FÜNFTES KAPITEL Der Krieg bricht aus

Die seit längerer Zeit zwischen Frankreich und Preußen herrschende Spannung hatte sich bis zur Unerträglichkeit gesteigert. Es war anzunehmen gewesen, daß dies auf künstliche Weise angesammelte Donnerwetter sich mit einem fürchterlichen Schlag entladen werde, und das war nun geschehen.

Napoleon hatte diese Entladung herbeigeführt. Um seinem wankenden Thron einen neuen Halt zu geben, mußte er sein unzufriedenes Volk beschäftigen. Er mußte seinen Flitterthron mit neuer Glorie schmücken, und so zwang er den Krieg herbei. Er wußte sehr genau, daß er va banque spielte; aber er glaubte an sein Glück und unternahm das ungeheure Wagnis.

„Brusquez le Roi!“ hatte er seinem Vertreter Benedetti nach Bad Ems telegraphiert.

Das heißt in gutem Deutsch: „Schnauzen Sie den König an!“ Benedetti gehorchte diesem Befehl, drängte sich auf der Promenade an König Wilhelm und brüskierte ihn. Er erhielt die verdiente Zurückweisung, und die Folge davon war Frankreichs Kriegserklärung.

Nun bemächtigte sich ein wahres Fieber des französischen Volkes, ein Fieber, welches seinen Höhepunkt natürlich in der Hauptstadt, in Paris, erreichte. Diese war ein einziges großes Waffenlager. Wehe dem Deutschen, der sich auf der Straße blicken ließ!

In dem bekannten Haus der Rue Richelieu wurde die Glocke der ersten Etage gezogen. Die Wirtin selbst öffnete.

„Monsieur Belmonte“, sagte sie, erfreut die Hände zusammenschlagend. „Endlich! Treten Sie ein.“

Sie zog ihn in den Vorsaal und dann in das Zimmer und begrüßte ihn in einer Weise, aus welcher er merkte, daß er ihr höchst willkommen sei.

„Also ist Martin, mein Diener, bereits hier gewesen?“ erkundigte er sich.

„Ja, bereits vorgestern. Er meldete mir Ihre Ankunft, und ich freute mich sehr, Sie wieder bei mir zu haben.“

„Lange wird dies freilich nicht währen.“

„Nicht? Wie schade.“

„Daran ist diese Kriegserklärung schuld.“

„Ja, dieser Krieg! Man wird dem König von Preußen zeigen, welche Dummheit er begangen hat.“

„Ja, eine Dummheit ist begangen worden, eine sehr große.“

„Müssen Sie auch mit ins Feld?“

„Freilich.“

„So gebe Gott, daß Sie gesund wiederkommen.“

„Ich danke, Madame! Also ich darf mein früheres Logis für die kurze Zeit, die mir erlaubt ist, wieder beziehen?“

„Natürlich, natürlich!“

„Hat Martin Ihnen gesagt, wo er wohnt?“

„Jawohl! Denken Sie sich, daß er anderwärts logieren wollte. Ich habe das natürlich nicht zugegeben.“

„So wohnt er bei Ihnen?“

„Das versteht sich ja ganz von selbst.“

„Und wo befindet er sich jetzt?“

„Eben in Ihrer Wohnung. Er hat Ihren Koffer mitgebracht und alles ausgepackt. Sie werden das Logis ganz genau so finden, wie Sie es verlassen haben. Kommen Sie.“

Sie führte ihn in die betreffenden Zimmer, wo er von dem braven Martin freudig empfangen wurde. Nachdem sie sich entfernt hatte und Herr und Diener allein waren, sagte der Erstere:

„Nun, hast du Neues?“

„Genug! Eine ganze Menge von Notizen.“

„Ich auch. Meine Ernte ist sehr reichlich.“

„Wie lange bleiben wir hier?“

„Wohl kaum länger als bis morgen. Das Terrain wird zu gefährlich. Wir arbeiten diese Nacht, und dann können wir aufbrechen.“

„Schön. Ich hoffe, daß wir recht bald wiederkommen, und zwar nicht als Weinhändler. Aber, mein sehr vorzüglicher Monsieur Belmonte, wissen Sie, was ich für eine Entdeckung gemacht habe?“

„Nun?“

„Eine höchst, höchst wichtige.“

„So laß hören.“

„Vater Main –“

„Was Teufel! Ist's wahr?“

„Ja.“

„Hast du ihn gesehen?“

„Ich hoffe es.“

„Du hoffst es? Das klingt freilich sehr ungewiß.“

„Hm! Er war sehr gut verkleidet, fast noch besser als ich selbst; aber seine Stimme war es ganz genau.“

„Wann hast du ihn gesehen?“

„Heute früh. Auf dem Versailler Bahnhof. Ich lungerte dort herum, als der Zug anlangte. Unter den aussteigenden Passagieren waren zwei, welche hart an mir vorüberstrichen. Sie sprachen miteinander, und der Kuckuck soll mich reiten, wenn ich den einen nicht an der Stimme erkannte.“

„Eben Vater Main?“

„Ja.“

„Und der andere?“

„Ich weiß nicht, wohin ich ihn tun soll; aber seine Haltung und sein Gang schienen mir bekannt zu sein. Es läßt sich vermuten, daß auch er verkleidet war.“

„Wohin gingen sie?“

„Sie schlugen die für uns glücklichste Richtung ein, welche es nur geben kann, nämlich nach dieser Straße.“

„Ah! Bist du ihnen gefolgt?“

„Natürlich. Sie gingen, denken Sie sich den Zufall, in das uns gegenüberliegende Haus.“

„Und du ihnen nach?“

„Ja, freilich nur bis in den Hof, um zu sehen, wo sie verschwinden würden.“

„Nun?“

„Da drüben im Hinterhaus, parterre, gibt es eine sogenannte Destillation. Man destilliert aber nicht, sondern man schenkt nur aus – Schnaps natürlich. Da hinein gingen sie. Ich habe mich dann hier an das Fenster gestellt und aufgepaßt. Sie sind noch nicht wieder heraus.“

„Sapperment! Warum bist du nicht auch hinein?“

„Konnte ich? Man müßte sich verkleiden.“

„Nun, so sehe ich mich genötigt, das Versäumte nachzuholen. Ich muß wissen, wer der andere ist.“

„Hm! Eine Ahnung habe ich freilich.“

„Welche?“

„Der Gang war ganz derjenige, den ich an jenem Harlekin beobachtet habe, der bei Vater Main verkehrte.“

„Alle Teufel! Meinst du den Bajazzo Lermille?“

„Ganz genau!“

„Wenn du dich nicht irrtest. Das wäre ein Fang.“

„Vater Main ein noch viel größerer. Er war es ja, der Fräulein von Latreau einsperrte. Der Bajazzo war da wohl nicht dabei.“

„Aber er ist mir in anderer Beziehung wichtig. Hast du die Schminke und alles andere da?“

„Alles.“

„So will ich mir sofort ein anderes Gesicht machen. Ich muß hinüber; ich muß wissen, woran ich bin.“

Martin öffnete einen Doppelboden des Koffers, unter welchem sich allerlei Heimlichkeiten befanden, von denen er das Nötige auszuwählen begann. Plötzlich hielt er in dieser Beschäftigung inne, schnipste mit dem Finger und sagte:

„Sapperlot, kommt mir da ein Gedanke.“

„Ein guter?“

„Ich hoffe es.“

„Laß hören!“

„Wollen Sie Vater Main arretieren lassen?“

„Natürlich.“

„Dann kommen Sie mit der Polizei in Berührung, und das müssen wir jetzt vermeiden.“

„Meine Papiere sind ausgezeichnet.“

„Ja, aber besser ist besser. Wissen Sie, wer am meisten darauf brennt, ihn zu fangen?“

„Nun?“

„Der General von Latreau.“

„Natürlich. Wie aber kommst du auf diesen? Steht seine Person mit deinem plötzlichen Einfall in Beziehung?“

„Ja. Wie wäre es, wenn wir diesen braven Vater Main dem General nach Schloß Malineau schickten?“

„Pah! Er würde sich hüten, hinzugehen.“

„Oder wir selbst bringen ihn hin.“

„Wie wollen wir das anfangen?“

„Oh, es ist nicht sehr schwer. Ich denke mir, daß Vater Main nur für kurze Zeit hier sein wird. Vielleicht hat er eine Kleinigkeit zu tun. Jedenfalls aber darf er sich nicht sehen lassen. Ihm ist ein Asyl notwendig, wo man ihn nicht kennt. Wie nun, wenn ihm dies in Malineau scheinbar geboten würde?“

„Hm! Dieser Gedanke hat allerdings etwas für sich. Wollen sehen. Ich muß erst rekognoszieren, ehe ich einen Entschluß fassen kann. Freilich, wenn der andere wirklich der Bajazzo wäre, so könnte man den beiden gar keine bessere Falle stellen, als die ist, die du meinst. Vor allen Dingen will ich Toilette machen.“

Mit Hilfe Martins war er in kurzer Zeit so verwandelt, daß ihn kein Mensch erkennen konnte. Der Diener mußte dafür sorgen, daß er während des Fortgehens nicht von der Wirtin bemerkt wurde; dann verließ er das Logis.

Er schritt über die Straße, trat in das gegenüberliegende Haus und ging in den Hof desselben. Er bemerkte, daß die angegebene Destillation eine ganz gewöhnliche Spelunke sei, ein Umstand, mit welchem er sehr zufrieden war. Er trat ein und befand sich in einem nicht sehr großen, aber desto niedrigeren Raum, in welchem es fast unausstehlich nach Schnaps und schlechtem Tabak roch.

An einem schmutzigen Tisch saßen zwei Männer, in denen er die Betreffenden vermutete. Sie hatten eine Flasche Branntwein und zwei Gläser vor sich stehen; sonst befand sich niemand da.

Er grüßte und setzte sich an den Nebentisch; sie dankten mürrisch und schienen sich nicht weiter um ihn bekümmern zu wollen. Nachdem er eine Weile gewartet hatte, fragte er:

„Messieurs, ist vielleicht einer von Ihnen der Wirt?“

„Nein“, antwortete Vater Main.

„Wo ist er denn?“

„Da draußen.“

Er deutete nach einer dem Ausgang entgegengesetzten Tür. Belmonte klopfte an dieselbe, und nun trat der Wirt ein, von welchem er einen Schnaps verlangte. Er erhielt denselben, und dabei fragte der Wirt:

„Sie sind fremd in dieser Straße?“

„Ja.“

„Dachte es. Wenigstens waren Sie noch nicht bei mir.“

„Ich bin überhaupt fremd in der Residenz. Ich war noch nie in Paris.“

„Und kommen gerade jetzt her! Das ist befremdlich.“

„Wieso?“

„Nun, Sie sind doch wohl noch nicht über das Militärdienstalter hinaus, und jetzt hat jeder Kriegspflichtige an seinem Ort einzutreffen.“

„Das ist sehr richtig. Aber gerade deshalb komme ich nach Paris. Ich muß mit ins Feld, und daheim mangelt es an Ersatz. Den will ich hier suchen.“

„Ah so! Na, da suchen Sie.“

Er entfernte sich wieder, und Belmonte gab sich Mühe, einen Schluck des miserablen Getränks hinunterzuwürgen.

Die beiden anderen musterten ihn mit prüfendem Blick, dann fragte Vater Main:

„Darf man wissen, woher Sie sind?“

„Seitwärts von Metz. Es ist das eine verdammte Geschichte.“

„Was?“

„Mein Vater ist nämlich Schloßkastellan und zugleich Ökonomieverwalter. Infolge des Krieges werden fast alle unsere Leute eingezogen, und sie fehlen daheim. In der Gegend gibt es keinen Ersatz, und so schickte mich der Vater nach Paris. Ich habe nur einen einzigen Menschen gefunden, der sich engagieren ließ, nun aber brauche ich drei. Kein Mensch will mit, obgleich die Stellen sehr gute sind.“

„Was sind es für welche?“

„Die Stelle eines Forstwartes und seines Gehilfen.“

„Da sind doch wohl Forstkenntnisse erforderlich?“

„O nein. Die beiden haben nur darauf zu sehen, daß nichts gestohlen wird.“

„Hm! Wann sind diese Stellen zu besetzen?“

„Sofort.“

„Welche Empfehlungen werden verlangt?“

„Empfehlungen? Mein Gott, wozu Empfehlungen?“

„Aber Sie können doch nicht den ersten besten engagieren!“

„Man muß dies leider. Es ist niemand zu bekommen.“

Es entstand eine Pause. Belmonte griff nach einem Zeitungsblatt und las. Die beiden anderen sprachen leise miteinander. Vater Main flüsterte leise:

„Du, Bajazzo, was sagst du dazu?“

„Hm! Nicht übel!“

„Forstwart, man steckt im Wald; kein Mensch hat sich um einen zu bekümmern. Man könnte da Gras über die Geschichte wachsen lassen. Nicht?“

„Freilich!“

„Zudem sieht dieser Kerl sehr dumm aus. Wenn sein Vater nicht gescheiter ist, so sind wir geborgen. Soll ich mit ihm reden?“

„Meinetwegen. Aber wir müssen doch vorher erst unseren Plan zur Ausführung bringen.“

„Natürlich. Dazu genügt der heutige Abend. Mein früheres Haus steht leer. Sobald es dunkel ist, können wir unbemerkt hinein. In einer halben Stunde ist die Sache gemacht. Dann sind wir in Paris fertig.“

„Ist's auch wirklich wahr mit dem Löwenzahn?“

„Ja, ich habe ihn noch. Er ist bei den anderen Sachen.“

„Wollen wir damit zum Grafen Lemarch?“

„Das ist noch zu überlegen. Ich halte es für gefährlich, verheimliche mir aber nicht, daß wir ihm ein hübsches Sümmchen abnehmen könnten.“

„Das wäre nicht notwendig, wenn diese verdammte Polizei nicht die Nummern der Kassenscheine, die der Lumpenkönig bei sich hatte, veröffentlicht hätte.“

„Wir konnten nicht wissen, daß er sie kurz vorher vom Bankier geholt hatte, der dann dummerweise das Verzeichnis einschickte. Wenn wir an den Grafen wollten, so müßtest du gehen. Ich darf mich nicht sehen lassen.“

So unterhielten sie sich noch ein Weilchen flüsternd, dann wendete sich Vater Main an Belmonte:

„Würden Sie sich wohl ein wenig zu uns hersetzen?“

„Warum?“ fragte er, scheinbar gleichgültig.

„Wir möchten in Ihrer Angelegenheit mit Ihnen sprechen.“

„Ach so.“

Er setzte sich hin und erkundigte sich.

