sehr kühn, mein Sohn.“

„Gelingt es, so werde ich später zehnfach glücklich sein. Also, bitte dringend, ihr ja nichts merken zu lassen. Nun aber, lieber Vater, wollen wir uns zurückziehen. Du bedarfst jedenfalls ganz dringend der Ruhe.“

„O nein. Ich fühle mich so kräftig und wohl wie nie. Ihr sollt bleiben. Ihr sollt nicht fort. Wollt ihr denn nicht wissen, wie es mir ergangen ist, und wie ich in die Hände dieses Richemonte gefallen bin?“

„Wir möchten wohl sehr gern, aber du mußt dich schonen. Später ist auch noch Zeit.“

„Nein. Jetzt ist die beste Zeit. Setzt euch.“

Die Geschwister gehorchten, doch der Amerikaner machte eine Bewegung, als ob er sich entfernen wolle.

„Bleiben Sie immer, Herr Baron“, sagte Richard. „Sie haben so viel von unserer Geschichte gehört, daß Ihnen diese Episode nicht vorenthalten werden darf.“

„Ja, bleiben Sie“, bat auch der Vater. „Sie sollen erfahren, wie tief und schwarz der Abgrund einer verruchten Menschenseele ist.“

Er begann zu erzählen von seiner Abreise an, bis zu dem Kampf im Wald, wo er von Richemonte niedergestochen war, und dann von seinem Aufenthalt bei dem Schäfer Verdy und dessen Tochter Adeline, der jetzigen Baronin von Sainte-Marie.

„So müssen wir ihr für diese sorgsame Pflege innig dankbar sein“, bemerkte Richard. „Sie hat dir das Leben erhalten.“

„Aber welch ein Leben. Und zu welchem Zweck hat sie es mir erhalten“, sagte sein Vater kopfschüttelnd. „Sie wollte Baronin werden. Ich war die Waffe in ihrer Hand gegen den Kapitän. Sie hat ihren Zweck erreicht, und ich verfaulte im eigenen Unrat.“

Er erzählte, daß er noch als Rekonvaleszent in einem Wagen nach Ortry geschafft und dort in das unterirdische Loch gesteckt worden sei. Er schilderte seine körperlichen und seelischen Leiden, obgleich sie wohl nicht ganz zu beschreiben waren. Er tat das in so beredten Worten, daß die Augen der Zuhörer nicht trocken wurden.

Nachdem er ausgeredet hatte, sprang der Amerikaner von seinem Stuhl auf, rannte wütend in dem Zimmer hin und her und fragte dann:

„Herr von Königsau, was werden Sie tun? Wie werden Sie gegen diesen Richemonte handeln?“

„Das weiß ich jetzt noch nicht. Ich ahne, daß ich dazu das Gutachten meines Sohnes ausbitten muß.“

„So, so! Wissen Sie, wie dieses Gutachten lauten wird?“

„Nun?“

„Er wird sagen: Laß ihn laufen, Vater; wenigstens jetzt laß ihn laufen! Später nehmen wir ihn beim Schopf.“

„Nun, ich denke, wenn Richard so sagte, so wird er wohl seine Gründe haben.“

„Ja, die habe ich, lieber Vater; du sollst sie hören und wirst sie anerkennen.“

„Gut, gut!“ meinte der Amerikaner. „Ich habe ganz dieselben Gründe gehört und auch anerkannt. Aber was Sie jetzt erzählt haben, das geht über alle Begriffe. Herr von Königsau, ich war ein Franzose, ein enragierter Deutschenfresser. Jetzt ziehe ich nach Berlin und bleibe dort bis an mein Ende. Ich bin cholerisch, ein Brausekopf, ein Tollkopf; aber ich habe ein Herz. Ich hatte zwei Kinder verloren; Ihr Herr Sohn hier hat sie mir wiedergegeben. Ich wollte gegen Deutschland agitieren und kämpfen; er ist ein Deutscher, und Sie sind sein Vater; mein braves Weib war trotz ihres französischen Namens eine Deutsche – ich kann nicht länger ein Feind Deutschlands sein. Ich möchte Frankreich besiegen helfen, geradeso wie ich diesen Richemonte zertreten möchte!“

Da wurde an die Tür geklopft. Der dicke Maler öffnete, steckte den Kopf herein und fragte:

„Ist es erlaubt, meine Herrschaften?“

„Ja“, antwortete der Rittmeister.

