ACHTES KAPITEL In Berlin

Nach den in Vorstehendem geschilderten Ereignissen ist es zum Schluß nötig, den Leser nach Berlin zu führen, um zu erfahren, was sich vorher dort alles ereignet hatte.

Es war Abend. Der alte, greise Hugo von Königsau, der einstige Liebling des Feldmarschalls Blücher, hatte Besuch. Sein Vetter, der General Kunz von Goldberg, befand sich bei ihm.

Sie plauderten von vergangenen Tagen, von ihren Kriegserlebnissen, und so war es kein Wunder, daß das Gespräch auch auf die gegenwärtige, bedrohliche Konstellation kam.

„Er fängt wieder an! Paß auf, er fängt wieder an“, sagte Königsau. „Der Franzose kann von seiner Art nicht lassen. Er hat sich in die Tinte geritten und will sich nun durch einen Krieg wieder herausbeißen.“

„Das steht allerdings zu befürchten.“

„Zu befürchten? Haben wir etwas zu befürchten, wie?“

„Hm! Gott gebe, daß es gutgeht.“

„Es wird gutgehen. Wie sollte es anders?“

„Wir sind leider nicht allwissend.“

„Nein, aber sehen können wir, rechnen können wir. Wir sehen, daß der Franzmann am Ende seiner Klugheit angekommen ist.“

„Wir wollen ihn nicht zu niedrig schätzen.“

„Wie? Das sagst du als preußischer, als deutscher General?“

„Ja. Man braucht als Offizier nicht den Bramarbas zu spielen.“

„Das bin ich auch nicht. Oder hälst du mich etwa dafür?“

„Nein, das sei mir fern.“

„Na, also! Ich sehe mit meinem gesunden Auge, daß der Franzose krank ist. Er fiebert; man muß ihn zur Ader lassen. Eher gibt er nicht Ruhe.“

„Leider muß der Bader, welcher ihn zur Ader läßt, auch sein Blut hergeben.“

„Das ist nicht anders; das ist stets so gewesen. Wir haben damals unser Blut hergeben müssen. Und wer war schuld daran? Etwa wir?“

Der General schüttelte langsam den Kopf. Er fragte:

„Du meinst, Napoleon sei schuld gewesen?“

„Natürlich.“

„Da bin ich anderer Ansicht.“

„Was! Anderer Ansicht! Willst du ihm das Wort reden?“

„Nun, das fällt mir gar nicht ein, aber ich betrachte ihn von einem anderen Standpunkt als du.“

„So, so! Von einem anderen Standpunkt? Von welchem denn, wenn ich fragen darf, he?“

Wenn die Rede auf Napoleon kam, pflegte der alte Veteran stets heftig zu werden, sogleich er es so sehr schlimm gar nicht meinte. Das wußte der General. Er nickte ihm lächelnd zu und antwortete:

„Vom Standpunkt der Objektivität.“

„Ah, so! Bin ich etwa nicht objektiv?“

„Nein, lieber Vetter.“

„Alle Teufel! Ist's dein Ernst?“

„Ja.“

„Na, dann begreife ich dich nicht.“

„Aber ich dich.“

„Hoho! Ich bin kein junger Springinsfeld mehr, kein Sausewind, der an nichts denkt. Ich bin alt genug, um ruhig zu beobachten und beurteilen zu können. Ich halte mich für ebenso objektiv, wie du dich.“

„Das bist du ja auch.“

„Na also!“

„Aber nur in dieser Angelegenheit nicht.“

„Beweise es!“

„Du bist damals zu sehr mitgenommen worden; du hast zu viel Schlimmes zu erfahren, zu leiden und zu dulden gehabt. Darum läuft dir selbst jetzt, nach so langen Jahren, die Galle über, wenn du an jene Zeiten denkst.“

„Wozu habe ich die Galle?“

„Nur zum überlaufen wohl?“ lachte der General.

„Na ja, sie ist auch zu einigem anderen da. Aber dieser Familie Napoleon habe ich es einmal getippt.“

„Und dabei wirst du subjektiv.“

„Das heißt, ich urteile ungerecht?“

„Ja.“

„Sapperment! Das hat mir noch niemand gesagt.“

„Hoffentlich aber ist dies kein Grund, es mir, deinem Vetter, übelzunehmen.“

„Nein. Ich denke, daß du mich kennst. Wir werden doch nicht uneins werden. Dieses Bonaparte wegen erst recht nicht. Er ist es gar nicht wert. Er war doch nichts weiter als ein großer Räuber, ein großer Dieb, ein großer –“

„Ein großer Regent“, fiel ihm der General ein, „und ein noch größerer Feldherr.“

„Was! Willst du etwa eine Ode auf ihn dichten?“

„Beinahe.“

„Das laß nur bleiben! Ich singe sie nicht mit.“

„Ist auch nicht nötig. Wenn du jene außerordentliche Zeit kaltblütig und unparteiisch beurteilst, so wirst du über Napoleon anders denken lernen.“

„Wie denn?“

„Nun, ich nannte diese Zeit als außerordentliche.“

„Ja. Weiter.“

„Also muß man auch einen außergewöhnlichen Maßstab an sie legen, wenn man über sie referieren will.“

„Schön.“

„Und eben weil sie eine außergewöhnliche Zeit war, mußte sie auch ungewöhnliche Erscheinungen hervorbringen.“

„Richtig!“

„Und ungewöhnliche Männer.“

„Auch das gebe ich zu.“

„Zu diesen gehörte Napoleon.“

„Ohne Zweifel.“

„Auch darf er nicht mit dem gewöhnlichen Maßstab gemessen werden, Vetter.“

„Tue ich das etwa? Ich nenne ihn Dieb und Räuber. Sind das gewöhnliche Leute? Lege ich also einen gewöhnlichen Maßstab an ihn?“

„Nein, aber einen sehr ordinären.“

„Donner und Doria! Soll ich die Elle, mit welcher ich ihn messe, etwa vergolden und mit Edelsteinen besetzen lassen?“

„Das ist nicht nötig. Napoleon war ein Kind seiner Zeit.“

„Wie jeder andere Mensch auch, ja.“

„Er war vielleicht, ja ganz gewiß, der legitimste Sohn der Revolution.“

„Ist das eine Ehre für ihn?“

„Wenn es keine Ehre für ihn sein sollte, was ich sehr bezweifle, so ist es doch ein Entschuldigungsgrund. Gibst du etwa nicht zu, daß die Revolution die notwendige Folge der damaligen Zustände war?“

„Was das betrifft, so stimme ich dir bei. Die Luft war verdorben, es lagen Miasmen und Dünste über den Reichen; es mußte ein Sturm kommen.“

„Du erklärst also die Revolution für berechtigt?“

„Für berechtigt nicht, aber für begründet.“

„Das ist eins. Was einen Grund hat, da zu sein, das hat auch das Recht des Daseins.“

„Meinetwegen. Ich bin kein Wortklauber.“

„Und wenn du die Revolution für berechtigt hälst, so erklärst du auch ihren größten, begabtesten Sohn, nämlich Napoleon, für legitim.“

„Du spricht wahrhaftig wie ein Professor!“

„Sage lieber, wie ein Rechtsanwalt! Ich verteidige den Angeklagten.“

„So laß dich nur von seinem Neffen gut bezahlen.“

„Ich verlange kein Honorar; ich tue es aus Gerechtigkeitsgefühl. Bonaparte hat viel, viel gefehlt, aber er hat unendlich mehr Segen gebracht. Der Sturmwind, welchen er anfachte, hat vieles Verfaulte zum Land hinausgejagt.“

„Auf wie lange? Die Fäulnis begann sofort wieder.“

„Daran war er nicht schuld.“

„Das gebe ich allerdings zu, aber ich darf auch nicht zugeben, daß du das Kind mit dem Bade ausschüttest.“

„So entschuldige mich“, lachte der Alte, sich grimmig den weißen Schnurrbart streichend.

„O bitte, bitte! Er war ein Löwe, und du weißt, daß der Löwe ein etwas wildes Tier ist, den man nicht so wie ein zahmes Kaninchen beurteilen darf.“

„Wen meinst du mit Kaninchen?“

„Direkt niemanden.“

„Ich hätte dich auch aus der Tür geworfen.“

„Danke, Vetter! Aber Zahme gab es damals gerade genug.“

„So, so. Und Blücher, Gneisenau, York, Wellington?“

„Das war später. Übrigens war dann Napoleon ein gefallener Löwe. Man hatte ihm die Pranken gefesselt, er wurde von England zu Tode gequält. Einen gefallenen Gegner aber, welcher sein Unglück mit Würde trägt, muß man achten.“

„Hm! Du sprichst nicht übel.“

„Habe ich nicht recht?“

„Mit der letzteren Bemerkung, ja.“

„Ich sage dir, daß ich ihn nicht nur achte, sondern in vielem sogar bewundere.“

„Oho! Bete ihn doch lieber an.“

„Das fällt mir nicht ein. Du hast viele Deutsche, welche ihr Vaterland lieben, den damaligen Druck schwer empfanden und doch mit Begeisterung von ihm sprechen.“

„So! Wer sind denn diese guten Leute?“

„Ich kann dir nicht Hunderte von Namen nennen.“

„Aber bitte, doch wenigstens einige.“

„Es gibt genug Deutsche, welche dem großen Kaiser ihre Feder weihten.“

„Zum Beispiel?“

„Heine.“

„Ah! Der war ein Abtrünniger.“

„Als Dichter nicht. Kennst du seine Grenadiere?“

„Ist mir noch nicht vor die Augen gekommen.“

„Wie ergreifend, wie überwältigend schildert da Heine die Opfertreue und die Inbrunst, mit welcher die Krieger des großen Napoleon an ihrem Feldherrn hingen.“

„Das ist die Pflicht eines jeden Soldaten.“

„Natürlich! Ich weiß das auch. Aber es gibt da doch wohl einen Unterschied. Die Preußen liebten ihren alten Fritz über alle Maßen – – –“

„Das will ich meinen.“

„Aber es war – hm, wie drücke ich mich aus. Es war etwas sehr viel Gemütlichkeit dabei. Die Liebe des französischen Soldaten war blindlings, war bigott. Es gibt kein anderes Wort als dieses letztere, welches den Nagel auf den Kopf trifft.“

„Und das schildert dieser Heinrich Heine?“

„Ja. Er erzählt von zwei französischen Grenadieren, welche todmüde aus den Schneefeldern Rußlands zurückkehren, wo sie gefangen gewesen sind. Sie hörten in Deutschland, daß Frankreich besiegt und der Kaiser gefangen sei. Das schmetterte sie nieder. Der eine sagte:

‚ – – – wie weh wird mir!


Mir brennt meine alte Wunde.‘“

„Was ist das weiter. Es brennt manchem alten Krieger die Wunde, die er erhalten hat.“

„Der Dichter meinte, daß die alte Wunde aufgebrochen sei, so daß der Grenadier sich daran verbluten müsse. Der andere Grenadier antwortete:

‚ – – – das Lied ist aus,


Auch ich möcht' mit dir sterben,


Doch hab' ich Weib und Kind zu Haus,


Die ohne mich verderben.‘“

„Das ist sehr verständig und vernünftig von diesem Mann. Er hat für seine Familie zu sorgen.“

„So aber dachte der andere Veteran nicht. Er antwortete:

‚Was schert mich Weib, was schert mich Kind,


Ich trage weit besseres Verlangen.


Laß sie betteln geh'n, wenn sie hungrig sind!


Mein Kaiser, mein Kaiser gefangen!‘“

„Dieser Mensch verdient Prügel“, knurrte der alte grimmige Veteran.

„Der Dichter kann ja den Todesmut des Grenadiers nicht packender schildern, als in dieser Weise. Er fährt fort:

‚Gewähr mir, Bruder, eine Bitt!


Wenn ich jetzt sterben werde,


So nimm meine Leiche nach Frankreich mit,


Begrab mich in Frankreichs Erde.


Das Ehrenkreuz am roten Band


Sollst du aufs Herz mir legen,


Die Flinte gib mir in die Hand


Und gürt mir um den Degen!


So will ich liegen und horchen still


Wie eine Schildwach' im Grabe,


Bis einst ich höre Kanonengebrüll


Und wiehernder Rosse Getrabe,


Dann reitet mein Kaiser wohl über mein Grab,


Viel Schwerter klirren und blitzen;


Dann steig' ich gewappnet hervor aus dem Grab,


Den Kaiser, den Kaiser zu schützen!‘“

Nachdem der General geendet hatte, beobachtete Königsau ein momentanes Schweigen und sagte dann:

„Und diese alten Krieger, wer hat sie niedergehauen?“

„Ihr natürlich.“

„Ja, wir. Und ebenso werden wir ihren Nachfolger besiegen!“

„Ich wünsche von ganzem Herzen, daß deine Ansicht die richtige sei.“

„Du glaubst doch nicht etwa das Gegenteil?“

„Nein. Aber kein Mensch ist allwissend. Der Krieg ist auf alle Fälle ein Unglück. Besser wäre es, wenn er unterbleiben könnte.“

„Oho! Ein lustiger Krieg führt zum Sieg. Ich freue mich königlich, daß die Franzmänner mit uns anbinden wollen, und wünsche ihnen von ganzem Herzen gesegnete Prügel.“

„Frankreich ist stärker als du denkst.“

„Pah! Es hat sein Prestige seit Sadowa verloren.“

„Daher schnaubt es auch seitdem Rache für Sadowa. Es hat sich gerüstet, und nun müssen wir eben abwarten, wie die Würfel fallen. Ich mache mit.“

„Bist du toll?“

„Nein. Ich bin im Gegenteil sehr bei Verstand.“

„Du in deinen Jahren.“

„Oho! Noch habe ich Mark in den Knochen.“

„Aber dein Kopf.“

„Sapperment! Erinnert mich nur nicht so oft an diese Schwäche. Es ist ja nur eine Lücke des Gedächtnisses, an der ich leide, weiter nichts.“

„Und dennoch denke ich, daß du dir die Sache vorher doch erst reiflich überlegen wirst.“

„Sie ist überlegt.“

„Sei gescheit, Vetter! Laß das sein.“

„Ich wüßte keinen Grund dazu.“

„Ich wiederhole: Dein Alter!“

„Alle Wetter! Ich bin ja noch nicht einmal achtzig Jahre alt. Wo denkst du hin.“

„Aber neunundsiebzig und dreiviertel.“

„Das ist doch kein Alter, bei welchem man sich auf das Sofa setzt, wenn der Tanz mit den Franzosen losgeht. Es bleibt dabei: Ich mache mit!“

„Als was?“

„Am liebsten als Kombattant; aber leider würde man mich da zurückweisen. Es bleibt mir also nichts übrig, als unter die Krankenpfleger zu gehen.“

„Aber, bedenke die Anstrengung.“

„Ich fürchte sie nicht. Ich gehe mit der Gardereiterei; da bleibe ich in Richards Nähe.“

„Hm! Ob er es billigen wird, daß du dich solchen Gefahren und Anstrengungen aussetzt?“

„Ich werde ihn wohl schwerlich um seine Erlaubnis fragen. Ich hoffe, da drüben, jenseits der Grenze, mit einem zusammenzukommen, mit dem ich noch eine alte, sehr alte Rechnung quitt zu machen habe.“

„Du meinst den Kapitän Richemonte? Es würde wohl besser sein, ihn jüngeren Leuten zu überlassen.“

„Jüngeren? Vetter, ich sage dir: Wenn ich an diesen Menschen denke, so fühle ich mich wie ein zwanzigjähriger Jüngling. Wehe ihm, wenn er das Unglück hätte, zwischen meine beiden Fäuste zu geraten.“

Der alte, ehrwürdige Mann hatte sich von seinem Sitz erhoben. Seine Augen blitzten; seine Fäuste waren geballt. Beim Anblick des greisen Recken hielt es der General allerdings für sehr wahrscheinlich, daß Richemonte im Falle eines Kampfes mit demselben unterliegen müsse.

Da trat der Diener ein.

„Gnädiger Herr“, meldete er, „es ist jemand da, der Sie zu sprechen wünscht.“

„Heute abend noch, wer ist es?“

„Eine Dame.“

„Hat sie ihren Namen gesagt?“

„Sie will ihn selbst nennen.“

„Das ist eigentümlich. Sie ist eine Unbekannte?“

„Nein.“

„Ah, so kenne ich sie? Also vielleicht eine Überraschung? Kerl, was machst du für ein Gesicht. Du lachst von einem Ohr zum andern, und doch glaube ich, daß deine Augen naß sind. Sapperment! Es wird doch nicht etwa Emma – – –“

„Ja, sie ist's; sie ist's, Großpapa!“

So tönte es vom Eingang her, und Emma warf sich in die Arme des Alten.

Er war wortlos vor Freude. Er drückte sie an sich und strich ihr nur immer mit der Hand über das reiche Haar.

Dann zog sie seinen Kopf zu sich herab, küßte ihn zärtlich auf den Mund und fragte:

„Habe ich dich erschreckt, Großpapa?“

„Ja, aber freudig, sehr freudig“, antwortete er mit zitternder Stimme.

„Mein Gott! Es wird dir doch nichts schaden?“

„Nein. Für eine solche Freude sind meine alten Knochen noch stark genug. Aber laß mich sitzen.“

Sie führte ihn zum Sofa, auf welches er sich niederließ, und dann begrüßte sie auch den Onkel General.

„Du bist erst jetzt angekommen?“ fragte dieser.

„Ja, vor einer Viertelstunde.“

„Aber doch nicht allein?“

„Nein. Ich reiste in Gesellschaft.“

„Mit Madelon?“

„Mit ihr und noch einigen, welche ihr kennenlernen werdet.“

„Gut, daß du da bist. Der Krieg ist erklärt, und dort in und bei Ortry wird es bald gefährlich werden. Wo steckt denn jetzt Richard?“

„Er mußte zurückbleiben; aber wir wurden unterwegs aufgehalten, weil Madelon unwohl wurde, und da, und da – – –“

Sie hielt inne und blickte den Großvater besorgt an.