„Wissen Sie vielleicht eine geeignete Persönlichkeit?“

„Ja, zwei sogar.“

„Ach! Das wäre mir lieb. Wer sind diese beiden?“

„Wir selbst.“

„Ah, Sie? Hm! Da darf ich wohl fragen, wer Sie sind?“

„Ja. Hier ist mein Paß.“

„Und hier der meinige.“

Er nahm die beiden Pässe in Empfang und prüfte sie. Er schien sehr befriedigt zu sein, denn er nickte einige Male mit dem Kopf und sagte dann:

„Schön, schön! Nur muß ich Ihnen sagen, daß ich nicht die Macht habe, das Gehalt zu bestimmen. Das ist meines Vaters Sache.“

„Oh, das hat ganz und gar keine Eile!“

„Also Sie haben Lust?“

„Ja.“

„Wann können Sie antreten?“

„Baldigst. Wann wollen Sie zurück?“

„Sobald ich eben die betreffenden drei engagiert habe. Einen hatte ich schon, nun Sie zwei, da bin ich eigentlich fertig.“

„Wir haben aber heute noch eine kleine Angelegenheit in Ordnung zu bringen.“

„Gut, so warte ich.“

„Morgen können wir jedenfalls mit. Vielleicht macht es sich auch, daß wir bereits mit dem Nachtzug aufbrechen könnten. Wo logieren Sie?“

„Gar nicht. Ich kann bleiben, wo es mir beliebt.“

„Schön! Wollen wir uns heute abend hier treffen?“

„Gut. Wann?“

„Es wird spät werden. Vielleicht elf Uhr?“

„Ich werde mich einstellen.“

„So sind wir also einig. Dürfen wir fragen, wie Ihre Heimat heißt?“

„Schloß Malineau bei Etain.“

Vater Main mußte eine Bewegung der Überraschung unterdrücken. Er fragte:

„Wem gehört dies?“

„Dem Baron von Courcy.“

„Ich denke, es ist Eigentum des Generals Latreau!“

„Das war es. Er hat es verkauft.“

„Ach so. Die Herrschaft wohnt dort?“

„Nein. Nur wir wohnen da. Es ist sehr einsam, aber schön. Es wird Ihnen gefallen.“

Er verließ das Lokal eher als sie, und es gelang ihm, unbemerkt in sein Logis zu gelangen. Martin hatte am Fenster gestanden und seine Rückkehr beobachtet.

„Sie waren noch drüben?“ frage er.

„Ja, es war Vater Main.“

„Und der andere?“

„War der Bajazzo.“

„Sapperment! Haben Sie mit ihnen gesprochen?“

„Nicht nur gesprochen; ich habe sie sogar engagiert.“

„Engagiert? Wieso?“

„Als Forstbedienstete.“

„Etwa für Schloß Malineau?“

„Ja.“

„Alle Wetter! Sie werden hinreisen?“

„Wir beide und sie beide.“

Er erzählte seine Unterredung, die er mit den zwei Verbrechern gehabt hatte, und fügte hinzu:

„Du bist also auch engagiert, und zwar – na, als was denn wohl? Was denkst du?“

„Gärtnergehilfe.“

„Gut. Nun aber muß ich einen Brief nach Malineau schreiben.“

„An den General?“

„Nein, sondern an Melac bloß. Ich habe meine Absicht, den General vorher nichts wissen zu lassen. Bleib hier am Fenster und beobachte das Haus da drüben. Der Abend wird bald hereinbrechen; dann stellen wir uns beide auf die Lauer.“

Er schrieb den Brief, welchen Martin sogleich zur Post besorgte; dann begaben sich beide auf die Straße. Sie sagten sich, daß Vater Main und der Bajazzo jetzt wohl miteinander ausgehen würden.

Sie hatten noch nicht lange gewartet, so sahen sie, daß sie sich nicht getäuscht hatten. Die beiden Erwarteten traten aus dem Tor und schritten langsam die Straße hinab.

„Wir gehen ihnen nach“, sagte Belmonte. „Aber wir teilen uns; du drüben und ich hüben. Sie dürfen uns nicht bemerken.“

Sie trennten sich und sahen nach einiger Zeit zu ihrem Erstaunen, daß sich die verkappten Flüchtlinge nach der Straße begaben, in welcher die frühere Restauration von Vater Main lag.

Dort angekommen, blieb der Bajazzo auf der Straße stehen, jedenfalls, um Wache zu halten. Der Schankwirt aber schlüpfte, nachdem er sich vorsichtig umgesehen hatte, in den Eingang, an welchem es jetzt nicht einmal eine Tür gab. Das Haus schien als Ruine betrachtet zu werden.

Nach ungefähr einer halben Stunde kehrte er zurück und entfernte sich mit dem Bajazzo. Die beiden Verfolger blieben in angemessener Entfernung hinter ihnen.

Der Weg ging einer Gegend zu, bis endlich die beiden einige Augenblicke vor einem palastähnlichen Gebäude stehen blieben. Der Bajazzo trat dort ein, und Vater Main zog sich nach der gegenüberliegenden Straßenseite zurück.

„Was mag der Kerl in diesem Haus wollen?“ fragte Martin.

„Das möchte auch ich wissen. Ohne guten Grund wagt sich ein solcher Mensch nicht in ein Palais. Ich muß erfahren, wem es gehört.“

„Später im Vorbeigehen.“

„An ein Vorbeigehen dürfen wir nicht denken. Ich vermute, daß die beiden nun wieder umkehren werden, um nach der Destillation zu gehen, in welcher sie mich erwarten. Sie müssen also, wenn wir hinter ihnen gehen wollen, erst an uns vorüber.“

„So ist es jedenfalls besser, wir gehen vor ihnen her.“

„Nein. Wir müssen zurückbleiben, um zu erfahren, wem das Palais gehört. Da, dieser Hausflur ist nicht erleuchtet. Treten wir ein.“

„Aber wenn jemand kommt und uns fragt, was wir hier wollen?“

„Hoffentlich glaubst du nicht, daß ich um eine Antwort verlegen sein werde.“

Sie huschten in den dunklen Flur des Hauses, an welchem sie gestanden hatten, und beobachteten von da aus den Eingang des Palais, in welchem der Bajazzo verschwunden war.

Sie hatten noch nicht lange da Platz genommen, so hörten sie nahende leise Schritte.

„Zurück!“ flüsterte Belmonte seinem Diener zu.

Sie hatten kaum Zeit, einige Schritte tiefer in den Flur zu treten, so huschte – Vater Main hinein. Er schien seinen Kumpan hier erwarten zu wollen. Natürlich nahmen sich nun die beiden in acht, nicht das geringste Geräusch hören zu lassen.

Als der Bajazzo drüben eingetreten war, hatte ihn der Diener gefragt, was er hier zu suchen habe.

„Hier wohnt der Graf de Lemarch?“ erkundigte er sich.

„Ja.“

„Ist dieser Herr zu Hause?“

„Ja. Für Sie aber wohl schwerlich.“

„Vielleicht doch. Ich habe mit ihm zu sprechen.“

Der Diener musterte ihn mit einem geringschätzigen Blick und meinte:

„Ich gebe Ihnen aber doch den Rat, lieber zu verzichten.“

„Und ich rate meinerseits Ihnen, abzuwarten, was der gnädige Herr beschließen wird.“

„Hm! Ist's denn wichtig?“

„Allerdings.“

„Nun, diese Angelegenheit gehört nicht in mein Ressort. Gehen Sie eine Treppe hoch in das Anmeldezimmer!“

Dort erging es dem Bajazzo ebenso. Der Kammerdiener glaubte, ihn abweisen zu müssen. Er ging aber nicht und sagte endlich:

„Melden Sie, daß ich den gnädigen Herrn in Beziehung auf den Herrn Rittmeister zu sprechen habe!“

„Sie meinen den jungen Herrn?“

„Ja.“

„Sonderbar! Wie ist Ihr Name?“

„Den werde ich dem Grafen selbst nennen.“

Der Diener zuckte mit der Achsel, verschwand aber doch in der nächsten Tür. Dort befand sich das Rauchzimmer, und da saß – – – eben der junge Graf, welcher als Maler Haller in Berlin gewesen war.

„Was gibt es?“ fragte er den Kammerdiener.

„Ein fremder Mensch wünscht den gnädigen Herrn zu sprechen.“

„Meinen Vater?“

„Ja.“

„Vater hat keine Zeit. Er ist in der Bibliothek beschäftigt.“

„Die Person beharrt aber auf der Bitte.“

„Was will er?“

„Er behauptet, wegen Ihnen zu kommen.“

„Wegen meiner? Hm! Wer ist der Mann?“

„Er will seinen Namen nur dem gnädigen Herrn nennen.“

„Alle Wetter! Das klingt ja recht geheimnisvoll! Warte, ich werde ihn selbst empfangen. Er soll kommen!“

Der Diener öffnete, und der Bajazzo trat ein. Er hatte erwartet, den alten Grafen zu sehen; als er anstatt dessen den Chef d'Escadron erblickte, befiel ihn eine Verlegenheit, welche er vor Lemarch nicht zu verbergen vermochte. Dieser bemerkte es und fragte in einem hörbar mißtrauischen Ton:

„Was wollen Sie?“

„Ich bitte, den gnädigen Herrn Vater sprechen zu dürfen!“

„Er hat keine Zeit. Sagen Sie mir, was Sie zu sagen haben!“

„Das geht nicht an.“

„Warum nicht? Sie kommen meinethalben, wie ich gehört habe. So kann ich auch verlangen, zu erfahren, was Sie wollen. Also reden Sie!“

„Es geht wirklich nicht. Wenn der gnädige Herr nicht zu sprechen ist, so werde ich mir gestatten, ein anderes Mal wieder zu kommen.“

Er machte eine Bewegung, sich zu entfernen.

„Halt!“ sagte der Rittmeister. „Sie bleiben! Sie kommen mir verdächtig vor. Sie verschweigen Ihren Namen. Sie wollen mit Vater über mich sprechen, und zwar über einen Gegenstand, den ich nicht erfahren soll. Ich befehle Ihnen, Ihr Anliegen vorzubringen!“

„Es ist unmöglich.“

„Ah, das kennen wir! Ich werde nach der Polizei senden!“

Er tat einen Schritt nach dem Tisch, auf welchem die Klingel lag. Da bemächtigte sich des Bajazzos eine ungeheure Angst. Mit der Polizei durfte er auf keinen Fall zusammenkommen. Daher sagte er schnell in bittendem Ton:

„Verzeihung! Wenn ich lieber schweigen möchte, tue ich das nur um Ihretwillen.“

„So, so! Warum!“

„Weil ich nicht weiß, ob Sie davon wissen oder nicht!“

„Wovon?“

„Daß Sie nicht der Sohn des Grafen Lemarch sind!“

Da trat der Rittmeister einen Schritt zurück und sagte, indem sein Gesicht das größte Erstaunen ausdrückte:

„Ich bin nicht sein Sohn? Mann, sind Sie bei Sinnen?“

„Es ist so, wie ich sage.“

„Daß ich nicht der Sohn des Grafen bin?“

„Ja.“

„Ich habe wirklich große Lust, Sie als einen entsprungenen Tollhäusler festnehmen zu lassen!“

„Sie werden das nicht tun. Ich wollte Ihnen nichts mitteilen. Nun Sie mich aber gezwungen haben, bitte ich Sie, den gnädigen Herrn rufen zu lassen. Er wird bestätigen, was ich gesagt habe.“

Der Rittmeister betrachtete den Sprecher mit weitgeöffneten Augen. Dann sagte er:

„Sie sprechen wirklich im Ernst?“

„Ja.“

„Wer sind Sie?“

„Ich bin ein armer Teufel, ein Tischler, und heiße Merlin.“

Das war wieder ein falscher Name, den er sich gab.

„Gut! Kommen Sie!“

Bei diesen in entschlossenem Ton gesprochenen Worten faßte ihn der Rittmeister beim Arm, schob ihn durch eine Tür und dann durch eine zweite, worauf sie sich in der Bibliothek befanden. Dort saß der Graf am Studiertisch; er sah auf und richtete einen erstaunt fragenden Blick auf seinen Sohn.

„Pardon, Vater, daß ich störe!“ sagte dieser. „Ist dir vielleicht dieser Mann bekannt?“

Der Angeredete stand von seinem Stuhl auf, betrachtete den Bajazzo und antwortete:

„Nein. Ich habe ihn nie gesehen, wenigstens nie bemerkt.“

„Er scheint verrückt zu sein; er behauptet, daß ich nicht dein Sohn bin.“

Der Graf wechselte die Farbe, faßte sich aber schnell und sagte achselzuckend:

„Dann ist er allerdings geistig gestört. Laß ihn gehen.“

Er hatte in dieser Angelegenheit einen einzigen Vertrauten, nämlich Vater Main. Da dieser flüchtig war und nicht wiederkehren konnte, fühlte er sich seiner Sache sicher. Aber der Bajazzo meinte:

„Bitte, Herr Graf, mir zu glauben, daß ich im vollen Besitz meiner Sinne bin. Ja, Sie hatten einen Sohn. Er starb. Ihre Frau Gemahlin war schwach und kränklich; sie durfte den Tod des Kindes nicht erfahren. Um sie am Leben zu erhalten, taten Sie einen für Sie schweren Schritt. Sie verheimlichten ihr den Tod Ihres Sohnes und adoptierten einen anderen Knaben von demselben Alter. Dies war nur dadurch ermöglicht, daß Ihre Frau Gemahlin sich wegen ihrer leidenden Gesundheit für längere Zeit außer Landes befand.“

„Wer hat Ihnen dieses Märchen aufgebunden?“

Seine Stimme klang bei diesen Worten eigentümlich belegt. Er mußte sich alle Mühe geben, gleichgültig zu erscheinen.

„Es ist kein Märchen!“

„Was sonst?“

„Die Wahrheit. Sie gaben damals Ihrem Kammerdiener den Auftrag, nach einem geeigneten Kind zu suchen.“

„Was Sie sagen.“

„Sie schenkten diesem Mann Vertrauen. Später täuschte er Sie! Sie jagten ihn fort. Er wurde nachher unter dem Namen Vater Main bekannt und berüchtigt.“

„Alle Teufel! Woher haben Sie diese Geschichte?“

„Vom Vater Main.“

„Der Schurke lügt!“

„Oh, nein, denn ich bin es, der ihm damals den Knaben lieferte, gnädiger Herr.“

„Sie? Sie –!“

„Ja.“

Er nannte das Jahr, den Monat und den Tag ganz genau. Das war dem Grafen zu viel. Er griff sich an den Kopf. Er wußte nicht, was er sage sollte.

„Vater“, sagte der Rittmeister; „beweise diesem Manne, daß er sich irrt.“

Der Graf wendete sich ab. Er kämpfte mit sich selbst. Dann kehrte er sich wieder zu dem Bajazzo und befahl ihm:

„Treten Sie in das vorige Zimmer zurück, und warten Sie, bis ich Sie rufe.“

Der Bajazzo gehorchte. Vater und Sohn standen sich gegenüber, einer so erregt wie der andere.

„Vater, wie ist's? Er lügt! Er sagt die Unwahrheit!“

Der Graf schüttelte leise den Kopf und antwortete in gedämpftem Ton:

„Es kommt so plötzlich über mich. Ich kann nicht widerstreben. Bernard, er sagt die Wahrheit.“

Da lehnte sich der Offizier an den Tisch. Er hielt sich an demselben fest. Er zitterte.

„Mein Gott!“ stöhnte er. „Ich nicht – dein – Sohn! Ich – ich – – – o, mein Heiland!“

Da aber trat der Graf zu ihm, nahm seine beiden Hände und sagte in zärtlichem Ton:

„O doch, du bist mein Sohn; du bist und bleibst mein Kind. Du solltest nie erfahren, daß du von anderen Eltern seist. Nun aber dieser Mann gekommen ist, war es mir unmöglich, es zu verschweigen. Komm, setz dich nieder.“

Er zog ihn in einen Sessel nieder, nahm selbst auch Platz und erklärte ihm sodann:

„Es ist allerdings so, wie er sagte: Die Gräfin war durch die Geburt unseres einzigen Kindes außerordentlich angegriffen. Ihre Nerven litten; ihre Brust wurde krank. Sie mußte den Knaben mir überlassen, um ein anderes Klima aufzusuchen. Meine damaligen amtlichen Pflichten erlaubten mir nicht, sie zu begleiten. Da starb der Knabe. Ich wußte, daß sie seinen Tod nicht überleben werde, und mußte die Geliebte retten. Ich gab dem Diener Auftrag, mir einen anderen Knaben zu suchen.“

Der Rittmeister hörte diese Worte wie im Traum, wie von weitem.