Und sich an seinen Vater wendend, fuhr er lächelnd fort, Schneffke heranwinkend:

„Das ist Herr – Herr – wie heißen Sie gleich?“

„Hieronymus Aurelius Schneffke, Tier- und Kunstmaler aus Berlin.“

„Dessen Schwiegervater du beinahe geworden wärst, lieber Vater“, ergänzte der Rittmeister.

„Wieso?“ fragte Gebhard von Königsau, den Maler lächelnd fixierend.

„Er hatte es auf Emma abgesehen.“

„Ach so!“

„Er hielt sie für eine Gouvernante und betete sie so an, daß er ihretwegen sogar zu Pferde stieg.“

„Es war ein dressiertes!“ lachte Schneffke. „Er setzte mich ganz regelrecht zu ihren Füßen ab. Später ward ich ihr Beschützer und Reisebegleiter, mußte aber bald auf das erwartete Glück verzichten, weil die angebetete Gouvernante unterdessen eine himmlische Engländerin geworden war.“

„Die sie aber auch nicht bleiben wird.“

„Nicht?“ fragte er erstaunt.

„Nein. Miß de Lissa ist eigentlich meine Schwester, Baronesse Emma von Königsau.“

Der Maler machte ein Gesicht wie eine Gans, wenn es wettert.

„Verdammt!“ entfuhr es ihm.

Alle lachten. Der Rittmeister fragte:

„Haben Sie etwas dagegen einzuwenden?“

„Hm! Wie lange bleibt sie denn Ihre Schwester?“

„Ich hoffe, für immer.“

„Das bezweifle ich. Bei dieser Dame wird kein Mensch klug, wer und was sie eigentlich ist. Heute halten Sie sie im Ernst für Ihre Schwester, und morgen stellt sich vielleicht heraus, daß sie die Tante von Ihrer Schwiegermutter ist. Ich bleibe zweifelhaft wie Pudding. Von jetzt an verliere ich die Gefühle meines Inneren nur an Damen, welche mittelst Geburts- und Impfschein nachgewiesen haben, wer sie sind. Eine andere hat nie wieder einen Fußfall von mir zu erwarten.“

Er lachte über sich selbst; die anderen stimmten ein, und der Rittmeister sagte zu seinem Vater:

„Trotz alledem ist Herr Schneffke ein sehr braver Mann, dem du übrigens sehr viel zu verdanken hast.“

„Wieso?“

„Er leidet an einer gewissen Art Fallsucht; er fällt sehr gern. Draußen im Wald stürzte er in ein Loch. Ich zog ihn heraus und fand dabei, daß dieses Loch zu dem unterirdischen Gang führte, in welchem du schmachtetest. Ohne ihn hätte ich dich schwerlich entdeckt.“

Gebhard von Königsau hielt dem Maler seine Hand hin und sagte:

„Ich danke Ihnen, mein wackerer Herr Schneffke! Geben Sie mir Gelegenheit, Ihnen für dieses Verdienst dankbar zu sein.“

„Diese Gelegenheit will ich Ihnen sogleich geben.“

„Nun?“

„Sprechen Sie nicht mehr von diesem Verdienst. Dies ist der beste Dank, den Sie spenden können. Übrigens kann ich mich mit dem stolzen Bewußtsein tragen, daß meine Fallsucht mir und anderen schon oft große Vorteile gebracht hat. Es versteht nicht ein jeder, wenn er fällt, gerade in das Glück zu fallen. Aber, nicht die Fallsucht führt mich zu ihnen, sondern Mademoiselle Marion schickt mich her.“

„Wohl zu mir?“ fragte der Rittmeister.