„Was dann?“ fragte dieser. „Denke, nicht, daß du mir schadest, die Freude tötet nicht. Also weiter, liebe Emma! Und da –?“

„Und da ist es ihm gelungen, uns einzuholen. Er erreichte uns in Hannover.“

„Und fuhr dann mit euch weiter?“

„Ja.“

„So ist er auch hier?“

„Ja, Großpapa.“

„Wo denn?“

„Willst du ihn denn sehen?“

„Natürlich! Spielt nur keine Komödie mit mir.“

Er stand auf und schritt nach der Tür. Da kam ihm Emma zuvor und öffnete sie. Herein trat – Doktor Müller.

Der Großvater hielt seinen Schritt an, als er ihn erblickte und sagte erstaunt:

„Richard! Sapperment. Irre ich mich denn? Ah, ja, du hast dich ja verstellen müssen. Komm her, mein Junge, laß dich umarmen.“

Sie lagen sich Brust an Brust. Dann schob der Alte den Jungen von sich, betrachtete ihn abermals und sagte:

„Bucklig also. Höre, der Buckel geht doch herunter?“

„Sofort“, lachte Richard.

„Und diese schwarze Perücke?“

„Da liegt sie.“

Dabei nahm er sie ab und warf sie zur Erde. Einen Griff unter den Rock, wo er die Schnalle öffnete, und auch der Höcker fiel zu Boden.

„Aber das dunkle Gesicht! Du siehst aus wie ein Kalabrese.“

„Das ist leider Walnußsaft und wird nicht leicht zu entfernen sein. Es bedarf einiger Wochen.“

„Und dein Bart, dein prächtiger Bart. Schade, schade um ihn, mein Junge.“

„Oh, der Bart wird wieder wachsen. Aber, ich muß doch nun auch den Onkel begrüßen.“

Dies geschah, und dann nahmen die vier Leute an dem Tisch Platz. Der Großvater klingelte und befahl dem Diener, Wein zu bringen und das Abendessen zu besorgen. Als der Diener sich entfernen wollte, hielt er ihn mit dem Ruf zurück:

„Halt! Mensch, du machst ja ein Gesicht, wie ich es noch gar nicht bei dir gesehen habe? Du siehst aus wie Weihnachtsabend. Was hast du den?“

„Freude, herzliche Freude, gnädiger Herr.“

„Worüber?“

„Ich habe auch Besuch bekommen.“

„So, so. Welchen?“

„Aus Frankreich.“

„Sapperlot. Wer ist es denn?“

„Der Fritz.“

„Welcher Fritz? Wohl der Wachtmeister?“

„Ja, freilich.“

„Prächtig. Wo steckt er denn?“

„Hier im Vorzimmer.“

„Dann nur immer herein mit ihm.“

Der wackere Fritz trat ein, als Pflanzensammler gekleidet, mit einem Sack auf dem Rücken. Der Großvater lachte und streckte ihm die Hand entgegen:

„Willkommen, Wachtmeister, willkommen. Ist dies Ihre französische Gestalt gewesen?“

„Zu Befehl, Herr Rittmeister.“

„Dann legen Sie schleunigst ab. Sie sollen heute mit uns zu Abend essen.“

„Ja, das hat er verdient, lieber Großvater“, sagte Richard. „Ich habe ihm viel, sehr viel zu verdanken.“

Auch der General streckte dem Wachtmeister die Hand entgegen, und es war ein eigentümlicher, tief aus dem Herzen herausschimmernder Blick, welchen der junge Mann auf Goldberg warf. Dann entfernte er sich und kam nach wenigen Minuten in seiner Ulanenuniform wieder.

„So ist's recht. Diese Bluse darf nicht auf dem Leib eines braven Preußen bleiben. Setzen Sie sich her zu uns. Da stehen Zigarren, und hier ist Wein. Schenken Sie sich ein, Wachtmeister. Bald wird serviert; das wird unseren Reisenden willkommen sein. Und dann, wenn wir gegessen haben, soll das Erzählen beginnen. Ich bin neugierig, eure Erlebnisse zu erfahren.“

Da räusperte sich Richard und sagte:

„Lieber Großvater, es wird besser sein, wenn wir mit unserem Bericht nicht so lange warten.“

„Warum?“

„Ich habe keine Zeit. Ich muß mich melden und Bericht erstatten.“

„So spät noch?“

„Ich würde mich melden, selbst wenn ich mitten in der Nacht eingetroffen wäre.“

„Ist dein Bericht so wichtig?“

„Ungeheuer.“

„Dann gratuliere! Sage uns vor allen Dingen das eine: Hast du gute Erfolge gehabt?“

„Ausgezeichnete.“

„Das genügt. Das andere kann ich ruhig abwarten.“

„Ich wiederhole, daß ich diese Erfolge zum großen Teil dem Wachtmeister zu verdanken habe. Nicht wahr, Fritz?“

Der Gefragte machte eine abwehrende Handbewegung und sagte:

„Oh, es ist nicht so schlimm. Ich habe meine Pflicht getan, weiter nichts. Du urteilst viel zu freundlich über mich.“

„Pah! Du weißt am besten, wie wir stehen.“

„Bitte, laß das sein. Schweigen wir darüber.“

Sowohl der Großvater wie auch der General blickten die beiden erstaunt an. Der erstere fragte:

„Was ist denn das, Richard? Habe ich richtig gehört?“

„Was?“

„Ihr nennt euch du?“

„Ja.“

„Du hast mit dem Wachtmeister Bruderschaft gemacht?“

„Ja, lieber Großvater.“

„Reitet dich denn der Teufel?“

„Hast du etwas dagegen?“

„Gegen den Wachtmeister Fritz Schneeberg habe ich gar nichts; er ist ein braver Mensch und ein tüchtiger Soldat, aber das ist für den Garderittmeister Richard von Königsau denn doch noch kein Grund –“

„Mit ihm Bruderschaft zu trinken, nicht wahr?“

„Ja, das will ich sagen. Der Wachtmeister wird soviel Verstand und Einsicht haben, mir dies nicht übelzunehmen.“

Da antwortete Emma anstatt ihres Bruders:

„Es fällt ihm gar nicht ein, es übelzunehmen, Großpapa. Aber auch ich billige diese Bruderschaft.“

„Was! Auch du? Dann gibt es dabei irgend etwas, was ich nicht weiß. Wie ich euch beide kenne, vergeßt ihr wohl niemals, daß unsere Ahnen mit Gottfried von Bouillon Jerusalem eroberten.“

„Nein, das vergessen wir nicht. Fritz hat uns solche Dienste geleistet, daß wir ihm diese Anerkennung schuldig sind. Wir können auf ihn geradeso stolz sein wie auf unsere Ahnen.“

„Das begreife, wer es vermag. Hoffentlich erfahre ich etwas über diese Dienste. Euch hat er sie geleistet, sagst du. Du meinst aber doch wohl nur Richard?“

„Nein, auch mich.“

„Hm.“

„Und auch dich und den Onkel General.“

„Was? Diese Dienste beziehen sich auch auf uns?“

„Sogar sehr. Die ganze Familie ist ihm zum allergrößten Dank verpflichtet.“

„Wieso?“

„Das führt mich auf meine vorige Bemerkung zurück“, sagte Richard. „Ich muß mich noch heute melden, und es ist möglich, daß ich schon morgen Berlin wieder verlassen werde. Darum ist es mir erwünscht, alles, was wir zu besprechen haben, schnell zu erledigen.“

„Gehören denn dazu auch des Wachtmeisters Dienste?“

„Jawohl, Großvater. Wir haben nämlich nicht nur in Beziehung auf die mir gestellte Aufgabe, sondern auch in privater Angelegenheit große Erfolge gehabt.“

„Bezüglich unserer Familie?“

„Ja. Zunächst meine ich damit Onkel Goldberg.“

„Mich?“ fragte der General. „Ich habe doch mit eurem Aufenthalt in Frankreich gar nichts zu schaffen.“

„Aber dieser Aufenthalt hat sehr viel mit dir zu schaffen. Denn es handelt sich um – ah, es ist gut, daß die Tante nicht da ist. Sie würde uns mit einigen Ohnmachten zu schaffen machen.“

„Ohnmachten? Richard, du hast etwas Schlimmes für uns?“

„Nein.“

„Aber du sprichst von Ohnmachten!“

„Man kann auch vor Freude in Ohnmacht fallen.“

„Mensch, spanne mich nicht auf die Folter.“

„Nun, du bist Soldat. Du wirst wohl nicht die Besinnung verlieren oder die Krämpfe bekommen. Es handelt sich nämlich um die – – – Löwenzähne.“

Er sprach das Wort langsam und mit schwerer Betonung aus. Der General fuhr empor, starrte ihn an, griff sich mit beiden Händen an den Kopf und fragte:

„Verstehe ich dich recht? Die Löwenzähne?“

„Ja.“

„Herr, mein Gott! Sprich, sprich schnell!“

„Nun, Fritz hat eine Spur gefunden, daß diese Zähne noch existieren.“

„Wo, wo?“

„Der eine in Deutschland, der andere in Paris.“

„Ist's wahr? Ist's wahr?“

„Ja. Deshalb sagte ich, daß auch ihr ihm Dank schuldet, lieber Onkel.“

„Natürlich, o ganz natürlich. Aber wie und wo ist diese Spur gefunden worden?“

Der General befand sich in einer sehr erklärlichen Aufregung. Er sprudelte seine Worte so schnell hervor, daß man sie kaum verstehen konnte. Darum sagte Richard:

„Bitte, lieber Onkel, setze dich nieder und trinke einen Schluck Wasser, ich fürchte doch, daß wir dich mehr aufregen, als dir gut ist.“

Der General zog das Taschentuch hervor, um sich die Stirn zu wischen, setzte sich nieder und griff mechanisch nach dem Wasserglas. Richard fuhr fort:

„Übrigens brauchst du noch nicht in Ekstase zu geraten. Die Angelegenheit ist noch keineswegs klar; sie muß geprüft werden. Also Ruhe, Ruhe.“

Der General trank und sagte dann:

„Gut, ich will ruhig sein. Ich bin gleich zu sanguinisch gewesen. Es war ja nur von einer Spur die Rede. Also, wo habt ihr sie gefunden?“

„In Ortry und sodann auf Schloß Malineau. Die beiden Zähne existieren. Da wir aber sichergehen wollten, so begnügten wir uns nicht nur mit dem Gerücht, welches wir hörten, sondern wir versuchten, uns in den Besitz der Zähne zu setzen, um sie prüfen zu können.“

„Recht so. Recht so. Ist's vielleicht gelungen?“

„Zur Hälfte.“

„Was heißt das?“

„Wir haben nicht alle beide, sondern nur einen erlangt.“

„Gott sei ewig Lob und Dank!“ jubelte der General. „Wo ist der Zahn? Habt ihr ihn mit?“

„Ja, natürlich!“

„Wo?“

„Fritz hat ihn.“

„Sie? Sie?“ fragte der General.

„Ja“, antwortete Richard. „Ich mußte ihn in seinen Händen lassen, weil er ein Recht dazu hat.“

„Dann bitte, schnell, schnell, Herr Wachtmeister.“

Das Gesicht Fritzens war todbleich und seine Hand zitterte sichtbar, als er in die Tasche griff und den Löwenzahl hervorzog, um ihn dem General zu geben.

Dieser griff mit Begierde zu.

„Er ist's, er ist's“, rief er laut, als er den ersten Blick darauf war. „O mein Gott, mein Gott!“

Er wollte den Zahn öffnen, allein seine Hände zitterten noch mehr als diejenigen des Wachtmeisters. Es dauerte eine Zeit, bis der Inhalt zum Vorschein kam.

Der alte Großvater hatte während der letzten zehn Minuten kein Wort gesprochen, aber seine Augen waren mit größter Spannung auf die Hände des Generals gerichtet. Jetzt fragte er:

„Ist's wirklich einer der Zähne?“

„Ja, ja“, jauchzte der General. „Es ist der rechte, der aus der rechten Kinnlade; ich habe ihn meinem Erstgeborenen umgehängt. Richard, Richard, schnell, schnell, heraus damit! Bei wem ist dieser Zahn hier gefunden worden?“

„Beruhige dich zuvor, lieber Onkel.“

„Ich bin ja ruhig.“

„O nein! Du fieberst ja förmlich.“

„Nun, so laßt mich vorher ein wenig frische Luft schöpfen!“

Er trat an das Fenster und öffnete es. Wohl erst nach fünf Minuten fühlte er sich gesammelt genug. Er kehrte zum Tische zurück und sagte:

„So! Jetzt wird es gehen. Also, wo ist der Zahn gefunden worden?“

„Bei einem blut-, blutarmen Teufel. Wir müssen also sehr vorsichtig sein.“

„Seit wann ist er im Besitz dieses Kleinods gewesen?“

„Seit frühester Kindheit.“

„Wie alt ist er?“

„Gerade so alt, wie die beiden Knaben jetzt sein würden.“

„Mein Heiland! Ihr kennt doch seinen Namen?“

„Das versteht sich ganz von selbst.“

„Wo befindet er sich?“

„Hier in Berlin.“

„Seit wann?“

„Oh, seit langer, langer Zeit. Ich habe ihn sehr gut gekannt.“

„Dann ich vielleicht auch?“

„Ja, ebensogut wie ich.“

„Was ist er?“

„Soldat.“

„Den Namen, den Namen.“

„Bitte, liebster Onkel“, sagte Richard abwehrend, „jetzt noch nicht. Sprechen wir zunächst von dem anderen Zahn.“

„Der in Paris ist?“

„Ja.“

„Wer hat ihn?“

„Zunächst sage ich dir, daß der Besitzer vor kurzem auch hier in Berlin gewesen ist.“

„Was? Auch hier?“

„Ja. Es geht wirklich ganz und gar wunderlich mit diesen Zähnen zu. Der Pariser hat sich sogar auf unserer Straße befunden.“

„Was du sagst!“

„Ja, sogar in unserem Haus.“

„Bei mir?“ fragte der Großvater.

„Ja, bei dir.“

„Hier ist nur eine einzige Person gewesen, welche aus Paris war.“

„Wen meinst du?“

„Den Maler Haller.“

„Den meine ich auch.“

„Was? Dieser befindet sich im Besitz des anderen Zahns?“

„Ja.“

„Welch eine Fügung! Du schriebst uns, daß er gar nicht Maler sei?“

„Ja; er ist Offizier.“

„Sein Vater ist Graf?“

„Sein Pflegevater.“

„Was? Sein Pflegevater?“ rief der General.

„Ja. Graf Lemarch ist nicht der rechte Vater des angeblichen Malers Haller.“

„Kennt man den richtigen Vater?“

„Der bist jedenfalls du, lieber Onkel.“

„Ich weiß wirklich nicht, wo mir der Kopf steht. Ich habe sehr gute Nerven, aber es greift mich denn doch an.“

„Das sehe ich, und darum ist es am besten, wir sprechen nicht weiter über diese Angelegenheit.“

„Wo denkst du hin! Ich muß unbedingt alles erfahren, was ihr wißt, alles!“

„Wenn die Aufregung dir nicht schadet, ja!“

„Sie schadet mir nichts. Wie alt ist dieser Graf Lemarch?“

„Hast du ihn gesehen?“

„Einmal, aber nur vorübergehend.“

„Ich habe ihn nicht nach dem Alter gefragt; ich denke aber, daß dasselbe stimmen wird. Übrigens wird man ja den Lermille fragen können.“

„Wer ist dieser Lermille?“

„Ein Bajazzo, ein Seiltänzer.“

„Hat denn dieser auch mit unserer Angelegenheit zu schaffen?“

„Sogar sehr“, antwortete Richard, welcher sich wohl hütete, gleich alles zu sagen. Das wäre doch wohl gefährlich gewesen. Der General mußte erst vorbereitet werden.

„Inwiefern?“ fragte der letztere.

