SECHSTES KAPITEL Handstreich der Husaren

Am nächsten Tag hielt eine Equipage vor dem Tor des Schlosses Malineau. Der Graf von Latreau stieg aus und wurde von seiner Tochter auf das herzlichste bewillkommnet. Er hatte Vater Main, seinen Gefangenen, nach Metz geschafft, um ihn der dortigen Behörde zu übergeben. Sein Abschied war für längere Zeit berechnet gewesen; darum hatte Ella ihn noch nicht zurückerwartet. Als sie ihm, auf seinem Zimmer angekommen, dies sagte, schüttelte er traurig den Kopf.

„Mein Kind, ich konnte nicht länger dort verweilen“, erklärte er. „Es wäre mir sonst vielleicht unmöglich gewesen, vor Monaten zu dir zurückzukehren.“

„Warum?“ fragte sie erstaunt.

„Ich bin zu alt, um persönlich in den Gang der Ereignisse einzugreifen. Ich konnte nur Rat geben! Man hat meine Ansichten berücksichtigt, soweit es möglich war; aber daß alle, alle, alle Schlachten und Gefechte für uns verloren gingen, das konnte man nicht wissen. Metz sieht einer schweren, langwierigen Belagerung entgegen. Ich habe es verlassen, um bei dir zu sein. Bereits morgen vielleicht hätte ich nicht mehr zu dir gelangen können.“

„Mein Gott! So sind die Deutschen so nahe?“

„Ich befürchte, daß wir sie auch hier in Malineau sehen werden.“

„Wie du mich erschreckst!“

„Fürchte dich nicht. Es sind keine Barbaren. Nur kenntnislose Leute können von ihnen als von halbwilden Leuten sprechen. Ich möchte mich fast schämen, wenn ich sage, daß wir sehr, sehr viel von ihnen lernen können. Gerade jetzt geben sie uns eine Lehre nach der anderen. Leider ist das Honorar, welches wir dafür zahlen müssen, so ein hohes, daß man weinen möchte – Menschenblut!“

Die Nachricht, welche er mitgebracht hatte, verbreitete sich schnell unter den übrigen Bewohnern des Schlosses. Sie war aufregend genug, und doch gab es drei Personen, welchen es nicht einfiel, ein Jammergeschrei anzustimmen, nämlich der Beschließer Melac mit Frau und Enkelin.

Diese drei saßen noch spät am Abend beisammen. Alice befand sich bei ihnen. Sie sprachen natürlich über die Ereignisse der Gegenwart und tauschten ihre Meinungen darüber aus. Da klopfte es leise an den Laden.

Sie glaubten sich getäuscht zu haben, aber das Klopfen wiederholte sich. Melac öffnete daher das Fenster.

„Wer klopft da?“ fragte er.

„Bitte, öffnen Sie mir den Eingang, Monsieur Melac. Ich bin es. Martin, der Weinhändler.“

„Ah, Martin!“ rief Alice. „Geschwind, Monsieur, öffnen Sie; schnell, schnell!“

Der Alte schloß das Fenster, nickte ihr freundlich zu und sagte:

„Meine Beine sind alt und müde. Hier ist der Schlüssel, öffnen Sie, Mademoiselle!“

Sie errötete, ließ es sich aber nicht zweimal sagen. Draußen im Flur brannte kein Licht mehr, denn die Herrschaften hatten sich bereits zur Ruhe begeben.

„Martin, wirklich?“ fragte sie, indem sie öffnete.

„Ja. Ah, du, mein Schwälbchen. Wart, her mit dem Schnäbelchen! So! Das war herzhaft! Noch einmal!“

„Nein, nein! Sie merken es sonst drin.“

„Ist jemand Fremder bei ihnen?“

„Nein.“

„Das ist gut. Komm!“

Er trat mit ihr, nachdem das Tor verschlossen war, in die Stube. Erst jetzt bemerkte Alice, daß er den rechten Arm in einer Binde trug.

„Herr, mein Gott!“ schrie sie auf. „Was ist mit dir? Was hast du gemacht?“

„Verwundet bin ich, mein Kind.“

„Verwundet? Mein Heiland! Wann ist denn das geschehen und wo? Ist's gefährlich?“

„Nein; an das Leben geht es nicht. Es ist weiter nichts, als ein tüchtiger Säbelhieb.“

„Von wem denn?“

„Von einem preußischen Husaren.“

„Der Unmensch, der! Oh, diese Preußen! Diese Husaren! Und die Ulanen sollen noch schlimmer sein.“

„Ja, Kind, das sagt man.“

„Bist du denn gut verbunden? Wird es wieder ganz, ganz heil werden?“

„Ja. Das Wundfieber ist vorüber. Ich lag im Lazarett. Da dachte ich an dich und an den guten Papa Melac. Ich habe keinen Menschen, an den ich mich wenden kann, und da dachte ich, du gehst nach Malineau. Vielleicht erlaubt man dir, dort zu bleiben, bis du wieder eintreten kannst.“

„Natürlich, natürlich, mein bester Monsieur Martin!“ sagte Melac eifrig. „Der gnädige Herr wird sich freuen und die gnädige Demoiselle auch. Sie spricht so gern von Ihnen und Monsieur Belmonte. Wie geht es ihm?“

„Dank, gut! Er steht bei meiner Schwadron.“

„Er ist doch nicht etwa auch verwundet?“

„Nein, er läßt herzlichst grüßen. Eigentlich hat er mich auf den Gedanken gebracht, nach Malineau zu gehen. Er sagte scherzend, daß er nachkommen werde, wenn er auch so eine Schramme bekäme wie ich.“

„Davor wollte ihn unser Herrgott in Gnaden behüten!“ sagte Frau Melac, indem sie die Hände faltete. „Sie aber, Monsieur Martin, sollen bei uns nach Kräften gepflegt werden. Ich gehe jetzt, um Ihnen das zweifenstrige Gaststübchen, welches gleich neben unserer Wohnung liegt, zu öffnen.“

„Ja, tue das, meine Liebe!“ sagte ihr Mann. „Wir werden einstweilen – – – ah, Monsieur Martin, das ist schade, jammerschade!“

„Was?“

„Daß Sie keinen Wein trinken dürfen.“

„Warum nicht?“

„Sie sind ja blessiert, und ich weiß, daß Verwundete sich vor Wein und ähnlichen Getränken hüten müssen.“

„Das liegt aber bei mir anders. Ich bin ja Weinhändler. Der Wein ist mir Notwendigkeit geworden. Der Regimentsarzt, welcher mich behandelte, hat mir streng befohlen, ja nicht etwa dem Wein zu entsagen. Er meinte, diese Abweichung von meinen Lebensgewohnheiten könne mir nur schaden. Wenn ich Wasser tränke, würden meine Säfte verderben; dann könne Blutvergiftung eintreten und ich wäre rettungslos verloren –“

„Herr Jesus!“ rief Alice, indem sie einen rührenden, bittenden Blick auf Melac warf.

Dieser nickte ihr beruhigend zu und sagte:

„Wenn so ein Arzt das sagt, so müssen Sie gehorchen. Ich werde also eine Flasche holen, und während wir trinken und dabei eine Zigarre rauchen, werden Sie die Güte haben, uns vom Krieg zu erzählen.“

Das geschah. Sie saßen noch lange Zeit beisammen. Martin schimpfte nach Herzenslust auf die verhaßten Deutschen und mußte fast gezwungen werden, endlich das Bett aufzusuchen.

Als die Familie Melac sich allein befand, fragte die Mama:

„Höre, meinst du, daß die Deutschen wirklich so schlecht sind, Vater?“

„Nein. Dieser Monsieur Martin zürnt ihnen, weil er von ihnen verwundet worden ist. Er ist ein Provenzale, und diese Südländer tragen immer in starken Farben auf. Ich hoffe zu Gott, daß die Deutschen siegen werden.“

Erst am anderen Morgen konnte dem Grafen gemeldet werden, daß sich ein Verwundeter im Schloß befinde. Als er erfuhr, wer dieser war, lobte er Melac, daß er ihn aufgenommen habe. Er ließ sogar Martin zu sich kommen und lud ihn zur Tafel ein, wo Alice ihn speisen mußte, wie eine Mutter ihr unbehilfliches Kindchen.

Nach der Mittagszeit ließ sich ein ununterbrochenes dumpfes Rollen vernehmen, fast so, als ob ein Erdbeben stattfinde. Als Ella fragte, erklärte der Graf:

„Das ist Kanonendonner, mein Kind.“

„Also eine Schlacht?“

„Ja, und zwar eine bedeutende, eine fürchterliche. Dieses Rollen wird hervorgebracht durch hunderte von Geschützen. Gott möge uns in Gnaden bewahren, daß das Morden nicht auch in diese Gegend komme.“

Der ganze Tag wurde in ängstlicher Erwartung verbracht. Der General sandte Boten aus, um Erkundigungen einzuziehen, konnte aber nichts Gewisses erfahren.

Wohl über neun Stunden lang hatte der Kanonendonner gewährt; da endlich schwieg er. Der General saß mit Ella, Marion und Alice beim Abendmahl. Liama war nicht zugegen; sie pflegte ihr Zimmer nur auf Minuten zu verlassen.

Die am ganzen Tag gehegte Besorgnis war gewichen. Man begann, sich freier zu unterhalten. Da trat der Diener ein und meldete Herrn Berteu.

„Berteu?“ fragte der Graf. „Welcher Berteu?“

„Der unserige, Exzellenz.“

„Der Sohn des toten Verwalters?“

„Ja.“

„Für ihn bin ich nicht zu sprechen.“

„Er behauptet, in einer höchst wichtigen Angelegenheit, die nicht aufgeschoben werden könne, zu kommen.“

„Und wenn sie für ihn noch so wichtig ist. Für mich kann nichts so wichtig sein, daß es mich veranlassen kann, einen solchen Menschen zu empfangen.“

Der Diener ging, kehrte aber sofort zurück.

„Verzeihung, Exzellenz! Er läßt sich wirklich nicht abweisen.“

„Wirf ihn hinaus!“

„Er sagt, daß – – – ah, da ist er!“

Der Diener zog sich durch die Tür zurück, durch welche Berteu eingetreten war. Er trug eine dunkle Bluse mit rotem Kragen und auf seinem Kopf ein Käppi mit goldener Tresse. Ein Säbel hing an seiner Seite.

„Ich höre, daß man mich nicht einlassen will“, sagte er in barschem Ton. „Wer hat diesen Befehl gegeben?“

„Ich“, sagte der General. „Gehen Sie.“

„Ich lasse mir einen solchen Befehl nicht – – –“

„Hinaus!“ rief der Graf, indem er sich erhob und nach dem Glockenzug griff.

Und als Berteu die Achsel zuckte, ohne zu gehorchen, schellte er, daß es im ganzen Schloß widerhallte. Die Diener kamen herbeigestürzt und Melac auch.

„Schafft augenblicklich diesen Menschen fort!“ befahl er.

Aber sein Befehl fand keinen Gehorsam.

„Nun?“ rief er drohend.

„Gnädiger Herr, es geht nicht“, sagte Melac.

„Was? Warum nicht?“ fragte der Graf zornig. „Seit wann gebe ich Befehle, welche nicht auszuführen sind?“

„Unten – – –“

„Nun, was ist unten?“

„Unten stehen seine Leute, über dreihundert Mann.“

„Was für Leute?“

Und als der Gefragte nicht sogleich antwortete, trat Berteu noch einen Schritt näher und sagte:

„Ja, das ist eine Überraschung. Wir kamen so leise, daß uns kein Mensch hörte. Jetzt aber wird man Ohren für uns haben müssen.“

„Was will dieser Mensch?“ fragte der General, sich abermals an Melac wendend. „Warum behält er die Mütze auf? Seit wann duldet ein Diener so ruhig, daß sein Herr beschimpft wird?“

„Von einer Beschimpfung ist keine Rede“, sagte Berteu. „Ich bin es, der hier Achtung zu verlangen hat. Ich erkläre, daß ich von jetzt an hier mein Hauptquartier aufzuschlagen gedenke, Herr von Latreau.“

„Hauptquartier? Verstehe ich recht?“

„Ja. Ich bin Kommandant eines ganzen Bataillons Franctireurs. Ich werde hier wohnen und verlange, daß meine Soldaten Pflege und Unterkommen finden.“



„Lächerlich!“

„Oho. Haben Sie nicht den Kanonendonner gehört? Unsere Armee ist in einer neun Stunden langen Schlacht abermals total aufs Haupt geschlagen worden. Die Truppen des Kronprinzen von Preußen sind in Chalons eingezogen. Zwei deutsche Armeen sind auf dem Marsch nach Paris. Thiers hat beantragt, den Kaiser abzusetzen. Man wird es genehmigen. Da haben Sie alles. Jetzt wird das Volk sich erheben. Der Arbeiter wird zu seinem Recht gelangen. Wir bilden Regimenter und Divisionen, unter deren Fußtritten die Erde erzittern wird. Wir werden den Erbfeind über die Grenze werfen, um ihn in seinem eigenen Land zu zermalmen. Dazu aber bedürfen wir wenigstens ebenso viel, wie die Heere gebraucht haben, welche nichts anderes konnten, als sich von den Deutschen schlagen zu lassen. Ich stehe hier als Kommandant meiner Truppen und verlange Quartier und Verpflegung.“

„Kein einziges Zimmer erhalten Sie!“

„Oho.“

„Und keinen Schluck Wasser. Ehrenhafte Soldaten muß und werde ich bei mir aufnehmen. Schurken aber jage ich fort.“

„Gut! Merken Sie sich, daß sie uns Schurken genannt haben! Was man uns nicht gibt, das werden wir uns nehmen. Übrigens verlange ich unbedingte Auslieferung zweier Frauenzimmer.“

„Welcher?“

„Einer gewissen Liama und einer gewissen Marion de Sainte-Marie.“

„Die befinden sich unter meinem Schutz.“

„Sie geben sie nicht heraus?“

„Nein.“

„Wir werden sie uns holen. Der Herr Kapitän Richemonte, unser Oberst, wird bald eintreffen. Ihm haben wir sie abzuliefern.“

„Er mag sie sich holen.“

„Ah! Tun Sie nicht so stolz, alter Mann! Wen haben Sie denn, der Ihnen helfen könnte? Zwei Diener und den Schließer. Die werden wir einfach mit dem Besen aus dem Schloß fegen, wenn sie sich nicht fügen.“

Er ging.

„Herrgott“, sagte Ella. „Großpapa, was fangen wir an?“

„Kommt schnell nach meiner Bibliothek. Bringt Wasser und Speisen! Schnell, schnell!“

Die Diener sprangen, während der Graf hinauseilte, um die starke Korridortür zu schließen und zu verbarrikadieren. Der wackere Melac hatte dasselbe auch mit der großen Eingangstür getan, sobald Berteu hinaus in den Hof getreten war. Als dann Einlaß begehrt wurde, waren genug Vorräte zusammengetragen worden, um eine kleine Belagerung aushalten zu können.

Melac hatte seine Frau und seine Enkelin mit nach oben genommen, dabei aber – Martin vergessen.

Jetzt hatten die Franctireurs ihre Beratung beendet. Sie klopften unten an. Als nicht geöffnet wurde, begannen sie Gewalt anzuwenden.

Der Graf stand oben an einem dunklen Fenster und sah hinab, ohne daß man ihn von unten bemerken konnte.

„Wahrhaftig, das sind wenigstens dreihundert Mann“, sagte er. „Man wird uns zu tun geben.“

„Großpapa, du willst dich doch nicht wehren“, bat Ella in größter Besorgnis.