„Ja. Sie läßt nämlich den Herrn Doktor fragen, wann Sie sich zum Aufbruch fertigmachen soll.“

„Ich werde sofort nach dem Pferd sehen.“

Eine Viertelstunde später saß er auf dem Bock und fuhr Marion und Liama nach Ortry. Dort angekommen, übergab er dem Stallknecht die Zügel und begleitete die beiden Damen nach Marions Zimmer.

Die Erscheinung Liamas konnte nicht auffallen, da die Frau Doktor Bertrand ihr einen Regenmantel und Hut geliehen hatte.

Kaum waren sie in das Zimmer getreten, als ein Diener kam und meldete, daß die Frau Baronin das gnädige Fräulein bei sich erwarte.

„Ich bin beschäftigt“, antwortete Marion.

Der Diener ging, kehrte aber mit dem Befehl zurück, augenblicklich Folge zu leisten.

„Sagen Sie der Frau Baronin, daß sie mir nicht das geringste zu befehlen hat! Aber richten Sie das ja ganz wörtlich aus!“

Die Baronin wurde von der Dienerschaft gehaßt. Der Beauftragte richtete, um die stolze Frau zu ärgern, den Befehl sehr gern wörtlich aus. Sofort machte sie sich auf den Weg nach Marions Zimmer.

Diese hatte das vermutet und Liama gebeten, in das kleine Nebenkabinett zu treten, von welchem aus sie mit Müller die Entführung der Zofe beobachtet hatte.

„Was soll das heißen?“ fuhr die Baronin in das Zimmer. „Warum kamst du nicht?“

„Weil ich keine Zeit habe, wie ich sagen ließ.“

„Wenn ich befehle, hast du zu gehorchen!“

„Darauf habe ich dir sagen lassen, daß du mir nichts zu befehlen hast.“

„Also wirklich! Solche Frechheiten gestattest du dir!“

„Sei wählerischer in deinen Ausdrücken, sonst muß ich auf deine Entfernung dringen!“

„Was fällt dir ein – – – ah, wer ist denn das? Der Herr Doktor! Ich denke, Sie sind fort!“

„Wie Sie sehen, bin ich hier“, antwortete Müller ruhig.

„Was suchen Sie hier?“

„Die notwendige Bildung und Höflichkeit im Verhalten gegen andere!“

„Ah! Ist das etwa gegen mich gerichtet?“

„Jedenfalls.“

„Unverschämter! Entfernen Sie sich!“

Müller zuckte die Achsel.

„Ich befehle Ihnen, sich zu entfernen!“

„Sie haben auch mir nichts zu befehlen! Ich bin nicht mehr Ihr Hausgenosse.“

„Um so nachdrücklicher befehle ich Ihnen, zu gehen!“

„Ich habe nur auf den Wunsch des gnädigen Fräuleins zu hören!“

„Und ich bitte Sie herzlichst, zu bleiben, Herr Doktor!“ sagte Marion. Dann fuhr sie, zur Baronin gewendet, in kaltem Ton fort:

„Was ist's, was du mit mir zu sprechen hast?“

„In Gegenwart Fremder schweige ich natürlich!“

„Das ist mir lieb!“

Sie hatte den Schrank geöffnet und suchte nach denjenigen Dingen, welche sie mitzunehmen gedachte.

„Warum packst du ein?“ fragte die Baronin.

„Weil ich abreise.“

„Wohin?“

„Das ist Staatsgeheimnis.“

„Impertinent! Von wem hast du die Erlaubnis?“

„Ich denke, keine Erlaubnis nötig zu haben.“

„Da bin ich denn doch gezwungen, meine Rechte auf das energischste zu wahren. Du darfst dich ohne meine Einwilligung nicht entfernen!“

„Ich wüßte keinen Grund, aus welchem du ein solches Recht über mich herleiten könntest.“

„Es ist ein sehr natürlicher: Ich bin deine Mutter!“

„Aber eine sehr unnatürliche.“

„Willst du mich etwa veranlassen, dir zu beweisen, daß ich mir nötigenfalls Gehorsam erzwingen kann?“