„Nun, er ist eigentlich ein Vagabund, ein verbrecherisches Subjekt. Er gab in Thionville Vorstellungen und hatte eine Stieftochter bei sich, welche Seiltänzerin war und sich in unseren Wachtmeister hier zum Sterben verliebte.“

„Gehört das auch hierher?“

„Vielleicht.“

„Spanne mich nicht auf die Folter!“

„Nein; ich will dir nur beweisen, daß die Person dieses Bajazzos für uns von Wert ist.“

„Dann weiter.“

„Dieser Mensch tötete seine Stieftochter und ging dann mit der Kasse des Direktors durch. Die Tochter war nicht sofort tot; sie erzählte noch in ihren letzen Augenblicken, daß ihr Stiefvater einst zwei Knaben geraubt habe, welche zwei Löwenzähne bei sich getragen hätten.“

„Ah, jetzt kommt es! Wo hat er sie geraubt?“

„In Preußen.“

„Und wohin geschafft?“

„Einer der Knaben ist unterwegs verlorengegangen, ich glaube in der Nähe von Neidenburg in Ostpreußen.“

„Und der andere?“

„Der wurde nach Paris geschleppt.“

„Aber warum?“

„Der Vagabund war von Richemonte und dem Grafen Rallion erkauft worden, wie ich vermute und später zu beweisen hoffe.“

„Ah! Also diese beiden. Diese Halunken sind es gewesen! Gebt mir Beweise in die Hände, Beweise, und ich werde Rallion und Richemonte zermalmen!“

„Um Beweise bringen zu können, muß man sich des Knabenräubers bemächtigen.“

„Allerdings. Aber du sagtest, er sei entflohen?“

„Leider!“

„Er muß verfolgt werden.“

„Ich hetzte sofort die Polizei hinter ihm her, aber vergeblich, bis ganz unerwartet –“

„Unerwartet – – – was denn, was!“

„Er mir im Schloß Malineau in die Hände lief.“

„Du hieltest ihn fest? Er ist also gefangen?“

„Ja.“

„Gott sei Dank“, sagte der Graf, tief aufatmend. „Wir haben die Zähne, und wir haben den Knabenräuber; nun endlich wird Klarheit in diese – – – doch, o weh!“

„Was, lieber Onkel?“

„Dieser verteufelte Krieg! Der Bajazzo hatte den Mord auf französischen Gebiet begangen.“

„Ja, in Thionville.“

„Dann ist für mich zunächst nichts zu hoffen.“

„Warum?“

„Die Kriegserklärung ist geschehen; Frankreich ist unser Feind; es wird uns den Räuber nicht ausliefern.“

„auch.“

„Aber ich werde dafür sorgen, daß er uns nicht entgehen kann.“

„Was willst du tun?“

„Ich wende mich nach Paris an den Justizminister.“

„Das ist zu zeitraubend und zu unsicher.“

„Weißt du etwas Schnelleres und Sicheres?“

„Wende dich an mich.“

„An dich? Was soll das heißen? Mensch, du steckst ja heute ganz und gar voller Geheimnisse!“

„In welche ich dich aber einweihe. Ich habe dafür gesorgt, daß du keines französischen Beamten bedarfst. Nämlich dieser Bajazzo ist wieder entsprungen.“

„Alle Teufel! Wie ist ihm das gelungen? Einen Mörder pflegt man doch festzuhalten!“

„Ich selbst habe ihm zur Freiheit verholfen.“

„Bist du gescheit?“

„Ganz dumm bin ich wohl nicht gewesen.“

„Aber nun ist er doch wieder fort!“

„Von Malineau, ja. Nämlich nicht ich habe ihn gefangengenommen, sondern mein Freund, der Rittmeister von Hohenthal, welcher ihn – – –“

„Hohenthal?“ fiel der General ein. „Mein Kopf brummt förmlich von allen diesen Überraschungen.“

„Darum will ich nicht auf Details eingehen, für welche ja später Zeit ist, sondern ich will nur die Konturen zeichnen. Hohenthal kannte ihn als Verbrecher, ohne zu ahnen, daß er der Räuber der Zwillinge sei. Er traf ihn in Malineau und nahm ihn fest. Ich kam dazu, erfuhr davon und ließ den Bajazzo des Nachts aus seinem Gefängnis.“

„Aber, Richard, das ist ja geradezu verrückt.“

„Nein. Höre mich an. Ich wußte ja, daß uns der Kerl nichts nützen könne, solange er sich in Frankreich befände. Er mußte unbedingt über die Grenze herüber. Darum befreite ich ihn, gab mich für einen auch mit dem Gesetze Zerfallenen aus und floh mit ihm über die Grenze, um ihn da in meine Gewalt zu bringen.“

„Gott sei Dank!“ stieß der General hervor.

„Nun, war das dumm?“ lächelte Richard.

„Nein, sondern es war ein Geniestreich.“

„Freut mich, daß du mich nun gar für ein Genie hälst.“

„Aber du hast ihn doch festnehmen lassen?“

„Natürlich.“

„Wo befindet er sich in Gewahrsam?“

„Hier in Berlin.“

„Das ist herrlich; das ist prächtig!“

„Wir gehen gleich morgen früh zum Staatsanwalt, um die Untersuchung einleiten zu lassen.“

„Ja; ich verliere keinen Augenblick. Also du glaubst, daß der junge Lemarch –“

„Ich weiß zunächst, daß er der Besitzer des zweiten Zahnes ist. Das Weitere müssen wir abwarten.“

„Und der erste Zahn? Also sein Besitzer ist Soldat?“

„Ja. Er ist ein Waisenkind.“

„Jetzt Soldat. Aber welchen Beruf hat er?“

„Barbier und Friseur.“

„Mein Gott! Wenn er wirklich unser Sohn wäre! Und Barbier! Was muß er gelitten haben! Wann ist er eingetreten? Weißt du das?“

„Vor bereits längerer Zeit.“

„Natürlich! Seinem Alter nach! Und er dient noch?“

„Ja.“

„So muß er chargiert sein!“

„Ja, das ist er.“

„Welchen Grad?“

„Wachtmeister.“

„Er ist also Kavallerist?“

„Ja.“

„Bei welchem Regiment?“

„Gardeulanen.“

„Wie? Also in deinem Regiment?“

„Ja, sogar in meiner Schwadron.“

Fritz saß da mit völlig blutleerem Gesicht; er wagte nicht, die Augen zu erheben. Der General war abermals aufgesprungen; er starrte Richard wie geistesabwesend an, brachte aber kein Wort hervor. Statt seiner aber rief der Großvater über den Tisch herüber:

„Gott stehe mir bei! Da kommt mir ein Gedanke!“

„Nun, welcher denn?“ fragte Richard lachend.

„Der Betreffende ist Wachtmeister deiner Schwadron, und der Maler Haller hat den anderen Zahn?“

„Ja.“

„In deiner Schwadron ist nur ein einziger Wachtmeister?“

„Natürlich.“

„Ist dir nicht eine Ähnlichkeit aufgefallen, Richard?“

„Du meinst, zwischen Haller und dem Wachtmeister?“

„Ja.“

„Oh, die ist sogar ungeheuer groß.“

„So ist – alle Teufel, es will fast nicht heraus! – So ist dieser Fritz Schneeberg hier der Wachtmeister?“

„Aufrichtig gestanden, ja.“

„Und zugleich der Besitzer des Zahns?“

„Gewiß.“

„Er hat ihn zeit seines Lebens bei sich getragen; er war Barbier und Friseur; er stammt aus der Gegend von Neidenburg. – Sapperlot und Sapperment, Goldberg, General, Vetter, der Fritz da ist der ältere Zwillingsjunge!“

Kunz von Goldberg war noch immer sprachlos. Er hielt den Blick auf Fritz gerichtet; er wollte die Arme erheben, um ihn zu umarmen; aber er konnte sich nicht bewegen.

Da stand Fritz von seinem Platz auf, richtete den tränenden Blick auf den General und sagte:

„Verzeihung, Exzellenz, ich kann nichts dafür!“

„Natürlich kannst du nichts dafür!“ rief der Großvater.

Und als der Wachtmeister ihn fragend ansah, fuhr er fort:

„Nämlich, daß du geraubt worden bist.“

„Das meine ich nicht.“

„Was denn?“

„Daß ich für das eine der verlorenen Kinder erklärt werde. Richard kann mir bezeugen, daß ich mich lange, lange Zeit gesträubt habe.“

„Warum denn aber! Dieser Zahn ist doch Ihr Eigentum? Nicht?“

„Ja.“

„Nun, so ist ja alles in Richtigkeit. Wie wunderbar! Befindet sich der Kerl seit Jahren hier bei uns, und niemand ahnt, daß er unser Verwandter ist! Aber, Goldberg, bist du dumm?“

Jetzt erst kam in den General Bewegung. Er stieß einen unartikulierten Schrei aus, stürzte auf Fritz zu und riß ihn in seine Arme.

„Mein Sohn, mein Sohn!“ mehr brachte er nicht hervor, aber es lag eine ganze Welt voll Wonne in diesem Ausruf.

Es trat eine tiefe Stille ein. Aller Augen waren naß. Großvater, Enkel und Enkelin blickten in tiefster Rührung auf die Gruppe. Der General weinte wie ein Kind. Fritz war ruhig. Er vermochte nicht, an sein Glück zu glauben. Er entzog sich sanft der Umarmung des Generals und sagte:

„Exzellenz, wenn Sie sich irren –“

„Nein, ich irre mich nicht; jetzt fühle ich es“, antwortete dieser. „Der beste Beweis liegt in dem Umstand, daß ihr beide, in deren Händen sich die Zähne befinden, euch so ungeheuer ähnlich seid. Sage du zu mir, mein Sohn! Du wirst mir viel, sehr viel zu erzählen haben, aber das verschieben wir auf später. Jetzt mußt du sofort mit zu deiner Mutter!“

„Mann, bist du toll?“ sagte der Alte.

„Toll? Wieso?“

„Willst du deine Frau töten?“

„Töten? Ach ja.“

„Du bist selbst so angegriffen, daß du kaum stehen kannst; wie soll es erst mit deinem Weib werden.“

„Du hast recht, Vetter. Aber, darf ich ihr denn die Wonne versagen, ihren Sohn zu umarmen?“

„Für heute, ja. Bereite sie vor; gib ihr Tropfen um Tropfen, damit sie es ertragen lernt. Jetzt setzt du dich her und trinkst ein Glas Wein mit uns. Wir haben noch vieles zu besprechen.“

„Mehr, als du denkst, Großpapa“, sagte Emma.

„Wie? Habt ihr vielleicht noch weitere Überraschungen?“

„Frage Richard.“

„Nun, Junge?“

„Ja, es gibt noch einiges, was dich interessieren wird, Großvater“, antwortete der Rittmeister.

„So? Ich errate es.“

„Das kannst du unmöglich erraten.“

„Und doch! Ich wette mit.“

„Ich nicht, denn ich weiß, daß du die Wette verlieren wirst.“

„Da irrst du dich. Soll ich es dir sagen, womit ihr mich überraschen wollt?“

„Nun?“

„Mit einer gewissen Marion de Sainte-Marie.“

Der Rittmeister errötete.

„Ah, du bekommst Farbe! Also habe ich recht.“

„Nein, Großvater.“

„Leugne nicht.“

„Ich meine wirklich eine ganz andere Überraschung.“

„Aber mit dieser Marion ist es wohl auch nicht so ohne? Wie?“

„Nun, Emma hat mir gestanden, daß sie nach Ortry gekommen ist, um diese Dame kennenzulernen.“

„Das ist richtig. Ich gab ihr die Erlaubnis dazu. Also, Emma, wie hat sie dir gefallen?“

„Sie ist ein Engel, Großpapa!“

„Natürlich! Das seid ihr ja alle.“

„Aber sie ist's wirklich!“

„Eine Französin.“

„Großmama Margot war auch eine Französin.“

„Freilich, ja. Aber sie hatte mich lieb.“

„Marion liebt Richard auch.“

„Hat sie es ihm gesagt?“

„Noch nicht.“

„Sie hat ihn dort nur mit dem Höcker und der falschen Perücke gesehen, deshalb bildet euch um Gottes willen nicht ein, daß sie ihm gut ist! Der Kerl sah ja wie ein Scheusal aus, als er hier bei uns eintraf.“

„Fritz, wie steht es?“ sagte Emma.

„Nun“, antwortete der Wachtmeister, „ich stimme bei, daß Mademoiselle Marion einst Frau von Königsau sein wird.“

„Halt!“ sagte Richard. „Ihr beide redet da von meinen Herzensangelegenheiten, ohne mich erst um Erlaubnis zu fragen. Wie nun, wenn ich mich rächen und auch die eurigen ausplaudern wollte!“

„Was?“ fragte der Alte. „Sie haben auch welche?“

„Freilich.“

„Alle beide?“

„Ja.“

„Höre ich recht?“

„Es ist so, wie ich sage.“

„Nein, nein!“ rief Emma.

„Nein, nein!“ stimmte Fritz im Spaß bei.

„Leugnet nicht!“ gebot Richard.

Dem General wollte darüber bange werden. Sein Sohn hatte als Wachtmeister sein Herz sicherlich nur an irgendeine Tochter bürgerlicher, vielleicht obskurer Eltern verschenkt. Darum fragte er Richard voller Sorge:

„Er ist wirklich bereits engagiert?“

„Ja“, lachte der Gefragte, „sogar sehr.“

„Doch nicht unwiderruflich?“

„Ganz sicher unwiderruflich. Sie geben einander nicht her; sie bleiben sich treu.“

„Eine Berlinerin?“

„Nein.“

„Aber doch aus der hiesigen Gegend?“

„Nein.“

„Doch eine Deutsche?“

„Auch nicht.“

„Ah! Also eine Französin?“

„Ja.“

Und als der General bemerkte, daß sich Fritz durch diese Erkundigungen gar nicht aus der Fassung bringen ließ, fragte er weiter:

„Was ist sie denn?“

„Gesellschafterin.“

„In einem anständigen Haus?“

„Gewiß!“

„Wo?“

„Sie ist von der erwähnten Marion de Sainte-Marie engagiert.“

„O weh!“ entfuhr es ihm. „Die Gesellschafterin der zukünftigen Frau von Königsau soll Gräfin von Goldberg werden?“

„Hoffentlich.“

„Wie heißt sie?“

„Köhler, Nanon Köhler.“

„Nanon von Köhler?“

„Nein, nur Köhler, bürgerlich.“

„Die Gräfin Hohenthal hat doch eine Gesellschafterin, die auch Köhler heißt?“

„Diese ist die Schwester von Nanon.“

Da wendete sich der General an Fritz:

„Du hast dieses Mädchen wirklich lieb?“

„Sehr, von ganzem Herzen, und sie ist's auch wert.“

„Nun, wir werden später darüber sprechen. Lebe dich nur erst bei uns ein.“

„Nein, lieber Onkel“, sagte Emma. „Wir wollen lieber von Nanon Köhler sprechen, noch ehe Fritz sich bei euch einlebt. Sie hat nämlich eine ausgezeichnete, für uns sehr wertvolle Eigentümlichkeit.“

„Welche wäre das?“

„Sie ist, grad wie ihre Schwester, ein Waisenkind.“

„Ohne beide Eltern?“

„Bis vor kurzer Zeit. Nanon hat ihren Vater nicht gekannt, und ihre Mutter war unter dem angenommenen Namen Köhler gestorben.“

„Angenommen? Also ist der Name Köhler falsch?“

„Ja.“

„Ist der richtige bekannt?“

„Ja. Die Schwestern haben nämlich glücklicherweise ihren Vater gefunden in Thionville, während wir uns dort befanden.“

„Wie heißt er?“

„Deep-hill“, antwortete sie, innerlich belustigt.

„Das ist ein englischer oder amerikanischer Name?“

„Amerikanisch.“

„Und was ist dieser Mann?“

„Bankier und Millionär.“

„So, so! Hm!“

„Du scheinst noch immer bedenklich?“

„Es ist ja stets bedenklich, solche Angelegenheiten in fliegender Eile zu behandeln.“

„Aber ich bin nun einmal gewillt, diese Angelegenheit bis auf den Grund zu verfolgen. Der Name Deep-hill ist nämlich wieder falsch.“

„Auch? Aber Kinder, ihr habt es ja außerordentlich mit falschen Namen zu tun!“

„Bloß zufälligerweise. Dieser Deep-hill ist nämlich eigentlich nicht Amerikaner, sondern Franzose. In seiner Heimat hieß er Bas-Montagne!“

„Das ist ein alter Name. Ein französisches Geschlecht führt ihn vielleicht seit einem halben Jahrtausend.“

„Nun, er gehört diesem Geschlecht an.“

„Was! So ist er Baron?“

„Ja. Baron Gaston de Bas-Montagne.“

„Und seine beiden Töchter sind legitim?“

„Gewiß. Es haftet kein Makel an ihnen.“

Da nickte er befriedigt vor sich hin und sagte:

„Sprechen wir doch später hierüber. Großvater hat vorhin falsch geraten. Welche Überraschung war es denn, die unserer noch wartet? Betrifft sie mich oder euch?“

„Dich und uns“, antwortete Richard. „Man hat mir nämlich von einem fremden Mann erzählt, welcher vor Jahren in den hinter Sedan liegenden Bergen Schätze gesucht haben soll. Er soll ein Deutscher gewesen sein.“

„Herrgott!“ fuhr der Alte auf. „Sollte man deinen Vater gemeint haben, Richard?“

„Ich vermute es.“

„Hast du dich erkundigt?“

„Sehr genau.“

„Und was hast du erfahren?“

„Daß er es gewesen ist.“

„Mein Heiland. Was werde ich weiter hören müssen.“

„Ich will lieber jetzt noch schweigen, Großvater.“

„Nein! Erzähle!“

„Aber es ist aufregend.“

„Ich werde es ertragen. Ich habe ja so lange Zeit gelitten; die Ungewißheit war peinigend, die Gewißheit wird mir Ruhe bringen. Nicht wahr, man hat ihn ermordet?“

„Man wollte es.“

„Wer?“

„Richemonte.“

„Ah! Also wieder dieser. Sie sind also zusammengeraten?“

„Sogar auf höchst feindseliger Weise.“

„Und da hat mein Gebhard, dein armer, armer Vater, unterliegen müssen?“

„Unterliegen, ja; aber getötet ist nur der gute Florian worden.“

„Was sagst du? Höre ich recht?“

Hugo von Königsau erhob sich bei diesen Worten von seinem Sitz, legte die beiden Fäuste auf den Tisch und blickte mit den Augen eines Mannes, der durch zehn eiserne Türen sehen will, den Rittmeister an.

„Es ist so, wie ich sage“, antwortete dieser.

„Nur Florian wurde getötet?“

„Ja.“

„Dein Vater blieb leben?“

„Ja, wenn auch schwer verwundet.“

„Warum kehrte er nicht zu uns zurück?“

„Er war Gefangener des Kapitäns Richemonte.“

„Alle tausend Teufel! Er hat ihm die Freiheit geraubt. Eine so lange Zeit. Wohin hat er ihn gesteckt?“

„In ein unterirdisches Gewölbe.“

„Donner und Doria. Ich möchte gleich mit dem nächsten Zug nach Ortry, um diesem Teufel von Kapitän die Seele aus dem Leib zu jagen. Er ist ein Satan.“

„Er wird seinen Lohn finden; da laß mich nur sorgen.“

„Aber dein Vater? Lebt er noch?“

„Ich – vermute es.“

„Du vermutest? Du weißt also nichts Gewisses?“

„Hm. Ich habe nachgeforscht.“

„Pah. Sieh mich einmal an. Sehe ich jetzt aus wie ein altes Weib, welches sich von irgendeiner frohen oder traurigen Botschaft niederwerfen läßt?“

„Allerdings nicht.“

„Nun, so rede offen. Ich bemerke, daß du lavieren willst. Ich will die Wahrheit haben, und zwar schnell. Er ist tot?“

„Nein.“

„Mein Gott im Himmel! Er lebt. Wo? Noch in diesem unterirdischen Gefängnis?“

„Nein. Ich war mit Fritz unten bei ihm.“

„So habt ihr ihn befreit?“

„Ja. Er ist frei.“

„Und wo befindet er sich?“

„Auf dem Weg zu dir.“

„Auch dies ist nicht wahr. Heraus damit, heraus. Er ist bereits da, und ihr habt ihn versteckt?“

Er kam hinter dem Tisch hervor wie ein Jüngling, so kräftig und schnell.