„Und dieser Knabe war ich?“ fragte er.

„Ja.“

„Wer waren meine Eltern?“

„Arme Schuhmacherleute. Sie gaben dich sehr gern her und erhielten von mir eine Entschädigung.“

„O Gott, o Gott!“

„Fasse dich! Was du hörst, ist ja kein Unglück, sondern vielmehr ein Glück.“

„Verkauft haben sie mich, verkauft.“

„Sie waren arm. Sie wußten, daß dir dadurch ein Glück gegeben wurde, welches sie dir nicht bieten konnten.“

„Und doch kann ich den Gedanken nicht fassen, das Kind anderer Eltern zu sein, nicht dein – – – ah, nicht Ihr – Ihr – – – Ihr Sohn zu sein.“

„Unsinn, Unsinn! Was fällt dir ein!“ rief der Graf. „Es bleibt alles, wie es war. Du bist mein Sohn, mein Erbe. Daran wird nichts geändert.“

„Hast – – – hast du selbst mit meinen Eltern gesprochen?“

„Nein. Sie haben dich vollständig abgetreten. Ich hatte nichts mehr mit ihnen zu schaffen.“

Der Rittmeister stand auf und ging im Zimmer auf und ab. Seine Brust arbeitete heftig. Endlich, nach einer langen Weile blieb er vor dem Grafen stehen und fragte:

„Es soll wirklich so bleiben, wie es ist?“

„Natürlich, natürlich!“

„Dann bin ich dir allerdings einen Dank schuldig, dessen Größe gar nicht zu ermessen ist. Vater, ich – – –!“

Er konnte nicht weitersprechen. Tränen entquollen seinem Auge. Er schluchzte wie ein Kind. Der Graf nahm ihn in die Arme, drückte ihn an sich und sagte:

„Beruhige dich, Bernard! Du bist mir stets ein guter Sohn gewesen. Du bist mir wert und teuer wie mein eigenes Kind. Wir bleiben die alten!“

„Aber welche Absicht führt diesen Mann hierher? Er sagt, daß der Diener mich von ihm bekommen habe!“

„Wollen sehen. Ich werde mich erkundigen. Bist du gefaßt genug, daß ich ihn rufen kann?“

„Rufe ihn.“

Der Graf öffnete die Tür und ließ den Bajazzo wieder eintreten. Er fragte ihn:

„Sie behaupten also, daß Main damals den Knaben von Ihnen bekommen habe?“

„Ja.“

„Er behauptete doch, das Kind von armen Schuhmacherleuten erhalten zu haben!“

„Er hat gelogen, um das Geld, welches Sie für die Eltern bestimmten, für sich zu behalten!“

„Hm! Dann waren Sie wohl der Vater?“

„Nein. Der Knabe war ein Findelkind.“

„Ah! So sind seine Eltern unbekannt?“

„Ja.“

„Wer hat ihn gefunden?“

„Ich.“

„Wo?“

„Im Wald. Ich befand mich damals auf der Wanderschaft. Ich wollte nach Paris. In den Ardennen fand ich im tiefen Schnee einen halb erfrorenen Knaben. Ich nahm ihn auf. Niemand wollte ihn mir wieder abnehmen. Ich behielt ihn bei mir und brachte ihn mit nach Paris. Da traf ich Ihren Diener, den Vater Main. Er sah den Jungen und nahm ihn mit.“

„Das wäre ja ein wunderbares Zusammentreffen der Umstände gewesen.“

„Allerdings wunderbar.“

„Ist denn seitens der Behörde nicht nachgeforscht worden, wer die Eltern des Knaben sein könnten?“

„Nein. Ich verstand die Sache nicht; ich kannte die Gesetze nicht. Ich hielt mich für berechtigt, das Kind als mein Eigentum zu betrachten.“.

„Vielleicht wurde es ausgesetzt.“

„Ich glaube doch eher, daß es verlorengegangen ist.“

„Haben Sie eine Ursache, dies anzunehmen?“

„Ja. Einem Kind, welches man aussetzt, nimmt man alles, wodurch seine Abstammung verraten werden könnte, vorher ab.“

„Hatte dieser Knabe denn etwas Derartiges bei sich?“

„Ja.“

„Was war es?“

„Ein Zahn.“

„Ein Zahn? Hm! Sonderbar! Ist dieser noch vorhanden?“

„Ich glaube, daß es noch möglich ist, ihn zu beschaffen.“

„Wirklich, wirklich?“ fragte der Rittmeister schnell.

„Ja.“

„Wer hat ihn?“

„Hm! Das möchte ich eigentlich nicht verraten.“

„Ich verstehe Sie. Es handelt sich um eine Belohnung.“

Der Bajazzo ließ ein verlegenes Lächeln sehen und sagte:

„Herr Rittmeister, Sie wären damals erfroren, wenn ich mich nicht Ihrer angenommen hätte.“

„Das mag wahr sein. Weiter?“

„Ich bin arm, sehr arm.“

„Gut! Ist also der Zahn noch da?“ fragte der Graf.

„Ich will ihn beschaffen, wenn der gnädige Herr bedenken wollen, daß ich jetzt in Not bin.“

Der Graf machte eine Bewegung der Ungeduld und fragte schließlich:

„Wieviel verlangen Sie?“

„Wieviel geben Sie?“

„Mann, das ist doch keine Sache, um welche man handeln und feilschen kann wie um einen Sack Kartoffeln. Sie haben den Knaben gefunden. Sie sind also jedenfalls selbst im Besitz dieses Zahns. Geben Sie ihn heraus, und ich garantiere Ihnen, daß Sie eine gute Belohnung erhalten werden.“

„Geben Sie mir Ihr Wort?“

„Ja doch, ja!“

„Nun gut. Ich will Ihnen vertrauen. Hier ist er.“

Er zog den Zahn nebst Kette hervor und gab ihn ihm. Die beiden anderen betrachteten den Gegenstand.



„Morbleu!“ rief der Graf. „Eine Grafenkrone.“

„Wahrhaftig!“ stimmte der Rittmeister bei. „Diesen Zahn habe ich an mir gehabt?“

„Ja, mit der Kette um den Hals.“

„Warum haben Sie beides damals nicht mit hergegeben?“

„Ich will aufrichtig sein. Ich dachte, später einmal zu einer Belohnung zu kommen.“

„Mensch, da haben Sie einen großen Fehler begangen. Wo wohnen Sie?“

Der Gefragte gab ihm eine Wohnung an, wie sie ihm grad einfiel.

„Sind Sie bereit, zu beschwören, daß ich es bin, den Sie damals gefunden haben?“

„Ja.“

„Und daß ich diesen Zahn an der Kette bei mir getragen habe?“

„Ja.“

„Ich werde mir Ihre Wohnung notieren und mich zur angegebenen Zeit an Sie wenden. Wie aber kommt es, daß Sie grad heute zu uns kommen?“

„Die Not – – – von der ich sprach.“

„Gut“, sagte der Graf. „Sie sollen nicht umsonst gekommen sein. Sie brauchen Geld?“

„Ja.“

„Wieviel?“

„Oh, sehr viel!“

„Ungefähr?“

„Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht.“

Der Graf blickte ihn scharf an und sagte dann:

„Ich verstehe. Sie wollen uns das Geheimnis verkaufen. Wir sollen dafür so viel bezahlen, wie der Wert desselben für uns ist. Habe ich es erraten?“

„Ja, gnädiger Herr.“

Der Graf zog einen Kasten eines Schreibtisches auf, öffnete ein Päckchen und nahm eine Anzahl Banknoten heraus.

„Noch sind wir nicht Ihrer sicher“, sagte er. „Wir müssen erst sehen, wie diese Angelegenheit sich entwickelt. Ich gebe Ihnen jetzt tausend Francs. Später, wenn wir Klarheit haben, belohnen wir Sie nach Verdienst.“

Der Bajazzo bedankte sich und steckte die Noten ein.

„Haben Sie sonst noch eine Bemerkung?“ fragte der Graf.

„Nein.“

„So gehen Sie für heute. Wir werden Sie jedenfalls in allernächster Zeit aufsuchen.“

Er ging. Als er die Straße erreichte, brummte er vor sich hin:

„Verdammtes Pech! Wäre der Sohn nicht dagewesen, so hätte ich mit dem Alten handeln können. Lumpige tausend Franken! Ich wäre doch der größte Esel, wenn ich dem Vater Main nur einen Sou davon gäbe!“

Er wollte an der betreffenden Tür vorüber, wurde aber durch einen leisen Ruf angehalten.

„Pst! Bajazzo!“

Er blieb stehen. Da stand Vater Main vor ihm.

„Ich bin fertig. Komm!“ sagte er.

„Nein, nein!“ meinte der frühere Schankwirt. „Wir müssen aufpassen, ob man dir vielleicht nachgeht. Komm einige Augenblicke hier herein.“

Er zog ihn hinter die Tür und fragte:

„Wie ist es gegangen?“

„Schlecht!“

„Doch nicht!“

„Sehr schlecht sogar.“

„Hast du Geld?“

„Keine Centime.“

„Donnerwetter. So hast du doch nicht etwa den Löwenzahn hergegeben.“

„Leider doch.“

„Bist du verrückt?“

„Ich kann nichts dafür. Statt zum Alten wurde ich zum Jungen geführt. Er drohte mir gar mit Arretur. Ich habe mich herausgelogen. Ich sagte, daß ich ihn als Kind in den Ardennen gefunden hätte, mit dem Zahn an der Kette um den Hals. Sie sagten, es wäre eine gräfliche Krone daran.“

„Verdammt! Ist's wahr?“

„Ja.“

„Sie fragten natürlich, wer du bist?“

„Ja. Ich bin der Tischler Merlin.“

„Und wo du wohnst?“

„Ich habe die erstbeste Straße und Nummer angegeben.“

„Und sie wollen dich aufsuchen?“

„Ja. Dann soll ich meine Belohnung erhalten.“

„Verflucht! So sind wir geprellt!“

„Noch nicht. Ich kann ja wieder kommen. Wenn sie mich suchen und nicht finden, so haben sie sich meine Wohnung nicht richtig gemerkt.“

„Aber dumm bleibt es doch, sehr dumm! Du hättest das Geheimnis für eine sehr hohe Summe verkaufen können. Jedenfalls hast du es verkehrt angefangen.“

„Oho! Wäre nur der junge Graf nicht dagewesen.“

„Na, der Zahn nützt ihnen doch nichts. Sie werden jenen deutschen Grafen von Goldberg niemals entdecken. Komm jetzt! Wie es scheint, läßt man dich in Ruhe.“

Sie gingen. Als sie fort waren, begann es sich weiter hinten im Hausflur zu regen.

„Das war eine Geduldsprobe!“ sagte Martin. „Wir haben eine volle Stunde dagestanden, ohne uns regen zu dürfen.“

„Aber wir sind glänzend belohnt worden!“

„Glänzend? Das sehe ich nicht ein.“

„Das, was ich hier gehört habe, ist viel, sehr viel wert.“

„Sie sprachen von einem Zahne, von einer Grafenkrone, von einem Knaben. Wie reime ich das zusammen?“

„Das überlaß mir. Jetzt wollen wir ihnen nach.“

Sie fanden bald, daß die beiden in die Destillation gingen, wohin sie Belmonte bestellt hatten.

„Gehe ich mit hinein?“ fragte Martin.

„Es ist nicht notwendig. Nimm Bart und Perücke ab und geh nach Hause. Ich komme dann auch.“

Als er in die Destillation trat, fand er mehrere Gäste vor. Vater Main und der Bajazzo hatten sich in eine Ecke zurückgezogen. Er setzte sich zu ihnen und erhielt ein Glas zugeschoben.

„Nun, haben Sie sich die Sache überlegt?“ fragte er.

„Ja. Wir sind ins reine gekommen“, antwortete Main, „mitzugehen.“

„Topp?“

„Topp!“

Sie reichten sich die Hände, wobei Belmonte bemerkte:

„Sie werden es nicht bereuen. Bei uns und mit uns läßt es sich gar nicht übel leben.“

„Wir hoffen das. Wann kann es fortgehen?“

„Hm! Der andere, den ich engagiert habe, kann erst morgen früh acht Uhr.“

„So müssen wir eben bis dahin warten.“

„Ja. Wir kommen dann am Abend zu Hause an, grad noch, um zu essen und dann schlafen zu gehen.“ –

Doktor Bertrand saß in seinem Studierzimmer und las die Zeitungsberichte. Sein Gesicht ließ nicht auf eine erfreuliche Stimmung schließen. Da erklangen draußen Schritte; es klopfte an, und auf seine Antwort trat – der alte Kapitän herein.

Der Arzt erhob sich von seinem Sitz und grüßte höflich:

„Sie, Herr Kapitän!“ sagte er. „Ich hörte, daß Sie für längere Zeit von Ortry abwesend seien.“

„Das war, ist aber nicht mehr. Erlauben Sie, daß ich mich setze!“

Er nahm Platz, musterte den Arzt mit einem eigentümlichen Blick und sagte dann:

„Herr Doktor, Sie sind mein Hausarzt –“

Er hielt inne. Bertrand verneigte sich.

„Als solcher besitzen Sie mein Vertrauen – – –“

„Danke!“

„Sind Sie sich bewußt, dasselbe zu verdienen?“

Bertrand blickte ihm ernst in das Gesicht und antwortete:

„Wenn ich glaubte, es nicht zu besitzen, würde ich auf die Ehre, Ihr Hausarzt zu sein, verzichten.“

„Gut. Und doch hat sich in letzter Zeit mancherlei ereignet, was – na, still hiervon! Sie sind Österreicher?“

„Geborener.“

„Und von Herzen?“

„Ja.“

„So müssen Sie die Preußen hassen!“

„Ich hasse keinen Menschen deshalb, weil er ein Preuße ist.“

„Redensart! Preußen hat Österreich schändlich hintergangen. Es wird jetzt seine Strafe erleiden. Frankreich marschiert jetzt nach Berlin. Sie sollen Gelegenheit erhalten, sich glänzend zu rächen.“

„Hm! Von welcher Gelegenheit sprechen Sie?“

„Nun, haben Sie nicht den Aufruf des Kaisers gelesen?“

„Allerdings.“

„Er fordert das Volk auf, zum Schwert zu greifen!“

„Die Armee.“

„Nein, das ganze Volk. Wir werden uns erheben wie ein Mann. Frankreich wird ein einziger Riese sein, von Waffen starrend. Die Erde wird unter seinem Tritt erbeben. Man organisiert die Scharen der Franctireurs, über welche mir ein höheres Kommando anvertraut worden ist. Sie werden beitreten.“

„Ich?“

„Ja.“

„Als Franctireur?“

„Ja, aber nicht als Kombattant. Ich erteile Ihnen hiermit Rang und Charakter eines Regimentsarztes. Wir bedürfen ärztlicher Kräfte. Sie sind der erste, dem ich Gelegenheit gebe, sich Ruhm und Ehre zu erwerben.“

Bertrand schüttelte nachdenklich den Kopf und sagte:

„Danke, Herr Kapitän! Ich muß ablehnen.“

„Ablehnen? Höre ich recht?“

„Ja, vollkommen.“

„Sie wollen auf die Ihnen angebotenen Lorbeeren verzichten?“

„Zu meinem Bedauern.“

„Aus welchem Grund?“

„Ich bin für diese Stadt verpflichtet. Mein Wirkungskreis ist mir angewiesen. Ich muß bleiben. Ich darf nicht fort.“