„Wie willst du das anfangen?“

„Ich rufe die Dienerschaft herbei!“

„Ich befehle den Dienern, zu gehen, und das werden sie tun.“

„So schicke ich nach der Polizei.“

„Ich verlange von ihr, dich zu arretieren, und sie wird es tun.“

Da trat die Baronin drohend auf sie zu und fragte:

„Mädchen, was willst du damit sagen?“

Marion wollte antworten; aber Müller winkte ihr zu und sagte an ihrer Stelle:

„Gnädiges Fräulein wollen jedenfalls damit andeuten, daß es jederzeit Veranlassung gibt, die einstige Hirtin Adeline Verdy in Arretur zu nehmen.“

Die Baronin erbleichte.

„Herr, welche Sprache wagen Sie!“ rief sie aus.

„Eine sehr begründete.“

„Ich verstehe Sie nicht, wenn ich Sie nicht für wahnsinnig halten soll.“

„Der Wahnwitz ist Ihr eigenes Feld, auf welchem Sie es zur Baronin gebracht haben, nämlich der Wahnwitz Ihres Mannes. Denken Sie an den Doppelmord bei der Kriegskasse.“

Sie wurde totenbleich.

„Ich begreife Sie wahrscheinlich nicht!“

„An die beiden, welche von Ihrem Mann mit der Hacke erschlagen wurden und an den, welchen der Kapitän fast erstach, den Sie aber pflegten, um ihn dann einzusperren und dadurch Baronin zu werden.“

„Sie phantasieren.“

„Pah! Sollten Sie Gebhard von Königsau nicht kennen?“

„Ich kenne ihn nicht!“

„Wollen Sie ihn sehen? Er ist entkommen.“

„Lüge!“

„Wahrheit! Wo ist der Kapitän?“

„Er scheint ausgegangen zu sein.“

„Entflohen ist er, aus Angst entflohen. Er hat den Grafen Rallion mitgenommen. Suchen Sie diese beiden!“

Sie fühlte sich wie zerschmettert; aber sie nahm sich zusammen; sie raffte sich auf und fragte:

„Was habe ich mit Ihnen zu schaffen? Was gehen mich andere an? Tun Sie, was Ihnen beliebt. Jetzt aber befehle ich Ihnen, sich zu entfernen. Ich bin die Herrin dieses Hauses!“

„Sie? Da irren Sie sich sehr.“

„Wer sonst?“ fragte sie stolz.

„Ich werde Ihnen die wirkliche Gebieterin von Ortry zeigen.“

Er öffnete die Tür zu dem Nebenkabinett.

„Hier! Kennen Sie diese Dame?“

Liama hatte Regenmantel und Hut abgelegt und trat in ihrer maurischen Gewandung ein, doch das Gesicht unverschleiert.

Die Baronin wich zurück. Sie war bis auf den Tod erschrocken und schlug die Hände vor das Gesicht.

„Liama!“ stieß sie hervor.

„Du kennst mich noch, Hirtin. Geh zu dem Wahnsinnigen. Hier bei uns hast du nichts zu schaffen! Komm, Marion, mein Kind, und kommen Sie, Doktor, ich werde Ihnen zeigen, wer hier Herrin ist.“

Sie nahm ihre Tochter bei der Hand und schritt voran – Müller folgte. Die Baronin wankte hinterher, von einem unbestimmten Impuls getrieben.

Es ging in den Speisesaal und von da in die Gemächer der Schloßherrin. Die Baronesse folgte, ohne ein Wort zu sagen. Im Boudoir blieb Liama stehen und deutete nach dem Kamin.

„Doktor, schrauben Sie dieses Bild heraus.“

Der Marmorkamin war mit einem Aufsatz gekrönt, in dessen Mitte sich ein Medaillon mit dem in Silber getriebenen Kopf der Venus befand. Müller faßte das Medaillon mit beiden Händen. Sollte es sich wirklich bewegen lassen? Er mußte alle seine Kräfte anwenden; der Rost hatte sich in das Gewinde gesetzt. Aber endlich gelang es. Und als das Medaillon entfernt war, sah man einen viereckigen Raum, in welchem sich ein Kästchen von nicht unbedeutender Größe befand.