„Ja, der Vater ist da“, sagte da Emma.

„Wo ist er, wo?“

„Er wartet in deinem Schlafzimmer.“

Da stieß der Alte einen Jubelruf aus und stürmte zur Tür hinaus, die anderen ihm nach. –

Auch der dicke Maler Hieronymus Aurelius Schneffke war mit in Berlin angekommen. Er begab sich zunächst nach seiner Wohnung, um sich ein wenig zu restaurieren, und ging dann nach der Nummer 16 derselben Straße, wo er im Hinterhaus vier Treppen hoch emporstieg und klingelte.

Es ließen sich von innen langsame, schlurfende Schritte hören, und dann fragte die Stimme des alten Sonderlings Untersberg:

„Wer ist da?“

„Ich, der Maler Schneffke.“

Die Tür wurde geöffnet, nicht ganz, sondern nur so weit, wie es die Sicherheitskette zuließ. Der Alte lugte heraus und fragte:

„Sind Sie allein?“

„Ja.“

„Wirklich?“

„Ja.“

„Wissen Sie, als Sie zum letzen Mal bei mir waren, brachten Sie mir auch einen Menschen mit, welcher nicht wieder gehen wollte.“

„Ich konnte nichts dafür. Heute bin ich allein.“

„So kommen Sie.“

Die Tür wurde jetzt ganz geöffnet, und der Maler durfte eintreten. Hinter ihm verschloß der Alte sofort wieder und winkte seiner Dogge, sich als Wächter an die Tür zu setzen.

Das Zimmer war in demselben Zustand, wie vor Schneffkes Reise. Der Alte schien sein Abendbrot gegessen zu haben, denn auf dem Tisch stand ein alter Teller mit einem harten Brotrest und einer dürren Käserinde.

Untersberg deutete auf einen Stuhl, auf welchem der Maler Platz nahm, und setzte sich selbst auf einen zweiten. Er beobachtete den Dicken eine ganze Weile, ohne ein Wort zu sagen, dann begann er:

„Erinnern Sie sich unseres letzten Gespräches noch?“

„Sehr genau.“

„Sie wissen, daß ich Sie warnte?“

„Wovor?“

„Ah, sehen Sie, daß Sie nichts mehr wissen!“

„Sie haben mich nicht gewarnt.“

„Sogar sehr streng. Ich warnte Sie vor Unvorsichtigkeiten.“

„Ah so! Das meinen Sie. Nun ja, Sie rieten mir Vorsicht an.“

„Haben Sie das befolgt?“

„Natürlich.“

„Haben Sie auch nichts verraten?“

„Kein Wort.“

„Schwören Sie.“

„Ich schwöre.“

„Gut, so können wir beginnen. Sie waren also doch in Frankreich?“

„Wo sonst!“

„Es wäre doch möglich, daß Sie von meinem Geld eine Lustpartie nach einem ganz anderen Ort gemacht hätten.“

„Das wäre ja Betrug.“

„Ja. Man darf keinem Menschen trauen.“

Da stand Schneffke von seinem Stuhl auf und sagte:

„Sie behandeln mich wie einen Spitzbuben und Betrüger; das brauche ich mir nicht gefallen zu lassen. Gute Nacht.“

Er schritt zur Tür zu.

„Ja, gehen Sie. Gute Nacht“, hohnlachte der Alte.

Die Dogge erhob sich und fletschte drohend die Zähne.

„Rufen Sie den Hund fort“, sagte Schneffke.

„Wozu?“

„Daß ich gehen kann.“

„Gehen Sie doch. Ich halte Sie nicht.“

Da drehte sich Schneffke wieder um, setzte sich abermals auf seinen Platz und sagte:

„Na, zerreißen lasse ich mich von dem Hund nicht; aber antworten werde ich Ihnen auch nicht, wenn Sie nicht höflicher werden. Ich habe Zeit, ich kann sitzen bleiben.“

Er griff in die Tasche, zog sich eine Zigarre hervor und machte Miene, sie anzubrennen.

„Was fällt Ihnen ein! Wollen Sie mir meine Bilder und Bücher, meine ganze Bibliothek anbrennen?“

„Nein, sondern nur diese Zigarre.“

„Es kann ein Funke herunterfallen.“

„Ich nehme mich in acht.“

„Nein, nein. Sie rauchen nicht.“

„Wenn Sie höflich sein wollen, werde ich die Zigarre wieder einstecken.“

„Sie sind ein sonderbarer Mensch.“

„Und Sie ein komischer Kauz. Sie machen sich selbst das Leben schwer, Herr Untersberg.“

„Ich habe auch alle Ursache dazu. Also, wollen Sie mir jetzt Rede und Antwort stehen?“

„Ja.“

„Sie waren in Malineau?“

„Ja.“

„Haben sie den jungen Berteu gesehen?“

„Ja.“

„Und mit ihm gesprochen?“

„Viel.“

„Viel? Ah! Hatten Sie Gelegenheit dazu?“

„Ich hatte sie mir verschafft. Erinnern Sie sich meiner Versicherung, daß ich Anlage zum Gendarm besitze?“

„Ja.“

„Nun, ich sollte Berteu aushorchen. Das konnte ich am allerbesten, wenn ich bei ihm wohnte.“

„Was? Wie? Sie haben bei ihm gewohnt?“

„Ja.“

„Wie lange?“

„Einige Tage.“

„Das ist gut, das ist wirklich gut. Wie aber kam es, daß er Sie zu sich nahm?“

„Ich tat, als ob ich das Schloß abzeichnen wolle, da kam er dazu und sagte mir, daß er einige Bilder besitze, welche er restaurieren lassen wolle. Ob ich diese Arbeit übernehmen könne.“

„Sie sagten, ja?“

„Natürlich.“

„Und haben ihn ausgehorcht?“

„Ganz und gar.“

„Wußte er etwas?“

„Nichts, kein Wort.“

„Ah! Wovon denn?“

„Das weiß ich auch nicht.“

„So können Sie es ja gar nicht wissen, daß er kein Wort gewußt hat.“

„Oh, er war so zutraulich mit mir, daß er mir alles, alles gesagt hat, was auf seinem Herzen liegt.“

„Was denn?“

„Von dem Krieg.“

„Was weiß er davon?“

„Sehr viel. Er will Franctireurs sein.“

„Ach so. War sein Vater wirklich tot?“

„Ja.“

„Woran war er gestorben?“

„Er war an einem Knochen erstickt.“

„Der Unglückselige. Hat er vor seinem Ende gebeichtet?“

„Hm. Kann man mit einem Knochen im Hals beichten?“

„Nein. Hat er seinem Sohn etwas anvertraut?“

„Kurz vor dem Tod nicht.“

„Das wissen Sie genau?“

„Sehr genau. Er hatte ein Schweinskotelett gegessen. Dabei war ihm der Knochen in die Gurgel gekommen. Fünf Minuten darauf war er eine Leiche.“

„Das ist gut. Das ist schön.“

„Hm. Ist's nicht möglich, daß er bereits vorher etwas gesagt haben kann?“

Der Alte erschrak.

„Was soll er gesagt haben?“ fragte er. „Wissen Sie vielleicht etwas, was er gesagt hat?“

„Ja.“

„Was denn?“

„Er hat zu seinem Sohn gesagt, daß dieser ein liederlicher Strick sei, den eines schönen Tages der Teufel holen werde.“

„Weiter nichts?“

„Nein.“

„So bin ich zufrieden, sehr zufrieden.“

„Hm. Man muß vorsichtig sein.“

„Wie? Was? Wissen Sie noch etwas?“

„Nein. Aber der Tote könnte seinem Sohn vielleicht etwas Schriftliches hinterlassen haben.“

„Ist Ihnen so etwas bekannt?“

„Nein.“

„Dann gut. Wie haben Sie Ihre Zeit dort verbracht?“

„Ich habe dem Berteu die Gemälde gereinigt, bin spazieren gegangen und habe mir auch das Schloß besehen.“

„Es gehört jetzt dem Grafen von Latreau?“

„Ja.“

„Was arbeiten Sie morgen?“

„Ich werde von der Reise ausruhen.“

„Kommen Sie her zu mir. Wir werden ein wenig nach dem Document du divorce suchen.“

„Wozu?“

Sofort machte der Alte ein finsteres Gesicht.

„Was geht Sie das an?“ fragte er.

„Mich? Nichts, gar nichts.“

„So fragen Sie auch nicht.“

„Schön. Gute Nacht.“

„Gute Nacht! Also kommen Sie morgen!“

„Gleich früh aber kann ich nicht“, sagte der dicke Maler, der sich bereits nach der Tür bewegte. Er spielte nur mit dem Alten.

„Warum nicht?“ erkundigte sich dieser.

„Ich muß zu Fräulein Köhler gehen.“

Im nächsten Augenblick hatte ihn Untersberg beim Arm erfaßt.

„Zu einem Fräulein Köhler?“ fragte er.

„Ja.“

„Wie heißt sie noch?“

„Madelon.“

„Ah! Oh! Was ist sie?“

„Gesellschafterin.“

„Wo?“

„Bei der Gräfin von Hohenthal.“

„Was wollen Sie bei ihr?“

„Ich soll sie porträtieren.“

„Was? Porträtieren? Eine Gesellschafterin?“

„Allerdings.“

„Hat sie denn Geld, das Porträt zu bezahlen?“

„Ich male es umsonst.“

„Sie sind des Teufels!“

„Nein, aber verliebt.“

„In wen?“

„Eben in diese Madelon Köhler.“

„Und das Mädchen? Werden Sie wiedergeliebt?“

„Oh, mit himmlischer Wonne!“

Da donnerte ihn der Alte an:

„Herr, Sie sind ein Lügner!“

„Oho!“

„Ich kann es Ihnen beweisen!“

„Beweisen Sie es!“

„Als Sie sich vor Ihrer Reise bei mir befanden, waren Sie bereits verliebt.“

„Das bin ich stets.“

„Sie sagten, in eine Gesellschafterin.“

„Natürlich.“

„Ich fragte Sie nach ihr.“

„Das ist möglich.“

„Sie antworteten, daß sie bei der Gräfin von Goldberg in Stellung sei.“

„Ach so! Ja, das ist wahr.“

„Und jetzt zeigt es sich, daß sie bei der Gräfin von Hohenthal ist!“

„Aber doch nicht dieselbe!“

„Ist's denn eine andere?“

„Ja. Mit der vorigen war es nichts; sie war arm und hatte obskure Eltern. Bei dieser Madelon Köhler aber ist es ganz anders.“

„Inwiefern?“

„Hm! Das ist Geheimnis.“

„Aber mir teilen Sie es mit?“

„Wozu?“

„Weil ich mich für Sie interessiere.“

„Ich mich für Sie auch; aber das ist doch kein Grund, Ihnen die Geheimnisse meiner Braut mitzuteilen.“

„Sie ist schon Braut?“

„Ja, gewiß.“

„Ist sie denn reich?“

„Oh, sehr! Und nicht bloß das.“

„Was noch?“

„Sie ist auch vornehm.“

Die Gestalt des Alten sank immer mehr zusammen. Er stellte seine Fragen mit außerordentlicher Hast und Ängstlichkeit. Jetzt stieß er hervor:

„Vornehm will sie sein?“

„Ja.“

„Eine Gesellschafterin?“

„Oh, sie hat ja nicht gewußt, daß sie selbst von Adel ist.“

„Von Adel! Eine – Köhler!“

„Das ist ihr falscher Name, welchen ihre Mutter zuletzt getragen hat.“

„Wie heißt sie denn?“

„Sie heißt eigentlich Madelon de Bas-Montagne.“

Da konnte sich der Alte nicht mehr halten; er sank auf den Stuhl nieder und stieß einen tiefen, tiefen Seufzer aus.

„Was ist Ihnen?“ fragte der Maler. „Ist Ihnen plötzlich schlecht geworden?“

„Ja.“

„Wovon?“

„Wohl von dem Essen. Ich habe doch wahrscheinlich zu viel zu mir genommen, und mein Magen ist ja ebenso alt wie ich. Doch das braucht Sie ja nicht zu kümmern. Bitte, erzählen Sie weiter, Herr Schneffke.“

„Nein; ich werde doch lieber gehen.“

„Bleiben Sie! Wo haben Sie diese Madelon kennengelernt?“

„In Malineau.“

„War sie dort?“

„Ja. Sie war mit ihrer Schwester Nanon gekommen, um den alten Berteu zu begraben, welcher ihr Pflegevater gewesen ist. Das waren wohl die beiden Mädchen, nach denen ich fragen sollte?“

„O Himmel, o Himmel!“

„Warum jammern Sie?“

„Ich wollte es verschweigen, nun haben Sie es doch erfahren.“

„Was denn?“

„Daß ich diese beiden meinte.“

„Warum interessieren Sie sich für dieselben?“

„Ich war mit Berteu bekannt. Er schrieb mir zuweilen und erwähnte dabei auch diese Mädchen. Er meldete mir einige Monate vor seinem Tod, daß er mir in Beziehung auf diese ein Geheimnis mitzuteilen haben, welches für sie von hohem Wert sei. Dann kam plötzlich die telegraphische Nachricht, er sei gestorben. Darum sandte ich hin, um zu erfahren, ob er seinem Sohn das gesagt habe, was eigentlich für mich bestimmt gewesen ist.“

Der Maler hatte nicht die Absicht gehabt, dem Alten heute zu entdecken, daß alles an den Tag gekommen sei. Jetzt aber hielt er es für besser, mit dieser Mitteilung vorzugehen.

„Hm!“ brummte er nachdenklich. „Seinem Sohn hat Berteu nichts gesagt; aber das Geheimnis ist dennoch an den Tag gekommen.“

„Wie denn?“

„Das darf ich nicht sagen.“

„Und worin besteht es?“

„Eben darin, daß der Name der Mädchen nicht Köhler ist, sondern Bas-Montagne. Sie sind die Töchter einer französischen Freiherrfamilie.“

„Wie wollen Sie das beweisen?“

„Durch ihre Geburtsscheine.“

„Ah! Sind diese vorhanden?“

„Ja; sie sind aufgefunden worden.“

„Wo?“

„Im Schloß Malineau.“

„Wann?“

„Vor wenigen Tagen.“

„Wo haben sie gesteckt?“

„In einem Buch der Bibliothek“, log der Maler.

„So kann man doch nicht behaupten, daß sie sich gerade auf diese beiden Mädchen beziehen.“

„Und doch! Es hat nämlich ein Brief ihrer Mutter dabei gelegen. Sie muß eine sehr unglückliche Frau gewesen sein.“

„Wieso?“

„Sie war eine Deutsche, eine Protestantin, und heiratete den Baron Gaston de Bas-Montagne gegen den Willen seines Vaters. Dieser suchte sie zu verderben. Während sein Sohn verreiste, zwang er sie, zu entsagen. Sie entfernte sich mit ihren zwei Kindern und ließ einen Brief an ihren Mann und an ihren Schwiegervater einen Schein zurück, in welchem sie in die Scheidung willigte.“

„Ah, dieser Schein! Dieser Schein!“

„Was wissen Sie von ihm?“

„Nichts, gar nichts. Sie selbst sprachen ja davon.“

„Ach so!“

„Erzählen Sie weiter!“

„Wissen Sie denn, daß diese Geschichte noch weitergeht?“

„Ich kann es mir denken.“

„Nun, als der junge Baron von seiner Reise heimkehrte, log ihm der Vater vor, daß sein Weib ihm untreu gewesen sei und mit einem anderen die Flucht ergriffen habe. Der Sohn nahm sich dies zu Herzen und ist seitdem verschwunden. Man hat nichts wieder von ihm gehört.“

„Verschwunden – verschwunden!“ ächzte der Alte.

„Was haben Sie, tut Ihnen etwas weh?“

„Nein; aber Ihre Erzählung greift mich an.“

„Die geht Sie doch gar nichts an.“

„Nein; aber man hat doch Mitgefühl.“

„Ja. Sie sind ein edler Mensch; so wie Sie hätte der alte Baron sein sollen, dann wäre die arme Frau nicht verstoßen und verjagt worden, die arme, gute, süße becque fleur!“

Da fuhr der Alte auf und rief:

„Was sagen Sie da für ein Wort, Herr!“

„Becque fleur, zu Deutsch Kolibri.“

„Ich mag dieses Wort nicht leiden. Wissen Sie, was es zu bedeuten hat?“

„Ja.“

„Nun?“

„Es war der Kosename für die arme Frau. Der junge Baron hat sie stets sein kleines, liebes, gutes, süßes becque fleur genannt. Er muß sie sehr lieb gehabt haben.“

„Ah. Oh!“ stöhnte der Alte, indem er den Kopf in die beiden Hände legte.