„Wer verbietet es Ihnen?“

„Mein Gewissen.“

„Das heißt: Sie wollen einfach nicht? Wie nun, wenn man Sie zwingt?“

„Wer will mich zwingen?“

„Ich zum Beispiel. Wir brauchen Ärzte.“

„Meine bisherigen Patienten brauchen mich ebenso!“

„Schön, schön! Fast scheint es wahr zu sein, was man sich über Sie in die Ohren flüstert?“

„Was?“

„Sie sind ein Feind des Vaterlandes. Sie verraten Frankreich.“

„Herr Kapitän, wenn mir das ein anderer sagte, den würde ich ganz einfach zur Tür hinauswerfen.“

„Nun, warum tun Sie dies nicht auch mit mir?“

„Ich achte Ihren Stand und Ihr Alter.“

„Diese Achtung will ich dadurch belohnen, daß ich Sie warne. Man hat scharfe Augen und Ohren. Es gelten jetzt die Kriegsgesetze und Kriegsartikel!“

„Ich habe mit ihnen nichts zu schaffen.“

„Hm. Man hat Sie beobachtet. Man ist in letzter Zeit sehr mißtrauisch geworden.“

„Ich kann nichts dafür.“

„Wirklich nicht? Haben Sie nicht mit diesem Doktor Müller verkehrt?“

„Ich lernte ihn in Ortry kennen. Sie selbst haben ihn mir vorgestellt. Das war eine Empfehlung für mich.“

„Er war in Undankbarer. Ferner haben Sie einen Menschen bei sich, welcher die ganze Gegend als Spion durchstreift.“

„Wer soll das sein?“

„Ihr Kräutersammler.“

„Er wurde mir von Komtesse Marion und ebenso von Mademoiselle Nanon empfohlen.“

„Diese beiden sind ebenso undankbar wie jener deutsche und bucklige Doktor der Philosophie. Wie hieß der Sammler?“

„Schneeberg.“

„Ein deutscher Name. Er war also ein Deutscher?“

„Ein Schweizer, glaube ich.“

„Wo befindet er sich gegenwärtig?“

„Ich weiß es nicht. Ich habe ihn entlassen.“

„Daran haben Sie sehr recht getan. Sodann hat man jenen Amerikaner Deep-hill bei Ihnen gesehen.“

„Hoffentlich soll das kein Vorwurf für mich sein!“

„Dieser Mensch war ein Feind Frankreichs.“

„Auch ihn lernte ich bei Ihnen kennen.“

„Er wurde mir empfohlen. Man hatte mich getäuscht. Also Sie weisen mein Anerbieten wirklich von der Hand?“

„Sie meinen das militärärztliche Engagement?“

„Ja.“

„Meine Pflicht gebietet mir, auf dem Posten, an welchem ich mich befinde, auszuharren.“

„Mögen Sie das nicht bereuen! Sie machen sich durch diese Weigerung verdächtig. Man wird ein sehr wachsames Auge auf Sie haben.“

„Soll das eine Drohung sein?“ erwiderte Bertrand.

„Nein, sondern eine Warnung. Und noch eins: Was ist Ihnen von dem Aufenthalt meiner Enkelin bekannt?“

„Sie meinen Baronesse Marion?“

„Ja, natürlich.“

„Der Aufenthalt derselben muß doch Ihnen am allerbesten bekannt sein, Herr Kapitän.“

„Hm! Ja freilich! Aber Sie kennen ihn auch?“

„Nein.“

„Man hat nicht davon zu Ihnen gesprochen?“

„Die Leute sprachen, Sie haben Ihre Enkelin an einen sichern Ort gebracht, weil Sie die Verwirrung der jetzigen Zeit bereits damals vorausgesehen hätten.“

„Wer das sagt, hat nicht so ganz unrecht. Ich verlasse Sie jetzt, gebe es aber noch nicht ganz auf, Sie als Feldarzt bei meiner Truppe zu sehen.“

Er ging von dem Arzt bis zur Haustür begleitet. Als dieser in sein Zimmer zurückgekehrt war, sagte er zu sich:

„Horchen wollte er; aber er soll nichts erfahren. Es war klug von ihm, sich den Anschein zu geben, als ob er Marions Aufenthaltsort kenne. Die ist sicher aufgehoben.“

Er hatte eben wieder zu der Zeitung gegriffen, als es abermals an die Tür klopfte.

„Herein!“

Ein fremder Mensch trat ein, hoch und stark gebaut; sein Alter schien über fünfzig Jahre zu sein.

„Der Doktor Bertrand?“ fragte er.

„Ja. Womit kann ich dienen?“

„Mit nichts. Ich danke! Ich habe Ihnen Grüße zu sagen.“

„Von wem?“

„Von Mister Deep-hill in Berlin.“

„Ah! Der Tausend“, sagte der überraschte Arzt.

„Ebenso von Miß de Lissa und Nanon und Madelon.“

„Sie kennen dieselben?“

„Ja.“

„Aber, Mann, Sie kommen von Berlin und wagen sich in diese Gegend?“

„Was ist dabei?“

„Sie trotzen da einer sehr großen Gefahr. Sie befinden sich inmitten einer fanatisierten Bevölkerung.“

„Ich bin vorsichtig.“

„Aber von einem grüßen Sie mich nicht.“

„Wen meinen Sie?“

„Herrn Doktor Müller.“

„Der hat nicht nötig, Sie grüßen zu lassen.“

„Nicht? Wieso?“

„Na, bester Doktor, weil er vor Ihnen steht.“

Diese letzten Worte sprach der Fremde allerdings mit Müllers Stimme. Aber sein Gesicht war doch ein ganz anderes.

Der Arzt trat ganz nahe zu ihm heran, um ihn zu betrachten.

„Welch ein Meisterstück!“ rief er aus. „Ja, Sie sind es, Herr Doktor, oder vielmehr, Herr Rittmeister. Aber, um Gottes willen, fast hätten Sie ihn hier bei mir getroffen.“

„Den Alten?“

„Ja.“

„Er hätte mich nicht erkannt.“

„Haben Sie ihn gesehen?“

„Ja. Ich sah ihn eintreten und wartete auf sein Fortgehen. Spricht er von seinen Familienverhältnissen?“

„Nein. Er ließ mich ahnen, daß er wisse, wo Fräulein Marion sich befinde.“

„Doch nur zum Schein.“

„Ja. Aber, Herr Doktor, so schnell hätte ich nicht erwartet, Sie wiederzusehen.“

„Ja, ich mußte zurück, und zwar direkt zu Ihnen.“

„In privater Angelegenheit?“

„Nein, obgleich ich von allen die herzlichsten Grüße auszurichten habe.“

„Also in – in dienstlicher Angelegenheit?“

„Ja.“

„Ich hoffe, daß Sie mir Vertrauen schenken!“

„Darf ich das wirklich?“

„Ja. Sie wissen es ja genau. Sie sind mein Lebensretter. Ich bin Deutscher durch und durch, wenn auch nur Deutsch-Österreicher. Die Provinz, in welcher ich jetzt wohne, wurde Deutschland geraubt; sie ist deutscher Boden; der Krieg richtet sich nicht gegen Preußen, sondern gegen ganz Deutschland; und so mache ich mich keiner Infamie schuldig, wenn ich Sie nach Belieben schalten lasse.“

„Hier meine Hand. Sie sind ein braver Mann.“

„Dank! Sehen Sie sich hier in der Gegend um, oder blicken Sie in die Zeitungen. Überall Überhebung, Übermut und doch dabei die größte Dummköpfigkeit. Ich habe das zum Ekel. Und dabei kommt dieser Kapitän zu mir, um mich zum Regimentsarzt zu machen. Denken Sie sich.“

„In welchem Regiment?“

„Pah! Bei den Franctireurs.“

„Im Ernst?“

„Allen Ernstes.“

„Was haben Sie geantwortet?“

„Ich habe natürlich abgelehnt und dafür von ihm allerlei Drohungen anhören müssen.“

„Sie Ärmster.“

„Nun, seit ich Sie kenne, fürchte ich ihn nicht. Ich habe ja sehr scharfe Waffen gegen ihn in den Händen.“

„Wenn er sich nach Ärzten umsieht, scheint er es sehr eilig zu haben.“

„Auf mich mag er verzichten.“

„Die Wahrheit zu sagen, liegt mir außerordentlich daran, zu erfahren, wann die Institution der Franctireurs in Kraft treten soll.“

„Das kann ich Ihnen glücklicherweise mitteilen. Das Heer soll schleunigst an die Grenze geworfen werden. Da wären die Herren Freischützen im Weg. Sie sollen aus diesem Grund erst hinter dem Heer aus der Erde wachsen. Bis das letztere die Grenze überschritten hat, wird ein jeder zu Hause bleiben.“

„Nun, da wird mir das Herz leicht, denn ich weiß, daß die hunderttausend Franctireurs, von denen die französische Fama prahlt, gar nicht zur Aktion kommen werden – einige wenige ausgenommen, deren man sich wohl erwehren wird.“

„Wirklich?“

„Ganz gewiß. Man spielt den Krieg in Feindes Land, das ist richtig. Aber ehe ein Franzose über die Grenze kommt, sind wir bereits über seine Schwelle.“

„Das sollte mich freuen, ist aber nach allem, was man hier liest und hört, ganz unmöglich. Preußen ist nicht gerüstet, und die anderen Deutschen sind es auch nicht, sagt man hier.“

„So sehen Sie doch gefälligst mich an. Bin ich nicht ein Preuße?“

„Ein sehr respektabler sogar.“

„Und stehe ich nicht bereits in Frankreich? Passen Sie auf, wie schnell das gehen wird. Durch unser schnelles Einrücken kommen wir nicht nur der feindlichen Absicht zuvor, sondern wir zertreten auch zugleich dem giftigen Gewürm der Franctireurs den Kopf.“

„Ich ahne, Sie kommen wegen der Vorräte, welche sich hier befinden, so schnell zurück?“

„Ja. Und da habe ich eine Bitte an Sie auszusprechen.“

„In Gottes Namen.“

„Es wird ein Freund von mir hier ankommen und sich Ihnen vorstellen.“

„Er ist mir willkommen. Wie heißt er?“

„Irgendwie; ich weiß es noch nicht. Ich bitte um Ihre Gastfreundschaft für ihn. Er wird höchst zurückgezogen bei Ihnen leben und höchstens des Abends oder des Nachts einen Spaziergang unternehmen.“

„Ganz recht. Er wird hier Ihre Stelle auszufüllen haben.“

„Ich will aufrichtig mit Ihnen sein; denn ich kann Ihnen ja Vertrauen schenken, und es ist besser, Sie wissen, woran Sie sind. Es gilt, die bedeutenden Vorräte, welche sich in den Gewölben von Ortry befinden, für uns unschädlich zu machen. Am liebsten wäre es uns natürlich, wenn wir so schnell herbei könnten, daß der Feind gar keine Zeit fände, sie zu benutzen.“

„Das ist höchst schwierig.“

„Gewiß. Eben darum wollen wir Vorkehrungen treffen, lieber alles zu zerstören als zuzugeben, daß man es gegen uns anwendet. Ich werde also mit dem erwarteten Freund die Gewölbe aufsuchen. Wir haben uns mit den nötigen Sprengstoffen versehen. Ich muß dann allerdings wieder fort. Er aber bleibt zurück und wird, sobald er sich überzeugt, daß es nötig ist, den ganzen Kram in die Luft sprengen. Es bedarf dazu nur einer brennenden Zigarre.“

„Das würde ein wahres Erdbeben ergeben.“

„Gewiß. Also, wollen Sie den Freund aufnehmen?“

„Ganz ohne Zweifel.“

„Trotzdem es für Sie gefährlich ist?“

„Man wird die Gefahr zu verhüten wissen. Wann kommt dieser Herr?“

„Voraussichtlich morgen abend. Ich werde die Muße, die mir bis dahin bleibt, zu einem Ausflug benutzen.“

„Ah! Weiß schon“, lachte der Arzt.

„Meinen Sie?“

„Ja. Nach Schloß Malineau natürlich?“

„Erraten. Haben Sie vielleicht Nachricht von Fräulein Marion erhalten!“

„Nein. Jedenfalls aber befindet sie sich wohl. Wie aber ist es in Berlin gegangen? Hat Deep-hill seinen Vater gefunden und sich mit ihm ausgesöhnt?“

„Ja. Das hat Szenen gegeben, welche ich Ihnen unbedingt schildern muß, aber doch ein anderes Mal. Mein Zug wird bald von hier abgehen.“

„Und der dicke Maler?“

„Der war bei dieser Aussöhnung Hahn im Korb. Er hat mich gebeten, nach Malineau zu gehen und seine dicke Marie Melac zu grüßen. So, das wäre es, was ich Ihnen mitzuteilen habe. Und nun bitte ich um die Erlaubnis, mich verabschieden zu dürfen.“

„Sie werden die Bahn in Metz verlassen?“

„Ja.“

„Und dann? Welche Gelegenheit benutzen Sie dann?“

„Hm, ich muß mir Geschirr mieten.“

„Da sind Sie zu abhängig. Wollen Sie nicht mein Pferd nehmen? Wenn Sie reiten, sind Sie Ihr eigener Herr!“

„Das würde mir freilich lieber sein; aber ich mag mit Ihrem Pferd nicht auf dem hiesigen Bahnhof auffällig werden.“

„Da ist bald geholfen. Ich reite hinaus, übergebe das Pferd und händige Ihnen das Billet ein.“

„Aber unauffällig, bitte ich.“

„Versteht sich. Es wird längst Nacht sein, wenn Sie nach Malineau kommen. Wie aber, wenn man Sie in Metz für verdächtig hält?“

„Das befürchte ich nicht.“

„Oh, das ist ein Waffenplatz ersten Ranges, es geht da jetzt zu wie in einem Bienenkorb, und man ist auf das Äußerste argwöhnisch.“

„Nun, ich bin auf alle Fälle vorbereitet. Man kann mir nicht das mindeste anhaben.“ – – –

Einige Stunden später verließ Doktor Müller in Metz die Bahn und bestieg das Pferd des Arztes. Er hatte sich als Franzose legitimieren können.

Es war dunkel geworden. Das Pferd war zwar für den Arzt ganz brauchbar, für einen Parforceritt aber nicht sehr geeignet. Hinter Kanflans zeigte es sich so ermüdet, daß Müller, in einem Dorf angekommen, dort im Gasthof einkehrte, um das Tier ein wenig ausruhen zu lassen.

Das Gastzimmer war gut besetzt, freilich nur von älteren Leuten, da die jüngeren eingezogen worden waren. An einem der hinteren Tische saßen vier Männer, welche augenscheinlich hier fremd waren. Vielleicht gehörte ihnen das leichte Wägelchen, welches, mit zwei Pferden bespannt, draußen im Hof hielt.

Müller verlangte ein Glas Wein und einen kleinen Imbiß. Während des Essens hörte er die vier miteinander sprechen.

„Wie weit ist es noch bis Schloß Malineau?“ fragte einer.

„Wir fahren noch zwei Stunden“, wurde ihm geantwortet.

Als Müller diese letzte Stimme hörte, blickte er schnell auf und warf einen scharfen, forschenden Blick auf den Sprecher. Dann nahm er eine sehr gleichgültige Miene an, fragte aber nach einiger Zeit:

„Die Herren wollen nach Malineau?“

Jetzt blickte der vorige Sprecher rasch auf, um ihn genau zu betrachten. Dann antwortete er:

„Ja, Monsieur.“

„Auch ich will dorthin. Ich kenne den Weg nicht. Dürfte ich mich anschließen?“

„Hm, eigentlich ist der Wagen bereits für uns vier zu klein, aber wir werden Rat schaffen.“

„Was das betrifft, so beruhigen Sie sich, ich bin beritten.“

„Noch besser. Bleiben wir also zusammen.“

Nach einer kleinen Weile stand der Sprecher auf und ging hinaus. Müller folgte ihm unauffällig. Der andere stand, seiner wartend, hinter der Ecke des Hauses.