„Warum nicht?“

„So wenige gegen so viele!“

„Kind, wir dürfen uns nicht freiwillig ergeben. Ich bin Offizier. Ich sterbe lieber, als daß ich mir von diesem Berteu Befehle erteilen lasse.“

„Ja, wir verteidigen uns“, sagte Marion kaltblütig. „Geben Sie mir ein Gewehr, Exzellenz!“

Jetzt hatten die Franctireurs unten den Eingang demoliert. Sie drangen in das Schloß und die Treppe empor. Hier begannen sie die verschanzte Tür zu bearbeiten. Da ertönte von innen die Stimme des Grafen:

„Weicht zurück! Wir werden uns verteidigen.“

Ein neuer Kolbenstoß war die Antwort. Die Tür erzitterte unter den Stößen. Da aber krachte im Innern ein Schuß. Die Kugel durchschlug die Türe und verwundete einen der Franctireurs am Arme.

„Donnerwetter! Ich bin getroffen“, schrie er laut, indem er schleunigst zurückwich.

Die anderen folgten. Aber die hinteren drängten vor, und ganz hinten befahl Berteu:

„Zerschlagt die Tür! Wir müssen hinein.“

Einige Beherzte gehorchten diesem Ruf. Kaum aber hatten sie ihre Arbeit begonnen, so krachten mehrere Schüsse, und abermals wurde einer verwundet.

Sich niederschießen zu lassen, dazu waren diese Menschen freilich nicht hierher gekommen. Sie zogen sich zurück und begannen Beratung zu halten.

„Der Graf hat mich getroffen“, meinte der zuerst Verwundete. „Blut um Blut.“

Der andere Blessierte stimmte bei. Andere waren dagegen. Da sagte Berteu:

„Unsinn! Warum wollen wir das Leben riskieren? Dieser alte General hat da oben ein ganzes Zimmer voller Waffen. Wir hungern sie aus!“

„Dann sitzen wir in vierzehn Tagen noch da“, sagte ein stämmiger Schmied. „Laßt mich nur machen! Wir müssen ganz ruhig sein, damit sie denken, daß wir den Angriff aufgegeben haben. Dann aber rennen wir mit einem gewaltigen Stoß die Tür in Stücke.“

Er ging mit noch einigen anderen nach dem Ökonomiegebäude. Bereits nach kurzer Zeit brachten sie zwei Pflugschare geschleppt. Die kräftigsten Männer wurden ausgewählt, und dann ging man ans Werk. Während das Gros der Franctireurs vor dem Schloß lärmen mußte, um die Aufmerksamkeit der Belagerten auf sich zu ziehen, schlichen sich diese Leute leise bis zur Tür. Es gab einen fürchterlichen Krach; die Tür, für solche Angriffe nicht gefertigt, prasselte auseinander. Der eine Flügel war aus den Angeln gerissen worden und fiel in den Korridor hinein.

Zwar gaben die Belagerten sofort einige Schüsse ab, welche aber nicht trafen, da die Stürmenden zur Seite gesprungen waren und man überhaupt die Vorsicht gebraucht hatte, kein Licht zu verwenden. Ein Zielen war also dem General unmöglich.

Aber kaum, daß er seine Schüsse abgegeben hatte, drangen die Franctireurs zur Treppe wieder empor und drückten ihre Gewehre aufs Geratewohl ab. Die Kugeln pfiffen in den Korridor, trafen aber nicht, weil derselbe schleunigst geräumt war.

Unter lautem Jubel drangen die Franctireurs ein. Der Graf hatte mit seinem Scharfblick erkannt, daß mit so wenigen Personen eine ganze Zimmerreihe nicht zu halten sei. Darum hatte er, während er im Korridor den Eingang verteidigte, den Befehl gegeben, die Waffen und Nahrungsmittel nach zwei Turmzimmern am Giebel zu bringen. Dies geschah, und dorthin zog auch er sich schnell zurück. Die Tür wurde verschlossen und so gut wie möglich verrammelt. Draußen kamen die Franctireurs näher.

Als sie sich aber auch an dieser Tür zu schaffen machten, krachten drin vier oder fünf Schüsse. Das Holz war nicht stark. Die Kugeln drangen leicht durch, und mehrere wurden verwundet. Da zogen sie sich zurück, und einer rief voller Wut:

„Setzen wir den roten Hahn aufs Dach!“

„Unsinn!“ rief Berteu. „Das Schloß gehört uns. Wollen wir unser Eigentum vernichten? Sehen wir lieber, was es enthält. Wir werden vieles finden, was wir gebrauchen können!“

Diese Vorschlag rief ungeheuren Jubel hervor. Die Bande zerstreute sich augenblicklich in alle Räume des Schlosses.

In der Nähe der Turmzimmer wurde es ruhig. Darum kam es, daß die jetzigen Insassen desselben das Klirren mehrerer Steinchen gegen die Fenster vernahmen. Sie traten hinzu, um zu sehen, was das zu bedeuten habe, und erblickten eine männliche Gestalt.

„Herr Jesus!“ sagte Melac. „Monsieur Martin. Den habe ich ganz und gar vergessen!“

„Ist er es wirklich?“ fragte der General.

„Ja. Er trägt den Arm in der Binde.“

„So müssen wir erfahren, was er will.“

Latreau öffnete und fragte hinab:

„Monsieur Martin? Was wollen Sie?“

„Halten Sie aus. Ich bringe Hilfe.“

„Bis wann?“

„Das weiß ich nicht genau, ich bringe sie aber jedenfalls.“

Er hatte ohne Licht in seinem Zimmer gesessen, und da die Läden geschlossen worden waren, so hatte er von dem Nahen der Franctireurs nichts bemerkt. Erst als sie in das Schloß drangen, merkte er, woran er war. Da sie alle nach der großen Treppe drängten, konnte er seine Tür unbemerkt ein wenig öffnen. Er hörte, was sie sprachen; er vernahm, daß Liama und Marion an den alten Kapitän ausgeliefert werden sollten.

Das durfte nicht geschehen. Er öffnete Fenster und Laden und sprang heraus. Kein Mensch bemerkte das, denn alle befanden sich im Schloß. Er musterte die Fenster desselben und bemerkte an dem Lichtschein, daß sich die Überfallenen nach den Turmzimmern zurückzogen.

Er begab sich also nach der Giebelseite und warf einige aufgeraffte Steinchen an das Fenster. Nachdem er versprochen hatte, Hilfe zu holen, eilte er nach dem Wirtschaftsgebäude. An der Tür desselben stand ein Mann.

„Wer sind Sie?“ fragte Martin.

„Der Kutscher.“

„Lieben Sie denn Ihren Herrn?“

„Ach ja.“

„Sie gehören also wirklich nicht zu den Franctireurs?“

„Nein. Diese Spitzbuben haben vorhin zwei Pflugschare gestohlen.“

„Das ist das wenigste, was zu beklagen ist. Sie wünschen natürlich, daß Ihre Herrschaft gerettet werde?“

„Das versteht sich.“

„Nun, so geben Sie mir ein Pferd. Ich will Hilfe holen.“

„Wo?“

„Aus der Gegend von Metz. Wer hat den Stallschlüssel?“

„Ich! Wer sind Sie denn?“

„Ein guter Freund von Monsieur Melac.“

„Mit verbundenem Arm? Sie sind Soldat?“

„Das ist Nebensache. Geben Sie mir nur den Schlüssel. Es ist keine Zeit zu verlieren!“

Da richtete der andere seine Gestalt empor und sagte, höhnisch lachend:

„Sehr gescheit sind Sie nicht, mein Lieber!“

„Warum?“

„Daß Sie so hübsch aus der Schule schwatzen. Das fehlte noch, Hilfe holen. Sie sind mein Gefangener.“

„Donnerwetter!“

„Ja“, nickte der Mann, der eine riesige Figur besaß. „Der Schlüssel zum Stall ist da in meiner Tasche; aber der Kutscher liegt gebunden im Stall. Er wollte uns die Pflugschar nicht nehmen lassen.“

„So sind Sie Franctireur?“

„Ja. Ich arretiere Sie.“

Er langte neben sich an die Mauer, wo seine Büchse lehnte, und fügte drohend hinzu:

„Ergeben Sie sich gutwillig. Sonst muß ich Sie erschießen!“

„Sapperment. Mich erschießen lassen, das ist nun gerade meine Leidenschaft nicht.“

„Also! Lassen Sie sich einschließen?“

„Hier in den Stall?“

„Ja, das ist das Gefängnis!“

„So muß ich mich fügen. Erschießen lasse ich mich auf keinen Fall. Man lebt nur einmal.“

„Richtig. Kommen Sie!“

Er schob Martin vor sich her nach der Stalltür zu. Da zog er den Schlüssel heraus und steckte ihn in das Schloß. Er war dabei gezwungen, sich abzuwenden.

„Eigentlich brauchten Sie sich nicht hierher zu bemühen“, meinte Martin in höflichem Ton.

„Warum?“

„Ich kann mir selbst öffnen.“

„Oho. Das ist meine Sache. Ich werde doch nicht –“

Er sprach nicht weiter; er fiel wie ein Klotz zur Erde. Er hatte von Martin einen Hieb gegen die Schläfe empfangen, der ihm die Besinnung raubte.

„So, mein Bursche“, meinte der Deutsche. „Das war ein richtiger Husarenhieb. Merke ihn dir!“

Er schloß auf, trat ein und brannte ein Streichholz an. Dort auf der Streu lag eine menschliche Gestalt.

„Kutscher?“ fragte er.

„Ja.“

„Sind Sie gefesselt?“

„Zum Teufel, freilich.“

„Na, ich werde Sie losmachen.“

Er ging hin, zog sein Messer und schnitt die Stricke durch.

„Danke schön!“ sagte der Rosselenker. „Wer sind Sie denn? Ein Franctireur wohl nicht?“

„Nein. Der General wird belagert; man plündert das Schloß. Ich will Hilfe holen.“

„Schön, schön; tun Sie das.“

„Wie viele Pferde sind hier?“

„Nur drei jetzt.“

„Eins muß ich haben. Können sie die beiden anderen nicht retten, so auf die Seite bringen?“

„O doch. Ich müßte schnell anspannen und in das Nachbardorf fahren. Beim Maire bin ich geborgen.“

„Tun Sie, was Sie denken. Draußen liegt Ihr Wächter; ich habe ihn niedergeschlagen. Schließen Sie ihn hier ein. Welches Pferd ist das schnellste?“

„Der Rotschimmel. Ich werde ihn losmachen. Soll ich satteln?“

„Daß inzwischen die Franctireurs kommen, nicht wahr? Heraus mit dem Gaul!“

Der Kutscher führte das Pferd heraus, und der Husar sprang auf. Daß er weder Sattel noch Zaum hatte, das war ihm sehr gleichgültig. Er jagte trotz der Finsternis wie der wilde Jäger davon, zunächst nach Dorf Malineau, dann durch Etain und sodann nach Fresnes zu. Dort hoffte er, Freunde zu treffen.

Ja, er stieß auf deutsche Truppen, aber die, welche er suchte, nämlich Leute von der elften Kavalleriebrigade, zu welcher sein Regiment gehörte, fand er nicht. Und doch hatte er sie eigentlich hier zu suchen.

Endlich hörte er, daß er viel, viel näher an Metz heran müsse, und richtig, im Laufe des Vormittags stieß er auf Angehörige seiner Brigade und fand endlich seinen Rittmeister in der Nähe von Trouville, an der Straße, welche von da nach Puxioux führt. Er sprang vom Pferd und begab sich sofort zu ihm.

„Du, Martin?“ sagte Hohenthal. „Schon wieder hier?“

„Ja, Herr Rittmeister. Sie schickten mich gerade zur rechten Zeit nach Malineau. Der General sitzt mit seinen Damen tief in der Patsche.“

„Wieso?“

Er erzählte das Erlebnis. Er hatte jetzt den Arm nicht in der Binde, sondern bewegte ihn nach Belieben. Als er zu Ende war, meinte Hohenthal:

„Eine dumme Geschichte. Wir hoffen, hier engagiert zu werden, wenigstens erwarten wir Order zum Vorrücken, und nun kommt diese Geschichte.“

„Wollen Sie Mademoiselle Ella sitzenlassen?“

„Ella?“ lächelte der Rittmeister. „Du meinst natürlich die andere, nämlich Alice.“

„Auch mit, aufrichtig gestanden.“

„Ich weiß nicht, ob mir der Alte die Erlaubnis gibt. Erstens geht der Ritt durch unsicheres Gebiet. Wie leicht können wir auf den Feind stoßen.“

„Wir sind Husaren, Herr Rittmeister.“

„Das ist richtig. Aber der Alte beurteilt die Angelegenheit ganz anders als wir, die wir beteiligt sind. Ferner gilt es, zu bedenken, daß die Ausräucherung eines solchen Nestes eigentlich Infanteriearbeit ist. Wir können zu Pferd das Schloß nicht stürmen.“

„Läßt sich arrangieren.“

„Etwa wie eine Partie Doppelkopf?“

„Ja. Man schneidet dem Gegner die Däuser heraus und verleitet ihn, seine hohen Trümpfe auszugeben. Dann hat man ihn im Sack. Man holt ihn aus.“

„Ganz hübsch! Hm!“

„Übrigens handelt es sich zwar nicht um Deutsche, aber –“

„Aber –?“

„Aber um den General Latreau, einen alten, braven, ehrenwerten und verdienten Offizier.“

„Das ist der Grund, auf welchen ich den Ton legen muß. Ein braver General, der sich uns gegenüber neutral verhält, soll nicht von diesen Spitzbuben ausgehungert werden. Ich gehe erst zum Obersten und dann weiter. Lege einstweilen deine Uniform an.“

Dieses letztere war bald geschehen. Der Telegraphist machte in dem schmucken Husarenanzug einen allerliebsten Eindruck. Er hatte lange zu warten, und seine Ungeduld trieb ihn hin und her. Endlich kehrte der Rittmeister zurück. Sein Gesicht leuchtete vor Freude.

„Gelungen?“ fragte Martin.

„Ja.“

„Wieviel?“

„Ganze Schwadron.“

„Heissa, heirassassa!“

„Ist mir nicht leicht geworden.“

„Aber unser Grund, wegen des alten, verdienten, ehrwürdigen Generals hat gezogen!“

„Es fiel mir noch ein weiterer ein, und der zog noch mehr. Der Ausflug soll zugleich ein Rekognitionsritt sein. Also sage es den Herren Lieutenants. In zehn Minuten muß die Schwadron zum Aufbruch bereit sein.“

Das war eine Lust, als die wackeren Burschen hörten, daß es sich um eine Franctireurbande handle. In fünf Minuten schon waren sie fertig. Dann ging es lustig nach Westen hin, zwischen Konstanz und Fresnes hindurch und auf Etain zu.

Hohenthal besaß eine ausgezeichnete Sektionskarte dieser Gegend. Er hatte ja gerade hierfür gute Gründe. So kam es, daß er alle möglichen Richtwege einschlug und jedes Zusammentreffen vermied. Auch Etain wurde nicht direkt berührt, sondern umgangen. Dann hielt die Schwadron am Rand des Waldes, und die Offiziere berieten sich noch einmal.

„Am besten wäre es, wir könnten die Kerls über den Haufen reiten und unsere Klingen an ihnen probieren“, sagte der Premier. „Erstürmen können wir das Schloß doch auf keinen Fall.“

„Das ist richtig“, meinte der Rittmeister. „He, Martin!“

Der Angerufene drängte sein Pferd herbei und salutierte.