„Was ist Ihnen denn?“

„Nichts. Sie verstehen es, so herzzerreißend zu erzählen.“

„Meinen Sie? Ja, die arme Frau tut mir wirklich herzlich leid. Sie hat sterben müssen, vereinsamt, verstoßen, verkannt und verurteilt. Wissen Sie, wie ich sie mir vorstelle?“

„Nun, wie?“

„Darf ich mir hier dieses Papierblatt nehmen?“

„Nehmen Sie es.“

Der Maler setzte sich an den Tisch, zog die Lampe näher, griff zu Stift und Papier und begann zu zeichnen. Der Alte sah ihm mit Spannung zu. Es dauerte kaum zwei Minuten, so hielt ihm der erstere das Blatt hin.

„Sehen Sie, Herr Untersberg, so stelle ich mir diese Frau vor. So muß sie gewesen sein, als sie noch glücklich war und kaum zwanzig Jahre zählte.“

Untersberg blickte auf die Zeichnung. Sie war ganz genau nach dem Porträt gehalten, welcher der Maler in dem Kolibribild gefunden hatte.

„Herr, mein Heiland! Das ist sie; das ist sie!“ rief der Alte. „So, ja, so war sie!“

„Wie?“ fragte Schneffke. „Haben Sie denn vielleicht diese Frau gekannt?“

„Nein.“

„Aber Sie sagen ja, daß sie es sei!“

„Nun, Sie sind ja ein tüchtiger Maler und müssen sie also getroffen haben.“

„Ah, so meinen Sie es!“

„Ja, anders natürlich nicht! Haben Sie sie denn gesehen?“

„Nein.“

„Und treffen sie so vorzüglich!“

„Das ist kein Wunder. Ich habe mir von ihr erzählen lassen, ich kenne ihren Charakter, ihr Temperament, ihre Tugenden, nach denen ich mir ihre Physiognomie ausbilde.“

Da erhob sich der Alte rasch von seinem Stuhl und fragte:

„Gelingt das immer?“

„Wenigstens mir.“

„Also wenn man Ihnen einen Menschen beschreibt, können Sie sein Gesicht zeichnen?“

„Ja.“

„Auch wenn es kein Weib, sondern ein Mann ist?“

„Gewiß.“

„Hat man Ihnen vielleicht den Baron Gaston beschrieben?“

„So ziemlich.“

„Getrauen Sie sich, ihn zu treffen?“

„Ja, doch vielleicht nicht mit einem Mal!“

„Wollen Sie es nicht einmal versuchen?“

„Wozu?“

„Es macht mir Vergnügen. Sie haben ja bemerkt, wie sehr ich mich für diese Sache interessiere.“

„Sie scheint Ihnen nicht so unbekannt zu sein, wie Sie sich stellen, Herr Untersberg.“

„Wie kommen Sie auf den Gedanken?“

„Infolge meiner Beobachtung. Habe ich nicht recht?“

„Nein.“

„So habe ich mich getäuscht.“

„Nun, wollen Sie den Kopf versuchen?“

„Danke! Ich habe Sie bereits zu lange belästigt.“

„Oh, das war keine Belästigung.“

„O doch. Ich habe heute mit Ihnen über Dinge gesprochen, wegen derer Sie mich früher mit dem Hund fortgehetzt hätten. Ich darf Ihre große Güte nicht mißbrauchen.“

„Das Gespräch war mir interessant.“

„Aber früher durfte ich manches nicht erwähnen, was ich heute erwähnt habe.“

„Das liegt in der Stimmung des Augenblicks. Ich bitte Sie wirklich, den Kopf zu versuchen.“

„Ich könnte nicht, selbst wenn ich wollte.“

„Warum nicht?“

„Wenn mir dieser Kopf gelingen soll, so muß ich ihn mit Buntstift zeichnen. Haben Sie vielleicht solche Stifte hier?“

„Nein.“

„So sehen Sie, daß es nicht geht.“

„Es geht, es geht! Ich lasse welche holen. Welche Farben brauchen Sie?“

Er war ganz geschäftig und beweglich geworden. Schneffke wehrte ab und sagte:

„Holen lassen! Ich danke. Ein guter Zeichner besorgt sich seine Stifte stets selbst.“

„Ist dies denn so unbedingt nötig?“

„Unbedingt zwar nicht: aber es hat ein jeder seine Eigentümlichkeiten. Ich arbeite mit keinem Stift, den ich mir nicht selbst ausgewählt habe.“

„Nun, so gehen Sie doch, um welche zu holen!“

„Ich begreife Sie nicht, Herr Untersberg. Sie tun ja, als ob Leben und Tod von dieser Zeichnung abhänge.“

„Ich habe Ihnen gesagt, daß ich mich für diese Mädchen interessiere, und ich bin gerade ebenso ein Sonderling wie sie. Ich verlange es als einen Freundschaftsbeweis, daß Sie die Stifte holen.“

„O weh! Da fassen Sie mich ja förmlich bei der Ambition an.“

„Ich hoffe, daß es nicht ohne Erfolg geschieht.“

„Nun gut, ich will Ihnen den Willen tun; aber einen Zweck kann ich dabei nicht erkennen.“

„Das kann Ihnen ganz gleichgültig sein.“

Er ließ den Maler hinaus und verschloß sodann die Tür wieder. Als er allein war, veränderte sich sein Gesicht. Er nahm den Kopf, welchen Schneffke gezeichnet hatte, und betrachtete ihn mit Augen, aus denen ein teuflischer Haß leuchtete.

„Dich habe ich elend gemacht, und deine Brut soll noch elender werden. Aber ihn muß ich haben, ihn, meinen Sohn. Wenn dieser Maler wirklich seine Züge trifft, so muß meine Annonce den Verlorenen finden.“

Er stieß ein heiseres Lachen aus. Es klang wie das Gelächter eines Wahnsinnigen. Und wahnsinnig war er auch, dieser alte Mann. In seinem Verhalten hatte keine Konsequenz gelegen.

Schneffke hatte in Malineau das Bild des Barons Gaston gesehen. Er wußte, daß er dasselbe gut mit gewöhnlichem Bleistift wiedergeben könne; aber er hatte während seiner Unterredung mit dem Alten den Entschluß gefaßt, dessen Sohn, Deep-hill, herbei zu holen. Es galt also, nach einem Vorwand zu suchen, sich zu entfernen, und da war er auf die Idee gekommen, farbige Stifte für notwendig zu erklären.

Als er jetzt langsam die Treppe hinabstieg, schüttelte er den Kopf und murmelte vor sich hin:

„Daß der Alte einen kleinen Kopf im Gehirn habe, das dachte ich immer; daß dies aber ein gar so großer sei, das ist mir doch nicht beigekommen. Ich denke, wenn ich ihm seinen Sohn bringe, so schnappt er entweder vollends über, oder er geht in sich und wird ein anderer Kerl. Beides kann nichts schaden. Aber Deep-hill wird sich wundern, wohin ich ihn führe. Er hat ja gar keine Ahnung, daß er seinen alten Isegrim heute noch sehen wird.“

Er fand Deep-hill in dem Hotel, in welchem derselbe Quartier genommen hatte. Zwar hatte Madelon ihren Vater gebeten, die ihm von der Gräfin von Hohenthal angebotene Gastfreundschaft anzunehmen; er aber hatte abgelehnt, um einerseits niemandem beschwerlich zu fallen, und andererseits für seine Angelegenheiten freie Hand zu haben.

Nanon wohnte natürlich bei ihm. Madelon hatte es aber nicht übers Herz gebracht, ihre gütige Herrin so schnell zu verlassen. Sie war von der Gräfin nie wie eine untergeordnete Person behandelt worden. Jetzt war die Herrin ganz entzückt, zu erfahren, daß ihre Gesellschafterin eigentlich die Tochter eines französischen Barons sei, und freute sich herzlich, als sie hörte, daß Madelon noch bei ihr bleiben wolle, bis in ihre Familienverhältnisse die gewünschte Klarheit gekommen sei. Es erfüllte sie das mit der Genugtuung, nicht nur die Achtung, sondern auch die Liebe ihrer Gesellschafterin errungen zu haben.

Also Deep-hill hatte Madelon zu der Gräfin von Hohenthal gebracht und war dann in das Hotel zu Nanon zurückgekehrt. Diese befand sich beim Auspacken ihrer Sachen. Im Koffer befand sich auch das Bild des Vaters, welches der dicke Maler bei dem Beschließer Melac auf Schloß Malineau entdeckt hatte. Sie nahm es heraus und sagte:

„Da ist dein Porträt, lieber Vater. Wie schön wäre es, wenn wir auch ein solches von der Mutter besäßen.“

„Ja, wie schön“, antwortete er. „Zwar kann ich mich aller ihrer Züge noch sehr gut erinnern, aber ich freute mich doch, wenn ich dieselben nicht nur mit dem geistigen Auge zu erblicken brauchte. Und du und Madelon, ihr könnt euch ja doch unmöglich an die Mutter erinnern.“

„Hat es kein Porträt von ihr gegeben?“

„O doch! Und zwar ein sehr gutes und kostbares. Es war von einem Meister hergestellt worden.“

„Wohin mag es gekommen sein?“

„Sie hat es leider –“

Er hielt inne. Seine Züge verfinsterten sich.

„Sprich weiter, lieber Vater.“

Er schüttelte den Kopf und antwortete mit traurigem Ton:

„Es würde dich schmerzen, liebes Kind.“

„Und dennoch bitte ich dich, es mir nicht zu verschweigen. Es ist ja besser, wir sind aufrichtig gegeneinander.“

„Meine Mitteilung würde das Andenken trüben, welches ihr der Mutter bewahrt habt.“

„Oh, ich kann nicht glauben, daß es etwas gäbe, was dem Andenken der Mama schaden könne.“

„O doch; es gibt etwas.“

„Und ich soll es nicht erfahren?“

„Es ist besser, daß ich schweige.“

Sie blickte ihm nachdenklich in das Gesicht. Dann glitt ein Zug der Entschlossenheit über das ihrige. Sie sagte:

„Aber, lieber Vater, ich kann von dir fordern, daß du mir diese Mitteilung nicht vorenthältst.“

„Wieso?“

„Wenn es in der Vergangenheit etwas gibt, was imstande ist, das Andenken meiner armen Mutter zu trüben, so ist es meine Pflicht, es zu erfahren. Du wirfst auf sie irgendeine unbekannte Schuld; ich aber glaube nicht an diese Schuld, und so ist es meine heilige Pflicht, die Mutter zu verteidigen und sie von dem Flecken zu reinigen.“

„Mein Kind, das wird dir leider nicht gelingen.“

„O doch!“ behauptete sie im Ton fester Überzeugung. „Teile mir nur mit, welche Schuld auf ihr lasten soll.“

Er wendete sich ab und antwortete:

„Die der Untreue.“

„Das ist nicht wahr.“

Sie hatte diese Worte laut ausgerufen. Sie war dabei zu dem Vater getreten und hatte seinen Arm ergriffen. Sie blickte mit fast zornigem Vorwurf zu ihm auf.

„Leider ist es wahr“, entgegnete er.

„Verleumdung, tückische Verleumdung!“

„Nein, Wahrheit, unumstößliche Wahrheit.“

„Beweise es.“

„Oh, dieser Beweis ist ein sehr unerquicklicher. Nennst du es Treue, wenn ein Weib ihren Mann verläßt, um mit einem anderen davonzugehen?“

„Das hatte sie getan?“

„Ja.“

„Oh, das ist eine große, eine ungeheure Lüge, eine Niederträchtigkeit, welche ihresgleichen sucht.“

„Du irrst dich. Ich war verreist. Als ich zurückkehrte, war sie fort. Und mit ihr war alles, alles was mich an die Tage des Glücks erinnerte, auch ihr Bild. Sie hatte es mitgenommen.“

„Ich glaube es nicht. Wer war der Mann, mit dem sie sich entfernt haben sollte?“

„Was nützt es dir, seinen Namen zu wissen.“

„Er müßte doch bei ihr gewesen sein.“

„Allerdings.“

„Man hat aber nie gehört, daß sich außer uns beiden Kindern eine dritte Person bei ihr befunden habe. Sie ist mit uns beiden nach Malineau gekommen, ganz allein mit uns.“

„Aber zwischen ihrer Flucht und der Ankunft auf Malineau liegt eine Zeit, in welcher –“

„Weiter, weiter“, sagte sie, als er zögerte, fortzufahren.

„Lassen wir diese Zeit im Dunkel liegen.“

„Kennst du den Tag ihrer Flucht?“

„Nein.“

„Und den Tag ihrer Ankunft auf Malineau.“

„Natürlich auch nicht.“

„Und dennoch nimmst du an, daß zwischen diesen beiden Tagen eine Zeit verbrecherischen Umgangs gelegen habe.“

„Muß ich nicht?“

„Nein. Ich bin überzeugt, daß sie sofort mit uns nach Malineau gegangen ist.“

„Warum aber, warum, warum? Hat sie den Verführer nicht mit nach Malineau gebracht, so ist dies nur ein Zeichen, daß er sie unterdessen verlassen hat.“

„Kannst du denn wirklich beweisen, daß sie der Stimme eines Verführers gefolgt ist?“

„Ja.“

„Womit?“

„Mit den Aussagen meines Vaters.“

„Gut. Bringe deinen Vater. Ich werde ihm in das Angesicht sagen, daß er gelogen hat, wenn er nicht von anderen getäuscht worden ist. Nimmt ein ungetreues Weib ihre Kinder mit, wenn sie ihren Mann verläßt, um sich an einen Verführer zu hängen?“

„Sie liebte euch trotz ihrer Untreue gegen mich.“

„Nimmt eine solche Frau das Porträt ihres Mannes mit, den sie in böswilliger Weise verläßt?“

„Hm! Zum Andenken. Warum nicht. Sie ist ihm doch auch einmal gut gewesen.“

Er sagte das im Ton der Ironie. Nanon aber entgegnete:

„Nein. Ich kann mir nicht denken, daß eine flüchtige Frau sich mit solch einem Andenken abschleppt.“

„Sie hat übrigens das Bild von sich gegeben.“

„Kurz vor ihrem Tod.“

„Mein Kind, streiten wir uns nicht. Deine Mutter hat mich verlassen. Diese Tatsache ist nicht hinweg zu disputieren. Ich habe nach ihr gesucht, lange Jahre hindurch. Sie hat sich nicht finden lassen. Das beweist und vergrößert ihre Schuld. Daran ist gar nicht herum zu deuteln. Sie war eine Verbrecherin, nicht nur gegen mich, sondern auch gegen euch.“

„Wieso?“

„Indem sie euch mit sich nahm. Sie machte euch zu armen Waisenkindern, euch, die Baronessen von Bas-Montagne, die bei dem Vater eine ihres Standes würdige Erziehung erhalten hätten.“

„Oh, Papa, sie hat trotz ihres frühen Todes dafür gesorgt, daß wir nicht verwahrlost wurden.“

„Aber um eure Jugend hat sie euch betrogen. Nur einem Zufall habe ich es zu verdanken, daß ich meine Kinder fand. Und nur demselben Zufall habt ihr es zuzuschreiben, daß ihr nicht gezwungen seid, als arme Gesellschafterinnen dem Glück des Lebens zu entsagen.“

Sie lächelte leise vor sich hin und antwortete:

„Was das betrifft, Papa, so glaube ich nicht, daß ich zur Entsagung gezwungen gewesen wäre.“

„Pah. Was hättest du als Gesellschafterin von der Zukunft, von dem Leben überhaupt zu erwarten?“

„Viel, sehr viel“, sagte sie im Ton der Überzeugung.

„Willst du mir nicht sagen, was du unter diesem ‚Sehr viel‘ eigentlich verstehst?“

Sie errötete. Auch sein bisher so ernstes Gesicht verzog sich zu einem Lächeln, und er sagte:

„Denkst du vielleicht, ich errate es nicht.“

„Was?“

„Du hättest die Chance gehabt, eine Kräuterfrau zu werden.“

„Oh! Nur eine Kräuterfrau?“

„Nun, dann meinetwegen eine Frau Ulanenwachtmeisterin.“

„Vielleicht noch viel, viel mehr. Dieser gute Wachtmeister ist der Sohn vornehmer Eltern.“

„Beweise es erst.“

„Ich hoffe, daß dieser Beweis erbracht werde.“

„Was hätte es dir genützt? Ist er der Sohn eines adeligen Geschlechts, so hätte die arme Gesellschafterin ihm sicher entsagen müssen.“

„Da hast du recht, lieber Vater. Gott aber hat das in seiner Güte und Liebe nicht gewollt, und ich bin –“

Da klopfte es. Schneffke trat ein. Er sah es den beiden an, daß sie in einer Unterredung begriffen waren, zu welcher ein dritter wohl nicht gehörte, darum sagte er:

„Ich störe? Entschuldigung, meine Herrschaften.“

„Sie stören nicht, mein bester Herr Schneffke“, antwortete der Baron, indem er ihm die Hand reichte.

„O doch.“

„Nein. Sie unterbrechen im Gegenteil ein Gespräch, welches für uns beide sehr unerquicklich war.“

„Dann hoffe ich, daß sie mir verzeihen. Ah, das Bild. Ich errate den Gegenstand Ihres Gespräches.“

„Wirklich?“

„Ja. Sie sprachen von der, welche dieses Bild besessen hat.“

„Sie erraten das Richtige.“

„Von ihrer vermeintlichen Schuld –“

„Vermeintlich?“

„Ja. Ich halte die arme, gute becque fleur nicht für schuldig, Herr Baron.“

„Ah, wenn Sie die Beweis bringen könnten.“

Nanon ergriff den Dicken beim Arm und sagte:

„Ich danke Ihnen für Ihre Bereitwilligkeit, der Mama beizustehen. Vater ist von ihrer Schuld überzeugt. Er bemerkte es als ein Zeichen derselben, daß sie ihr Bild mitgenommen hat, welches ihn an sie erinnern konnte.“

Schneffke machte ein erstauntes Gesicht und fragte:

„Ist denn ein Bild von ihr dagewesen?“

„Ja.“

„Hm!“

„Sogar ein sehr gutes Porträt, ein Porträt von der Hand eines berühmten Meisters.“

„Welche Schlechtigkeit, daß sie es mitgenommen hat.“

„So sagen Sie, Herr Schneffke?“

„Ja, natürlich.“

„Ich denke, Sie wollen mir helfen, Mama zu verteidigen!“

„Das wird uns schwer werden, wenn sie sogar dieses Porträt mitgenommen hat. Wissen Sie dies so genau?“

Diese Frage war an den Baron gerichtet.