„Donnerwetter, Königsau, Richard, bist du des Teufels?“ fragte er.

„Hohenthal. Dich hätte ich nicht erwartet. Bist du denn noch nicht heim?“

„Nein. Ich erhielt noch im letzten Augenblick Konterorder. Aber du warst schon fort?“

„Ja, bin aber wieder hier, wie du siehst. Dein Martin ist dabei, nicht?“

„Ja.“

„Und die beiden anderen?“

Arthur von Hohenthal legte ihm die Hand auf die Achsel und antwortete:

„Du, das ist gerade für dich eine Kapitalnachricht! Hast du die Kerls noch nicht gesehen?“

„Nein.“

„Wenigstens den einen, den Hageren?“

„Nein.“

„Ja, die Kerls sind sehr gut verkleidet. Weißt du, ich erzählte dir von meinem Pariser Erlebnisse: Die Komtesse von Latreau wurde geraubt –“

„Ja. Du machtest sie frei und liegst ihr nun zu Füßen.“

„Kannst du dich auch noch des Kerls besinnen, der die Untat ausgeheckt hat?“

„Ja. Ich habe auch in den Zeitungen davon gelesen. Es gelang ihm, zu entkommen. Vater Main nannte man ihn.“

„Richtig. Nun, ich habe den Kerl.“

„Was! Wirklich?“

„Ja, er ist's.“

„Welcher von beiden?“

„Der kleine Dicke.“

„Welch ein Fang!“

„Aber erst der andere!“

„Wer ist der?“

„Das ist der Kerl, den du haben willst.“

„Ich? Nicht, daß ich wüßte.“

„Freilich! Und dein Fritz sehnt sich ebenso nach ihm.“

„Mein Wachtmeister?“

„Ja, nämlich von wegen des Löwenzahns.“

„Meinst du etwa den verschwundenen Bajazzo?“

„Ja.“

„Das ist er nicht.“

„Natürlich ist er es! Aber famos maskiert.“

„Wenn er es wäre!“

„Er ist's, er ist's, sage ich dir! Ich gebe dir mein Ehrenwort, alter Junge!“

„Dann ist der heutige Tag ein Tag des Glücks für mich und meine Verwandten. Wie aber bist du zu den beiden Menschen gekommen?“

„Auf die einfachste Weise von der Welt. Ich heiße Melac; mein Vater ist Beschließer auf Schloß Malineau, und ich habe die beiden als Forstleute für uns engagiert.“

„Papperlapapp!“

„Auf Ehre, wiederhole ich! Laß dir erzählen.“

Er berichtete ihm in kurzen Worten, was er von seiner letzten Ankunft in Paris an bis heute erlebt hatte, und fragte dann:

„Glaubst du nun, daß er es ist?“

„Ja, nun glaube ich es. Gott sei Dank, daß wir den Kerl endlich haben. Aber nach dem, was du in dem Hausflur erlauscht hast, muß der junge Lemarch der Bruder meines guten Fritz sein.“

„Natürlich.“

„Wie nahe ist er da seinen Eltern gewesen, und wie sehr hat mich seine Ähnlichkeit mit Fritz frappiert. Er hat also einen Löwenzahn?“

„Ja; der Bajazzo hat ihn hergeben müssen.“

„Gut, sehr gut. Was aber gedenkst du mit den beiden Kerls in Malineau zu machen?“

„Nun, den Schankwirt wollte ich dem General Latreau zum Geschenk machen.“

„Er wird sich freuen. Und den anderen?“

„Mit dem hatte ich einen ganz eigenen Plan. Weißt du, wenn wir ihn der französischen Polizei überliefern, so wird er zwar wegen Unterschlagung der Kasse und fahrlässiger Tötung seiner eigenen Stieftochter bestraft, aber für dich geht er verloren, zumal bei den jetzigen Kriegsverhältnissen. Besser wäre es, es würde ihm in Preußen der Prozeß gemacht. Er hat doch die beiden Kinder geraubt. Ich wollte ihn auf irgendeine Weise über die Grenze locken. Das geht aber nicht, da er mich ja nun als denjenigen kennt, der ihn festgenommen hat.“

„Aber wenn du die Verkleidung ablegst?“

„So ist es noch schlimmer; da erkennt er mich als den sogenannten Changeur, welcher damals die Komtesse von Latreau befreite.“

„Hm! Wie nun, wenn ich ihn herüberlockte?“

„Dieser Gedanke ist nicht schlecht.“

„Aber wie es anfangen?“

„Freilich, es ist schwierig.“

„Nun, weißt du, es ließe sich doch vielleicht machen.“

„Hast du einen Gedanken?“

„Er wird auf Malineau natürlich ebenso wie Vater Main eingesteckt?“

„Natürlich!“

„Ich befreite ihn, aber –“

„Alle Wetter! Ja, das ist gut, das lasse ich gelten!“

„Er gewinnt Vertrauen zu mir und wird mir sehr gern über die Grenze folgen, da er sich in Deutschland sicherer weiß als hier in Frankreich.“

„Richtig. So wird es gemacht. Nur ist es mir nicht lieb, daß du mit uns reiten willst.“

„Warum?“

„Du hättest vor uns eintreffen können, um den alten Melac vorzubereiten. Ich habe ihm zwar geschrieben, wie ich dir sagte, aber er könnte mir dennoch ein Unheil anrichten.“

Da wurden sie gestört. Martin kam herbei und meldete, daß Vater Main und der Bajazzo unruhig würden, da er sich auf so lange Zeit entfernt habe.

„Gut, gut, ich komme gleich. Richard, wir kehren in Etain noch einmal ein. Da wird es wohl Zeit für ein paar unbelauschte Worte geben. Du sagst da, daß du erst morgen nach dem Schloß wolltest und darum lieber zurückbleibst, nimmst Abschied von uns, gehst scheinbar auf dein Zimmer, reitest aber trotzdem voraus.“

So wurde es auch gemacht.

In Etain kehrte man ein. Königsau erklärte, daß er so spät am Abend nicht erst nach dem Schloß wolle und ließ sich ein Zimmer geben. Er nahm Abschied und zog sich zurück, stieg aber zu Pferd und ritt im Galopp nach Malineau.

Er hatte Marion hergebracht, kannte also die Lokalitäten leidlich. Zwischen dem Dorf und dem Schloß floß ein kleines Wasser. Da stieg er ab, wusch sich die Schminke fort, setzte eine andere Haartour auf, welche er zu diesem Zweck bei sich trug, und nahm aus den Satteltaschen so viel Zeug, als er brauchte, um sich am Rücken wieder zu verunstalten. Dann ritt er vollends nach dem Schloß.

Fast sämtliche Fenster der ersten Etage waren hell erleuchtet. Das konnte bei den beiden, Vater Main und dem Bajazzo, Mißtrauen erwecken. Er sprang vom Pferd, band es an und klopfte bei dem Beschließer. Er fand ihn mit Frau und Enkelin beisammen.

„Herr Doktor Müller, Sie?“ fragte er erstaunt.

„Ja. Bitte, Fräulein, schaffen Sie schnell mein Pferd in den Stall. Niemand darf es sehen.“

Marie gehorchte sofort, und Königsau wendete sich an ihren Großvater:

„Sie haben heute aus Paris einen Brief erhalten?“

„Ja. Wissen Sie davon?“

„Ja. Haben Sie ihn verstanden?“

„Nicht ganz. Ich habe einen Sohn, und –“

Da keine Zeit zu verlieren war, unterbrach Königsau den Alten:

„Bitte, merken Sie sich kurz folgendes. Dieses Schloß gehört nicht dem Herrn General, sondern ist an einen Baron von Courcy verkauft, welcher heute ganz zufällig hier anwesend ist. Ferner: Der Herr Belmonte, welcher damals Ihre junge Herrin gerettet hat, hat auch den Übeltäter und einen seiner Kumpane gefangen. Um sie auf gute Manier hierher zu bringen, hat er sich für Ihren Sohn ausgegeben.“

„Ach, so ist die Sache.“

„Ja, so ist sie. Die beiden Spitzbuben sind nämlich verkleidet. Sie suchen einen Ort, wo sie versteckt sein können, und da hat Herr Belmonte gesagt, daß Sie zwei Forstleute brauchen. Er hat sie als solche engagiert und wird in einer Viertelstunde mit ihnen hier sein.“

„Herr, mein Heiland, solche Verbrecher!“

„Haben Sie keine Angst! Sie empfangen dieselben freundlich, geben ihnen zu essen und sagen dann, daß dieselben zum Baron kommen sollten, der sie engagieren werde. Sie führen sie natürlich zum General. Was da geschieht, wird sich finden. Herr Belmonte bringt seinen Diener Martin mit, den Sie bereits, kennen. Auch diese beiden sind verkleidet. Der Diener ist scheinbar als Gartenbursche engagiert. Sie werden also mit den Verbrechern nicht allein sein. Wenn Sie im Zweifel sind, was Sie tun sollen, so lassen Sie Herrn Belmonte handeln. Teilen Sie das auch Fräulein Marie mit, die nicht hier ist, damit sie keinen Fehler macht. Ich werde mich hinauf zum Herrn General begeben.“

Oben angelangt, wurde er von dem Diener sofort erkannt und sogleich angemeldet. Er fand sämtliche Bewohner im Speisesaal. Der General kam ihm freundlich entgegen, reichte ihm die Hand und fragte, indem er auf Marion deutete:

„Wollen Sie sich erkundigen, wie sich Ihr Schützling befindet?“

„Oh, Mademoiselle de Sainte-Marie befindet sich in guter Hut. Ich komme in einer sehr dringenden Angelegenheit. Bitte, Exzellenz, lassen Sie sämtliche Lichter, außer in einem einzigen Zimmer, auslöschen.“

„Warum?“

„Bitte, davon später! Es ist jetzt keine Zeit zu verlieren.“

Er begab sich selbst in die anstoßenden Zimmer, um die Lichter zu verlöschen, und auf einen Wink seines Herrn tat der servierende Diener dasselbe. Einige Augenblicke später war nur noch der Speisesaal erleuchtet.

„Das sind ja ganz befremdliche Maßregeln“, sagte jetzt der General zu Müller.

„Die aber sehr notwendig sind“, erklärte dieser. „Sie bekommen nämlich Besuch, Exzellenz, welcher nicht wissen darf, daß Sie sich hier befinden.“

„Sonderbar. Welcher Art ist dieser Besuch?“

„Vater Main.“

Bei diesen Worten fuhren alle empor.

„Vater Main? Vater Main?“ erklang es von aller Lippen.

„Ja. Es ist endlich gelungen, dieses Menschen habhaft zu werden, meine Herrschaften.“

„Und er kommt hierher?“

„Ja, und zwar in Begleitung eines seiner Komplizen, den Fräulein von Sainte-Marie kennt. Ich meine nämlich den Bajazzo, welcher in Thionville seine eigene Tochter vom hohen Seil stürzen ließ.“

Das war eine Kunde, welche alle in die größte Aufregung versetzte. Königsau erklärte den Zusammenhang, aber ohne Belmonte und Martin namhaft zu machen.

„Erstaunlich!“ sagte der General.

„Oh, für den Herrn Doktor ist nichts erstaunlich“, schaltete Marion ein.

„Bitte, bitte“, meinte Müller. „In dieser Angelegenheit bin ich ohne alles Verdienst. Hören Sie, es fährt ein Wagen vor. Das sind sie. Wir haben also die Lichter gar nicht zu früh verlöscht.“

„Aber wer sind denn die beiden Männer, welche mir die Gefangenen bringen?“ fragte der General.

„Ich bin nicht beauftragt, es zu sagen“, lächelte Müller. „Der eine gilt, wie bereits bemerkt, als der Sohn Ihres Beschließers Melac. Es wird gut sein, Exzellenz, sich mit einigen Waffen zu versehen. Den beiden Menschen ist nicht zu trauen. Lassen Sie die Messer von der Tafel entfernen.“

Die Ankömmlinge waren indessen aus dem Wagen gestiegen und bei dem Beschließer eingetreten. Belmonte gab diesem die Hand und sagte:

„Guten Abend, Vater. Endlich wieder da!“

„Guten Abend, mein Sohn“, antwortete Melac. „Wie ich sehe, ist die Reise nicht umsonst gewesen?“

„Ja. Hier ist der Gärtner, und hier die beiden Männer für den Forst. Ich habe ihre Papiere bereits geprüft und für gut befunden.“

„Schön! Es trifft sich da recht zufällig, daß der gnädige Herr selbst bestimmen kann.“

„Der Baron?“

„Ja. Er kam heute hier an, um für einen Tag im Schloß abzusteigen. Denkst du nicht, daß wir ihm diese drei Männer vorstellen?“

„Hm, ja; besser ist es. Es ist sogar unsere Pflicht und Schuldigkeit, da er einmal anwesend ist. Aber erst wollen wir einige Minuten ausruhen.“

Sie nahmen Platz. Es war Vater Main und dem Bajazzo natürlich gar nicht recht, daß sie zum Baron sollten, doch ließen sie es sich nicht merken.

„Essen wir etwas oder gehen wir vorher hinauf?“ fragte Belmonte.

„Fertig ist fertig. Am besten, wir gehen erst hinauf.“

„Wird er zu sprechen sein?“

„Jedenfalls.“

„Na, versuchen wir es. Kommen Sie, meine Herren.“

Oben angekommen, ging der Beschließer hinein, um anzumelden, während die anderen warteten. Bald öffnete ein Diener die Tür und ließ sie eintreten. Im Speisesaal befanden sich Müller und Melac. Der Diener trat zurück, und die beiden Gefangenen bemerkten nicht, daß er von außen die Tür verschloß.

Müller, Belmonte und Martin hatten die Hände in den Taschen, in denen ihre Revolver steckten.

„Das dauert lange“, flüsterte Main, dem es unheimlich zu werden begann.

„Geduld“, sagte Belmonte. „Ah, man kommt!“

Die Nebentür öffnete sich, und der General trat ein. Seine Enkelin und Marion folgten.

Vater Main fuhr zurück. Seine Augen vergrößerten sich und waren mit einem Blick des Entsetzens auf die Eintretenden gerichtet. Aber er war ein zu hartgesottener Sünder, als daß er sich gänzlich um seine Besinnung hätte bringen lassen. Er ermahnte sich.

„Tausend Teufel. Wir sind verraten!“ schrie er. „Fort! Hinaus, Bajazzo!“

Er fuhr herum, nach der Tür zu, und sah drei Revolverläufe auf sich gerichtet.

„Pah. Nicht jede Kugel trifft. Kehrt! Schnell, schnell!“

Er sprang nach der Tür, um sie aufzureißen. Sie war verschlossen. Und nun traten auch von der anderen Seite zwei bewaffnete Diener ein.

„Gebt euch keine Mühe“, sagte der General. „Ihr seid gefangen!“

„Mit welchem Recht?“ fragte Main, dem es einfiel, daß er ja verkleidet sei.

„Macht euch nicht lächerlich! Ihr seid erkannt. Eure Maske nützt euch nichts.“

„Also entdeckt“, knirschte er. „Verraten! Und durch wen? Wart, euch Halunken zeige ich es doch noch!“

Er erhob beide Fäuste und stürzte sich auf Martin, erhielt aber von Müller, an dem er vorüber mußte, einen so gewaltigen Schlag an die Schläfe, daß er sofort zusammenbrach.

„Bindet sie“, befahl der General.