„Sagtest du nicht, daß so ein Schuft am Stall Wache gehalten habe?“

„Ja. Er weiß, daß ich Hilfe holen will.“

„Das ist ja famos!“

„Verzeihung! Ich dachte, ich hätte eine Dummheit begangen.“

„Eigentlich, ja; in diesem Fall aber doch nicht. Man wird uns erwarten. Lieutenant von Hornberg, Sie reiten mit Ihrem Zug langsam nach Malineau, lassen sich aber in nichts ein. Ihre Aufgabe ist es, die Aufmerksamkeit dieser Kerls auf sich zu lenken. Unterdessen machen wir einen Umweg, um von der anderen Seite nach Malineau zu kommen. Ich sehe hier auf meiner Karte so einen Weg, der uns passen könnte. Nehmen Sie an, daß wir in dreiviertel Stunden dort sein werden. Sie kommen zu dieser Zeit dort und plänkeln mit den Kerls ein bißchen hin und her, damit ich sie auf passendes Terrain bekomme, am liebsten gleich vor die Front des Schlosses. Dann fegen wir sie über den Haufen. Scharfe Hiebe, Kinder, scharfe Hiebe, aber nicht zu Tode. Höchstens, wenn sie anfangen sollten, unhöflich zu werden, dann ändern wir das Ding. Also, vorwärts, Leute!“

Der Nachmittag war angebrochen. In und um Malineau sah es übel aus. Man hatte die Möbel aus dem Schloß geschafft, auf einen Haufen geworfen und angebrannt. Aus Rache, daß der Wächter geschlagen und eingeschlossen worden war, hatte man auch das Wirtschaftsgebäude angesteckt. Es brannte lichterloh, und kein Mensch dachte an das Löschen.

Der Keller enthielt viel Wein. Die Franctireurs waren über den Vorrat geraten und befanden sich nun in einem aufgeregten Zustand. Die Fenster wurden zertrümmert. Man hatte nicht viel Geld gefunden und verlangte doch welches. Der General sollte es schaffen. Es war eine Deputation an ihn abgeschickt worden, welche die Kleinigkeit von einer Million Franken verlangt hatte. Er hatte mit dem Gewehr geantwortet.

Das verdoppelte den Grimm. Und nun hatte man dem Grafen das Ultimatum bekannt gegeben: Wenn er bis heute abend zehn Uhr nicht die verlangte Summe schaffe, so werde man das Schloß anbrennen und ihn im Feuer umkommen lassen.

Der Posten, den Martin niedergeschlagen hatte, war natürlich gefunden worden. Aus seiner Erzählung ergab es sich, daß jemand fortgeritten sei, um Hilfe für den Grafen zu holen. Daher hatte Berteu in der Gegend nach Etain Posten vorgeschoben, welche ihn von allem Auffälligen benachrichtigen sollten.

Er selbst saß in einem Zimmer des Schlosses und hörte mit Vergnügen auf die Schüsse, mit denen man die Belagerten in Atem hielt. Man schoß von innen nach der Tür, hinter welcher sie sich befanden, und von außen nach den Fenstern der beiden Turmzimmer.

Da kam einer der ausgesandten Späher eiligen Laufes über den Schloßplatz und begab sich zu dem Anführer.

„Sie kommen!“ rief er, noch ehe er die Tür hinter sich geschlossen hatte.

„Dummkopf! Weißt du nicht, was sich schickt? Hast du das Wort Disziplin und Subordination noch nicht gehört?“

„Disziplin?“ fragte der Mann erstaunt.

„Ja. Kommt man in dieser Weise in das Arbeitskabinett seines Stabsoffiziers gestürmt?“

„Stabsoffizier?“

„Natürlich! Ich bin ja Major.“

„Hm! Ich habe Sie für Herrn Berteu gehalten. Na, mir egal! Aber sie kommen!“

„Wer denn?“

„Der Feind.“

„Dummkopf! Feind. Wo denkst du hin! Es können ja doch nur Franzosen sein. Unsere regulären Truppen. Was für eine Gattung ist es?“

„Gattung?“

„Ja. Ist's Infanterie oder Artillerie?“

„Reiter.“

„Wie viele?“

„Vielleicht vierzig.“

„Wo?“

„Zwischen Etain und dem Dorf. Sie weideten ihr Pferde.“

„Wie? Was?“

„Ja, auf der Wiese.“

„Dann sind es keine Feinde. Wie sahen sie aus?“

„Rot.“

„Hm! Was hatten sie auf dem Kopf?“

„Pelzmützen mit einem roten Zipfel.“

„Sapperment! Das waren deutsche Husaren.“

„Na, dachte ich's doch!“

„Sie werden vorher füttern, daß die Pferde Kräfte bekommen, nämlich zum Angriff. Warte, ich werde mich selbst um diese Sache bekümmern.“ –

Die Belagerten hatten während der ganzen Nacht kein Auge zugetan. Sie mußten für jeden Augenblick gerüstet sein. Je wandalischer die Franctireurs sich zeigten, desto größer wurde die Gefahr, und als der General volle Weinflaschen in den Händen dieser Leute bemerkte, sagte er:

„Gott gebe, daß die Hilfe noch vor abend kommt! Wenn es dunkel wird, sind wir verloren. Diese Menschen werden betrunken sein, und dann sind sie vollständig unzurechnungsfähig.“

Die Worte brachten nicht geringe Besorgnis hervor. Marion blieb gefaßt; ihre Mutter war völlig teilnahmslos. Ella bangte mehr für den Großvater als für sich. Die Familie Melac verhielt sich still, befand sich aber in sehr gedrückter Stimmung, und die beiden Diener lugten voller Angst durch das Fenster nach der ersehnten Hilfe.

Freilich mußten sie sich sehr in acht nehmen, da die Franctireurs zu den Fenstern hereinschossen. Die Decke des Zimmers war mit Kugeln gespickt.

Da meinte einer der Diener:

„Exzellenz, es muß etwas los sein.“

„Warum?“

„Die Franctireurs laufen so auffällig nach dem Wald, dem Dorf entgegen.“

Der Graf überzeugte sich, daß der Diener recht hatte.

„Vielleicht kommt Monsieur Martin mit der ersehnten Hilfe“, sagte er. „Wehe dann diesen Menschen. Ein jeder Offizier unserer Armee wird sie sofort füsilieren lassen. Wenn es nur genug sind.“

„Sie kommen zurück!“ bemerkte Ella.

Man sah allerdings, daß die Franctireurs sich nach dem Schloß zurückzogen. Sie hatten ihre Waffen ergriffen und bildeten einzelne nach dem Dorfwäldchen gerichtete Abteilungen.

„Ah! Dort, Großpapa!“ rief Ella.

Sie deutete nach der Straße, welche vom Dorf durch das Wäldchen nach dem Schloß führte. Dort wurde der Zug Husaren sichtbar.

„O weh!“ sagte der Graf in fast stöhnendem Ton.

„Was? Das ist ja Hilfe.“

„Nein, Kind. Das sind preußische rote Husaren.“

„Herrgott! Preußen!“

„Ja, Feinde! Aber es ist wahr, Hilfe werden sie uns doch bringen, wenn sie sich überhaupt mit den Franctireurs einlassen.“

„Es sind Ihrer so wenig!“

„Avantgarde, Kind! Dahinter kommt das eigentliche Gros. Warten wir es ab.“

„Und du denkst, daß wir von ihnen nichts zu fürchten haben, Großpapa?“

„Nichts als Einquartierung.“

„Ah, wenn sie doch nur schnell kämen, sehr schnell.“

„Leider nicht! Sie steigen ab“, sagte Marion.

„Ja“, antwortete der General. „Sie sehen, daß sie zu schwach sind und erwarten die Ihrigen.“

„Werden diese bald kommen, Großpapa?“

„Wer kann das sagen! Ah! Schaut!“

Drüben am Waldsaum wurde ein leichtes Rauchwölkchen sichtbar, dann ließ sich ein einzelner scharfer Knall hören.

„Sie schießen!“ meinte Melac in frohem Ton.

„Ja, sie beginnen wirklich, sich zu rangieren. Kinder, sie bilden die Vorhut einer größeren Truppe. Wir scheinen gerettet zu sein, wenn nicht – – –“

„Was meinst du, Großpapa?“

„Wenn nicht unsere Truppen kommen, welche Monsieur Martin holt. Treffen diese auf die Deutschen, so sind beide so miteinander beschäftigt, daß uns die Franctireurs unterdessen massakrieren können.“

Es krachte da drüben ein Schuß. Die Husaren hatten ihre Pferde unter den Schutz der Bäume gebracht und eröffneten, selbst hinter den Bäumen steckend, ein ziemlich lebhaftes Feuer auf die Franctireurs. Sie wollten die Aufmerksamkeit derselben auf sich lenken, damit Hohenthal gut an sie herankommen könne. Die Franctireurs erwiderten das Feuer hitzig und avancierten langsam, so daß bald ein breiter Raum zwischen ihrer Rückenlinie und der Front des Schlosses entstand.

Da plötzlich stieß Liama einen lauten Ruf aus. Sie hatte am Seitenfenster gestanden, welches nach dem Park führte und deutete mit dem ausgestreckten Arm dort hinaus. Der General trat hin zu ihr und sah hinaus.

„Alle Wetter!“ rief er aus. „Rettung, Rettung! Welch ein schlauer Gedanke! Seht ihr die roten Reiter da hinter den Bäumen des Parks? Das ist eine ganze Schwadron. Der Rittmeister ist ein tüchtiger Offizier. Er lenkt die Aufmerksamkeit der Franctireurs nach vorn, hat sie unbemerkt umritten und wird sie nun überfallen. Wir sind gerettet.“

„Gott sei Dank!“ seufzte Ella.

„Ja, paßt auf, Kinder! Die Franctireurs haben keine Ahnung. Sie werden zwischen zwei Feuer kommen. Die da vorn werden sofort auch losbrechen, wenn die da im Park – – – paßt auf, paßt auf! Sie ordnen sich. Seht ihr den Rittmeister? Prächtiger Kerl! Ja, diese preußischen Reiter. Sie haben uns bei Roßbach über den Haufen geritten.“

„Er zieht den Degen!“ sagte Ella.

„Ja, nun geht's los. Da, da! Welch ein prächtiger Anblick! Hört ihr's? Hurra! Hurra!“

So riefen auch da unten die Husaren. In völliger Karriere kamen sie von rechts aus dem Park gesprengt, an der Front des Schlosses hin, dann ritten sie in einem Nu nach rechts und von hinten in die Franctireurs hinein.

„Prächtig! Prächtig! Wer macht ihnen dies nach!“ rief der alte Soldat begeistert aus.

„Du, das sind Deutsche! Deutsche!“ flüsterte Melac seiner Frau leise zu.

„Gott, die armen Menschen!“ rief Ella.

Die Franctireurs hatten gar nicht Zeit gefunden, sich zu besinnen. Sie wurden überritten, ehe es einem von ihnen einfiel, einen Schuß zu tun. Sie rafften sich auf, um die Flucht zu ergreifen, aber die Husaren hatten kehrt gemacht und fielen von neuem über sie her.



Und der Zug, welcher vorhin geplänkelt hatte, war unterdessen auch beritten geworden und brach zwischen den Bäumen hervor. Verwundet oder nicht, wer laufen konnte, der lief davon, viele aber wälzten sich am Boden. Und nun hörte man gar den Rittmeister den Befehl zum ‚Streunen‘ geben.

„Fangt mir die Kerls ein!“ rief er. „Aber nicht zu weit fortgehen!“

Er selbst hielt nicht weit vom Schloßtor, einen Wachtmeister an seiner Seite. Beide sprangen ab und traten ein.

„Er kommt, er kommt!“ sagte der Graf. „Er ist zwar ein Deutscher, aber ein vortrefflicher Offizier. Wir müssen ihm entgegen, um ihm zu danken. Kommt!“

Sie eilten durch die Reihe der Zimmer. Er aber war doch so schnell gewesen, daß er zu der einen Tür in den zerstörten Salon trat, während sie durch die entgegengesetzte kamen. Er tat drei Schritte auf den General zu, schlug die Absätze sporenklirrend zusammen, salutierte und meldete:

„Rittmeister von Hohenthal von den preußischen Husaren, Exzellenz!“

Sie alle, alle standen ganz erstarrt. Sie trauten ihren Augen nicht. Der General faßte sich zuerst.

„Herr Rittmeister, ich weiß nicht, ob ich recht vernommen habe“, sagte er. „Bitte, um Wiederholung Ihres Namens!“

„Von Hohenthal, Exzellenz.“

„Danke! Ah, welche Ähnlichkeit!“

„Welche Ähn – – –“ Ella sagte es, sprach aber das Wort nicht aus. Ihre Augen waren mit einem unbeschreiblichen Ausdruck auf ihn gerichtet.

„Herr Rittmeister“, fuhr der General fort, „es ist ein höchst glücklicher Zufall, welcher mir erlaubt – – –“

„Zufall?“ fragte Hohenthal in künstlichem Erstaunen.

„Gewiß!“

„O nein, General!“

„Was könnte es anders sein?“

„Nun, haben Exzellenz nicht nach mir geschickt?“

„Nach Ihnen geschickt?“

„Allerdings. Sie ließen mir sagen, daß Sie von den Franctireurs bedrängt seien. Ich stand in der Nähe von Metz und eilte natürlich herbei, um den Mückenschwarm zu zerstreuen.“

„Sie sehen mich erstaunt, ja fast betroffen! Ich soll zu Ihnen gesandt haben? Zu einem deutschen Offizier?“

„Ja.“

„Wen denn?“

„Den da! – Wachtmeister!“

Dieser hatte hinter der Tür gewartet. Er trat jetzt herein, salutierte ebenso stramm wie sein Rittmeister und meldete im dienstlich respektvollen Tone:

„Wachtmeister Tannert von den roten Husaren.“

„Martin! O mein Martin!“

Mit diesem Ruf flog Alice auf ihn zu. Sie breitete die Arme aus; sie bebte vor Freude. Er aber nahm die Hand nicht aus dem Salut hernieder und machte ein so ernsthaftes Gesicht, daß sie einen halben Schritt vor ihm stehenblieb und die Arme sinken ließ. Sie erglühte jetzt vor Scham.

„Herr Rittmeister, darf ich?“ fragte er.

„Ja“, antwortete dieser.

„Zu Befehl! Na komm her, mein Vögelchen. Wenn du dich fangen lassen willst, so will ich dich auch festhalten!“

Er drückte sie an sich und küßte sie. Nun gingen auch den anderen die Augen auf.

„Monsieur Belmonte – – –“, stieß der Graf hervor.

„Bitte, Exzellenz: Graf Arthur von Hohenthal, königlich preußischer Husarenrittmeister.“

„Ah, ah, ah, ah“, dehnte der General. „Darum, darum Ihre wiederholten Siege.“

„Nicht nur darum, Exzellenz. Ich folgte dem Befehl und tat meine Pflicht. Wollen Sie mir zürnen?“

„Nein. Ich heiße Sie vielmehr als meinen Retter willkommen. Hier, meine Hand!“

Sie schüttelten sich die Hände; dann trat der Rittmeister zu Ella, machte ihr sein Honneur und fragte:

„Gnädiges Fräulein, werden Sie weniger nachsichtig sein als Exzellenz?“

Sie erglühte bis in den Nacken hinab, reichte ihm die Hand und antwortete:

„Graf, Sie haben uns aus einer bösen Lage befreit. Ich werde es Ihnen nie vergessen. Ich wiederhole, was ich bereits sagte: Sie sind zu unserem Retter prädestiniert. Oder, sagtest du das nicht, liebe Marion?“

Diese verbeugte sich vor dem Rittmeister und antwortete:

„Ich glaube. Ich habe ja auch so einen Retter, welcher sicher erscheint, sobald ich mich in Gefahr befinde.“

Da trat der Premier ein und meldete:

„Zweiundsechzig Gefangene, darunter dreißig Verwundete. Wohin damit?“

„Hinunter in die Keller einstweilen.“

Er stellte den Oberlieutenant vor, bat um Entschuldigung und begab sich mit ihm und dem Wachtmeister hinab, während oben natürlich die lebhaftesten Ausdrücke des Erstaunens gewechselt wurden.