„Ja“, antwortete dieser.

„Woher denn eigentlich?“

„Nun, es war ja weg.“

„Ach so. Weg war es. Und da ist natürlich sie es gewesen, welche es mitgenommen hat?“

„Wer sonst?“

„Na, natürlich ist sie es gewesen. Aber wohin mag es doch nur gekommen sein.“

„Das habe ich mich auch schon gefragt.“

„Es mußte sich doch in ihrem Besitz, in ihrem Nachlas befunden haben. Nicht?“

„Allerdings.“

„Da ist es aber nicht dabei gewesen, folglich –“

„Was, folglich?“

„Folglich hat sie es gar nicht gehabt.“

„Oh, es ist auf diese oder jene Weise ihr abhanden gekommen.“

„Zweifle sehr. Ein Meisterwerk kommt nicht abhanden.“

„Aber es ist mit ihr verschwunden gewesen.“

„Mit ihr? Wirklich?“

„Ja.“

„Vielleicht zu derselben Zeit, ob aber wirklich mit ihr.“

„Was wollen Sie sagen?“

„Daß ich so eine leise, leise Ahnung habe, das Bild sei von einem anderen entfernt worden.“

„Sie täuschen sich.“

„Hm. Ich bleibe bei meiner Ahnung.“

„Wer sollte ein Interesse daran gehabt haben, das Bild verschwinden zu lassen?“

„Vielleicht Ihr Vater?“

„Er? Ah! Dieser Gedanke deutet allerdings auf etwas hin, was nicht ganz unmöglich ist. Hat Ihre Ahnung vielleicht einen triftigen, nachweisbaren Grund?“

„Ja, freilich.“

„Welchen?“

„Ich kann nicht behaupten, daß dieser Grund stichhaltig sei: aber er ist doch geeignet, gewisse Vermutungen zu erregen. Ich sah nämlich vor einiger Zeit das Porträt einer Dame, welches eine frappante Ähnlichkeit mit den Demoiselles Nanon und Madelon hatte.“

„Jedenfalls der reine Zufall.“

„Oh, es war von Meisterhand.“

„War der Maler bezeichnet?“

„Nein. Das Porträt besaß weder Namen, Faksimile oder Zeichen des Künstlers.“

„Hm! Das war bei demjenigen, von welchem wir sprechen, auch der Fall. Können Sie sich auf die Einzelheiten des Porträts besinnen?“

„Sehr gut.“

„War die Dame dunkel?“

„Nein, blond, herrlich goldblond.“

„Was trug sie für ein Kleid?“

„Rosa Seide mit goldig schimmerndem Federbesatz. Die Seide war meisterhaft getroffen.“

„Mein Gott! So trug sich allerdings Amély, als sie dem Künstler zu Gemälde saß. Besinnen Sie sich vielleicht auf den Goldschmuck, den sie trug?“

„Goldschmuck gab es nicht.“

„Was sonst?“

„Das Porträt zeigte als einzigen Schmuck eine weiße Rose in der Hand und einen Kolibri im lockigen Haar.“

Da erfaßte der Baron den Dicken bei beiden Armen, zog ihn so, daß der Schein des Lichtes in sein rotglänzendes Gesicht fiel und rief:

„Mann, phantasieren Sie, oder ist's Wirklichkeit?“

„Wirklichkeit! Das ist so wahr wie Pudding.“

„Wann haben Sie dieses Gemälde gesehen?“

„Vor ganz kurzer Zeit, es ist kaum zehn Tage her.“

„In Malineau?“

„Nein.“

„Wo denn?“

„Hier in Berlin.“

„Unmöglich.“

„Hm! Kann man etwas Unmögliches sehen?“

„Herr Schneffke, Sie versetzen mich in Aufregung. Das Gemälde, welches Sie beschreiben, scheint dasjenige meiner Frau zu sein. Wie kann dies nach Berlin kommen?“

„Durch ihren Vater.“

„Ah. Haben Sie Veranlassung zu dieser Behauptung?“

„Ja.“

„Welche? Schnell, schnell.“

„Nun, ich habe mir einmal vorgenommen, die Ehre ihres lieben Kolibri zu retten, und so will ich es auch tun. Ihr Vater hat sehr schlecht an Ihnen und Ihrer Frau gehandelt.“

„Beweisen Sie es.“

„Er hat einfach die Erzählung von ihrer Untreue erfunden.“

„Beweise, Beweise!“

„Sie ist mit keinem anderen durchgegangen.“

„Dann hätte er gelogen?“

„Ja.“

„Sie hat auch ihr Porträt nicht mitgenommen.“

„Es war doch verschwunden!“

„Ihr Vater hat es versteckt.“

„Das wäre allerdings eine Schlechtigkeit, die ich ihm nie verzeihen könnte. Warum aber ist sie fortgegangen?“

„Er hat sie gezwungen.“

„Womit? Etwa durch Drohungen?“

„Vielleicht. Dann aber auch dadurch, daß er an ihr gutes Herz appellierte. Er hat ihr vorgestellt, daß sein Stammbaum durch die Mißheirat befleckt sei. Er hat ihr zu beweisen gesucht, daß sie durch diese Mesalliance und durch die von ihr eingegangene Mischehe Ihnen nicht nur einen unauslöschlichen Makel gebracht, sondern auch alle Ihre Ansprüche an das Leben, an die Zukunft vernichtet habe. Er hat ihr keine Ruhe gelassen; er hat auf sie eingewirkt auf alle mögliche Weise; er hat sie gequält, ihr wohl gefälschte Briefe, scheinbar von Ihrer Hand, gezeigt; er hat kein Mittel unversucht gelassen, sie zu überzeugen, daß sie Ihr Lebensglück vernichtet. Er hat nicht geruht und gerastet, bis sie im Widerstand ermüdete und er seinen Zweck erreicht sah.“

„Donnerwetter! Wenn dies wahr wäre!“

„Es ist wahr!“

„Haben Sie etwa sichere Unterlagen für diese Behauptung?“

„Ja.“

„Aber Sie hätte mir doch eine Nachricht hinterlassen sollen, ja hinterlassen müssen, eine Zeile, eine einzige Zeile!“

„Das hat sie auch getan.“

„Ich habe nichts erhalten.“

„Er hat ihren Brief unterschlagen.“

„Wissen Sie das?“

„Sehr genau!“

„Herrgott! Woher wissen Sie es?“

„Durch einen Zufall. Der Brief, welchen sie damals an Sie geschrieben hat, existiert noch.“

„Wo? Wo?“

„Hier in Berlin. Bei demselben Mann, welcher auch Ihr Bild noch besitzt.“

„So hat er beides, Bild und Brief von meinem Vater?“

„Hm! Jedenfalls.“

„Ach! Da kann ich bei ihm wohl auch eine Spur meines Vaters entdecken!“

„Das glaube ich gern.“

„Wer ist dieser Mann?“

„Ein alter Sonderling, welcher keinen Menschen zu sich läßt. Ich bin der einzige, mit dem er verkehrt. Er ist ein Bilderfex. Er läßt sich aber nichts anderes malen als Kolibris und immer wieder Kolibris.“

„Das ist höchst sonderbar.“

„Freilich. Bitte, Herr Baron, haben Sie wohl früher irgendein Zeichen geistiger Störung an ihrem Vater bemerkt?“

Der Baron machte einen Bewegung der Überraschung und erkundigte sich:

„Wie kommen Sie zu dieser Frage? Was wollen Sie damit sagen? Etwa – daß dieser Bilderfex – – –?“

„Bitte antworten Sie mir.“

„Nun, mein Vater war bigott und außerdem sehr zur Menschenfeindlichkeit geneigt. Er tat allerdings zuweilen etwas, von dem man nicht sagen konnte, daß es begreiflich sei. Es kam vieles vor, was andern unmotiviert erscheinen mußte, und nach meiner Rückkehr von jener langen Reise, und nach dem Verschwinden meiner Frau, zeigte er eine körperliche und geistige Ruhelosigkeit, welche mich für ihn besorgt machte.“

„Und noch später – –?“

„Das weiß ich nicht. Ich suchte meine Frau. Als ich nach längerer Abwesenheit einmal wiederkehrte, hatte er alles verkauft und war spurlos verschwunden.“

„Ohne Ihnen eine Nachricht zurückzulassen?“

„Ohne eine Zeile, ohne ein Wort.“

„Das dachte ich mir. Nun, Sie haben recht. Wir werden bei unserem alten Bildermann jedenfalls eine Spur Ihres verschwundenen Vaters finden.“

„Wäre das der Fall, so wollte ich es Ihnen reichlich lohnen, Herr Schneffke.“

„Na, schön! Ich bin meiner Belohnung gewiß.“

„Wo wohnt dieser Mann?“

„Gar nicht weit von hier. Man kann in zwei Minuten von hier aus bei ihm sein.“

„Ah! Wollen Sie hin zu ihm?“

„Haben Sie Zeit?“

„Natürlich, natürlich!“

Er langte eifrig nach Hut und Überrock, Schneffke bemerkte dies lächelnd und sagte:

„Aber nach seinem Namen fragen Sie nicht?“

„Nach seinem Namen? Ach wirklich, das habe ich ganz vergessen. Also, wie heißt er?“

„Untersberg.“

Da warf der Baron Hut und Überrock von sich, trat auf den Maler zu und rief:

„Untersberg? Habe ich recht gehört?“

„Ja, Herr Baron.“

„Das würde doch auf französisch Bas-Montagne heißen!“

„Allerdings! Und auf englisch Deep-hill.“

„Also mein Name?“

„Ganz genau.“

„Herr Schneffke, meinen Sie etwa –?“

Er war außerordentlich erregt. Er sprach die Frage zwar nicht aus, aber sie war in seinen Zügen zu lesen.

„Ja, gerade das meine ich“, nickte Schneffke.

„Daß dieser Untersberg – – –“

„Ja.“

„Identisch mit meinem Vater sei?“

„Ja.“

„Sind Sie des Teufels?“

„Nein.“

„Welch eine Überraschung!“

„Daß ich nicht des Teufels bin?“

„Nein – ah, scherzen Sie nicht, sondern sprechen Sie im Ernst.“

„Das tue ich ja doch!“

„Also Sie behaupten wirklich, daß mein Vater hier in Berlin lebe, unter dem Namen Untersberg?“

„Ich behaupte und beweise es.“

„So lassen Sie uns zu ihm gehen, sofort, sofort!“

Er raffte Hut und Überzieher wieder auf und wollte eiligst das Zimmer verlassen. Der Maler aber stellte sich ihm in den Weg und sagte:

„Halt, nicht so schnell, Herr Baron.“

„Warum nicht?“

„Es gibt vorher noch einiges zu erwähnen.“

„Was soll es noch geben? Nichts, gar nichts. Ich höre, daß mein Vater hier lebe; ich gehe zu ihm. Alles was es noch gibt, werde ich bei ihm hören.“

„Nichts, gar nichts werden Sie hören.“

„Alles, alles! Dafür werden Sie mich sorgen lassen!“

„Nein, nichts hören Sie, denn er wird Sie nicht einlassen.“

„Oho!“

„Ich sagte Ihnen bereits, daß er nur mit mir verkehrt.“

„Kann er seinen Sohn abweisen?“

„Es ist ihm zuzutrauen.“

„Ich werde ihn zwingen.“

„Wie?“

„Durch die Polizei.“

„Wollen Sie die Polizei in Ihre Angelegenheiten blicken lassen, Herr Baron?“

„Wenn ich auf keine andere Weise mit ihm sprechen kann, ja.“

„Ich werde Sie einlassen.“

„Sie?“

„Ja.“

„Ohne seinen Willen?“

„Mit oder ohne denselben. Wir gehen jetzt. Sie aber lassen sich zunächst gar nicht sehen. Sie warten vor der Tür, bis ich Ihnen öffne.“

„Gut. Einverstanden.“

„Es ist möglich, daß er mich, wenn er Sie erkennt, aus dem Zimmer weist. Das aber geben Sie nicht zu.“

„Warum nicht?“

„Er würde Ihnen gegenüber alles leugnen; ich aber bin imstande, ihm alles zu beweisen, was er gegen Sie und Ihre Frau gesündigt hat; ich muß also bleiben.“

„Einverstanden! Also kommen Sie!“

Er faßte den Maler bei der Hand, um ihn mit sich fortzuziehen.

„Vater, sagst du mir kein Wort?“ fragte Nanon.

Sie hatte sich bis jetzt schweigend verhalten.

„Verzeih, mein Kind! Ich glaube, daß du auch in Aufregung bist; aber ich muß eilen, mich von der Unschuld deiner guten Mutter überzeugen zu lassen.“

Die beiden Männer entfernten sich. Der Baron hatte kaum die Kraft, die Unruhe, welche ihn erfaßt hatte, zu bemeistern. Als sie die letzten Treppe emporstiegen, sagte Schneffke:

„Hier in dieser dunklen Ecke bleiben Sie, bis ich Sie einlasse. Er wird Sie beim Öffnen nicht sehen.“

Er klopfte an die Tür.

„Wer ist draußen?“ fragte es von innen.

„Schneffke.“

„Ah, endlich!“

Der Alte öffnete und verriegelte die Tür sofort wieder, als der Maler eingetreten war.

„Sie sind ja eine ganze Ewigkeit fortgeblieben“, zankte er ihn aus.

„Ich fand nicht eher die richtigen Stifte.“

„Jetzt aber haben Sie welche?“

„Ja.“

„Gut. Hier ist Papier.“

Schneffke hatte gar nicht nötig gehabt, sich farbige Stifte zu kaufen. Er trug stets dergleichen in einem Etui bei sich. Er zog dieses letztere hervor, setzte sich an den Tisch und begann zu zeichnen. Der Alte stand hinter ihm und folgte mit der größten Spannung den Bewegungen seiner Hand.

Schneffke spannte ihn dadurch auf die Folter, daß er zunächst die hinteren Teile des Kopfes zeichnete.

„Schnell, schnell! Das Gesicht“, sagte Untersberg.

„Warten Sie; warten Sie! Alles hat seine Zeit!“

Jetzt begann er mit Stirn, Nase und Mund. Als er das eine Auge beendet hatte, rief der Alte:

„Himmel! Er ist's!“

„Wer?“

„Mein Sohn. So war er; so war er, ganz genau so!“

„Warten Sie noch.“

Der Alte stand hinter ihm, mit ausgestreckter Hand, bereit, das Papier sofort nach dem letzten Strich zu erfassen. Er hatte das Aussehen eines bösen Geistes, welcher im Begriff steht, sich auf eine arme Seele zu stürzen. Sein Wunsch, sein heißer Wunsch, das Bild seines Sohnes zu besitzen, war erfüllt.

„So“, sagte Schneffke sich erhebend. „Da ist der Kopf. Sie meinen also, daß er ähnlich ist?“

„Ja, ja! Vollkommen. Zeigen Sie. Her damit!“

Seine Augen ruhten mit halb irrem Blick auf dem Blatt; dann sagte er:

„Das ist mein; das bekommen Sie nicht wieder. Ich werde es sofort einschließen, sofort.“

Er eilte in das Nebenzimmer. Der Hund folgte ihm. Das war dem Maler lieb. Er eilte an die Tür und öffnete.

„Schnell, schnell“, flüsterte er.

„Wo ist er?“ fragte der Baron, leise eintretend.

„Da draußen. Verstecken Sie sich da hinter den Ofen.“

Bas-Montagne tat es, und der Maler trat wieder an den Tisch. In diesem Augenblick kehrte der Alte zurück. Er machte die Tür zum Nebenzimmer zu, ohne zu bemerken, daß der Hund draußen geblieben war.

„Also sind Sie mit dem Kopf zufrieden?“ fragte der kleine Dicke lächelnd.

„Ja, ja“, antwortete Untersberg.

Sein Auge ruhte dabei forschend auf dem Frager.

„Das ist mir lieb.“

„Aber mir vielleicht nicht?“

„Warum nicht? Sie wollten das Bild doch haben.“

„Ist es wirklich nur Phantasie?“

„Nein.“

„Ah! Alle Donner! Also doch nicht.“

„Nein. Jeder Zeichner muß etwas Wirkliches zugrunde legen; so ist es auch bei mir.“

„Sie haben also einmal einen solchen Kopf gesehen?“

„Ja.“

„Wann?“

„Vor einiger Zeit.“

„Wo?“

„In Frankreich.“

„Donnerwetter! An welchem Ort?“

„In Thionville.“

„War die Ähnlichkeit groß?“

„Sehr. Nur war der Mann älter als ich ihn hier bei Ihnen porträtiert habe.“

„Was war er?“

„Bankier.“

„Ach so. Woher?“

„Aus Nordamerika.“

„Haben Sie seinen Namen erfahren?“

„Ja. Er hieß Deep-hill, auf französisch Bas-Montagne und auf deutsch Untersberg.“

Da fuhr der Alte zurück und rief:

„Mensch, ist das wahr?“

„Natürlich.“

„Wo befindet sich dieser Mann jetzt?“

„Hier ist er“, erklang es vom Ofen her.

Untersberg drehte sich erschrocken um. Dort stand sein Sohn, welcher hinter dem Ofen hervorgetreten war.

„Gaston!“ rief der Alte.

„Herr Baron!“ antwortete der Sohn, welcher kein Zeichen der Freude gab, seinen Vater wiederzusehen.