Der Bajazzo war vollständig eingeschüchtert. Er wagte keinen Widerstand. Sein Kumpan war bewußtlos, und so wurden beide gebunden und fortgeschafft. Man schloß sie einzeln in zwei feuerfeste Kellergewölbe ein.

„Und nun meinen Dank“, wendete sich der General an die Männer. „Welcher von Ihnen ist denn der famose Sohn meines alten Melac?“

„Ich, Exzellenz“, antwortete Belmonte.

„Darf ich vielleicht Ihren richtigen Namen hören?“

„Sie kennen ihn bereits.“

„Wohl kaum.“

„O doch! Mit Erlaubnis!“

Bei diesen Worten griff er nach einer auf der Tafel stehenden Wasserkaraffe, goß sich ein wenig auf das Taschentuch, fuhr sich mit demselben über das Gesicht und entfernte Bart und Haar. Martin tat dasselbe.

„Monsieur Belmonte!“ rief der General.

„Wahrhaftig, Monsieur Belmonte“, stieß Ella von Latreau hervor, indem sie vor freudigem Erstaunen die Hände zusammenschlug.

Hinter ihnen aber erklang es halblaut:

„Martin! Martin! Ach ja, er ist's!“

Es war die hübsche Alice, welche sich bisher furchtsam in dem Hintergrund gehalten hatte.

Es gab nun eine ganze Menge eiliger Fragen und Antworten, bis der General auf den besten Gedanken kam, den es geben konnte. Er sagte:

„Das Mahl ist auf wundersame Weise unterbrochen worden. Beginnen wir es von neuem. Dabei haben wir Zeit, uns alles erklären zu lassen.“

Es wurden alle geladen, auch die ganze Familie Melac. Dann nach der Tafel bildeten sich kleine Gruppen. Diese Gelegenheit benützte Müller, zu Marie Melac zu treten.

„Ich habe noch ganz extra etwas für Sie“, sagte er. „Werden Sie es erraten?“

„Wohl schwerlich!“

„Einen Gruß von einem gewissen Maler.“

„Herrn Schneffke?“ fragte sie errötend.

„Ja. Außer dem Gruß aber auch noch etwas. Hier!“

Er zog ein Briefchen hervor und gab es ihr. Sie dankte erglühend, war dann aber bald verschwunden, um sich mit dem Inhalt bekannt zu machen.

Sodann traf Müller auf Marion.

„Wieder einmal sind Sie der Retter gewesen“, sagte sie.

Er antwortete nicht und zog nur die Hand, welche sie ihm reichte, an die Lippen.

Am Fenster stand Belmonte mit Ella. Ihr Auge ruhte fast stolz auf seiner männlichen Gestalt.

„Sie scheinen zu meiner Vorsehung prädestiniert zu sein“, sagte sie. „Sie erscheinen, wenn man es am wenigsten erwartet.“

„Darf ich denn solch Erscheinen wagen, gnädigste Komtesse?“

„Kommen Sie jeder Zeit! Sie kommen ja als Retter.“

Und an der Tür zum Nebenzimmer lehnte Alice. Martin trat auf sie zu und sagte:

„Da ist mein liebes Vögelchen, dem ich ein Nest bauen soll. Kein Mensch blickt her. Komm, komm!“

Ohne daß sie es ihm wehren mochte, zog er sie hinaus in das andere Zimmer, drückte sie an sich, küßte sie herzhaft und fragte:

„Ist dir's recht, daß ich gekommen bin?“

„Oh, wie freut es mich! Wie lange bleibst du?“

„Vielleicht nur einige Stunden.“

„Aber du kommst wieder?“

„Natürlich. Und zwar bald, recht bald, um dich zu holen, mein gutes Mädchen.“

Und noch später standen Königsau und Hohenthal beieinander im ernsten Gespräch.

„Wann reitest du ab?“ fragte der Letzere.

„So bald wie möglich.“

„Und nimmst den Bajazzo mit?“

„Ja.“

„Dann kannst du aber nicht über Metz. Dort fassen sie ihn dir ab. Eine Festung darf so ein Kerl in jetziger Zeit gar nicht zu betreten wagen. Aber wie bringst du ihn denn fort?“

„Das ist die Frage. Zwei Reiter und ein Pferd.“

„Nimm meinen Wagen! Du hängst dein Pferd hinten an. Du verkaufst den Kram und gibst mir bei Gelegenheit den Erlös.“

„Das könnte sich machen, aber wie kommst du fort?“

„Ich borge mir Geschirr bis zur Lahn. Mach dir überhaupt um mich keine Sorge! Wie lange bleibst du in Thionville?“

„Noch drei Tage.“

„So lange darf ich nicht warten. Wir treffen uns also erst wieder in Berlin. Laß aber unterdessen den Bajazzo nicht aus dem Auge.“

„Willst du mir gerade hier eine Nachlässigkeit zutrauen? Habe ich ihn einmal, so entkommt er mir nicht wieder. Seine Wächter werden sich freilich wohl schwerlich erklären können, auf welche Weise er verschwunden ist.“ –

Der Bajazzo lag gefesselt auf dem harten Steinboden eines Gewölbes. Er hatte alle Hoffnung aufgegeben und gab alles, alles verloren. Er hatte seinen Willen, seinen Charakter im Schnaps vertrunken; darum fand er jetzt in sich keinen Halt und schluchzte wie ein Kind.

Da plötzlich horchte er auf. Er hörte, daß der Riegel leise zurückgeschoben wurde. Dann erklang es:

„Pst! Ist jemand hier?“

„Ja“, flüsterte er.

„Die Gefangenen?“

„Nur einer.“

„Wo ist der andere?“

„Ich weiß es nicht.“

„Nun, dann kann ich eben nur den einen befreien. Ich habe keine Zeit, das ganze Schloß zu durchsuchen. Kommen Sie.“

„Ich bin ja gefesselt.“

„Ach so! Na, ich habe ein Messer.“

Wenige Augenblicke später schlichen sie sich fort, hinaus bis dahin, wo in der Nähe des Gehölzes der Wagen stand, an welchen hinten das Reitpferd angebunden war. Sie stiegen ein, und dann setzten sich die Pferde in scharfen Trab.

Königsau hatte den Buckel wieder entfernt. Er sah geradeso wie vorher aus, ehe er ins Schloß gekommen war. Der Bajazzo erkannte ihn und sagte:

„Sie sind es! Warum befreien Sie mich?“

„Ich belauschte Ihre Begleiter und hörte, daß man Sie betrog. Ich hörte Sie sprechen. Ihre Aussprache ist eine deutsche. Sie sind ein Deutscher?“

„Ja, eigentlich.“

„Ich bin auch von drüben her. Darum beschloß ich, Sie zu befreien. Das war ganz leicht, da ich im Schloß zu tun hatte. Ich blieb nur scheinbar in Etain zurück.“

„Sie haben ja diesen Wagen.“

„Ja, den habe ich annektiert. Konnten wir zu zweien auf meinem Pferd reiten? Den Kerls, die es so schlimm mit Ihnen meinten, ist's ganz recht, daß sie den Wagen verlieren.“

„Wohin bringen Sie mich?“

„Nach Thionville.“

„O weh!“ entfuhr es ihm.

„Haben Sie keine Sorge! Ich gehe da zunächst zu einem Freund, bei dem Sie vollständig sicher sind. Bei der ersten Gelegenheit gehen wir dann über die Grenze. Oder bleiben Sie lieber hier?“

„Nein, nein! Ich will hinüber.“

„Schön! Nun haben Sie die Wahl, ob wir beisammen bleiben wollen oder nicht.“

„Wenn es Ihnen recht ist, bleiben wir beisammen.“

„Schön. Ich will jetzt nicht fragen, wer und was Sie sind. Landsleute müssen sich in solchen Zeiten unterstützen. Sie werden schon auch noch erfahren, wer ich bin!“

Bei Doktor Bertrand wurde dem Bajazzo eine Stube angewiesen, aus welcher er nicht entkommen konnte. Er glaubte, daß man diese Maßregel zu seinem eigenen Vorteil treffe. Nach einigen Tagen reisten sie zu Fuß nach der Grenze, und erst drüben benutzten sie die Bahn. So ging es bis Köln. Dort aber wurde der Bajazzo plötzlich, ohne daß er wußte weshalb, im Gasthof arretiert. Beim Legitimationsverhör fragte er danach und erhielt zur Antwort, daß man ihn nach Berlin bringen werde, wo er sicher Auskunft über die Ursache seiner Arretur erhalten werde. Er ahnte noch immer nicht, daß er die letztere seinem Reisebegleiter zu verdanken habe.

Am neunzehnten Juli war die französische Kriegserklärung in Berlin überreicht worden, und am achtundzwanzigsten desselben Monats hatte Napoleon III. in Metz das Oberkommando über die französische Rheinarmee übernommen, nachdem er der Kaiserin Eugénie die Regentschaft übertragen hatte.

Der nun ausbrechende Krieg enthüllte außerordentlich schnell die äußere und innere Schwäche des zweiten Kaiserreichs.

Das französische Heer hatte, einer stehenden Redensart zufolge, einen Spaziergang nach Berlin machen wollen; aber die Wacht am Rhein war auf ihrer Hut gewesen. Die deutschen Heereskörper rückten über die feindliche Grenze, ehe die Franzosen ihre Armeekorps noch komplettiert hatten.

Am vierten August stürmten die Kronprinzliche Armee Weißenburg und den Geisberg. Zwei Tage später war die siegreiche Schlacht bei Wörth, in welcher das Heer Mac Mahons vollständig geschlagen wurde, und nun folgte Schlag auf Schlag. Die französischen Streitkräfte wurden an allen Punkten zurückgeworfen. Sie wurden gezwungen, sich immer und immer wieder rückwärts zu konzentrieren. Sie fanden keine Zeit, sich zu sammeln und festzusetzen. Paris wurde in Belagerungszustand erklärt, und die Deutschen waren an allen Orten Herren und Meister.

Niemand wurde durch dieses rapide Vordringen der Deutschen mehr in Grimm versetzt, als der alte Kapitän Richemonte. Zuerst hatte er Befehl erhalten, die letzten Schritte zur Organisation seiner Franctireurbande erst dann zu tun, wenn man die deutsche Grenze überschritten habe und er sich also im Rücken des eigentlichen Heeres befinde. Zu einem Überschreiten der Grenze war es aber nicht gekommen, und da die französischen Heeresleiter schon für sich so viel zu tun hatten, daß sie die Köpfe verloren, so hatte man nicht Zeit gefunden, an ihn zu denken, und er war ohne alle Nachricht und Instruktion geblieben.

Nun hauste er auf Ortry und wußte vor Ärger nicht, wo aus noch ein. Er hielt sich bereit, loszubrechen, sobald er den Befehl erhalten würde.

Diese Erbitterung gegen die Deutschen herrschte natürlich auch in der Umgegend. Handel und Wandel stockten. Kein Arbeiter erhielt Beschäftigung. Man hatte Zeit genug, sich mit den Neuigkeiten zu befassen, und da diese für die Deutschen stets günstig lauteten, so wuchs der Grimm von Stunde zu Stunde. –

Es war gegen das Morgengrauen, als mehrere Reiter durch einen Wald ritten, welcher in einer ungefähren Entfernung von zwei Stunden östlich von Ortry liegt. Sie waren von der Straße, welche von Merzig aus in westlicher Richtung nach Sierk führt, nach Süden abgewichen, um unbemerkt die Gegend von Thionville zu erreichen.

Sie zählten nur ihrer zwölf und waren in Zivil. Von Zeit zu Zeit blieb einer von ihnen halten und riß mit dem Messer ein Rindenstück von einem der an dem schmalen Fahrweg stehenden Bäume. Dies war ein Zeichen für diejenigen, welche nachkommen sollten.

Voran ritt eine hoch und stark gebaute Gestalt mit männlich ernstem, dunklem Gesicht, welches von einem Vollbart umrahmt wurde, der jedenfalls nur ein Alter von einigen Wochen hatte. Dieser Reiter war – buckelig.

Der Morgen wurde heller und heller. Man konnte bereits in weite Entfernung sehen. Da sagte einer der jüngeren Herren zu dem beschriebenen Reiter:

„Wie steht es, Herr Major? Sind wir bald an Ort und Stelle? Zwölf Stunden im Sattel!“

„Ist das zu viel von Ihnen verlangt, Lieutenant?“

„Nein; das wissen Sie ja. Aber weil dieser Ritt zu gefährlich war, wollte ich meinen Fuchs nicht auf das Spiel setzen und nahm hier diesen Gaul. Er kann kaum weiter.“

Da wandte sich einer der anderen zu dem Sprecher und rezitierte aus einem bekannten Uhlandschen Gedicht die Strophen:

„Dem Pferde war's so schwach im Magen;


Fast mußte der Reiter die Mähre tragen.“

Ein halblautes Lachen erscholl. Da wendete sich derjenige, welcher Major genannt worden war, um und warnte:

„Pst! Nicht so laut, meine Herren! Wir befinden uns in Feindesland. Und da – ah, dort steht die Eiche. Warten Sie!“

Er gab seinem Pferd die Sporen und galoppierte fort. Von seitwärts her winkte die dichte Krone einer Eiche von der bewaldeten Höhe. Der Major jagte am Weg hin und bog sodann zwischen die lichtstehenden Bäume ein. Dort, am Stamm der Eiche, stand ein junger Mann, auch in Zivil.

„Grüß Gott!“ sagte der Major. „Sie sind da; also hat es geklappt?“

„Alles in Ordnung, Herr Rittmeister!“

„Oho! Keinen Fehler, mein Bester! Man hat mich zum Stabsoffizier gemacht.“

„Aha, gratuliere, Herr Major! Ist jedenfalls wohl verdient.“

„Haben Sie einen Platz?“

„Prächtig.“

„Weit von hier?“

„Gar nicht weit. Eine tiefe Schlucht, mitten im Wald. Sie führt nach einem Talkessel, in welchem unter Umständen zehn Schwadronen Platz finden.“

„Habe nur zwei und eine Kompanie Jäger. Wann erhielten Sie meine Order?“

„Vorgestern abend. Aber, Herr Major, wie können Sie es wagen, mit diesen Leuten durch feindliches Gebiet zu marschieren, um ein Schloß zu besetzen, welches eben auch mitten im Land des Feindes liegt?“

„Das ist nicht so schwer, wie Sie denken. Erstens sind wir nur in der Nacht geritten und haben jeden bewohnten Ort vermieden, und zweitens bin ich überzeugt, daß ich in Ortry nicht lange isoliert sein werde.“

„Aber man könnte Sie dennoch bemerken. Man könnte Ihnen begegnen!“

„Das ist auch geschehen.“

„So ist Ihr Ritt verraten!“

„Nein. Zwölf Mann in Zivil sind wir an der Spitze. Wer uns begegnete, wurde festgenommen und den Nachfolgenden übergeben. Auf diese Weise haben wir mehrere Gefangene gemacht, welche wir erst morgen wieder entlassen werden. Thionville ist natürlich von den Franzmännern besetzt?“

„Allerdings.“

„So war es Ihnen unmöglich, bei Doktor Bertrand zu bleiben?“

„Ja, ich mußte fort. Aber ich habe einen wunderbar schönen Platz gefunden.“

„Wo?“

„In Ortry selbst, nämlich im Dorf bei einem Häusler, den der Alte aus dem Dienst gejagt hat. Ich gelte für einen Verwandten von ihm.“

„War das nicht gefährlich?“

„O nein. Dieser Mann ist so wild auf den Kapitän, daß ich mich ganz auf ihn verlassen kann. Übrigens wurde er mir von Doktor Bertrand, der ihn vorher gehörig unter die Sonde genommen hat, dringend empfohlen.“

„Wie steht es nun mit den Franctireurs?“

„Sie warten nur auf das Signal.“

„Oh, das wird heute noch gegeben werden. Wir sind sehr gut unterrichtet. Haben Sie vielleicht eine Ahnung, wie hoch ihre Anzahl sein wird?“

„Man munkelt von fünfhundert solcher Kerls, welche sich in Ortry equipieren wollen.“

„Schön! Wir werden sie bei der Parabel nehmen. Sonst ist alles in Ordnung?“

„Ja. Die Vorräte sind ungekürzt vorhanden.“

„Und die Schlüssel, welche ich Ihnen anvertraute?“

„Habe ich noch. Wünschen Sie die Übergabe derselben?“

„Ja. Bitte!“

Er erhielt das Gewünschte und sagte dann:

„Sie werden uns jetzt unser Versteck anweisen. Dort angekommen, habe ich Zeit genug, Ihnen meinen Plan mitzuteilen. Kommen Sie!“

Dieser bucklige Reiter war natürlich kein anderer als Königsau. Der Lieutenant in Zivil war derjenige Offizier, welchem er bei seiner Entfernung von Ortry die Bewachung dieses Ortes übergeben hatte.