Dann stand Ella neben Marion am Fenster und flüsterte ihr zu:

„Ist das nicht ein Wunder, liebe Marion?“

„Ein großes Wunder und ein noch größeres Glück; denn er liebt dich, wie du ihn liebst.“

Ella errötete und sagte, um die Verlegenheit zu überwinden:

„Nun sollte der – weißt du, wen ich meine – auch Offizier sein, Marion!“

„Unmöglich!“

„Warum nicht?“

„Ich habe ihn dir ja beschrieben: seine Gestalt!“

„Ah, ja! Verzeih! Ich wollte dir nicht wehtun! Lieber will ich dir wünschen, daß dein Ideal zur Wahrheit werden möge. Du hast es ja gesehen, in Sachsen.“

„Mädchenphantasie! Ich sage dir, daß ich diesen armen Doktor mehr liebe, als ich den Offizier geliebt hätte. Werde du Gräfin Hohenthal; ich begnüge mich mit dem einfachen Namen – Frau Müller!“

„Famoser Offizier!“ sagte jetzt der am anderen Fenster stehende General. „Seht, wie er Vorposten ausstellt und Streifpatrouillen entsendet! Ja, diese Deutschen verstehen sich auf den Dienst. Also ein Graf? Wer hätte das gedacht! Hm! Ich muß hinab zu ihm, der Gefangenen wegen. Die werden das in ihrem Leben nicht wieder machen.“

Und als er fort war, wendete Marion sich an Alice:

„Aber, liebes Kind, nun ist er ja auf einmal ein Deutscher!“

Die Angeredete wurde nicht verlegen. Sie deutete zum Fenster hinaus und sagte:

„Mademoiselle haben gesehen, was die Deutschen können! Sie gewinnen Schlacht auf Schlacht und retten uns aus jeder Gefahr, in welche wir durch unsere Landsleute gebracht werden.“

„Sie haben recht, liebe Alice. Auch Ihr Martin ist ein ganzer Mann. Er nannte sich Tannert. Wenn Sie Frau Tannert sind, werden wir uns vielleicht oft besuchen.“

„Und ich bin mit dabei“, meinte Ella. „Jetzt aber wollen wir uns daran erinnern, daß wir Wirtinnen sind. Sehen wir also nach, was diese häßlichen Franctireurs für unsere lieben Gäste übriggelassen haben.“

Als nach einiger Zeit Hohenthal mit seinen Offizieren zur gräflichen Tafel geladen wurde, erklärte er zwar, daß er eigentlich nicht Zeit dazu habe, da er zurück müsse, aber er ließ sich doch bewegen, noch zu bleiben.

Kaum aber hatte man sich gesetzt und zu speisen begonnen, so hörte man unten den galoppierenden Hufschlag eines Pferdes, und gleich darauf trat ein Unteroffizier ein.

„Verzeihung, Herr Rittmeister“, sagte er. „Französische Kavallerie im Anzug!“

„Aus welcher Richtung?“ fragte er ganz unbefangen.

„Es scheint von Briecy her.“

„Wie weit von hier?“

„In zehn Minuten können sie hier sein.“

„Wie stark?“

„Zwei Schwadronen Gardekürassiere und eine Schwadron Gardedragoner!“

„Ah!“

Jetzt erhob er sich von seinem Stuhl. Der General mit all den Seinen war erbleicht. Sollte sein Retter einer so überlegenen Macht in die Hände fallen?

„Herr Rittmeister, ziehen Sie sich schleunigst zurück!“ sagte er. „Noch ist es Zeit. Die Truppen sind Ihnen an Zahl dreifach überlegen, und gar Gardekürrasiere!“

Wenn Hohenthal den Gedanken gehabt hatte, das Schloß zu verlassen, jetzt dachte er nicht mehr daran. Sollte er in Gegenwart der Heißgeliebten sich feig zeigen?

„Herr Premierlieutenant, was meinen Sie?“ fragte er.

„Ganz, das, was Sie meinen“, antwortete der Angeredete kalt, indem er die Gabel mit einem Schinkenstück zum Mund führte.

„Gut, so sind wir einig! Exzellenz, ein preußischer Husar flieht auch vor solcher Übermacht noch nicht – – –“

„Um Gottes willen!“

„Herr von Hohenthal, ich bitte Sie inständigst, schonen Sie sich“, fiel Ella ihrem Vater in die Rede.

Der Rittmeister warf ihr einen Blick wärmsten Dankes zu, sagte aber in gemessenem Ton:

„Ich darf nicht gegen Pflicht und Ehre handeln. Wachtmeister Tannert, es mögen sofort zwei Leute nach Trouville jagen und den Obersten um Verstärkung ersuchen. Ich halte mich bis dahin.“

Und als Martin sich entfernt hatte, fuhr er, zu dem General gewendet, fort:

„Exzellenz kennen den Kriegsbrauch und werden mir verzeihen. Ich erkläre Schloß Malineau im Belagerungszustand. Ich muß vor allen Dingen meine Pferde retten, denn ohne sie sind wir verloren. Dieselben werden im Schloß selbst untergebracht und sollte es im Salon oder hier im Speisesaal sein!“

„Parterre und Souterrain bieten Raum genug“, bemerkte der General, welcher sich über die kaltblütige Umsicht des Rittmeisters freute.

„Ich danke. Die Tafel ist aufgehoben. Gestatten Sie, daß ich meine Vorbereitungen treffe!“

Er verließ mit den Seinen den Saal.

„Das ist ein Soldat! Bei Gott!“ meinte der General.

Auch in den schönen Zügen seiner Enkelin wollte sich der Ausdruck des Stolzes mit dem der Besorgnis streiten. Sie fühlte jetzt, wie lieb sie diesen Mann hatte. –

Der alte Richemonte war auf seiner Flucht, die mehr Hindernisse fand, als er erwartet hatte, bis in die Gegend von Briecy gekommen. Er war zu Fuß, fühlte sich außerordentlich ermüdet und setzte sich, um auszuruhen, am Rande der Straße, welche durch ein Gehölz führte, nieder.

Er hatte noch nicht lange gesessen, so hörte er Hufschlag, und bald erblickte er ein Piquet Gardekürassiere, welches aus der Richtung kam, in welche er wollte. Als die Reiter ihn erreichten, blieben sie vor ihm halten. Es war ein Sergeant mit vier Soldaten.

„Wer sind Sie?“ fragte er.

„Mein Name ist Richemonte, Kapitän der alten Kaisergarde“, antwortete er stolz.

Sie salutierten, und der Sergeant fragte weiter:

„Entschuldigung, mein Kapitän, aber ich muß meine Pflicht tun! Woher kommen Sie?“

„Ich kenne Ihre Pflicht, Sergeant; aber ich sage Ihnen, daß ich mich freue, Sie zu treffen. Vielleicht finde ich dadurch einen Offizier, zu dem ich gern möchte. Stehen die Kürassiere in der Nähe?“

„Sie wissen, daß ich diese Frage nicht beantworten darf. Welchen Offizier meinen Sie?“

„Oberst Graf Rallion.“

„Zu ihm wollen Sie?“

„Ja.“

„Kürassier Lebeau, steigen Sie ab, lassen Sie den Herrn Kapitän aufsitzen und liefern Sie ihn richtig an den Herrn Obersten Rallion ab.“

Der Mann stieg ab, Richemonte setzte sich auf dessen Gaul; dann ging es fort, während das Piquet noch weiterritt.

Als das Gehölz zu Ende war, ritt der Alte über eine Anhöhe, von welcher aus man ein breites Tal überschaute, in dem es von Soldaten förmlich wimmelte. Nach einer Viertelstunde waren sie unten, und der Kürassier Lebeau hielt vor einem Haus und führte den Kapitän in das Innere desselben.

Wahrhaftig, da saß Rallion an einem Tisch, über mehrere Karten gebeugt. Als er den Eintretenden erblickte, sprang er auf und rief im Ton des Erstaunens:

„Kapitän! Ah, das ist wahrlich eine große Überraschung!“

„Ich glaube es!“

„Wie sehen Sie aus! Dieser Hut!“

„Geborgt.“

„Was, Sie borgen Hüte?“

„Von einem Bauersmann.“

„Alle Teufel! Wie kommt das?“

„Ich bin flüchtig. Die Preußen sind in Ortry und auch in Thionville.“

„Sie – sind – des – Satans!“ kam es nur stoßweise aus dem Mund des Obersten.

„Ja. Ich war bereits gefangen, bin aber entkommen.“

„Und unsere Vorräte?“

„Sind in den Händen des Feindes.“

„Unglaublich!“

„Dieser Doktor Müller – ah, er ist ein Königsau.“

„Sie machen mich starr! Erzählen Sie!“

Der Alte begann seinen Bericht. Er war nicht, wie der Ulanenrittmeister gesagt hatte, durch den Kordon geschlüpft, sondern er war zurückgewichen und hatte sich wieder in den Schloßhof geschlichen.

Dort hatten zufälligerweise ein paar Fässer gestanden, hinter welche er gekrochen war, um abzuwarten, bis der Kordon wieder aufgelöst sei. Die Fässer hatten sich ganz in der Nähe des eisernen Türchens befunden, durch welches er gekommen war, und so hatte es ihm glücken können, das Gespräch Königsaus mit Fritz und dann auch den Rittmeister zu belauschen.

Dann, erst im Morgengrauen hatte er entkommen können; aber die ganze Gegend, und auch das rechte Moselufer waren mit Posten besetzt gewesen, welche auf jeden Weg zu achten hatten. Ein Bauer, der ihm zu Dank verpflichtet war, hatte ihn aufgenommen, ihm einen Hut und Geld gegeben und dann erst, einen Abend später, über die Mosel gebracht.

Diese Erzählung machte einen tiefen Eindruck auf den Obersten. Er sagte in grimmigem Ton:

„Marion in Malineau, und dieser Müller will hin! Er ist ein Königsau! Alter, wir haben uns entsetzlich betrügen lassen! Er steht in Berlin; sie war in Berlin; sie sind Liebesleute.“

„Verdammt. Das ist möglich.“

„Darum also ließ sie sich so gern von ihm aus dem Wasser ziehen, und darum wollte sie von mir nichts wissen. Diese beiden haben unsere Geheimnisse belauscht! Oh, das muß gerächt werden, fürchterlich gerächt!“

„Wie denn?“

„Nun, wir reiten nach Malineau.“

„Herrlich! Das war es ja, was mich veranlaßte, Sie aufzusuchen. Wir finden fünfhundert Franctireurs dort.“

„Pah! Mit solchem Volk gibt sich ein Rallion nicht ab. Übrigens dürfen Sie nicht glauben, daß dieser kluge, durchtriebene Bursche ganz allein nach Malineau geht. Er nimmt sich ganz sicher ein Detachement Reiter mit. Wir müssen hin. Wir müssen hin!“

„Werden Sie Erlaubnis bekommen?“

„Sofort. Ich werde es schon zu Gehör zu bringen wissen. Übrigens kennen Sie den Einfluß meines Vaters. Man darf es mit mir nicht verderben. Ich gehe jetzt. Dort steht mein Koffer. Es befinden sich auch Zivilsachen darin. Nehmen Sie sich unterdessen heraus, was Sie bedürfen.“

„Und Marion? Was tun wir dann mit ihr? Wollen Sie sie etwa noch heiraten?“

„Heiraten? Pah! Aber rächen werde ich mich. Ich schwöre Ihnen, daß ich diesem buckligen, verkappten Deutschen mit dieser meiner eigenen Hand den Kopf spalten werde.“

Er stürmte fort. Es dauerte auch gar nicht lange, so kehrte er wieder zurück.

„Nun?“ fragte der Alte.

„Habe die Erlaubnis natürlich!“

„Wann geht es fort?“

„In einer Viertelstunde.“

„Wieviel Mannschaften haben wir?“

„Drei Eskadrons. Zwei Gardekürassiere und eine Gardedragoner. Das sind Kerls, die es mit dem Teufel aufnehmen, um wieviel mehr mit einem Königsau.“

Der Kapitän erhielt ein Pferd, und nach einer Viertelstunde wurde aufgebrochen.

Nach einem mehrere Stunden langen, angestrengten Ritt in der Nähe des Zieles angekommen, schwenkten sie von der nach Etain führenden Straße rechts ab und hielten auf einem ziemlich reitbaren Vizinalweg gerade auf Schloß Malineau zu.

Sie ritten hier durch lauter Wald. Der Oberst, die drei Rittmeister und der alte Kapitän an der Spitze. Diese genannten Herren unterhielten sich miteinander.

Da auf einmal ertönte ihnen zur Seite ein lauter Ruf, und unter den Waldbäumen trat ein Mann hervor, welcher ein blutiges Taschentuch um den Arm gewickelt hatte.

„Herr Kapitän, Herr Kapitän!“

Mit diesen Worten kam er auf den Genannten zu. Richemonte kannte ihn; es war einer der Franctireurs. Er blieb halten und sagte:

„Sapperment, Sie sind verwundet? Wie kommt das?“

„Wir haben auf Schloß Malineau gekämpft.“

„Gegen wen?“

„Gegen deutsche Husaren.“

„Ah, sehen Sie, Oberst! Wer kommandiert diese?“

„Ein junger Rittmeister.“

„Auch Husarenrittmeister? Nicht Ulan?“

„Nein.“

„Er müßte Husarenuniform getragen haben. Wie ist es denn abgelaufen?“

„Sehr schlecht. Wir sind ganz zersprengt; die Hälfte wurde verwundet, und ich mache sicherlich keine Lüge, wenn ich sage, daß wenigstens fünfzig gefangen sind.“

„Aber, Mensch, wie ist das möglich?“

„Wir wurden überfallen.“

„Im Schloß?“

„Nein, sondern vor demselben.“

„Erzählen Sie!“

Er schilderte den Vorgang nach seiner Weise; er hatte sich natürlich höchst tapfer benommen und wie ein wütender Roland um sich geschlagen. Als er geendet hatte, sagte der alte Kapitän im zornigsten Ton:

„Wie albern und jungenhaft! Ihr habt die Rute verdient. Wohin ist denn dieser Berteu?“

„Ich weiß es nicht. Keiner konnte sich um den anderen kümmern. Jeder hatte für sich selbst zu tun.“

„Na trösten Sie sich! Wir werden diese Scharte auswetzen. In einer halben Stunde befindet sich das Schloß in unseren Händen. Dann können Sie kommen und sich die gefangenen deutschen Helden ansehen, von denen Sie sich so wohlfeil niederreiten ließen.“

Die Kolonne setzte sich wieder in Bewegung. Aber auf Veranlassung eines der Rittmeister beorderte der Oberst einige Eclaireurs an der Spitze.

An der linken Seite des Schlosses, wo der Park an den Wald stieß, war der vorstehende Rand des letzteren niedergeschlagen worden. Es gab da einige Reihen Holzklafter und Reißigbündel, zwischen denen noch die Baumstümpfe aus der Erde ragten.