„Nehmen Sie es heraus und öffnen Sie es!“ gebot Liama.

Müller gehorchte. Das Kästchen war aus Rosenholz gearbeitet, mit massivgoldenen Spangen und Riegeln; als diese letzteren zurückgeschoben waren, zeigte es sich, daß es mit allerlei Arten kostbaren Geschmeides angefüllt war.

„Das ist dein, Marion, mein Kind!“ sagte Liama.

Die Augen der Baronin ruhten auf den blitzenden Perlen und Steinen. Ihre Gier erwachte.

„Halt!“ sagte sie. „Dieses Etui gehört uns.“

„Wem?“ fragte Müller kalt.

„Mir und meinem Mann.“

„Haben Sie es ihm eingebracht?“

„Nein, ich nicht.“

„Können Sie nachweisen, daß es sein Eigentum ist, und auf welche Weise er es erworben hat?“

„Er wird es beweisen.“

„Nein. Das vermag er nicht“, sagte Liama. „Dieses Gold ist mein Eigentum, und ich schenke es Marion, meiner Tochter.“

„Lüge!“ stieß die Baronin hervor.

Liama würdigte sie keines Blickes, sondern sie fuhr, zu Müller gewendet fort:

„Es ist der Schatz der Beni Hassan; er gehört Liama, der einzigen Tochter des Scheiks Menalek. Saadi hat ihn mir gebracht und ihn hier im Kamin verborgen. Von jetzt an gehört er Marion, der Enkelin Menaleks.“

Die Baronin wollte abermals Verwahrung einlegen, aber sie wurde abgehalten. Hinter ihr hatte sich die Tür leise geöffnet; der irrsinnige Baron war eingetreten. Sein Auge schweifte ausdrucklos im Kreis umher und blieb zuletzt auf der Tochter der Beni Hassan haften.

„Liama!“ rief er aus.

Er tat einige Sprünge und warf sich ihr zu Füßen. Er umfaßte ihre Knie und rief in angstvollem Ton:

„Liama, Liama, rette mich!“

„Vor wem?“ fragte sie streng.

„Vor ihnen! Sie schuldigen mich an. Ich bin es gewesen; aber sage ihnen, daß ich es nicht gewesen bin. Dir glauben sie, mir aber nicht.“

„Wo sind sie denn?“

„Überall sind sie, überall. Sie verfolgen mich auf Schritt und Tritt. Rette mich!“

„Was sagen sie, was du getan haben sollst?“

Eben wollte er antworten, da aber fiel die Baronin schnell ein:

„Halt! Mein Mann ist krank. Niemand darf ihn aufregen. Niemand darf mit ihm sprechen.“

Sie trat hinzu, um ihn bei der Hand zu fassen und aus seiner knienden Stellung emporzuziehen. Er streckte ihr abwehrend die eine Hand entgegen, während er sich mit der anderen angstvoll an Liama klammerte, und rief in kläglichstem Ton:

„Fort mit ihr, fort mit der Schlange! Liama, laß sie nicht heran. Beschütze mich!“

„Er redet Unsinn!“ erklärte die Baronin. „Er muß fort auf sein Zimmer!“

Sie streckte die Hand nach ihm aus, um ihn zu erfassen. Müller sagte sich, daß er das nicht zugeben dürfe. Der Irrsinnige befand sich in einer Aufregung, welche erwarten ließ, daß man von ihm vieles erfahren könne, was bisher verschwiegen gewesen war. Darum nahm er die Baronin beim Arm und sagte in strengem Ton:

„Zurück hier, Madame! Sie werden diesen Unglücklichen nicht berühren!“



Da loderte in ihren Augen das Feuer des wildesten Hasses auf. Sie ballte die Fäuste, stampfte mit den Füßen und rief drohend:

„Noch ein solches Wort und ich lasse Sie hinauswerfen!“

„Pah“, lachte er. „Das Schäfermädchen hat das Zeug nicht dazu, mich hinauswerfen zu lassen!“

„Schäfermädchen?“ kreischte sie förmlich auf. „Glauben Sie, daß ich mich vor einem fortgejagten, buckligen Hauslehrer zu fürchten habe?“

„Ja, ganz gewiß; das glaube ich“, sagte er ruhig. „Daß Sie mich auf meine unverschuldete Mißgestalt aufmerksam machen, ist der sicherste Beweis, daß Sie vom Dorf stammen und in das Dorf gehören. Gehen Sie.“

Er zeigte bei diesen Worten nach der Tür.