„Gaston! Wie kommst du hier herein?“

„Durch die Tür.“

„Sie war verschlossen.“

„Ist das alles, an was du jetzt denkst? Denkst du nur an den Riegel, den du vorgeschoben hattest? Denkst du an nichts anderes, an nichts Wichtigeres?“

„Oh, ich denke daran!“

„Nun, an was denn?“

„An die Freude des Wiedersehens.“

„Fühlst du sie wirklich?“

„Zweifelst du daran?“

„Du hast nicht das Aussehen eines Vaters, welcher entzückt ist, von seinem Sohn überrascht worden zu sein.“

„O doch! Komm her an mein Herz.“

Er öffnete die Arme.

„Laß das!“ wehrte der Sohn ab. „Spielen wir nicht Komödie.“

„Komödie? Ich freue mich wirklich, aufrichtig.“

„Wollen sehen. Ich komme zunächst nicht als Sohn zu dir.“

„Als was denn?“

„Als Mann meines Weibes.“

„Wieso?“

„Ich habe dich nach ihr zu fragen.“

„Ich weiß nicht mehr von ihr, als das, was ich dir vor Jahren mitgeteilt habe. Ich hörte nie wieder von ihr.“

„Ich hoffe, daß du dies zu beweisen vermagst.“

„Sicher. Setze dich. Ich werde Wein holen –“

„Wein? Laß den Wein. Die Familienangelegenheiten gehen vor; sie müssen wir besprechen.“

„Gut. Ganz wie du willst. Aber hier ist ein Mann, den diese Sachen nichts angehen. Herr Schneffke, wir sind für heute fertig. Kommen Sie morgen wieder, um sich das Honorar für die Zeichnung zu holen.“

„Ihr seid noch nicht fertig!“ fiel der Sohn ein.

„Wieso? Was weißt du von unserem Geschäft?“

„Nichts; aber ich weiß, daß er gerade jetzt hierher gehört. Er muß hören, was wir miteinander sprechen.“

„Ah! Warum?“

„Er kennt unsere Angelegenheiten besser als wir beide.“

Da warf der Alte einen glühenden Blick auf den Mater und fragte diesen:

„Ist das wahr?“

„Ja“, lautete die furchtlose Antwort.

„Sie wissen, daß dieser Herr mein Sohn ist?“

„Ja.“

„Sie haben ihn zu mir gebracht?“

„Wie Sie sehen.“

„So haben Sie gewußt, daß ich eigentlich Bas-Montagne heiße, nicht aber Untersberg?“

„Ich vermutete es.“

„Woher?“

„Davon später.“

„So haben Sie mich also getäuscht?“

„Nein. Sie wünschten das Portrait Ihres Sohnes. Ich habe ihn in Person gebracht und erwarte eigentlich dafür den Ausdruck Ihrer Dankbarkeit.“

„Der Teufel soll Ihnen danken. Sie haben mich betrogen. Wissen Sie, daß ich meinen Hund auf Sie hetzen werde?“

„Versuchen Sie es!“

„Pah!“ sagte der Sohn. „Das sind Kindereien. Lassen wir sie. Wir haben Wichtigeres zu tun. Setzen Sie sich, Herr Schneffke. Wir wollen diesem Herrn Untersberg doch einmal ein paar Fragen vorlegen.“

Er nahm Platz, und der Maler tat dasselbe. Der alte Baron ließ seinen Blick von dem einen nach dem anderen schweifen. Seine Lippen zuckten, und sein Gesicht war der Spiegel ängstlicher Besorgnis.

„Ich begreife dich nicht!“ stieß er hervor.

„Du wirst mich begreifen lernen. Erinnerst du dich noch des Tages, an welchem meine Frau verschwunden war?“

„Ja.“

„Weiß du, weshalb sie verschwand?“

„Natürlich! Sie war dir untreu geworden.“

„Das ist Lüge. Damals habe ich an diese Untreue geglaubt, jetzt aber tue ich das nicht mehr.“

„Ich kann die Beweise dafür bringen.“

„Womit?“

„Durch Briefe, welche sie mit ihrem Verführer gewechselt hat.“

„Bist du im Besitz derselben?“

„Ja.“

„Zeige sie mir.“

„Sogleich.“

Der Alte öffnete ein Fach und zog ein Päckchen hervor, das er seinem Sohne mit den Worten gab:

„Da sind sie. Lies!“

Der Baron öffnete einen nach dem anderen und las sie, ohne sich merken zu lassen, welchen Eindruck der Inhalt auf ihn mache. Dann fragte er:

„Warum hast du mir diese Briefe damals nicht gezeigt?“

„Ich hatte sie noch nicht.“

„Du bist also später in den Besitz derselben gekommen?“

„Ja.“

„Auf welche Weise?“

Der Alte schien verlegen zu werden, doch war er sehr schnell mit einer Erklärung da:

„Ein Fremder brachte sie.“

„So, so. Natürlich hast du ihn gefragt, wer er sei?“

„Gewiß.“

„Und auf welche Weise er zu den Briefen gekommen war?“

„Das versteht sich.“

„Nun, was antwortete er?“

„Er war ihr Diener gewesen. Der Verführer hatte ihn engagiert, aber schlecht behandelt. Aus Rache hatte er ihm diese Briefe gestohlen.“

„Hatte ihm sein Herr denn gesagt, wen er entführt habe?“

„Jedenfalls.“

„Und daß sie eigentlich eine Baronin Bas-Montagne sei?“

„Gewiß.“

„Ein sauberer Herr. Aber ich gestehe dir aufrichtig, daß ich an diesen schlecht erfundenen Roman nicht glaube.“

„Oho!“

„Du lügst.“

„Alle Teufel! Was fällt dir ein!“

„Oh, ich habe meinen guten Grund, dies anzunehmen.“

„Welchen denn?“

„Diese Briefe hat Amély nicht geschrieben, das macht mir niemand weis. Die Handschrift ist der ihrigen so ziemlich ähnlich, aber ich lasse mich nicht täuschen. Sie sind gefälscht.“

„Ah, was du sagst.“

„Ich bin überzeugt davon.“

„So hätte er mich getäuscht?“

„Wer? Etwa der angebliche Diener?“

„Ja.“

„Pah! Der existiert nur in deine Phantasie. Übrigens bist du selbst in deine eigene Falle geraten.“

„Was meinst du?“

„Du behauptest, diese Briefe später erhalten zu haben.“

„Ja, so ist es auch.“

„Und vorher sagtest du, daß du niemals wieder etwas von ihr gehört habest.“

„Ich dachte nicht daran.“

„Schon gut. Du hast mich früher täuschen können, jetzt aber gelingt es dir nicht mehr.“

„Donnerwetter. Du hälst mich also für einen Lügner?“

„Ja.“

„Und dies sagst du mir in Gegenwart dieses Mannes?“

„Wünschst du etwa, daß ich damit warte, bis wir uns unter vier Augen befinden?“

„Das ist eine Beleidigung, die ihresgleichen sucht.“

„Pah! Spiele dich nicht als Unschuldigen auf. Du hast ein Verbrechen an mir begangen, welches so groß ist, daß selbst Gottes unendliche Barmherzigkeit es dir niemals zu verzeihen vermag.“

„Bist du toll! Von welchem Verbrechen redest du?“

„Du hast mich um das Glück meines Lebens gebracht, indem du mein Weib beschuldigtest, ein Verbrechen begangen zu haben, an welches sie nie dachte.“

„Unschuldig? Ah, warum entfloh sie?“

„Von einer Flucht war keine Rede.“

„Wie willst du ihre Entfernung sonst nennen?“

„Eine Folge deiner Intrige.“

„Sapperment! Also ich bin schuld daran?“

„Ja.“

„Beweise mir das.“

„Wo hast du den Brief, den sie mir zurückgelassen hat?“

„Ich weiß von keinem Brief.“

„Wirklich nicht?“

„Nein.“

„Herr Schneffke, jetzt sind Sie an der Reihe.“

„Ah, was will dieser Mensch?“ sagte der Alte.

Schneffke stand von seinem Stuhl auf und antwortete:

„Was ich will? Ihnen beweisen, daß Sie lügen.“

„Kerl, was wagen Sie! Denken Sie an meinen Hund.“

„Zunächst muß ich an etwas anderes denken, nämlich an dieses Bild.“

Er zeigte auf das Bild, welches er damals mit den anderen gereinigt hatte und hinter welchem nebst Amélys Porträt auch ihre beiden Briefe versteckt gewesen waren.

„Was ist mit dem Bild?“ fragte der Alte.

„Das sollen Sie gleich sehen.“

Er nahm es von der Wand, entfernte die hintere Seite und zog das Porträt hervor.

„Hier meine Herren, sehen Sie.“

Der Blick des Alten fiel darauf.

„Alle Teufel! Der becque fleure!“

Mit einem raschen Sprung warf er sich auf den Maler, um ihm das Porträt zu entreißen; aber sein Sohn kam ihm zuvor. Er faßte den Vater bei den Achseln, drückte ihn in den Stuhl zurück und sagte:

„Hierher setzest du dich und bleibst sitzen, bis ich mit dir fertig geworden bin.“

„Oho, redest du in dieser Weise mit deinem Vater?“

„Ja. Und wenn du mir nicht gehorchst, werde ich in noch ganz anderer Weise mit dir sprechen.“

„Welche wäre dies?“

„Durch die Polizei. Ich gebe dir mein Ehrenwort, daß ich dich, falls du nicht ruhig bist, arretieren lassen werde, um dich für das, was du getan hast, dem Strafrichter zu übergeben.“

„Deinen Vater!“

„Pah! Du hast nicht wie ein Vater, sondern wie ein Schurke an mir gehandelt. Hier ist das Bild meines Weibes, nach welchem ich vergebens gesucht habe. Wie kommt es hierher?“

„Ich weiß es nicht.“

„Du lügst.“

„Ich lüge nicht.“

„Sie lügen!“ erklärte da der Maler.

„Mensch, schweigen Sie!“

„Und denn noch sage ich, Sie lügen. Sie haben gewußt, daß Sie dieses Bild versteckt hatten, aber Sie haben den Ort vergessen, wo es verborgen wurde.“

„Was fällt Ihnen ein?“

„Haben Sie etwa nicht nach dem Dokument de divorce gesucht, Herr von Untersberg?“

„Ah, dieses Dokument!“ stöhnte der Alte, dessen Gesicht plötzlich wieder einen irren Ausdruck annahm.

„Und hat die arme Amély etwa nicht einen Brief an Sie geschrieben, bevor sie sich entfernte?“

„Ich weiß von nichts!“

„Ich meine folgenden Brief.“

Er hatte das eine der Schreiben geöffnet und las:

„Dem Herrn Baron de Bas-Montagne.

Ihr Unterhändler ist bei mir gewesen. Sie sind ein harter, grausamer Mann. Ihre Forderungen zerreißen mir das Leben. Aber ich bin ein Weib, habe ein Herz, und zwei Kinder. Ich fühle, was es heißen mag, ein Kind verlieren, einen Sohn aufgeben zu müssen. Es war nie meine Absicht, Ihnen Gastons Herz zu rauben; Sie haben es von sich gestoßen. Aber Sie haben ein älteres, vielleicht auch ein heiligeres Recht an Ihrem Sohn. Ich trete zurück. Ich willige in die Scheidung unserer Ehe, obgleich ich weiß, daß ich damit mein Todesurteil unterzeichne.

Gott allein mag Richter sein zwischen Ihnen und Amély de Bas-Montagne geborene Renard.“

Kaum hatte der Maler geendet, so sprang der Alte wieder von seinem Sitz auf und rief:

„Das ist's, das ist's. Her damit.“

Aber sein Sohn drückte ihn mit unwiderstehlicher Gewalt wieder nieder und gebot ihm:

„Bleib sitzen, wenn du größeres Unheil verhüten willst. Ich gebe nicht zu, daß du dich an diesem Bild oder an dem Brief vergreifst.“

Und sich an den Maler wendend, fragte Gaston:

„Das steht da auf diesem Papier?“

„Ja.“

„Zeigen Sie.“

„Hier, lesen Sie.“

Der Baron nahm den Brief in die Hand und betrachtete Zeile für Zeile, Wort für Wort.

„Ihr Todesurteil“, flüsterte er. „Sie hat mich geliebt; sie mußte sich von mir trennen, und sie ist daran gestorben. Gott, mein Gott! Und warum?“

„Der dort zwang sie“, sagte Schneffke, auf den Alten deutend.

Der Baron drehte sich zu diesem um und erschrak fast bei dem Anblick, welchen sein Vater bot. Die Augen starr vor sich hin gerichtet, saß er da. Vor seinem Mund stand weißer Schaum und seine bleichen Lippen murmelten leise:

„Es ist's, es ist's, das Dokument de divorce.“

„Er ist verrückt“, sagte der Maler.

„Ja, er ist nicht bei Sinnen. Was tun wir nun mit ihm?“

„Es sieht fast wie ein epileptischer Anfall aus. Lassen wir ihn ruhig gewähren.“

„Ja, bekümmern wir uns gar nicht um ihn.“

„Gott! Und es ist Ihr Vater.“

„Leider! Wäre er das nicht, so würde ich ihn mit dieser meiner Faust zu Boden schlagen. Denken Sie sich, daß mein armes Weib gezwungen worden ist, mir zu entsagen!“

„Leider, leider.“

„Wie mag er sie gepeinigt haben! Ein jedes ihrer Worte hier ist eine Flut von Tränen.“

„Ich war schon damals tief gerührt, als ich diesen Brief zum ersten Mal las“, sagte Schneffke.

„Wann war dies?“

„Am Tag meiner Abreise nach Frankreich.“

„Wie kamen Sie zu diesem Briefe?“

Der Maler erzählte es.

„Und Sie haben meinem Vater nichts davon gesagt?“

„Nein.“

„Warum nicht?“

„Weil ich bereits ahnte, daß Madelon Ihre Tochter sei. Freilich konnte ich es mir nicht träumen lassen, daß ich so bald danach Sie treffen würde. Ich steckte also das Bild und die beiden Briefe an ihren Ort zurück, um zur geeigneten Zeit Gebrauch davon zu machen.“

„Sie sagen ‚die Briefe‘. Waren mehrere da?“

„Ja. Ich sagte doch vorhin im Hotel zu Ihnen, daß Ihre Frau für Sie einen Brief zurückgelassen habe.“

„Ja. Ist er dabei?“

„Hier, hören Sie.“

Er las:

„Mein bester, mein teuerster Gaston!

Wenn Du von der Reise zurückkehrst, findest Du wohl diesen Brief, nicht aber Deine Amély, Deinen süßen Kolibri, vor. Mein Herz bricht, indem ich dieses schreibe; aber ich kann, ich darf nicht anders. Du hast mich geliebt, und ich fand den Himmel in Deinen Armen. Deine Liebe zu mir hat Dich von dem Vater getrennt, welcher unserer Verbindung fluchte. Du hast mir alles, alles geopfert, mir, dem armen, fremden, bürgerlichen Mädchen. Jetzt ist die Leidenschaft verschwunden, und Du beginnst zu denken und zu rechnen. Ich beobachtete Dich im stillen und sah, daß ich Dir nicht mehr alles bin.

Gott ist mein Zeuge, daß mein Leben nur Dir allein gehört. Indem ich von Dir scheide, gebe ich mir den Tod, denn ich kann ohne Dich nicht sein. Aber ich gebe Dich frei; ich gebe Dich Deinem Stand, Deinem Beruf, Deiner Ehre und Deinem Vater zurück. Ich lege meine von dem Notar kontrasignierte Einwilligung zur Scheidung bei.

Meine Hand zittert, mein Herz bebt, und meine Augen stehen voller Tränen. Ich nehme nichts, gar nichts mit, als meine Kinder, meine süße Nanon und meine herzige Madelon. Du hast sie mir geschenkt, und sie sind mein Eigentum. Forsche nicht nach uns, denn Du würdest uns doch nicht finden.

Dein Kolibri entwischt. Sein Gefieder wird den Glanz verlieren, und sein Flug wird sich bald zum Grab senken. Aber noch im Sterben wird er dem heißen Wunsch meinen letzten Atem widmen: sei glücklich, glücklich, glücklich!

Dein Weib, Deine Amély, Dein armer, unschuldiger Kolibri.“

Der Baron hatte wortlos zugehört. Mit weitgeöffneten Augen stand er ohne Bewegung da. Dann entrang sich seiner Brust ein heiserer Schrei, und er rief:

„Das steht dort, das – das?“

„Ja.“

„Alles, was Sie gelesen haben?“

„Alles.“

„Zeigen Sie her.“

Die letzten Worte kamen zischend und mühsam heraus. Er streckte die Hand aus; er war unfähig, den einen Schritt bis zu dem Maler zu machen. Diese gab ihm den Brief in die Hand. Der Baron verschlang die Zeilen, drückte dann das Papier an sein Herz und stöhnte:

„Amély, meine arme, arme unschuldige Amély!“



Er drehte sich um, ballte die Fäuste und schrie:

„Ungeheuer! Teufel! Satan! Ah, ich zermalme dich!“

Er tat zwei Schritte auf den Vater zu, hielt aber dann erschrocken inne.

„Gott, mein Gott! Es ist doch mein Vater“, sagte er. „Mein Vater! Welch eine Qual das ist! Sehen Sie ihn, wie er sprechen möchte, und doch nicht kann.“

Er warf sich auf den Stuhl nieder und weinte, weinte laut und bitterlich. Der Maler sagte nichts; er blieb still, bis das laute Schluchzen nach und nach erstarb und der Baron sich wenigstens äußerlich beruhigte.

„Jedes dieser Worte trifft wie ein Dolchstoß mein Herz“, klage Bas-Montagne.

„Nun, geben Sie zu, daß sie unschuldig war?“

„Rein und unschuldig wie die liebe Sonne am Himmel. Und ich habe sie verurteilt; ich habe nach ihr gesucht, um mich an ihr und an dem Verführer zu rächen.“

Er trat auf seinen Vater zu, faßte ihn bei der Schulter, schüttelte ihn und fragte:

„Mensch, hörst du, was ich dir sage?“

„Ja“, erklang es gurgelnd.