An dieser Stelle angekommen, mußten die Franzosen vom Schloß aus gesehen werden. Aber, eigentümlich, obgleich sie das letztere vollständig überblicken konnten, war es ihnen doch nicht möglich, die Spur eines feindlichen Reiters zu bemerken.

„Sie sind abgezogen!“ meinte der Alte enttäuscht.

„Oder liegen im Hinterhalte“, fügte der Oberst hinzu. „Seien wir vorsichtig!“

„Pah! Hinter uns, rechts und links von uns Wald! Wir können von Reitern nur vom Schloß selbst aus angegriffen werden. Also vorwärts!“ sagte Richemonte.

Das letzte Glied der Kolonne hatte kaum die Waldlinie passiert, so hörte man aus einem Fenster des Schlosses einen Schuß erschallen. Sofort hielt der Zug an. Und im gleichen Augenblick wurde das Tor geöffnet und es trat ein Husarenoffizier hervor, welcher sich, ein weißes Taschentuch in der Hand schwingend, ihnen näherte.

„Famos!“ meinte der Oberst. „Ein Parlamentär. Man will wegen der Übergabe mit uns verhandeln.“

„Warten wir das ab“, sagte der Dragonerrittmeister.

Der Husar kam heran und blieb salutierend gerade vor den Offizieren stehen.

„Gestatten die Herren“, sagte er. „Lieutenant von Hornberg, von den königlich preußischen Husaren.“

Die Offiziere nannten ihre Namen; dann meinte Hornberg:

„Ich habe den Auftrag, Ihnen mitzuteilen, daß Schloß Malineau sich im Belagerungszustand befindet.“

„Wer gab Ihnen diesen Auftrag?“ fragte Rallion.

„Der Kommandierende, Rittmeister Graf von Hohenthal.“

„Ah! Ein Rittmeister Hohenthal kommandiert hier?“

„Ja, wie ich sage!“

„Nicht ein Rittmeister von Königsau?“

„Nein.“

„Hm. Wunderbar! Wo hat dieser Herr Kommandant denn eigentlich seine Truppen?“

„Ich bin nicht befugt, Festungsgeheimnisse zur Sprache zu bringen“, antwortete der Husar lächelnd.

„Nun, wir werden bald genug hinter diese Geheimnisse kommen, Herr Lieutenant. Wir beabsichtigen nämlich, dem Herrn General, Grafen von Latreau, der doch Besitzer des Schlosses ist, einen Besuch abzustatten.“

„Heute?“

„Ja, heute, und zwar bald.“

„Vielleicht ist Ihnen dies gestattet, natürlich unter gewissen Bedingungen.“

„Wir beabsichtigen aber, unseren Besuch ganz bedingungslos zu unternehmen.“

„Das wird wohl kaum möglich sein.“

„Warum?“

„Weil man das Recht hat, Bedingungen zu machen.“

„Ah, so. Werden Sie auch die Macht haben, dieses Recht zu beweisen und zu verteidigen?“

„Man hofft es.“

„Schön. Grüßen Sie also den Grafen Hohenthal von mir, dem Grafen Rallion, und sagen Sie ihm, daß ich binnen einer halben Stunde bei dem Herrn General erscheinen werde, mit oder ohne Erlaubnis, das ist mir egal. Adieu.“

„Der Herr Rittmeister wird sich freuen, Sie standesgemäß begrüßen zu können“, antwortete der Husar mit einem spöttischen Lächeln. Dann kehrte er ins Schloß zurück.

„Impertinenter Junge, dieser rote preußische Gimpel!“ sagte der Oberst. „Meine Herren, wo meinen Sie, daß diese Herren Husaren stecken werden?“

„Wir müssen rekognoszieren“, meinte der Dragonerrittmeister. „Soll ich detachieren, Herr Oberst?“

„Tun Sie das.“

Paarweise ritten die Piquets in verschiedener Richtung ab. Ein junges Lieutenantchen, dem es sehr darum zu tun war, seinen Mut bewundern zu lassen, spornte sein Pferd an und trabte dem Schloß zu. Da erschien an einem geöffneten Fenster Hohenthal.

„Zurück!“ rief er herab.

Der Franzose zog verächtlich die Achsel empor und ließ sein Pferd weitergehen. Da krachte ein Schuß, und der Reiter fiel, durch den Kopf geschossen, vom Pferd.

Ein vielhundertstimmiger Schrei erscholl auf französischer Seite. Der Oberst griff wütend seinen Degen und sagte:

„Das sollen sie mir bezahlen! Dieses arme, unschuldige Kerlchen. Holt ihn her.“

Dieser Befehl war an einige Dragoner gerichtet. Sie gehorchten und ritten nach der Stelle, wo der Tote lag. Sofort blitzte es aus mehreren Fenstern auf. Zwei der Leute sanken tot vom Pferd, und die anderen flohen, sämtlich verwundet, zurück.

Der Kapitän ballte beide Fäuste.

„Man wird euch das mit Zinsen wieder heimzahlen, ihr Schurken!“ murmelte er. „Wollen wir nicht direkt hin und das Tor einschlagen?“

„So schnell nun nicht, Herr Kapitän. Wir wissen jetzt wenigstens das eine, nämlich, daß sich die Herren im Inneren des Schlosses befinden. Warten wir erst die Rückkehr unserer Eclaireurs ab.“

Sie zogen sich ein wenig zurück. Die Leute kamen retour und konstatierten, daß sich in der ganzen Umgebung des Schlosses kein preußischer Soldat befinde.

„Nun gut, so sind sie da drin. Da haben wir sie also fest!“ meinte der Oberst.

„Hm! Das scheint nicht so leicht!“ sagte der Dragoner.

„Kinderleicht. Wir lassen die Tür und die geschlossenen Läden einschlagen, so sind wir drin.“

„Und diejenigen, welche das tun sollen, werden aus den oberen Fenstern heraus erschossen.“

„Pah! Wir beherrschen ja die Fenster von unten. Während zum Beispiel die Hälfte der Mannschaft stürmt, hält die andere Hälfte die Preußen von den Fenstern fern. Zwei Gardekürassiere und ein Gardedragoner werden es doch mit einem windigen, preußischen Husaren aufnehmen, meine Herren!“

Es wurde gegen diesen Plan gesprochen; aber der Oberst blieb dabei und setzte seinen Willen durch. Die Mannschaften mußten absteigen. Die Pferde wurden zur Seite außer Schußweite geführt; sie kamen natürlich unter die Obhut einer Anzahl der Kavalleristen. Die übrigen wurden in zwei Abteilungen getrennt. Die erste war bestimmt, in das Schloß zu brechen, und die andere nahm rund um das letztere Stellung, um die Bewohner desselben unter Feuer zu halten.

Als diese Vorbereitungen getroffen waren, gab Oberst Rallion den Befehl zum Angriff.

Dieser konnte natürlich nur im Parterre erfolgen. Es war anzunehmen, daß das Eingangstor von innen sehr fest verrammelt worden sei. Darum hatten die Angreifer Befehl, ihr Augenmerk besonders auf die Fenster zu richten.

Mit lautem Rufen stürmten sie auf das Schloß los. Dort wurden in demselben Augenblick sämtliche Parterrefenster geöffnet. Eine fürchterliche Salve krachte aus diesen den Angreifern entgegen. Jede Kugel traf ihren Mann. Die preußischen Husaren waren nicht nur tüchtige Reiter, sondern ebenso wackere Schützen. Eine große Anzahl der Franzosen war gefallen.

Diejenigen, welche unverletzt geblieben waren, stutzten. Sie zauderten, vorwärts zu dringen.

„En avant; en avant!“ brüllte der Oberst.

Sie gehorchten. In langen Sätzen stürmten sie weiter und erreichten die Mauer, wo sie sich sicher wähnten.

„Pst!“ stieß der Oberst hervor. „Diese verdammten Preußen zielen besser, als ich dachte. Aber sie sind schon halb besiegt. Unsere Leute sind an der Mauer des Hauses vor jeder Kugel sicher; denn wehe dem Feind, der sich an einem der Fenster sehen lassen wollte, um zu schießen. Er wäre seines Todes sicher.“

Auf sein wiederholtes Kommando versuchten die Leute, in die Fenster zu steigen. Einer hob den anderen, aber – – – ein Schrei der Wut erscholl rings um das Gebäude; diejenigen, welche das Einsteigen gewagt hatten, fielen in die Arme derer, von denen sie gehoben worden waren, zurück, von den Säbelhieben der Husaren getroffen. Dem einen war sogar der Kopf mit einem Hieb vom Rumpf getrennt worden. Während der leblose Körper nach außen zurückstürzte, wurde ihm der abgehauene Kopf nachgeschleudert.

Lieutenant von Hornberg hatte dem Rittmeister von Hohenthal gemeldet, wie er empfangen worden war und welchen Bescheid er erhalten hatte.

„Gut!“ sagte der Rittmeister. „Wollen sehen, ob er es so weit bringt, in der angegebenen Zeit seinen Besuch zu machen.“

Er schickte nach dem General.

„Exzellenz“, sagte er, als dieser kam. „Eigentlich ist es meine Pflicht, mich aller Personen, welche das Schloß bewohnen, zu versichern. Ich glaube aber, überzeugt sein zu dürfen, daß dies nicht nötig ist. Ich bitte Sie um Ihr Ehrenwort, daß keiner von Ihren Leuten etwas unternimmt, was nicht mit meinen Absichten in Einklang zu bringen ist.“

„Ich gebe es für mich und für alle die Meinigen.“

„Ich danke! Darf ich Sie bitten, sich in das oberste Stockwerk zurückzuziehen?“

„Ich gehorche natürlich.“

„Aber Sie werden die Güte haben, mir Ihren Beschließer zu senden. Ich bedarf natürlich sämtlicher Schlüssel, welche vorhanden sind.“

„Er steht draußen schon bereit. Aber, Herr Rittmeister, in welcher Weise glauben Sie, daß der Angriff erfolgen wird?“

„Das werde ich erst nach näherer Beobachtung wissen. Auf alle Fälle wird man nur das Parterre angreifen. Natürlich werde ich Sorge tragen, daß Ihr Eigentum möglichst geschont wird. Bitte, kehren Sie zu den Damen zurück, um sie zu beruhigen!“

Melac mußte sämtliche untere Räumlichkeiten öffnen. Hohenthal ließ die Läden aufmachen und auch die Fenster aufwirbeln, um selbst die Glastafeln möglichst zu schonen. Dann gab er Befehl, im Fall eines Angriffes zuerst eine Salve zu geben, dann aber jeden Eindringling mit dem Säbel zurückzuweisen. Auf diese Weise wurde die Munition gespart. Auch durfte sich keiner am offenen Fenster sehen lassen. Hinter dem Fensterpfeiler stehend, war der Verteidiger gedeckt und konnte doch den Säbel nach Kräften gebrauchen.

Während der Rittmeister das Kommando der Front übernahm, übergab er den anderen Offizieren die übrigen Seiten in Verteidigung. So waren sie gerüstet, den Feind zu empfangen. –

Richard von Königsau war, nachdem er mit Fritz Schloß Ortry verlassen hatte, nach der Gegend von Metz geritten, wo die deutschen Heere im Begriff standen, den Marschall Bazaine einzuschließen.

Die beiden Ulanen kamen erst am Morgen nach Servigny, wo man sich zum Kampf vorbereitete. Um zu ihrer Truppe zu gelangen, mußten sie noch weiter nach Ars Laquenepy. Dort erfuhren sie, daß andere Dispositionen getroffen worden seien. Das Gardeulanenregiment war noch in der Gegend von Gorge zu suchen.

Dorthin gelangten sie erst am Nachmittag, während seit vormittag im Norden die Kanonen gedonnert hatten, ein Zeichen, daß da eine Schlacht geschlagen werde.

In Gorge erfuhren sie endlich, daß drei Schwadronen nach Chambley detachiert worden seien. Über den Aufenthalt der übrigen Schwadronen konnten sie nichts erfahren.

„Verteufelte Geschichte!“ meinte Fritz. „Wir wollen und wir müssen nach Schloß Malineau, um die Machinationen dieses alten Kapitäns zuschanden zu machen. Dazu bedürfen wir der Erlaubnis. Wo aber den Oberst finden?“

„Es bleibt uns nichts übrig, als eben nach Chambley zu reiten“, meinte Königsau mißmutig.

„Hm! Könnten wir denn nicht auf eigene Faust handeln?“

„Das ist zweifelhaft.“

„Warum? Es ist uns ja weder Zeit noch Ort bestimmt, wann und wo wir zu dem Regiment zu stoßen haben.“

„Aber unsere Instruktion lautet, sofort einzutreffen, nachdem wir unser Arrangement in Schloß Ortry getroffen haben.“

„Nun, mit diesem Arrangement sind wir ja noch nicht fertig!“

„Wieso?“

„Der alte Kapitän gehört doch auch dazu. Er ist entflohen. Wir müssen ihn suchen und finden!“

„Diese Art der Auslegung hat allerdings etwas für sich. Warten wir, wie es in Chambley aussieht. Dort können wir uns ja weiter entschließen.“

Wenn sie gewußt hätten, daß der alte Kapitän nicht so schnell fortgekommen war und noch in der Gegend von Ortry bei einem Bauern steckte, so hätten sie sich keine solche Sorge gemacht.

„Übrigens“, meinte Fritz, „scheint mir, als ob wir auf diese Weise nicht mehr sehr weit kommen würden. Mein Gaul ist so müde, daß ich ihn per Kutsche weitertransportieren lassen möchte.“

„Bis Chambley muß er wohl oder übel aushalten. Mein Pferd lahmt schon seit einer Viertelstunde. Müssen wir heute noch weiter, so wird es notwendig sein, uns nach anderen Pferden umzusehen.“

Sie waren noch nicht weit gekommen, so erkannten sie, daß es ihnen sehr schwierig sein werde, das angegebene Ziel zu erreichen. Straßen und Wege waren von Teilen des dritten und zehnten Armeekorps bedeckt, welche nach Trouville und Vionville dirigiert wurden. Es blieb ihnen nichts übrig, als von der Richtung abzuweichen und den Umweg über Saint Julien de Gorge einzuschlagen.

Als sie dort ankamen, war es Nacht geworden. Sie konnten unmöglich weiter. Sie fanden kein anderes Nachtquartier, als einen alten Schuppen, wo sie glücklicherweise etwas Stroh entdeckten.

Am anderen Morgen ging es weiter. Sie erreichten aber, weil es überall von Militär wimmelte, Chambley, welches so nahe lag, ziemlich spät.

Dort fand Königsau endlich Gardeulanan, aber auch nur eine einzige Schwadron. Die anderen beiden waren nach Troyon beordert worden, dem Heer des Kronprinzen entgegen.

Wie gern hätte der Major sich sofort an die Spitze dieser Leute gesetzt, um sie nach Malineau zu führen, aber das war unmöglich. Er hatte mit dem Etappenkommandanten sich ins Einvernehmen zu setzen, und dann waren noch andere Schritte zu tun, so daß es sehr spät wurde, als er endlich von Buxieres, wohin er gesandt hatte, die Erlaubnis bekam, die Schwadron zu dem angegebenen Zweck zu verwenden.

Mittlerweile hatten er und Freund Fritz sich neu beritten gemacht. Der Ritt begann.

Aber Etain lag ziemlich weit entfernt, und er sah sich ganz zu denselben Vorsichtsmaßregeln gezwungen, welche auch Hohenthal angewendet hatte, um nicht bemerkt zu werden.