„Nein, sondern packen Sie sich fort!“

Sie griff abermals nach dem Baron.

„Den lassen Sie hier“, gebot Müller.

„Gut, so werde ich klingeln.“

Während dieser Worte ging sie zur Tür, wo sich der Glockenzug befand.

„Ja, klingeln Sie!“ sagte Müller. „Aber den Diener, welcher hereintritt, werde ich nach der Polizei schicken.“

Sein Tonn klang so fest und sicher, daß sie den Schritt innehielt.

„Nach der Polizei? Wozu?“ fragte sie.

„Um Sie arretieren zu lassen.“

„Weshalb?“

„Wegen verbotener Doppelehe.“

„Ah!“

„Wegen rechtswidriger Gefangenhaltung des Barons Gebhard von Königsau.“

„Sie sind ein Teufel!“

„Wegen Ehebruchs mit dem jetzt toten Fabrikdirektor.“

„Herr“, brauste sie auf. „Was fällt Ihnen ein?“

„Pah. Ich weiß alles. Hat nicht der Alte Sie im Garten ertappt? Und war nicht auch ein fremder Offizier bei Ihnen? Gehen Sie augenblicklich, sonst bin ich es, welcher klingelt. Vorwärts.“

Er faßte sie am Arm und führte sie zur Tür hinaus, welche er hinter ihr verschloß. Sie war so verblüfft, daß sie gar nicht daran dachte, zu widerstreben.

Ihre Entfernung machte sichtlich auf den Baron einen beruhigenden Eindruck.

„Fort ist sie, fort“, sagte er. „Gott sei Dank!“

„Sprechen Sie mit ihm!“ flüsterte Müller Liama leise bittend zu.

Sie beugte sich zu dem noch immer vor ihr Knienden nieder, legte ihm die Hand auf den Kopf und sagte:

„Armer Henri!“

Das schien ihm wohlzutun. Er lächelte zu ihr auf und stieß stockend hervor:

„Nur du kannst mir helfen, willst du?“

„Ja.“

„Sie stehen alle da, rund um mich her, hier, da und dort, allüberall.“

„Wer?“

„Der Deutsche, den wir erschlagen haben.“

„Wo?“

„Im Wald. Wegen der Kriegskasse.“

„Wie hieß er?“

„Königsau.“

„Wo ist er jetzt?“

„Er ist tot, tot, tot.“

„Wirklich?“

„Ja. Aber sein Geist lebt noch.“

„Wo?“

„Unten in der Erde. In den tiefen Kellern des Schlosses Ortry.“

„Hast du ihn gesehen?“

„Ja.“

„Wann?“

„Das weiß ich nicht mehr. Der Alte hat ihn mir gezeigt. Der Mord lag mir auf der Seele, und er wollte mich beruhigen. Darum machte er mir weis, daß Königsau nicht tot sei, sondern noch lebe.“

„Er zeigte ihn Dir?“

„Ja. Aber es war nicht Königsau, sondern sein Geist. Und da, da steht noch Einer!“

Er zeigte mit der Hand angstvoll seitwärts. Seine Augen blickten starr und erschrocken nach einem Punkt.

„Wer?“

„Hadschi Omanah.“

„Oh, der fromme Marabut?“

„Ja.“

„Kennst du ihn denn?“

„Ich habe ihn ja begraben.“

„Wo?“

„Auf dem Berg, in seiner Hütte. Und da steht auch sein Sohn. Er droht mir mit der Hand. Er hat einen Totenkopf und zeigt mir die Zähne. Rette mich!“

Er befand sich in fürchterlicher Angst. Der Schweiß tropfte ihm förmlich von der Stirn. Es war derjenige Zustand, in welchem er von dem alten Kapitän nur durch Faustschläge zum Schweigen gebracht worden war.