Sie kehrten nach dem Fahrweg zurück, wo die anderen warteten. Gerade in demselben Augenblick kam ein Reiter angesprengt. Er trug die Uniform eines Ulanenlieutenants, salutierte vor Königsau und meldete:

„Das Gros fünfhundert Schritte hinter Ihnen, Herr Major. Sollen wir absitzen?“

„Nein, sondern herankommen.“

Der Zug setzte sich wieder in Bewegung und schwenkte dann auf Kommando, nachdem die Reiter abgesessen waren und die Pferde beim Zügel ergriffen hatten, in den pfadlosen Wald ein.

Nach wenig über einer Viertelstunde erreichte man die Schlucht, welche nach dem einsam im Forst gelegenen Talkessel führte. Dort angekommen, wurden Posten aufgestellt, welche den Befehl erhielten, jede Person, die sich bemerken lasse, als gefangen abzuliefern.

Sodann wurde eine längere Beratung, natürlich nur im Kreis der Offiziere, gehalten. Am Schluß derselben brachen diejenigen dieser Herren, welche in Zivil waren, mit Königsau auf, um sich die Heimlichkeiten von Ortry einzuprägen, damit zur angegebenen Zeit kein Fehler begangen werde. Auch Fritz Schneeberg hatte seine Uniform mit einem bürgerlichen Anzug vertauscht und schloß sich ihnen an.

Die Bewohner der Umgegend hatten keine Ahnung, daß über dreihundert Feinde so ganz in aller Gemütlichkeit den Einbruch des Abends erwarteten, um sich des Schlosses Ortry und der in den vorhandenen Gewölben befindlichen Vorräte zu bemächtigen. –

In seinem Arbeitszimmer saß der alte Kapitän. Er war nicht allein, sondern es befanden sich mehrere Männer bei ihm. Das waren seine Vertrauten, welche später seinen Stab bilden sollten. Er befand sich augenscheinlich in höchst schlechter Laune. Er hatte ein Notizbuch in der Hand, aus welchem er mit beinahe knirschender Stimme folgende Stellen vorlas:

„Am 19. Juli Kriegserklärung. – Nächsten Tages Vorpostenscharmützel bei Saarbrücken. – Kampf bei Wehrden, Gefecht bei Hagenbach am 23. unglücklich für uns. – Ebenso die Gefechte bei Weißenburg und Wörth verloren. – General Douay tot. – General François gefallen. – Das feindliche Hauptquartier bereits in Kaiserslautern.“

„Der Teufel hole diese Halunken!“ warf einer der Anwesenden zornig ein.

Der Alte fuhr fort:

„Paris im Belagerungszustand! Hagenau verloren. – Saargemünd und Forbach ebenso. – Bazaine kommt nach Metz. – Mac Mahon flieht nach Nancy. – Der gesetzgebende Körper fordert die Abdankung des Kaisers. – Festung Lützelstein verloren, Straßburg kerniert. – Festung Lichtenfels zum Teufel. – Frankreich borgt eine Milliarde, um den Krieg fortsetzen zu können. – Übergang der Bayern über die Vogesen. – Pfalzburg erobert durch die Deutschen. – Leboeuf nimmt seine Entlassung als Generalstabschef.“

Er warf das Notizbuch von sich und fragte:

„Was sagt Ihr dazu, he?“

„Ich hielt es für unmöglich!“ antwortete einer.

„Ich auch. Wer ist schuld an all diesen Unfällen?“

„Hm!“

„Ja, hm! Jetzt läßt sich gar nichts sagen. Der Teufel ist im Hauptquartier dieser verdammten Deutschen. Aber dieser Schleicher, der Moltke, soll es uns doch nicht machen wie einst Blücher, der in der Hölle braten möge! Ich habe – – – was willst du?“

Diese Frage war an einen Diener gerichtet, welcher eintrat.

„Dieser Brief ist angekommen, Herr Kapitän.“

„Gut!“

Der Alte öffnete und las. Seine Stirn legt sich in tiefere Falten. Er stieß einen lästerlichen Fluch aus und sagte:

„Wißt Ihr, was mir da gemeldet wird?“

Und als keiner antwortete, fuhr er fort:

„Da steht es, das Unglaubliche: Unsere Armee ist bei Metz über die Mosel zurück, und die Deutschen haben die wichtigen Linien von Saar, Union, Grand-Tenquin, Foulquemont, Fouligny und Retangs längst überschritten. Ihre Kavallerie steht bereits bei Luneville, Metz, Vont à Mousson und Nancy.“

Flüche und Verwünschungen erschallten.

„Still!“ knurrt der Alte. „Das ist noch nicht alles! Das große Hauptquartier des Feindes befindet sich bereits zu Verny im Seinetal; die Bahn bei Frouard, nach Paris, ist zerstört, und Bazaine hat das Oberkommando über die ganze Armee übernommen. Nancy ist besetzt und der Kaiser von Metz nach Verdun gefahren. Die Preußen treiben unsere Truppen bis unter die Kanonen von Metz. – Wißt Ihr, was das alles zu bedeuten hat?“

„Daß Metz belagert werden soll.“

„Ja, Metz verloren, alles verloren! Jetzt warte ich keinen Augenblick länger. Jetzt ist der Augenblick gekommen. Während sich die deutschen Kettenhunde um Metz legen, jagen wir ihnen von hinten unsere Kugeln in den Pelz. Ich warte nicht ab, daß ich Instruktion erhalte. Vielleicht ist es bereits nicht mehr möglich, mir einen Boten zu senden. Ich bin auf mich selbst angewiesen und werde zu handeln wissen. Es mag losgehen. Ist's euch recht?“

„Ja, ja“, ertönte es im Kreis.

„Nun gut, so gebt das Zeichen. Heute um Mitternacht sollen sich die Mannschaften heimlich im Park einfinden.“

„Warum heimlich?“

„Seht ihr das nicht ein, ihr Toren? Könnte der Feind so weit gekommen sein, wenn er nicht ganz genau über alles unterrichtet wäre? Er hat talentvolle Spione; das ist gewiß. Und gerade wir sind zur größten Vorsicht verpflichtet. Das Völkerrecht verbietet die Bildung von Franctireurs. Werden wir erwischt, so behandelt man uns als Räuber und macht uns ohne Federlesens den Garaus. Die Deutschen werden, das ist sicher, auch nach hier kommen. Sie dürfen nicht erfahren, daß die Bewohner dieser Gegend zu den Waffen gegriffen haben. Sie würden zu Repressalien greifen. Darum also Vorsicht!“

„Und was dann, wenn wir uns bewaffnet haben?“

„Das wird sich finden, sobald ich morgen weitere Nachrichten erhalten habe, und dann –“

Er wurde unterbrochen. Zwei Männer traten ein. Charles Berteu und sein Freund Ribeau waren es. Sie kamen unter allen Zeichen der Aufregung.

„Herr Kapitän, wichtige Nachricht!“ sagte der erstere, indem er sich auf einen Stuhl warf und sich den Schweiß von der Stirn wischte. „Sehr wichtige Nachrichten!“

„Doch gute?“

„Zunächst eine ganz armselige, ganz verfluchte, sodann aber eine, über welche Sie sich freuen müssen.“

„Ein Sieg über die Deutschen etwa?“ stieß er hervor.

„Nein, nein! Diese Hunde stehen mit der Hölle im Bund! Die Preußen haben Vigneules an der Maas besetzt und sind in St. Mihiel eingezogen. Die Festung Marsal hat sich ergeben und vor Bar-le-Duc lassen sich bereits Ulanen sehen. Einer der feindlichen Generäle rückt bereits von Metz nach Verdun vor.“

„Alle Teufel! Das ist ja unsere Rückzugslinie!“

„Leider! Es steht schlimm! Man spricht bereits davon, daß der Feind einen seiner Generäle zum Gouverneur des Elsaß ernennen werde.“

Da stampfte der Alte mit dem Fuß auf und rief:

„So dürfen wir keine Minute verlieren. Bazaine steckt in Metz, und Mac Mahon befindet sich in Chalons, um seine geschlagenen Korps zu sammeln. Er beabsichtigt jedenfalls, dann herbei zu eilen, um Metz zu entsetzen. Geht aber der Feind bereits nach Verdun, so wird dem Marschall dies zur Unmöglichkeit gemacht. Ihr müßt also da drüben auch zu den Messern greifen, und zwar augenblicklich!“

„Das wollen wir ja auch. Wir warten nur auf Ihre Anweisungen.“

„Nun, die sollen Sie erhalten. Also, wieviel Mann werden Sie zusammenbringen?“

„Fünfhundert.“

„Also so viel wie ich. Wir werden also tausend Mann haben. Damit läßt sich etwas ausrichten. Wo versammeln Sie sich?“

„In Fleurelle, hinter Schloß Malineau. Und dieser Name bringt mich auf die zweite Nachricht, welche ich Ihnen zu bringen habe. Sie ist eine gute.“

„Dann schnell heraus damit! Gute Nachrichten sind jetzt so selten, daß man sie nicht schnell genug hören kann.“

„Schön! Also erfahren Sie: Ich habe sie.“

„Wen?“

„Fräulein Marion.“

„Marion? Ah! Meine Enkelin?“

„Ja.“

„Alle Wetter! Das ist allerdings eine ganz erfreuliche Neuigkeit. Wo befindet sie sich?“

„Eben auf Malineau.“

„Sapperment! Das Schloß gehört dem General Latreau.“

„Dessen Tochter wohnt jetzt dort, und bei ihr befindet sie sich als Gast. Und noch eine zweite Person gibt es da, auch eine Dame. Ich habe gelauscht und dabei gehört, daß sie von Mademoiselle Marion Mutter genannt wird, von den anderen aber Madame Liama.“

„Liama“! stieß der Alte hervor. „Ah, Liama! Habe ich sie wieder! Berteu, Ihre Nachricht ist für mich Gold wert. Sie müssen sogleich wieder fort!“

„Warum?“

„Sie müssen augenblicklich nach Fleurelle und unsere Leute zusammenrufen. Sie übernehmen einstweilen das Kommando. Sie haben dafür zu sorgen, daß Schloß Malineau in Ihren Besitz kommt. Sie bemächtigen sich dieser beiden Frauenzimmer. Ich komme nach. Ich stoße mit den Meinungen zu Ihnen. Wie es jetzt steht, wird der Kaiser einstweilen abtreten. Man wird eine interimistische Regierung bilden. Es wird ein wenig Anarchie geben, und dies benutzen wir. Messieurs, kommen Sie mit mir hinab in die Gewölbe, damit Sie sich für den heutigen Abend orientieren!“

Einige der Aufgeforderten erhoben sich und schritten nach der Tür; der Alte aber sagte:

„Nein, nicht dort hinaus. Es gibt einen anderen Weg. Folgen Sie mir hier durch de Tapetentür!“

Er verschloß die Eingangstür von innen und öffnete dann den geheimen Zugang nach den verborgenen Treppen. Er trat den anderen voran hinaus.

„Halt! Pst!“ machte er und horchte gespannt nach unten. Dann fügte er hinzu: „War es mir doch, als ob jemand da unten über die Stufen lief. Aber hier kann doch kein Mensch sein. Also gehen wir weiter. Ich werde Sie dann durch das Waldloch entlassen.“

Und doch hatte er sich nicht geirrt.

Königsau war in die geheimnisvollsten Gänge eingedrungen, um sie seinen Begleitern zu zeigen. Damit fertig, ließ er sie im hintersten Gang warten und begab sich mit Fritz nach dem Inneren des Schloßgebäudes. Er wollte gern wissen, wo sich der alte Kapitän befand.

Die beiden erreichten die Wohnung des letzteren und waren so glücklich, draußen vor der dünnen Holztäfelung stehend, die Unterredung, welche drin im Zimmer stattfand, zu belauschen. Sobald sie hörten, daß der Alte in die Gewölbe wollte, entfernten sie sich. Aber das ging doch nicht so schnell, wie sie dachten. Königsau wäre gewiß rascher entkommen; Fritz aber war mit der Treppe nicht so vertraut und tastete sich zu langsam hinab. Unten stolperte er sogar. Königsau durfte ihn nicht zurücklassen und faßte ihn bei der Hand. Da hörten sie das „Halt! Pst!“ des Alten.

„Stehenbleiben!“ raunte Königsau dem Gefährten zu.

Sie vernahmen nun ganz deutlich was der Kapitän dann sagte, und als sie die Schritte der Franzosen wieder hörten, eilten sie weiter. Dies ging jetzt, da es keine Stufen mehr gab, schneller vonstatten. Der Kapitän konnte mit seinen Begleitern nur langsam weiter. Darum hatten die beiden bald einen Vorsprung erhalten, der sie in Sicherheit brachte.

Als sie dann später wieder auf die anderen stießen, gab ihnen der Major den Befehl, ihm zu folgen.

Er führte sie durch den Gang, der in das Waldloch mündete. Natürlich brachten sie die Verschlüsse hinter sich wieder in Ordnung, daß nichts von ihrer Anwesenheit bemerkt werden konnte.

Als sie im Freien angekommen waren, sagte Königsau:

„Es sind also noch mehrere bei ihm. Er wird sie hier herauslassen. Ich möchte gern wissen, was gesprochen wird. Beim Abschied pflegt man ganz unabsichtlich eine Wiederholung des geendeten Gespräches zu geben; ich hoffe also, irgend etwas zu erlauschen, woraus ich auf die Dispositionen schließen kann, welche der Kapitän für den heutigen Abend getroffen hat.“

„Das ist gefährlich!“ bemerkte einer der Herren.

„Nicht so sehr, als Sie denken. Hier, gerade über dem Loch gibt es ein Brombeergestrüpp. Darin verberge ich mich sehr leicht.“

„In diesen Dornen?“

„Ja. Sie sind zwar meinem Anzug gefährlich, meiner Absicht aber sehr förderlich. Mit Ihrer Hilfe kann ich mich so verbergen, daß man mich gar nicht zu bemerken vermag. Sie brauchen nur ein wenig nachzuhelfen.“

„Wo warten wir?“

„Da oben in dem Buchengestrüpp. Sollte ich je in Gefahr geraten, so schieße ich meinen Revolver ab, und Sie eilen zu meiner Hilfe herbei.“

Die Dornenzweige wurden möglichst auseinandergebogen und dann über Königsau, nachdem derselbe sich auf den Boden gelegt hatte, wieder so geschlossen, daß er gar nicht zu sehen war. Dann zogen sich die anderen zurück.