Er vermied soviel wie möglich alle bewohnten Orte, ritt endlich auch um Etain in einem weiten Bogen herum und kam mit seiner Schwadron auf dieselbe Straße, auf welcher Oberst Rallion sich mit seinen drei Eskadrons dem Schloß genähert hatte.

Sie hatten vielleicht noch fünf Minuten zu reiten, ehe es möglich war, aus dem Waldweg ins Freie zu debouchieren; da hörten sie vor sich Schüsse fallen.

„Sapperment, dort ist man bereits engagiert!“ meinte Fritz.

„Das sind wohl die Franctireurs!“ bemerkte der Rittmeister, welcher die Schwadron kommandierte.

„Schwerlich“, antwortete Königsau. „Das war eine so ordnungsgemäße Salve, daß ich unbedingt annehme, es befindet sich Militär vor uns.“

„So müssen wir rekognoszieren.“

„Gewiß. Bleiben Sie mit den Leuten zurück. Fritz, steig mit ab! Wir gehen unter den Bäumen vor und werden sehen, was es gibt. Hören Sie meinen Revolver, drei Schüsse hintereinander, Herr Rittmeister, so eilen Sie herbei, denn dann befinden wir uns in Gefahr.“

Er stieg ab und Fritz ebenso. Sie begaben sich unter die Bäume und schlichen vorwärts.

Dort, wo man den Wald niedergeschlagen hatte, fanden sie hinter den Reisighaufen ein sicheres Versteck, aus welchem sie alles ganz genau und völlig ungefährdet beobachten konnten.

„Ah!“ flüsterte Fritz. „Das sind allerdings keine Franctireurs, das sind Gardekavalleristen!“

„Kürassiere und Dragoner. Sie wollen das Schloß stürmen. Warum?“

„Hm! Man stürmt doch nur einen Ort, wenn sich der Feind da befindet!“

„Richtig! Welchen Feind könnten die Franzosen da haben?“

„Das weiß der Kuckuck, ich aber nicht. Schau, wieder eine Salve! Das sind brave Kerls dort drin!“

„Wer aber sind diese? Wollen sehen.“

Königsau nahm seinen Feldstecher heraus und richtete ihn nach den Fenstern des Schlosses.

„Kein Mensch ist zu sehen.“

„Natürlich!“ meinte Fritz. „Ließe sich einer blicken, so wäre er ja auch verloren. Das Schloß ist umzingelt und auf jedes Fenster sind einige Gewehre gerichtet. Es hat ganz den Anschein, als ob da ein alter schlauer Fuchs ausgeräuchert werden soll. Schau, Richard, dort hinter der Baumgrupe hält der Stab des Belagerungsheeres. Die Herren kommen jetzt ein wenig zur Seite. Wollen doch einmal sehen, mit welchen Chargen wir es zu tun haben.“

Auch er nahm den Krimstecher vors Auge.

„Alle Teufel!“ stieß er hervor.

„Was?“

„Da hält ein Oberst, ein ganz junger Kerl. Ich kann das Gesicht nicht genau sehen; aber ich möchte wetten, daß es unser lieber Herr von Rallion ist.“

„Das wäre! Warte! Ah, jetzt wendet er sich nach rechts. Ich sehe ihn genauer. Bei Gott, er ist es. Und, Fritz, siehst du den Menschen in Zivil neben ihm?“

„Ja; der Graukopf? Höre, sollte das vielleicht gar der alte Kapitän sein?“

„Ich möchte es fast annehmen, obgleich er uns den Rücken zukehrt. Aber, wenn er es wirklich ist, so möchte ich daraus schließen, daß sich Deutsche da im Schloß befinden.“

„Sackerment!“

„Ja. Man wird doch nicht etwa Franzosen belagern! Wäre der Alte nicht dabei, so dürfte man vermuten, daß man eine Bande Franctireurs zerniert habe, um sie wegen irgendeiner Schurkerei ad coram zu nehmen; aber weder Rallion, noch der Kapitän würden das tun.“

„Da, da, da“, sagte Fritz schnell hintereinander. „Siehst du es? Da, am Giebel?“

„Ja. Schnell nieder mit den Köpfen. Das soll ein Zeichen für uns sein, und diese Franzosen könnten daraus auf unsere Anwesenheit schließen.“

Sie bückten sich hinter den Reisighaufen nieder, aber bemerkten auch sogleich, daß sie nicht gefährdet seien.

„Weißt du, was das war?“ fragte Königsau.

„Natürlich. Ein roter Husarendolman.“

„Gewiß. Man hat uns vom Schloß aus bemerkt und will uns sagen, wer sich dort befindet.“

„Also preußische Husaren.“

„Ganz sicher.“

„Wie kommen sie nach Schloß Malineau?“

„Wer weiß es. Jedenfalls eine Streifenpatrouille. Wir müssen ihnen unbedingt zu Hilfe kommen.“

„Natürlich. Es sind brave Kerls. Und scharfe Augen haben sie. Uns hier zu bemerken!“

„Vom oberen Stockwerk ist das nicht so schwer. Wenn das Auge zufällig diesen Punkt streift, versteht es sich von selbst, daß man uns sieht. Komm!“

Sie traten wieder unter die Bäume und kehrten zur Schwadron zurück.

„Nun?“ fragte der Rittmeister neugierig.

„Drei Schwadronen französischer Gardekavallerie belagern eine preußische Husarenpatrouille, welche im Schloß Schutz gesucht hat“, antwortete Fritz.

„Da kommen wir zu rechten Zeit. Oder –?“

Er warf einen fragenden Blick hinter sich auf seine Leute. Königsau verstand ihn und sagte:

„Ob wir zu schwach sind, diesen drei Schwadronen gegenüber, Herr Rittmeister?“

„Es ist meine Pflicht, diesen Gedanken anzuregen.“

„Gewiß. Aber wir werden uns doch nicht fürchten.“

„Gar nicht. Horcht!“

Man hörte von der Gegend des Schlosses her ein Signal.

„Ah!“ meinte Fritz. „Die Herren sehen ein, daß es auf diese Weise mit der Belagerung doch nicht vorwärtsgeht. Sie rufen ihre Leute wieder zusammen. Man wird einen Kriegsrat halten.“

„Das benutzen wir und hauen auf sie ein!“ ergänzte Königsau. „Nämlich die Kerls sind, außer den Offizieren, abgesessen. Ihre Pferde befinden sich links von der Mündung dieses Weges unter der Obhut von sehr wenigen Leuten. Kommen wir zwischen beide, nämlich zwischen Reiter und die Pferde, so sind die ersteren verloren. Herr Rittmeister, es sind ein Drittel Dragoner und zwei Drittel Kürassiere. Sind sie zu Fuß, so haben wir leichte Arbeit. Wir reiten sie nieder und spießen sie mit den Lanzen fest. Gehen wir näher, daß auch Sie rekognoszieren können.“ –

Oben an einem Fenster des Dachstocks hatte Melac gestanden. Dieses Fenster ging nach der Seite hinaus, von welcher die Feinde gekommen waren. Das Auge des Schließers streifte zufällig und absichtslos den Waldrand und blieb auf einem Punkt haften, an welchem sich etwas Farbiges zeigte, was eigentlich nicht an diesen Ort zu gehören schien.

Er blickte schärfer hin, aber er war alt und konnte das, was sich dort befand, nicht deutlich erkennen. Darum begab er sich in das Zimmer, in welchem sich die anderen befanden.

„Bitte, wo sind Seine Exzellenz, der Herr General?“ fragte er, als er den Genannten nicht bemerkte.

„Warum?“ fragte Ella, welche dem Ton seiner Stimme eine gewisse Ängstlichkeit anmerkte.

„Ich glaube, es kommen neue Feinde.“

„Gott! Doch nicht!“

„Es war mir, als ob ich drüben hinter dem Reisig etwas Buntes, etwas Militärisches gesehen hätte.“

„Großpapa ist für einige Augenblicke fortgegangen. Komm, liebe Marion, wollen sehen, was es ist.“

Melac führte sie nach dem betreffenden Fenster. Kaum hatten sie einen Blick hinausgeworfen, so sagte Ella:

„Soldaten! Ja! Man erblickt sie nur nicht genau. Herrgott, was tun wir, liebe Marion?“

Diese behielt die Fassung.

„Sind es Franzosen oder Deutsche?“ fragte sie.

„Wer weiß das?“

„Ich auch nicht. Aber liebe Ella, wollen wir als Freunde, oder als Feinde dieses tapferen Grafen und Rittmeisters von Hohenthal handeln?“

„Als Freunde natürlich.“

„Gut. Das denke ich auch. Monsieur Melac, Sie dürfen es den Herrn General nicht wissen lassen, aber eilen Sie hinab, um den Herrn Rittmeister schleunigst zu holen.“

Das war dem Alten sehr lieb. Er war ja ein Freund der Deutschen. Nach wenigen Sekunden brachte er Hohenthal, welchen einer seiner Leute begleitet.

„Wo ist es?“ fragte er ohne alle Einleitung.

„Dort, gerade meinem Arm nach, hinter dem Reisighaufen“, antwortete Ella, indem sie den Arm ausstreckte.

Sein Auge folgte der angegebenen Richtung. Ein Blitz der Freude zuckte über sein schönes Gesicht.

„Herunter mit deinem Dolman!“ gebot er dem Husaren. „Halte ihn zum Fenster hinaus, damit die da drüben merken, daß Husaren sich hier befinden.“

Der Mann gehorchte. Der Rittmeister zog sein Rohr hervor und nahm es an das Auge.

„Alle Wetter!“ entfuhr es ihm.

Er warf noch einen kurzen Blick hinüber und gebot dann dem Husaren:

„Zurück wieder. Sie haben es bemerkt. Sie verbergen sich, weil unser Zeichen den Feind auf sie aufmerksam machen könnte. Entschuldigung, meine Damen, daß in der Überraschung mir ein etwas kräftiges Wort entfuhr.“

„Dürfen wir erfahren, wer es ist, Herr Rittmeister?“ erkundigte sich Marion.

„Eigentlich nicht“, antwortete er lächelnd. „Es ist mir aber vollständig unmöglich, Sie als feindliche Wesen zu betrachten. Darum will ich Ihnen mitteilen, daß ich zwei preußische Ulanenoffiziere gesehen habe.“

„Was wird das bedeuten?“

„Daß in wenigen Minuten Ihnen Gelegenheit geboten wird, den tapfersten Ulanenoffizier kennenzulernen. Ich habe ihn mit Hilfe meines Glases erkannt. Ein Freund von mir, Herr Richard von Königsau, kommt, diesen Herren da unten eine Lehre zu geben.“

„Königsau –?“ hauchte sie.

Sie war sehr bleich geworden.

„Ja. Wenn ich recht vermute, befindet er sich nicht allein in der Nähe. Bitte, treten Sie in das Eckzimmer, so werden Sie Zeugen eines sehr interessanten Kampfes sein. Ich aber muß nach unten.“

Er eilte mit seinem Begleiter fort.

Ella legte den Arm um Marions Schulter.

„Du bist erschrocken?“ fragte sie liebevoll.

„Sehr!“

„Nicht wahr, Königsau hieß jener Offizier, den du in Dresden erblicktest?“

„Ja. Und dessen Fotografie ich besitze.“

„Ob er es wirklich ist?“

„Jedenfalls. Der Rittmeister wird kein schlechtes Fernrohr besitzen, denke ich.“

„So werden wir ihn zu sehen bekommen.“

Marion strich sich mit der Hand über die Stirn und antwortete nicht. Ella aber meinte:

„Wirst du nicht mit ihm sprechen können?“

Da antwortete das schöne Mädchen:

„Es war ein Traum, ich aber gehöre der Wirklichkeit. Seine Anwesenheit kann keinen Einfluß auf mich haben.“

Da hörte man das Signal, welches auch Königsau mit den Seinigen vernommen hatte. Einige Augenblicke später kam der General herbei.

„Wo seid Ihr? Ich habe Euch gesucht“, fragte er. „Die Reiter ziehen sich zurück. Der Kampf scheint ein Ende zu haben.“

„O nein“, entfuhr es Ella.

Das fiel dem General auf.

„Warum nicht? Weißt du es anders?“ erkundigte er sich.

„Liebe Marion, wollen wir es ihm nicht lieber sagen?“ fragte da die Freundin.

„Ja. Der General wird es ja unbedingt erfahren.“

„Was?“ fragte er neugierig.

„Es sind preußische Ulanen im Wald.“

„Doch nicht!“

„Ja. Der Rittmeister Hohenthal sagte es.“

„Nun, dann wehe unseren Kürassieren. Dürfte ich sie doch warnen.“

„Würdest du das?“

„Unbedingt, wenn ich dabei nicht mein Leben riskierte. Ich würde als Spion erschossen werden.“

„Tue es um Gottes willen nicht, lieber Papa!“

„Nein, nein. Aber, wo befinden sich die Ulanen?“

„Sie sind fort; man sieht sie nicht mehr.“

Da waren wieder Schritte zu vernehmen. Rittmeister Hohenthal trat ein. Er erblickte den General und fragte:

„Die Damen haben Ihnen Meldung gemacht?“

„Ja.“

„Es tut mir leid, daß es mir nicht vergönnt ist, Ihren Patriotismus zu schonen, Exzellenz. Es ist eben Krieg. Übrigens werden Sie jetzt, wenn ich mich nicht irre, ein seltenes Reiterstück zu sehen bekommen.“

„Sie haben bereits ein unvergleichliches geliefert.“

„Oh, Königsau kommt! Das ist etwas ganz anderes.“

„Königsau? Diesen Namen habe ich einmal gehört. So hieß ein preußischer Offizier, welcher sich der außerordentlichen Protektion Ihres Marschalls Blücher erfreute.“

„Der, welchen ich meine, ist der Enkel dieses Veteranen. Sie verzeihen meine Gegenwart hier. Von hier aus kann ich den Plan besser überblicken, als von irgendeinem anderen Zimmer aus.“

„Bitte! Sie sind Kommandant. Die Belagerer haben sich zurückgezogen. Man wird das Schloß zernieren und nach weiteren Truppen senden.“

„Das steht zu erwarten; aber sie werden in der Ausführung dieses Vorhabens leider gestört werden. Hören Sie das Pferdegetrappel im Parterre?“

„Ja. Sie werden doch nicht –“

Der General blickte den Rittmeister erschrocken an.

„Was, Exzellenz?“ fragte dieser.

„Sie werden doch nicht einen Ausfall machen?“

„Gewiß werde ich das.“

„Welch ein Wagnis! Sie dürfen die Deckung, die Sie hier finden, nicht aufgeben.“

„Warum nicht? Ah! Exzellenz, da drüben!“

Er deutete mit der Hand durch das Fenster. Der General blickte hinüber.

„Bei Gott! Preußische Ulanen!“

„Gardeulanen. Die Tête läßt sich ganz vorsichtig blicken. Jetzt ist meine Zeit gekommen. Ich muß die Aufmerksamkeit des Feindes auf mich lenken, damit Königsau sich unbemerkt nahen kann. Auf Wiedersehen!“

Er eilte fort, hinab.

„Gott, mein Gott“, klagte der General. „Und ich darf unseren Reitern kein Zeichen geben! Es will mir das Herz abdrücken!“

Da schmetterte ein Signal durch die Räume des Hauses.

„Was bedeutet das?“ fragte Ella.

„Ein preußisches Signal“, antwortete der General. „Es wird wohl heißen sollen: fertig zur Attacke! Ich weiß es nicht genau.“

„Unsere Reiter erstaunen. Sie blicken alle nach dem Schloßtor!“

„Dieser Rittmeister ist wahrhaftig so tollkühn, das Tor öffnen zu lassen. Ich glaube gar, er hat seine Husaren im Inneren des Hauses aufsitzen lassen. Hört!“

Von drüben her, wo die Franzosen hielten, hörte man ein schallendes Gelächter. Die Dragoner und Kürassiere machten Front gegen den Eingang des Schlosses und nahmen die Karabiner auf.