„Hast du den Sohn des Marabuts denn auch gesehen?“ fragte sie auf die geflüsterte Aufforderung Müllers.

„Ja.“

„Wo denn?“

„Auch auf dem Berg. Ich habe ihn ja ermordet!“

Müller stand hinter Liama und raunte ihr zu, was sie sagen solle.

„Ermordet?“ fragte sie. „Du selbst?“

„Ja.“

„Warst du allein da?“

„Der Alte war mit. Er gebot mir, ihn zu töten.“

„Warum?“

„Weil ich Baron werden sollte.“

„Warst du denn nicht Baron?“

„Nein, o nein.“

„Was warst du denn?“

„Ich war ja Henri Richemonte, der Cousin und Pflegesohn des Kapitäns.“

„Und wer war der Baron?“

„Es waren zwei da.“

Er konnte sich sichtlich nur schwer auf die Einzelheiten besinnen. Es mußte alles sehr vorsichtig aus ihm herausgelockt werden.

„Zwei?“ fragte sie. „Wer war es?“

„Der Vater und Sohn.“

„Welcher war der Vater?“

„Der Marabut. Er lag im Sterben, als wir kamen, und den Sohn tötete ich.“

„Begrubt ihr sie?“

„Ja, in der Hütte. Die Papiere nahmen wir.“

„Was machtet ihr damit?“

„Ich bewies, daß ich der junge Sainte-Marie sei und sagte, mein Vater sei tot. Herrgott! Da steht noch einer und noch einer!“

„Wer?“

„Menalek, der Scheik der Beni Hassan.“

Sie legte die Hand an ihr Herz, als ihr Vater erwähnt wurde, bezwang sich aber und fuhr fort:

„Was will er von dir?“

„Er klagt mich an. Er fordert Rechenschaft.“

„Worüber?“

„Über seinen Tod. Wir haben ihn in die Hände der Franzosen gegeben. Und den andern auch.“

„Wer ist das?“

„Saadi. Er mußte sterben.“

„Weshalb?“

„Weil ich Liama haben wollte, seine Geliebte. Hast du mich denn nicht gekannt?“

„Wer warst du?“

„Ich war Ben Ali und der Alte war –“

Er hielt inne, um sich zu besinnen.

„Wer war er?“

„Er war Malek Omar, der Fakihadschi. Er machte den Spion der Franzosen und der Beduinen. Er verriet sie aber beide. Oh, errette mich!“

Er schauderte zusammen und versuchte, sich hinter ihr vor den Geistern zu verbergen, welche er zu erblicken wähnte. Sie hatte doch Mitleid mit ihm. Darum sagte sie in beruhigendem Tone:

„Sei still. Saadi ist nicht tot.“

„Nicht? Dort steht ja sein Geist.“

„Es ist Täuschung. Saadi lebt.“

„Ist es wahr?“

„Ja.“

„Er wurde doch erschossen!“

„Nein. Er war nur auf den Tod verwundet. Die Franzosen glaubten ihn tot und ließen ihn liegen. Dann aber wurde er gefunden und gepflegt.“

„Du sagst es, und du lügst nie.“

„Nein.“

„Ja, du hast recht. Sein Gesicht ist verschwunden. Mein Kopf schmerzt nicht mehr. Ich will gehen.“

Er erhob sich und wankte nach der Tür. Sie ließen ihn gehen, ohne ihn zurückzuhalten. Was sie jetzt erfahren hatten, wußten sie bereits zum großen Teil, Liama aus ihrer Vergangenheit und Müller aus den Aufzeichnungen, welche Marion von Hassan, dem Zauberer, empfangen und ihm anvertraut hatte. Manches aber erschien ganz neu und war wohl geeignet, sie in die höchste Bestürzung zu versetzen und ihnen Stoff zu den interessantesten und wichtigsten Kombinationen zu geben.

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