„War Amély unschuldig?“

Der Alte antwortete nicht.

„Hast du gewußt, wohin sie ging?“

„Ja.“

„Und wo sich dann ihre Töchter befanden?“

„Ja.“

„So hast du gewußt, daß Nanon in Ortry und Madelon hier in Berlin war?“

„Ja.“

„Sie waren deine Enkelinnen, und du hast dich ihrer nicht angenommen! Sie konnten sterben und verderben.“

Da nahm der Alte alle seine Kräfte zusammen. Es gelang ihm mit Zuhilfenahme seiner ganzen Willenskraft, den Anfall zu besiegen. Er gewann die Sprache wieder. Er erhob sich langsam von seinem Stuhl und sagte:

„Ich mich ihrer annehmen? Warum? Wer sind sie?“

„Deine Enkelinnen.“

„Pah. Die Kinder einer Deutschen, einer Protestantin.“

„Die Kinder meines Weibes.“

„Was geht mich dein Weib an. Ich habe sie niemals als Schwiegertochter anerkannt.“

„Aber ihre Kinder wirst du als Enkelinnen anerkennen.“

„Nie, nie!“

„So bist du mein Vater gewesen.“

„Oho! Noch bist du mein Sohn. Noch habe ich Macht über dich. Noch hast du mir zu gehorchen.“

„Mache dich nicht lächerlich, alter Mann. Warum bliebst du nicht daheim? Warum verkauftest du alles, und warum verschwandest du?“

„Das geht dich nichts ans.“

„Ah! Ich bin dein Erbe. Ich kann Rechenschaft fordern.“

„Hole sie dir. Ein jeder tut, was ihm beliebt. Ich habe dir nicht zu antworten. Packt euch fort. Wenn ihr euch nicht augenblicklich entfernt, hetze ich den Hund auf euch.“

Er ging zur Tür, welche in das Nebenzimmer führte, hinaus, schloß dieselbe zu, aber sie hörten dennoch die Worte:

„Tiger, komm, paß auf.“

Ein grimmiges Knurren war die Antwort. Der Hund schnüffelte jenseits an der Tür und winselte begierig.

„Sollte er wirklich so wahnsinnig sein, den Hund auf uns zu hetzen?“ fragte der Baron.

„Ich traue es ihm zu.“

„Ich würde das Tier töten.“

„Ah, Sie kennen die Dogge nicht! Es wäre ihr nur mit einer Schießwaffe beizukommen, und wir befinden uns nicht im Besitz einer solchen.“

„So, meinen Sie also, daß wir gehen sollen?“

„Ja. Es ist das Beste, war wir tun können.“

„Gut. Aber ich werde morgen wieder hergehen, und da wird er mir beichten müssen.“

„Er wird Sie fortjagen.“

„Wohl schwerlich. Ich nehme Polizei mit und einen Gerichtsarzt. Ich kenne seine Pflicht gegen mich und die meinige gegen ihn. Ich werde untersuchen lassen, ob er zurechnungsfähig oder irrsinnig ist. Kommen Sie. Das Bild und die Briefe nehmen wir natürlich mit.“

„Ja, gehen wir. Ich werde diese Wohnung nicht wiedersehen, denn wehe mir, wenn ich es wagen wollte, noch einmal vor seinen Augen zu erscheinen.“

„Ich werde Sie entschädigen. Ich bin Ihnen überhaupt zum größten Dank verpflichtet und werde das niemals vergessen. Verfügen Sie über mich und alles, was ich habe.“

„Schön“, lachte der Dicke. „Da haben ich zum Beispiel jetzt gleich eine Bitte. Ich hoffe, daß Sie mir sie erfüllen werden.“

„Sehr gern. Um was handelt es sich?“

„Ich wünsche eine Ihrer beiden Töchter zur Frau.“

Der Baron blicke ihn betroffen an und fragte:

„Das ist Ihr Ernst?“

„Natürlich.“

„Ah, da tun Sie mir leid.“

„Warum?“

„Sie können keine von beiden bekommen.“

„Weshalb denn nicht?“

„Sie sind bereits versprochen.“

„Donnerwetter! Da hat man diese Dankbarkeit.“

„Wer denkt denn aber, daß –“

„Na, na, ereifern Sie sich nicht. Ihre beiden Baronessen sind zwar wunderbar hübsch, für mich aber viel zu niedlich und zu fein. Da ist meine Marie Melac ein ganz anderes Mädchen. Die hat Knochen im Leib und Fleisch an diesen. Wenn ich deren Porträt anfertigen will, brauche ich drei Zentner rote Farbe mehr, als bei Demoiselle Nanon und Madelon in Summa. Die wird meine Frau, keine andere!“

„Gott sei Dank!“ lachte der Baron. „Fast hatte ich befürchtet, daß Sie wegen unglücklicher Liebe das Leben nehmen würden.“

„Fällt mir gar nicht ein! Unglückliche Liebe gibt es für mich nicht. Wenn eine mich nicht mag, so läßt sie es bleiben; es ist ihr eigener Schade, aber nicht der meinige.“

Sie schlossen die Tür auf und verließen die Wohnung des alten Isegrims. Als sie die Straße erreichten, blieb der Baron stehen und fragte den Maler:

„Sind Sie für heute abend irgendwo engagiert?“

„Nein.“

„So bitte, kommen Sie mit zu mir.“

„Wozu denn!“

„Ich muß Leute haben, denen ich mein Glück mit fühlen lassen kann. Ich bin so froh, daß Amély nicht schuldig gewesen ist. Kommen Sie.“

„Danke!“

„Nicht? Warum?“

„Was nützt mir Ihr Glück! Ich werde Ihnen einen senden, dem es mehr Vorteil bringen wird als mir.“

„Wen meinen Sie?“

„Warten Sie es ab. Gute Nacht.“

Er lief davon, und zwar begab er sich nach der Wohnung der Familien Königsau. Die Mitglieder derselben befanden sich in der besten Stimmung, als der Diener einen fremden Herrn meldete.

„So spät noch!“ sagte der alte Hugo. „Wie heißt er?“

„Er nannte sich der Tier- und Kunstmaler Hieronymus Aurelius Schneffke.“

„Ah, unser Dicker!“ lachte Richard. „Der mag sofort kommen.“

Und als der Maler eintrat, faßte er ihn bei der Hand, führte ihn zum Großvater und sagte:

„Hier, liebster Großvater, ist unser Freund und Künstler, dem wie es zu verdanken haben, daß ich den Vater fand.“

Der greise Herr hielt Schneffke die Hand entgegen und sagte:

„Ich danke Ihnen! Seien Sie uns willkommen. Setzten Sie sich und nehmen Sie mit teil an der Freude, die wir wohl nur Ihnen verdanken.“

„Mir? O nein.“

„Wem sonst?“

„Meinem Pech. Ich habe nämlich das Unglück, jeden Stein, über den man stolpern, und jedes Loch, in welches man stürzen kann, immer mitten auf meinem Weg zu finden.“

„Aber Sie scheinen sich sehr wohl dabei zu fühlen“, meinte Hugo, indem er seinen Blick über die wohlbeleibte Gestalt gleiten ließ.

„Gott sei Dank, ja! Das Purzeln bekommt mir äußerst gut! Verstauchen kann ich mir nichts, brechen noch weniger, und so will ich denn so weiterpurzeln wie bisher.“

„Viel Glück dabei! Also nehmen Sie Platz.“

„Gern, Herr Rittmeister. Aber ich habe vorher eine Botschaft.“

„An wen?“

„An den Herrn Wachtmeister Schneeberg.“

„Bitte, Sie meinen wohl den Herrn Wachtmeister von Goldberg?“

Der Dicke verzog sein Gesicht zu frohem Grinsen und rief aus:

„Sackerment! So ist diese Geschichte also bereits heute abend zur Perfektion gekommen?“

„Ja.“

„So gratuliere ich aus ganzem Herzen, Herr Wachtmeister. Übrigens wird es sich bald ausgewachtmeistert haben. Ein Herr von Goldberg kann nur als Offizier existieren. Ich bin doch neugierig, wessen verlorener Sohn ich einmal sein werde. Es muß äußerst angenehm sein, die Himmelsleiter ganz unbewußt emporzusteigen, bis man erwacht, weil man mit der Nase an einen Grafen oder General gestoßen ist. Unter diesen Verhältnissen wird meine Botschaft allerdings weniger Wert besitzen.“

„Was bringen Sie denn, lieber Freund?“ fragte Fritz.

„Mit den Bas-Montagnes ist es glatt geworden.“

„Wieso?“

„Der Baron hat seinen Vater gefunden.“

„Wann? Wo?“

„Heute abend. Hier in Berlin, wo der alte Herr in größter Verborgenheit lebte, von mir aber entdeckt wurde.“

„Sie sind wirklich ein Tausendsassa!“

„Die Folge davon ist sehr erfreulich. Es hat sich herausgestellt, daß Frau Amély unschuldig ist, daß also auf den beiden jungen Damen nicht der mindeste Makel haftet. Und die Hauptsache: Es ist nun über allem Zweifel erhaben, daß die beiden Demoiselles wirklich die Töchter des Barons sind. Dieser letztere ist soeben von seinem Vater zu Fräulein Nanon zurückgekehrt. Beide sind allein; beide befinden sich in der glückseligsten Stimmung, und wenn der Herr Wachtmeister Schneeb – wollte sagen Goldberg –“

„Schön, schön!“ rief Fritz ein. „Gut, sehr gut! Ich danke Ihnen, lieber Schneffke, und werde Ihren Wink auf der Stelle befolgen. Meine Herrschaften, Sie entschuldigen. Ich muß dem Baron de Bas-Montagne unbedingt sogleich gratulieren. In spätestens einer halben Stunde bin ich wieder zurück.“

Er hatte während der letzten Worte den abgelegten Säbel umgeschnallt und eilte zur Tür hinaus. –

Wir wenden uns noch einmal der Untersuchung zu, die gegen Rallion, sowie gegen den Vater Main und Genossen schwebte.

Bei einem dieser Verhöre wurde Graf Rallion vorgeführt.

Die Nachricht von dem Tod seines Sohnes hatte ihn tief getroffen; der Anblick des Kapitäns wirkte fast betäubend auf ihn; er vermochte nicht, die Geständnisse desselben zu entkräften. Er gestand, und man legte ihn in ein sehr sorgsames Gewahrsam bis zu der Entscheidung, welche Behörde für ihn zuständig sei.

Ebenso wurde mit Vater Main verfahren. Er hatte nur in Frankreich gesündigt; er mußte nach dem Friedensschluß dem französischen Strafrichter übergeben werden.

Der Krämer kehrte bereits nach wenigen Tagen von seiner Reise zurück. Seine Frau hat nie erfahren, welcher Ort das Ziel derselben gewesen ist. –

Nach den ruhmreichen Tagen von Sedan traten die deutschen Heere den Marsch nach Paris an. Der junge Graf Lemarch oder eigentlich von Goldberg erhielt die Erlaubnis, sich dem Heer als Krankenpfleger anzuschließen. So blieb er in der Nähe seiner Madelon.

Noch am Tag nach der Schlacht von Sedan hatte Richard von Königsau zwei Depeschen abgehen lassen. Die eine war an den Grafen von Goldberg gerichtet; infolge derselben setzte er sich mit seiner Gemahlin sofort in die Eisenbahn und gelangte bereits am dritten Tag nach Schloß Malineau, wo er sich dem General von Latreau vorstellte. Die zweite Depesche gelangte auf dem Umweg über die Schweiz an den Grafen Lemarch, welcher sich sofort nach demselben Ziel aufmachte.

Doch Schloß Malineau sollte noch mehrere Gäste sehen.

Die günstige Marschrichtung des deutschen Heeres brachte für die Beteiligten die Möglichkeit mit sich, einen kurzen Urlaub zu erhalten, und so kam es, daß eines schönen Tages mehrere Wagen und Reiter vor dem Portal hielten, denen als der erste – Herr Tier- und Kunstmaler Hieronymus Aurelius Schneffke, die Gäste bewillkommnend, entgegentrat.

„Sie hier, Herr Feldwebel?“ fragte Major Richard erstaunt.

„Zu Befehl, ja!“ antwortete er. Und auf seine angeschwollene und verbundene Stirn deutend, fuhr er fort: „Der Pudding, der mir den Schädel gestreift hat, ist von verflucht festem Teig gewesen. Um zwei Haare breit weiter nach hinten, so wäre eins verloren gewesen, entweder mein Kopf oder die Kanonenkugel. Ich dachte, daß mir nur die Haut abgeschürft worden sei; aber die Herren Doktors behaupten steif und fest, daß ich auch noch tiefer, nämlich am Verstand gelitten habe, und so ist mir die Erlaubnis geworden, mir meine fünf Sinne von der dicken Marie Melac wieder in Ordnung bringen zu lassen. Ich glaube, das kann nur durch eine fidele Trauungszeremonie geschehen.“

Nun gab es zunächst ein Bewillkommnen, Verbeugen, Begrüßen und Händeschütteln. Dann ein wirres Durcheinander von Fragen und Antworten. Hierauf setzte man sich zur Tafel, und erst dann war es den einzelnen, welche sich zu- und nacheinander sehnten, möglich, sich hier oder da unter vier oder mehr Augen zu finden, zu sprechen und – – – zu küssen.

Der alte Graf und General Lemarch erfuhren, was der Bajazzo, den übrigens eine lebenslängliche Zuchthausstrafe erwartete, in Berlin über den Kindesraub ausgesagt hatte. Er war von Richemonte und Rallion dazu gedungen worden. Lemarch mußte wohl oder übel zugeben, daß sein bisheriger Sohn das Kind Goldbergs sei, erhielt aber die Versicherung, daß er trotzdem Vaterrechte behalten solle, falls er zugebe, daß die beiden Brüder sich von den beiden Schwestern Nanon und Madelon die weißen Bräutigamhandschuhe schenken lassen dürften.

Richard von Königsau stellte den Seinen die schöne Marion vor und hatte die Freude, sie von Vater und Großvater unter den innigsten Segenswünschen umarmt zu sehen.

Da stand Deep-hill oder Baron Gaston von Bas-Montagne von ferne und warf einen sehnsüchtigen Blick auf Emma von Königsau. Sie trat auf ihn zu, ergriff ihn bei der Hand und fragte:

„Hassen Sie immer noch die Deutschen?“

„Hassen? O, was sind das doch für prächtige Menschen!“

„Und ich?“

„Sie sind von allen die Prächtigste. Soll ich Ihnen diese Überzeugung mein ganzes Leben hindurch beweisen?“

„Würde Sie das glücklich machen?“

„Unendlich!“

„Nun gut! Ich will versuchen, Ihnen alles Leid, was Ihnen das Leben gebracht hat, vergessen zu lassen.“

Sie reichten sich die Hände. Das sahen zwei andere und sofort steckten auch sie ihre Hände einander entgegen: Arthur von Hohenthal und Ella von Latreau.

Nur ein Umstand warf einen leisen Schatten auf das Glück der Betreffenden. Nämlich Hassan der Zauberer und Saadi waren vorgestern von Schloß Malineau verschwunden und mit ihnen – Liama. Der erstere hatte, da er französisch schreiben konnte, einen Brief hinterlassen, in welchem er sagte, daß Liama zu Saadi gehöre, daß sie sich nie glücklich in abendländischen Verhältnissen fühlen würde und daß sie also mit dem Geliebten gehe, um sich eine sonnige Oase zu suchen, wo sie unter Palmen segnend an Marion denken könne, ohne dem Glück derselben hinderlich zu sein.

„Nun habe ich niemand als nur dich!“ sagte Marion weinend und doch glücklich zu Richard.

„Klage nicht, mein Leben“, antwortete er. „Liama war lange Jahre für dich tot. Sie ist dir wieder erschienen, um dich zu segnen. Sie wäre doch hier eine Fremde in der Fremde geblieben.“ –

Es versteht sich von selbst, daß an eine sofortige Vermählung dieser Paare nicht gedacht werden konnte. Noch stand das von Napoleon heraufbeschworene Gewitter donnernd am Himmel, und die Blitze zuckten ebenso drohend wie vorher. Man mußte scheiden.

Als aber dann die Friedensbotschaft durch die Gaue erklang und der neuerrichtete deutsche Kaiserthron seine Strahlen siegreich leuchten ließ, da fanden sie sich zusammen, und selbst Doktor Bertrand verließ die Mosel, um sich an der Spree eine Heimat zu gründen, welche ihm erlaubte, denen, die er liebte und schätzte, nahe zu sein.

Auch Freund Schneffke wurde glücklich mit seiner dicken Marie, denn durch die fürstliche Belohnung, die ihm Deep-hill aufgedrungen hatte, konnte er sorgenlos leben und wurde ein berühmter Maler.

Und die anderen, welche noch zu erwähnen wären? Denken wir lieber nicht an sie. Selbst wenn ein Mensch die härteste Strafe verdient, ist es für ein fühlendes Herz quälend, sein Schmerzgeschrei zu vernehmen. So fand Deep-hill seinen alten Vater, als er nochmals zu ihm zurückkehrte, tot im Bett liegen, er hatte sich selbst gerichtet. Und so ist Kapitän Richemonte gestorben unter körperlichen und geistigen Qualen, die jeder Beschreibung spotten. Die, an denen er sündigte, haben ihm vergeben.

Wer heute hinter Bouillon am Wasser entlanggeht und sich dann links hinauf zur Höhe wendet, der findet im Wald eine Stelle, deren Grasdecke tief eingesunken ist.

„Hier hat eine Kriegskasse gelegen“, sagen die Leute.

Aber wer sie hinweggeholt hat, das weiß außer einigen niemand; darüber schweigt die Geschichte und also auch – – – der Verfasser. – – –

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