„Die Husaren sind verloren, wenn sie jetzt wirklich die Attacke ausführen“, sagte der General.

Ella legte die Hände auf die Brust.

„Herrgott, wende das ab“, flüsterte sie.

Drüben, wo Oberst Rallion hielt, ertönten laute Kommandorufe. Seine Truppen dehnten sich aus. Das vordere Glied legte das Gewehr im Knien an, und das hintere Glied zielte im Stehen. So erwarteten sie die Husaren, welche aber nicht so dumm waren, im Vordergrund des Flurs zu erscheinen.

„Jetzt, im nächsten Augenblick werden unsere Reiter Feuer geben“, sagte der General. „Und heiliger Himmel! Da drüben, da drüben!“

Er deutete nach dem Waldrand hinüber, den ihre Augen in den letzten Minuten vernachlässigt hatten. Dort debouchierten die Ulanen hervor, nahmen Front und – voran die Offiziere, von denen einer, nämlich Königsau, den Degen schwenkte; sie kamen herangedonnert, erst im Trab, dann im Galopp, und dann in voller sausender Karriere.

Das war so schnell gegangen, daß die Franzosen gar nichts bemerkt hatten. Jetzt, da der Boden unter den Hufen der feindlichen Rosse erdröhnte, wendeten sie die Köpfe.

„Hurra! Hurra! Preußen hoch!“

So ertönte es auch vom Schloß her. Durch das geöffnete Portal drangen die Husaren. Mit hochgeschwungenem Säbel stürzten sie sich von dieser Seite auf die Franzosen.

„Herr, mein Heiland“, stöhnte Mama Melac. „Das kann ich nicht ersehen.“

„Herrlich, herrlich!“

Dieser Ruf entfuhr dem Mund des Generals. Er konnte nichts dafür, er mußte dem Feind Bewunderung zollen.

Die Anführer der Franzosen hatten sich bisher ziemlich ferngehalten, so daß ihre Gesichtszüge nicht zu unterscheiden gewesen waren. Und da Rittmeister von Hohenthal nichts über die Unterredung des Parlamentärs mit dem Obersten Rallion geäußert hatte, so wußte Marion gar nicht, wer diejenigen eigentlich waren, die in das Schloß dringen wollten.

Sie hatte wohl bemerkt, daß sich ein Zivilist bei den Offizieren befand und dieser ein alter Herr sein müsse. Jetzt, als die Ulanen herangestürmt kamen, und die Franzosen diesen unerwarteten Feind bemerkten, gab der Alte seinem Pferd die Sporen und riß es plötzlich zur Seite. Es stieg in die Höhe und galoppierte dem entgegengesetzten Teil des Waldes zu. Hierbei sah der Alte voller Angst zurück, so daß Marion sein Gesicht erkennen konnte.

„Himmel! Der Kapitän!“ rief sie aus.

„Welcher?“ fragte Ella.

„Richemonte!“

„Der Peiniger? Wo?“

„Dort – der Alte, welcher eben im Wald verschwindet!“

„So ist es auf dich abgesehen gewesen!“

„Jedenfalls! Allen Heiligen sei Dank! Er ist fort!“

Die Attacke war auf das glänzendste gelungen; aber die Übermacht war doch zu groß. Die Franzosen wehrten sich wie die Teufel. Zuerst waren sie einfach überritten worden, wobei die Lanzen entsetzlich gewirkt hatten. Nun aber stellten sie sich zur Wehr. Sie ergriffen die ihnen entfallenen Karabiner, oder sie zogen blank. Es gelang ihnen zwar nicht, zu ihren Pferden zu kommen, aber sie kämpften zu Fuß. Das Gefecht löste sich in Einzelkämpfe auf.

„Dort, der Oberst!“ rief der alte General begeistert. „Er verteidigt sich gegen zwei Husaren. Ein tüchtiger Fechter. Ah, wirklich, den kenne ich! Das ist Rallion!“

„Rallion?“ fragte Marion. „Ja, ja gewiß! Jetzt erkenne ich ihn auch! Es war also wirklich auf mich abgesehen. Wie wird das enden!“

„Welcher mag denn wohl Königsau sein?“ flüsterte ihr Ella zu.

„Der Anführer, welcher voranritt!“ antwortete sie.

„Wo ist er?“

„Der Anführer?“ fragte der General. „Da ist er, mitten im Knäuel drin. Er trägt die Abzeichen eines Majors. Mille tonnerres, ist das ein Kerl. Seht, wie er mit dem Säbel umzugehen versteht! In der Rechten den Degen, und in der Linken den Revolver!“

Marion faltete die Hände. Sie sah ihn; sie stieß einen lauten Angstschrei aus.

„Herrgott!“ rief sie. „Er ist verloren!“

Ein Dragoner hatte sich von hinten an das Pferd Königsaus gedrängt und holte mit dem Säbel aus. Der Major aber bemerkte es, drehte sich um und schoß ihm eine Kugel durch den Kopf.

„Gerettet“, stöhnte Marion.

„Er läßt sein Pferd steigen!“ rief der General. „Da, da bekommt er Hilfe! Ein Lieutenant, ein riesiger Kerl, mit noch mehreren! Alle Teufel, hauen die zu!“

„Rallion ist seine beiden Husaren noch nicht los“, bemerkte Ella jetzt, indem sie auf den Genannten deutete. „Paß auf, Marion! Der feindliche Ulanenmajor hat ihn erblickt. Er fegt auf ihn zu. Sieh, er ruft den Husaren etwas zu. Sie lassen von dem Obersten ab. Der Major will ihn für sich allein haben! Die Anführer im Kampf miteinander.“

„Ich brenne vor Begierde!“ rief Latreau.

Sie hatten die Worte Königsaus nicht hören können. Diesem war es bis jetzt noch nicht gelungen, an Rallion zu kommen. Er hatte sich mitten im Kampfgewühl befunden. Jetzt aber, da er mit Fritzens Hilfe, den der General als den ‚riesigen Kerl‘ bezeichnet hatte, seine Dränger losgeworden war, spornte er sein Pferd auf ihn zu.

„Halt! Zurück! Dieser gehört mir“, herrschte er den beiden Husaren zu.

Sie wendeten sich sofort von Rallion fort und suchten sich andere Arbeit. Der Oberst erblickte jetzt den neuen Feind.

„Heiliges Donnerwetter!“ rief er. „Wer ist denn das?“

„Ich hoffe, Sie kennen mich.“

„Doktor Müller.“

„Oder ein anderer.“

„Ah, ich weiß! Königsau! Verdammt! Fahre zum Teufel, verfluchter Halunke!“

Er drängte sein Pferd an dasjenige seines Feindes, holte zum fürchterlichen Hieb aus, gab aber eine Finte und modulierte zum tödlichen Stoß. Königsau aber war ihm überlegen; er parierte glücklich.

„Geh voran! Andere mögen dir folgen.“

Mit diesen Worten richtete er sich im Bügel auf. Ein Hieb aus hoher Luft – Rallion sank mit gespaltenem Kopf vom Pferd.



Droben im Dachzimmer ertönte ein lauter, mehrstimmiger Schrei.

„Ein fürchterlicher Mann“, stieß der General hervor.

„Rallion ist tot“, fügte Marion hinzu.

Sie atmete tief auf und ließ den Kopf ermattet auf die Schulter Ellas sinken, welche selbst an allen Gliedern zitterte, da sie im tiefsten Herzen für den Rittmeister Hohenthal bangte, welcher die Gefahr förmlich aufzusuchen schien.

„Ich kann nicht mehr“, stöhnte sie.

„Ja, es ist zuviel“, stimmte Marion bei. „Das werde ich nie, nie vergessen.“

Beide wendeten sich vom Fenster ab. Mama Melac war längst in einen Stuhl gesunken, der in einer Ecke stand. Auch der General fühlte sich angegriffen. Er wischte sich den rinnenden Schweiß von der Stirn und sagte:

„Gehen wir wieder in unsere Zimmer. Hier ist es zu fürchterlich, besonders für euch.“

Sie folgten seiner Aufforderung. –

Als Königsau den Obersten niedergeschlagen hatte, wendete er sein Pferd wieder zurück. Er sah den Rittmeister bedrängt und eilte ihm zu Hilfe. Er hatte bisher noch gar keine Gelegenheit gehabt, ihn näher zu sehen.

„Was!“ rief er nun. „Arthur, du?“

„Ja, ich! Komm! Hauen wir diese Kerls in Kochstücke! Sie sind wie die Wespen.“

Aber die schwerste Arbeit war bereits getan. Noch eine kurze Zeit, und der Sieg war errungen – zwei Schwadronen leichte Reiterei gegen diesen überlegenen Feind! Und glücklicherweise war der Sieg gar nicht teuer bezahlt worden.

Gleich anfangs hatte sich eine kleine Abteilung Ulanen auf diejenigen Franzosen geworfen, denen die Pferde anvertraut waren. Dieser Coup war gelungen.

Niedergeritten, niedergestochen und niedergesäbelt, hatten die Feinde es nicht vermocht, wieder zu ihren Tieren zu kommen. Wer nicht tot war, der war gefangen, und nur wenigen war es geglückt, zu entkommen.

Königsau und Hohenthal schüttelten einander die Hände.

„Das war Hilfe zur rechten Zeit!“ meinte der letztere. „Wie aber wußtest du, daß ich hier belagert wurde?“

„Kein Wort wußte ich davon.“

„Nicht? Und kommst doch nach Malineau! Jedenfalls aus reinem Zufall?“

„Nein. Ich komme von Ortry, wo ich erfuhr, daß der Kapitän nach hier wollte, um Marion zu holen. Ich glaubte Franctireurs zu treffen, nicht aber dich.“

„Oh, diese Kerls habe ich gezüchtigt. Ich habe eine tüchtige Zahl gefangengenommen.“

„Marion ist doch da?“

„Ja.“

„Ist sie wohl?“

„Gewiß. Ich erkannte dich, als du da drüben hinter dem Reisig stecktest. Sie stand bei mir, und ich sagte ihr, daß Herr von Königsau mich befreien werde.“

„Was sagte sie?“

„Nichts. Aber ich sah, daß sie erbleichte –“

„Ich muß zu ihr.“

„Bitte, nicht so stürmisch! Du kannst dir denken, daß ich dabeisein möchte. Übrigens haben wir zunächst hier unsere Pflicht zu tun. Wir müssen tabula rasa machen und dann die weiteren Schritte beraten. Doch, wo ist der Kapitän?“

„Entkommen, wie es scheint.“

„Verdammt.“

„Ich hatte das Auge fest auf ihn; aber, er uns sehen und im Galopp fliehen, das war eins. Doch habe ich einige Ulanen auf seine Spur gebracht. Sie sind ihm nach.“

Und nicht weit von diesen beiden hielten noch zwei andere nebeneinander, nämlich Fritz und Martin Tannert. Als letzterer jenen erblickte, machte er große Augen und rief:

„Ist's möglich, Fritz?“

„Daß ich hier bin?“

„Nein, das nicht. Aber, Donnerwetter, Epauletten!“

„Tut nichts zur Sache.“

„Oh, das tut sogar sehr viel, denke ich.“

„Du wirst dir sie auch holen.“

„Schwerlich. Was will ich mit ihnen machen! Na, gratuliere von Herzen!“ –

Die Bewohner des Schlosses hatten sich, wie bereits gemeldet, in ein Zimmer zurückgezogen, von welchem aus sie vor dem Anblick des Kampfes bewahrt blieben. Sie verhielten sich vollständig passiv und warteten der Dinge, die nun kommen würden.

Da endlich trat Hohenthal ein.

„Entschuldigung, Exzellenz“, sagte er. „Es galt zunächst unsere Pflicht zu tun.“

Ellas Augen waren ängstlich auf ihn gerichtet, ob er vielleicht verwundet sei. Er bemerkte dies und fühlte sich ganz glücklich über diese Sorge.

„Sie sind Sieger, wie ich bemerkt habe“, antwortete Latreau. „Hoffentlich gab es nicht zu viele Opfer.“

„Wir sind sehr glücklich davongekommen. Leider aber ist dies mit unserem Gegner nicht der Fall!“

„Man muß es tragen.“

Er blickte dabei traurig, schmerzvoll vor sich nieder.

„Sie dürfen meiner Versicherung glauben, daß ich nicht ein Freund roher Gewalttätigkeiten bin; aber man muß tun, was die Pflicht gebietet.“

„Sie haben Gefangene?“

„Zahlreiche.“

„Was tun Sie mit ihnen?“

„Sie befinden sich im Keller bei den Franctireurs. Wir werden sie abzuliefern haben.“

„Wieviel Tote hat es gegeben?“

„Wir haben noch nicht gezählt. Übrigens wird man in Beziehung auf sie noch Bestimmung treffen.“

„Aber eine Frage gestatten Sie mir wohl noch. Wird Schloß Malineau besetzt bleiben?“

„Darüber habe ich noch mit Herrn Major von Königsau zu sprechen. Er steht einen Grad höher, und so muß ich ihm das Kommando abtreten.“

„Wo befindet sich dieser Herr?“

„Er wird baldigst um die Erlaubnis bitten, sich Ihnen vorzustellen. Vor allen Dingen hatte er die notwendigen Dispositionen zu treffen, welche sich auf unsere Sicherheit und anderes beziehen.“

„Wie ich bemerkte, befand Oberst Rallion sich bei den Truppen, von denen Sie angegriffen wurden?“

„Ja. Er hatte einen Kapitän Richemonte bei sich. Beide beabsichtigten, sich des Fräuleins von Sainte-Marie zu bemächtigen. Sie sagten dies dem Offizier, welchen ich zu ihnen sandte; ich aber hielt es für geraten, es zu verschweigen, bis die Gefahr vorüber sei.“

„Also waren Sie wieder der Retter.“

„O nein. Diesmal hatte ein anderer dieses Amt übernommen, nämlich – ah, da kommt er ja! Meine Herrschaften, gestatten Sie mir, Ihnen meinen Kameraden, Herrn Major von Königsau, vorzustellen.“

Richard war eingetreten. Er grüßte die Anwesenden militärisch, wartete bis ihm die Namen genannt worden waren und wendete sich dann an den General:

„Ich habe um Verzeihung zu bitten, Exzellenz, daß ich durch die Verhältnisse gezwungen bin, meinen Eintritt hier auf eine ungewöhnliche Weise zu nehmen. Hoffentlich ist es uns durch die Umstände gestattet, Sie baldigst von der Anwesenheit ungebetener Gäste zu befreien.“

„Sie sind zwar ungeladen, aber nicht unwillkommen. Ich bin Offizier, wenn auch nicht mehr aktiv, und werde Sie nicht hindern, Ihre Pflicht zu tun.“

Marions Augen waren auf Königsau gerichtet, als ob sie ein Gespenst erblickte, groß, offen und mit einem Ausdruck, welchen man Angst hätte nennen mögen. Sie zitterte, und ihr Gesicht war so blaß wie das einer Leiche.

Königsau tat, als ob er dies nicht bemerke, und gab der Unterhaltung eine allgemeine Richtung. Als sie sich aber dann von ihrem Sitz erhob und, wie ganz ermüdet, hinauswankte, konnte er es doch nicht aushalten. Als sie sich bereits unter der Türe befand, sagte er in bittendem Tone:

„Fräulein de Sainte-Marie, bitte! Es gib in meiner Schwadron einen, welcher behauptet, Sie zu kennen. Er wünscht, Ihnen vorgestellt zu werden. Gestatten Sie dies vielleicht?“

Sie hatte sich umgedreht und fragte:

„Wie ist sein Name, Herr Major?“

„Goldberg. Er ist ein Sohn des Generals der Infanterie Graf Kunz von Goldberg.“

„Ich erinnere mich nicht, einen Herrn dieses Namens zu kennen.“

„Vielleicht doch! Er behauptet Grüße nach Ortry mitgebracht zu haben, ist auch vorgestern dort gewesen, hat aber nicht die Ehre gehabt, Sie zu treffen.“

„Grüße? Von wem?“

„Von Fräulein Nanon Köhler, welche allerdings, wie er mir mitteilte, jetzt einen anderen Namen trägt.“

Da röteten sich ihre Wangen.

„Von Nanon?“ sagte sie. „Oh, bitte, lassen Sie diesen Herrn zu uns kommen.“

„Sogleich!“

Er trat an das Fenster, öffnete dasselbe und rief hinab.

„Der Herr Lieutenant von Goldberg wird gebeten, zu mir zu kommen.“

Der Genannte schien bereitgestanden zu haben, denn kaum war der Befehl erklungen, so öffnete sich die Tür, und der ‚riesige Kerl‘ trat ein.

„Dieser Herr ist es“, stellte Königsau vor.

Marion hatte sich nicht wieder gesetzt. Sie stand noch in der Nähe der Tür. Als sie Fritzens Gesicht erblickte, fuhr sie fast erschrocken zurück.

„Mein Gott“, sagte sie, „das ist ja – –!“

Er schlug die Sporen zusammen und sagte, die Hand zum Salut erhebend.

„Zu Befehl – der Pflanzensammler Schneeberg.“

„Ist's möglich – ist's – – –“

Sie stockte. Sie blickte ratlos um sich. Sie hatte diesen Mann bei Doktor Müller gesehen. Jetzt befand er sich bei Königsau. Sie konnte den Gedanken gar nicht fassen.

„Ja“, meinte der Major lächelnd. „Der Herr Lieutenant hat in der Gegend von Thionville ein wenig Maskerade gespielt. Werden Sie es ihm verzeihen, gnädiges Fräulein?“

„Verzeihen? Ich habe ja nicht das Recht, über ihn zu richten“, stammelte sie.

Er ergriff ihre Hand und zog sie an seine Lippen.

„Dann darf ich die Hoffnung hegen, daß Sie auch einem anderen verzeihen werden, welcher ebenso gezwungen war, seinen eigentlichen Namen zu verbergen.“

Da schoß eine tiefe, tiefe Röte in ihr Gesicht.

„Was sagen Sie? Was ist's? Ist's möglich?“

Er hielt ihre Hand noch immer fest.

„Ich meine mich“, sagte er.

„Sie – sie – sind, Sie waren – Gott, Sie waren Doktor Müller?“

„Ja, gnädiges Fräulein. Werden Sie mir verzeihen?“

„Gott! Gott – Ella!“

Sie streckte die Arme aus. Ihr schwindelte. Sie wankte und sank der herbeieilenden Freundin an die Brust. Diese führte sie fort, damit sie sich erholen könne.

Als Ella dann nach einiger Zeit zurückkehrte, trat der Major ihr draußen auf dem Korridor entgegen.

„Bitte, gnädigste Komtesse, hat sie sich beruhigt?“

„Ja, Sie Böser, Unvorsichtiger!“

„Wo befindet sie sich?“

„Dort im hintersten Gemach, welches die Franctireurs am wenigsten zerstört haben.“

„Zürnt sie mir?“

„Ich – ich weiß es nicht. Fragen Sie die Ärmste selbst.“

Er ging und klopfte an der bezeichneten Tür an. Ein halblautes „Herein“ ertönte, und er öffnete.

Sie saß auf dem Sofa, das Köpfchen in die Hände gestützt.

Er zog die Tür hinter sich zu und fragte:

„Darf ich?“

Sie traf ihn mit einem langen Blick und antwortet:

„Sie sind Kommandant dieses Schlosses, niemand darf Ihnen den Zutritt versagen.“

„Und doch gehe ich sofort, wenn meine Gegenwart Ihnen weh tut.“

Und als sie nicht antwortete, trat er näher und fragte:

„Soll ich bleiben – oder gehen?“

„Bleiben Sie“, flüsterte sie errötend.

Da ließ er sich an ihrer Seite nieder und sagte:

„Marion, es ist mir schwer, sehr schwer geworden, aber ich durfte nicht anders. Wollen Sie mir Ihre Hand geben, zum Zeichen, daß Sie mir verzeihen?“

„Hier, Herr – – Doktor!“

Sie lächelte dabei, halb glücklich und halb wehmütig.

„Verzeihen macht Freude, Marion. Sie aber sind traurig. Und doch möchte ich in Ihren Augen ein freudiges Licht sehen, welches mich so glücklich machen würde.“

Da legte sie ihr Köpfchen an seine Brust und weinte. Er zog sie noch inniger an sich.

„Marion!“

„Richard!“

„Warum bist du so traurig?“

„Weil du mir kein Vertrauen geschenkt hast.“

„Ich war nicht als Privatperson in Ortry. Ich mußte mein Geheimnis wahren, selbst vor dir. Ich durfte dir nichts sagen, obgleich ich so unendlich glücklich war, dich gefunden zu haben.“

Da ging es wie heller Sonnenschein über ihr Gesicht.

„So hattest du mich gesucht?“ fragte sie.

„Ja. Ich hatte dich ja in Dresden gesehen, auf der Straße nach Blasewitz, im Vorüberreiten. Nur einen Augenblick lang erblickte ich dich, aber deine Züge waren mir doch unauslöschlich in das Herz geschrieben. Ich fühlte, daß ich dein sein müsse, dich lieben könne, und doch warst du mir so unbekannt wie ein Stern, den man am Himmel niederfallen sieht. Du freilich kanntest wenigstens meinen Namen.“

„Du vermutest das?“

Sie war tief errötet. Er drückte sie liebevoll an sich und sagte:

„Sollte dir der Fotograf nicht den Namen gesagt haben?“

Da barg sie ihr Angesicht noch tiefer an seiner Brust und antwortete leise:

„Ja, er sagte ihn.“

„Nun, Gott hat es gewollt, daß ich dich wieder fand – doch als Braut eines andern.“

„Dem ich niemals angehört haben würde. Du trugst mich aus dem Sturm und aus dem Wasser. Ich war dein.“

„Aber ich war Doktor Müller, als ich dich an das Land getragen hatte.“

„Ich liebte dennoch den Mann, der so kühn, so kenntnisreich und gemütvoll war.“

„O weh! Der arme Major Königsau.“

Da schlang sie die Arme um seinen Nacken und sagte:

„Gott sei Dank, daß es so gekommen ist! Ja, ich wäre Müllers Frau geworden, gern, von Herzen gern; aber jene Begegnung in Dresden hätte ich doch nie vergessen.“

„Ich danke dir. Also ich darf dir sagen, wie lieb, wie unendlich lieb ich dich habe?“

„Ja, Richard.“

„Und du willst mir gehören, willst bei mir sein und für immerdar mein, Marion?“

„Ich bin dein eigen; ich kann ohne dich nicht sein!“

„So segne dich der Herrgott tausend und abertausend Male. Dieses Wort gibt meinem Herzen eine Fülle unendlichen Glückes. Und nie hätte ich gedacht, in Ortry, dem Wohnsitz unseres Todfeindes, ein solches zu finden.“

„Todfeind?“

„Ja. Erinnerst du dich jener Familie, von welcher ich dir erzählte, als wir miteinander im Steinbruch saßen?“

„Ja; der Kapitän hat sie um all ihr Glück gebracht.“

„Es ist die Familie Königsau, die meinige.“

„O Himmel! Nie kann ich gutmachen, was er an euch verbrochen hat. Und heute wollte er mich zwingen, mit ihm von hier fortzugehen.“

„Ich wußte es, daher kam ich.“

„Du? Du wußtest es?“

„Ja. Ich war bei ihm in Ortry.“

„Wie ist es jetzt dort?“

„Das Schloß befindet sich in unseren Händen. Alle Verschwörer sind unsere Gefangenen und – doch das weißt du nicht, und ich werde es dir später erzählen. Jetzt denke ich daran, daß du den braven Pflanzensammler gar nicht nach den Grüßen gefragt hast, die er dir zu bringen hat.“

„Er ist – Nanons Verlobter?“

„Ja. Er ist Nanons Verlobter und Graf Lemarchs Bruder. Du kennst ja den Grafen.“

„Lemarchs Bruder? Wie ist das möglich?“

„Auch das werde ich dir später erklären, meine süße Marion. Jetzt möchte ich nichts erzählen und nichts sagen. Jetzt möchte ich nur dir in deine herrlichen, klaren Augen blicken und –“

Er hielt inne und blickte ihr mit herzlicher Innigkeit in das glücklich lächelnde Angesicht.

„Und –“, fragte sie.

„Und das hier machen.“

Er legte seine Lippen auf ihren Mund. Sie schlang die Arme um ihn und zog ihn noch inniger an sich.

„Richard, mein Richard! Wie glücklich, wie selig bin ich. Ich habe nicht gedacht, daß das Menschenherz eine solche Wonne zu fassen vermöge.“

„Ja, es ist ein großes, großes Glück. Wir alle haben viel, sehr viel gelitten, und es ist eine Gnade von Gott, daß er das Herzeleid nun endlich in Freude kehrt. Wie lieb, wie herzlich lieb werde ich deine Mutter haben. Wo befindet sie sich? Ich sah sie noch nicht?“

„Sie war bei uns, bis du mit den deinen erschienst. Dann hat sie ihr Zimmer aufgesucht. Wenn du sie lieb hast, werde ich doppelt glücklich sein. Aber die deinen! Was werden sie sagen, wenn sie erfahren, daß gerade ich dein Herz besitze?“

„Sie werden sich freuen. Meine Schwester kennt dich bereits und hat dich tief in ihr Herz geschlossen.“

„Deine Schwester?“

„Ja.“

„Wie heißt sie?“

„Emma.“

„Und du sagst, daß sie mich kenne?“

„Gewiß. Sie hat dich oft gesehen.“

„Wo?“

„In Thionville und Ortry.“

„Unmöglich!“

„O doch! Du hast sogar mit ihr gesprochen, und sie hofft, daß du sie auch ein klein wenig liebhaben wirst.“

„Aber Richard, ich besinne mich nicht im mindesten.“

„Bedenke, daß ich inkognito bei euch war.“

„Ah, sie war also auch –?“

„Inkognito!“ nickte er lächelnd.

„Unter welchem Namen?“

„Miß de Lissa.“

„Mein Gott! Diese ist deine Schwester?“

„Ja. Ich hatte ihr voller Glück geschrieben, daß ich meine einzige, wahre Liebe gefunden habe. Das trieb sie herbei, sie wollte dich kennenlernen. Sie lernte dich nicht nur kennen, sondern auch lieben von ganzem Herzen.“

„Richard, wie wunderbar! Wie unendlich glücklich machst du mich! Ich habe sie so lieb!“

Da klopfte es leise, und die Tür wurde ein wenig geöffnet.

„Darf ich stören?“ fragte Ella.

„Ja. Komm, komm!“

Bei diesen Worten sprang Marion auf und eilte ihr entgegen.

„Verzeihung!“ sagte die schöne Komtesse. „Aber, Herr Major, Sie werden gesucht.“

„Wo?“

„Im vorderen Zimmer.“

Er begab sich vor und fand einen der Ulanen, welche er dem Kapitän nachgeschickt hatte.

„Zurück von der Verfolgung“, meldete er.

„Aber nicht gefangen?“

„Nein.“

„So ist er leider weg?“

„Zu Befehl, Herr Oberstwachtmeister, nein!“

„Wie? Nicht?“

„Er kommt wieder zurück.“

„Selbst? Freiwillig?“

„Ja.“

„Was? So kommt er nicht allein?“

„Mit einer Truppe afrikanischer Reiter.“

„Spahis?“

„Ja, so heißen sie.“

„Erzähle.“

„Wir konnten dem Alten nicht auf die Fersen kommen. Er hatte einen großen Vorsprung, und wir kannten ja die Gegend nicht, daß wir ihm den Weg hätten abschneiden können. Aber seine Spur fanden wir. Sein Pferd hatte im Galopp den Waldboden so sehr aufgerissen, daß wir gar nicht irren konnten. Wir folgten ihm durch verschiedene Waldwege, dann hinaus auf das Feld. Es ging, wie ich aus meiner kleinen Karte bemerkte, auf Samigneux zu. Wir kamen wieder in einen Wald, welcher sich über eine Höhe zog. Oben angekommen, so daß wir das Tal überblicken konnten, bemerkten wir einen Zug Spahis, der uns gerade entgegenkam. Auf ihn traf der Alte. Wir sahen deutlich, daß er mit dem Anführer sprach und dann mit ihnen umkehrte.“

„So führt er sie hierher?“

„Ja. Wir jagten schleunigst zurück, um von ihnen in offener Gegend nicht gesehen zu werden. Nicht weit von hier, jenseits des Walds, sahen wir sie im Hintergrund der Gegend von der Höhe herabreiten.“

„Konntet ihr sie zählen?“

„Nein, aber einige Hundert sind es.“

„Hm! Wie weit von hier darf man sie jetzt noch schätzen?“

„Sie können in einer halben Stunde da sein.“

„Schön! Fertig?“

„Fertig!“

„Abtreten!“

Der Ulan ging. Der General hatte diese Unterhaltung oder vielmehr Meldung mit angehört. Er fragte:

„Herr Major, was werden Sie tun?“

„Hier bleiben.“

„Ich darf mir nicht zumuten, auf Ihre Entschließungen bestimmend einzuwirken; aber meinen Sie nicht, daß Sie sich in Gefahr begeben?“

„Ich habe jetzt nur zu bedenken, daß ich die Bewohner des Schlosses nicht gewissen Eventualitäten preisgeben darf. Übrigens scheint Schloß Malineau bestimmt zu sein, kriegerische Wichtigkeit zu erlangen. Der Kronprinz von Preußen befindet sich weit im Westen von hier. Wenn ein feindlicher Truppenkörper sich unserer Verbindungslinie nähert, muß das eine gewisse Veranlassung haben, die ich kennenlernen möchte.“

„Aber es wird wieder zum Kampf kommen.“

„Möglich.“

„Ihre Kräfte sind geschwächt. Die zersprengten Franctireurs und Reiter können sich sammeln und mit den Spahis den Angriff erneuern.“

„Wir werden sie empfangen.“

„Ganz gewiß“, meinte Hohenthal. „Ich bin noch nicht veranlaßt worden, dir zu sagen, daß ich Verstärkung erwarte.“

„Woher?“

„Aus Trouville. Ich sandte zwei Boten ab, als ich von der Ankunft der Reiter hörte.“

„Sehr schön. Wann können diese Leute kommen?“

„Vielleicht bereits am Abend, jedenfalls aber noch während der Nacht.“

„Nun, so ist ja ganz und gar nichts zu befürchten. Die Sonne ist hinab; in einer Viertelstunde ist es dunkel. Die Außenposten sind bezogen und werden den Spahis beweisen, daß wir auf unserer Hut sind. Das weitere werden wir ruhig abwarten.“

Er traf seine Vorkehrungen, und diese erwiesen sich als ganz vortrefflich.

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