Als sie es sich in dem dichten Buchengestrüpp so bequem wie möglich gemacht hatten, wurde das Ergebnis der Untersuchung der unterirdischen Gänge leise besprochen. Bei dieser Gelegenheit bemerkte einer:

„Ein schneidiger Kerl, dieser Major Königsau! Und Sie, Kamerad, sind Wachtmeister in seiner Schwadron gewesen?“

Diese Worte waren an Fritz gerichtet.

„Ja“, antwortete er. „Sein Wachtmeister und sein Freund, wie ich wohl sagen darf.“

„Donnerwetter! Der Sohn eines Generals von Goldberg und Wachtmeister! Das ist unbegreiflich!“

„Ah, Sie kennen diese Verhältnisse nicht?“

„Nein, Kamerad. Bedenken Sie, daß Sie mit Königsau zu einem anderen Regiment gehören.“

„Nun, so will ich Ihnen sagen, daß ich als Kind meinen Eltern geraubt wurde. Später diente ich unter Königsau, welcher, ohne daß wir beide es ahnten, mein Verwandter, mein Cousin war. Hier in Ortry kamen wir zufälligerweise hinter das Geheimnis. Der Kerl, welcher mich geraubt hatte, wurde gefangen und mit List über die Grenze und dann als Gefangener nach Berlin gebracht. Dort wurde er so scharf vernommen, daß er nicht mehr leugnen konnte, und so gestand er nicht nur, sondern bewies auch, daß ich der geraubte Sohn des Generals bin.“

„Sapperment! Höchst interessant! Was sagten denn da Ihre Eltern?“

„Ist das nicht eine wunderbare Frage, Herr Kamerad? Lassen Sie uns jetzt an die Gegenwart denken! Aus dem Wachtmeister Fritz Schneeberg, der stets seine Pflicht getan hat, ist der Lieutenant Graf Friedrich von Goldberg geworden, welcher sich keiner Nachlässigkeit schuldig machen will. Geben wir also auf den Major acht!“

Dieser hatte unter seinen Dornen eine wahre Geduldsprobe abzulegen. Es dauerte sehr, sehr lange, ehe er die Ankunft der Franctireurs bemerkte. Endlich glaubte er unter sich ein Geräusch zu vernehmen, und gleich darauf wurde der Stein von dem Loch, welches den Ausgang bildete, entfernt.

Die Männer traten hervor.

„Also, haben Sie sich alles gemerkt, Messieurs?“ fragte der Alte. „Sie speisen heute mit mir zu Abend, und Punkt zwölf Uhr begeben wir uns in das Gewölbe. Sie, Levers, können allerdings nicht mit am Mahl teilnehmen, da Sie die Versammelten hier zu erwarten und durch diesen Eingang zu dirigieren haben.“

Der Kapitän Richemonte unterbrach plötzlich seinen Vortrag, den er an die Führer der Franctireurs hielt. Es war ihm, als ob er von außerhalb ein Geräusch vernommen, er horchte aufmerksamer, es blieb aber still in der Umgebung.

Nach einigen Minuten fuhr er jedoch fort und verordnete, zu Levers gewandt:

„Sie verschließen den Zugang natürlich wieder und bringen die Leute alle in das große Gewölbe, in welchem die Garderobevorräte aufgestapelt liegen. Die Leute müssen zunächst eingekleidet werden, ehe sie Waffen bekommen. Jeder erhält seine Bluse und ein Käppi. Ich lasse dieses Gewölbe offen, und Sie können, falls ich nicht gleich erscheine, die Einkleidung immer beginnen lassen. So, das ist alles, was ich noch zu sagen hatte. Adieu, Messieurs!“

Er gab ihnen die Hand, und sie gingen. Nur zwei blieben bei ihm zurück, nämlich Berteu und Ribeau. Der erstere wartete, bis sich die anderen alle entfernt hatten. Dann sagte er:

„Wann darf ich erwarten, Sie in Fleurelle zu sehen, Herr Kapitän?“

„Möglichst bald. Auf dieser Seite der Mosel ist für uns nichts zu tun. Noch bleibt uns der Weg über Briecy offen, und den werden wir benutzen. Wir marschieren noch während der Nacht fort. Die Schnelligkeit unseres Marsches aber hängt von Umständen ab, die ich noch nicht kenne.“

„Und ich soll mich unter allen Umständen des Schlosses Malineau bemächtigen?“

„Ja. Auf alle Fälle.“

„Welchen Vorwand habe ich? Es gehört dem Grafen Latreau, der französischer General ist.“

„Pah! General außer Dienst.“

„Aber doch Offizier.“

„Nun, ein Grund ist sehr leicht gefunden. Sie haben gehört, daß die Deutschen sich des Schlosses bemächtigen wollen, und so kommen Sie, es zu verteidigen.“

„Hm, ja! Auf diese Weise bin ich der Beschützer des Schlosses und der Damen.“

„Diese letzteren brauchen, bis ich komme, nicht zu merken, daß sie Ihre Gefangenen sind.“

„Natürlich. Aber wie nun, wenn sich bereits reguläres Militär in der Nähe oder gar im Schloß selbst befindet? Dann kann ich doch nicht verlangen, daß das Kommando mir übergeben wird.“

„Allerdings nicht. In diesem Fall haben Sie nur zu beobachten, daß meine Enkelin und diese Liama sich nicht entfernen. Das Weitere werde ich bestimmen, wenn ich dann ankomme. Haben Sie sonst noch eine Frage oder eine Erkundigung?“

„Nein. Ich hoffe ja, daß wir uns bald wiedersehen.“

„Jedenfalls. Adieu für jetzt!“

„Adieu, Herr Kapitän!“

Die beiden Freunde gingen, und der Alte zog sich in das Innere des Ganges zurück.

Nun wand Königsau sich vorsichtig aus den Dornen hervor und begab sich zu den auf ihn wartenden Kameraden, denen er mitteilte, daß sie nun in den Talkessel zurückkehren könnten, da der Zweck der gegenwärtigen Rekognition erreicht worden sei.

Er schritt mit Schneeberg voran, da sie beide die Gegend kannten.

Ein Fehler ist es freilich, den braven Fritz noch Schneeberg zu nennen, denn er war von dem General von Goldberg als Sohn anerkannt worden. Königsau hatte mit dem gefangenen Seiltänzer eine förmliche Revolution in dem Familienleben seiner Verwandten hervorgerufen. Freilich war davon nicht viel in die Öffentlichkeit gedrungen. Die politischen und kriegerischen Ereignisse der Gegenwart hatten alles Interesse in der Weise absorbiert, daß das endliche Auffinden eines der verschollenen Söhne des Generals fast gar nicht beachtet worden war.

Desto größer allerdings war die Erregung im Kreis der Familie gewesen. Das einzige nach außen hin gehende Ereignis bestand in der Ernennung Fritz' zum Lieutenant.

Er sollte allerdings einen neuen Vornamen erhalten; da er aber an seinen bisherigen so gewöhnt war, hatte man beschlossen, denselben beizubehalten.

Königsau verkehrte mit ihm natürlich noch viel vertraulicher als früher. Sie durften sich nun du nennen, und es war dem für seine Dienste zum Major ernannten Rittmeister eine herzliche Genugtuung, den Freund, welchem er bereits früher zugetan war, auch jetzt noch bei sich haben zu können.

Während sie nun, gefolgt von den anderen, nebeneinander herschritten, fragte Fritz:

„Hast du deine Dispositionen für den Abend schon getroffen, Richard?“

„Ja. Wir werden ein wenig Komödie spielen.“

„Hm! Wieso?“

„Nun, der Alte kennt und – haßt dich.“

„Das ist freilich wahr.“

„Mich aber noch viel mehr.“

„Das ist ebenfalls zutreffend.“

„So bereiten wir ihm die freudige Überraschung eines Besuches.“

„Doch nicht etwa gerade dann, wenn er mit seinen sauberen Kameraden bei der Tafel sitzt?“

„Doch, gerade dann.“

„Hm! Wo wird er speisen?“

„Im Speisesaal keinesfalls. Diese Männer haben vieles zu besprechen. Er wird in seiner Wohnung servieren lassen.“

„Das wird allerdings eine sehr hübsche Überraschung werden.“

„Fast so groß wie die Überraschung, welche deine Nanon hatte, als ich dich als meinen Cousin vorstellte.“

„Das gute Kind! Wo wird sie sich befinden?“

„Irgendwo beim Heer. Ich achte den Entschluß, mit ihrer Schwester unseren siegreichen Truppen als Krankenpflegerin zu folgen. Du wirst mit diesem Mädchen jedenfalls glücklich sein.“

„Ich bin davon überzeugt. Sapperment, wenn ich daran denke! Da unten im Wald trafen wir uns. Ich sang: ‚Zieht im Herbst die Lerche fort!‘ Dann setzte sie sich auf meinen Pflanzensack und guckte mich mit so lieben Augen an, daß mir Hören und Sehen verging.“

„Beneidenswerter.“

„So? Bist etwa du zu beklagen?“

„Hm! Du hast ja gehört, in welcher Gefahr sich Marion befindet. Und ich bin nicht bei ihr!“

„Du machst dich aber schleunigst hin!“

„Werde ich Erlaubnis bekommen?“

„Allemal!“

„Ich habe morgen abend in St. Barbe einzutreffen. Ist es möglich, so bin ich eher dort. Und sollte ich ein Pferd totreiten, obgleich ich sonst kein Schinder bin.“

„Ich bin bei dir. Gibt man dir die Erlaubnis, wird man sie mir wohl nicht versagen. Du hast dich so verdient gemacht, daß man moralisch gezwungen ist, deine Bitte zu berücksichtigen.“

„Wenn unser linker Flügel weit genug vorgeschoben ist, wird man mir die Erlaubnis allerdings nicht verweigern. Und dann, dann –“

„Dann werden wir zwei ernste Wörtchen mit diesem Berteu und seinem Freund Ribeau sprechen“, fiel Fritz ein. „Diese Kerls haben es verdient!“ –

Der Tag verging, es wurde Abend. Neun Uhr vorüber; da regte sich ein eigentümliches, geheimnisvolles Leben in demjenigen Teil des Waldes, welcher in der Nähe des alten Klosters lag.

Aus dem schmalen Waldweg, welcher von Osten her auf die Ruine mündete, drangen zwei Schwadronen Ulanen und dann eine Kompagnie Jäger hervor. Die ersteren erhielten den Befehl, hier zu warten, dann aber zur geeigneten Zeit hervorzubrechen, so daß zehn Minuten nach zwölf Uhr Schloß Ortry von ihnen in der Weise umringt sei, daß niemand von dort entkommen könne.

Die Jäger aber folgten ihren Offizieren in das Innere der Ruine. Dort wurden die mitgebrachten Leuchten entzündet, und die braven Leute drangen nun durch den Gang ein, durch welchen sich Fritz damals in den Versammlungssaal gewagt hatte.

Nachdem sie diesen letzteren erreicht hatten, wurden sie von Königsau, welcher ja überall öffnen konnte, weiter in das Innere der Gewölbe geführt. Beim Kreuzpunkt der vier Gänge blieb er stehen. Die Offiziere standen hinter ihm.

„Meine Herren“, sagte er; „Sie sehen hier diese offene Tür. Sie führt in das Gewölbe, in welchem sich die fünfhundert Menschen ihre Blusen und Käppis holen sollen. Sie kommen ohne Waffen: sie sollen erst, nachdem sie eingekleidet sind, bewaffnet werden. Dazu aber dürfen wir es nicht kommen lassen. Wir nehmen sie, ehe sie diese Gewölbe verlassen, gefangen. Um das mit Sicherheit zu können, müssen wir sie einschließen. Ich öffne Ihnen die Türen der beiden Gewölbe, welche zu beiden Seiten des Garderobenmagazins liegen; dort verstecken Sie sich, Herr Hauptmann, Herr Oberlieutenant. – Ich werde zur rechten Zeit erscheinen, um das Signal zu geben. Sie halten Ihre Türen offen, aber so, daß man von außen nichts bemerkt. Ich werde, wenn ich komme, bei Ihnen, Herr Oberlieutenant, leise anklopfen und meinen Namen nennen. Jetzt kommen Sie!“

Er öffnete die beiden Türen, und die Gewölbe wurden besetzt, worauf man die Türen von innen zuzog.

Er hatte sich nur zehn Mann von der Kompagnie zurückbehalten; diese waren im Gang bei ihm und Fritz geblieben. Er gab einen Wink und führte sie nach dem Schloß. Unter dem Gartenhaus angekommen, zog er seine Uhr und warf einen Blick auf das Zifferblatt.

„Dreiviertel elf Uhr“, sagte er. „Wir haben länger gebraucht als ich dachte. Jetzt kannst du an die Oberwelt steigen. Ich werde alles hören.“

Fritz, der mit den Heimlichkeiten des Gartenhauses vertraut war, sieg hinauf, während Königsau mit den Soldaten den Weg fortsetzte.

Bei den geheimen Treppen angekommen, gab er strengen Befehl, jedes, auch das geringste Geräusch, zu vermeiden, und stieg mit ihnen empor.

Nur er hatte ein Licht. Die Leute trugen schwere Stiefel und übrigens auch ihre ganze Ausrüstung. Es war also für sie keine Kleinigkeit, ihm so geräuschlos, wie er es verlangte, zu folgen. Sie tasteten sich nur höchst langsam vorwärts, und als sie oben neben ihm standen, konnte es wohl schon halb zwölf Uhr sein.

Als sie nun so lautlos nebeneinander standen, hörten sie laute Stimmen.

„Sie sind da“, flüsterte der Major ihnen zu. „Ich werde zuerst allein eintreten: sobald ich aber Ihren Namen nenne, Sergeant, folgen Sie nach. Wer Widerstand leistet, bekommt eine Kugel. Nur den alten Graubärtigen schont mir; den muß ich lebendig haben.“ –

Fritz war durch den Park in den Garten gelangt und ging von da aus zunächst in das Freie, um die bestimmte Zeit abzuwarten. Er sah die Fenster des Kapitäns erleuchtet und flüsterte vor sich hin:

„Ganz genau so, wie Richard dachte. Bin doch neugierig, was der Alte sagen wird.“

Als halb zwölf Uhr vorüber war, begab er sich an das große Tor des Hofes. Es stand offen, jedenfalls auf besonderen Befehl des Kapitäns. Er trat ein, aber kein Mensch war zu sehen. Darum ging er über den Hof hinweg und stieg die breite Freitreppe hinauf. Erst oben trat ihm ein Diener entgegen, der ihn ganz erstaunt betrachtete.

„Was wollen Sie so spät?“ fragte er.

„Ich muß zum Herrn Kapitän.“

„Unmöglich! Jetzt ist keine Audienzzeit.“

„O doch! Der Herr Kapitän erteilt ja Audienz.“

„Das sind Herren, welche – welche –“

„Zu welchen auch ich gehöre.“

„Ach so! Da muß ich Sie anmelden.“

„Das ist nicht nötig. Ich bin für jetzt bestellt und habe strengen Befehl, mich nicht anmelden zu lassen.“

Er schob den Diener zur Seite und ging weiter. Der Lakai blickte ihm verdutzt nach und brummte:

„Sonderbar! War das nicht der Kräutermann des Doktor Bertrands? Der ist auch ein Vertreter des Kapitäns? Wer hätte das gedacht! Hm, hm!“

An der Tür des Kapitäns angekommen, klopfte er an und trat, als er die Antwort des Alten hörte, ein.

Dieser letztere mochte geglaubt haben, daß es der Diener sei, aber als er Fritz erblickte, machte er ein im höchsten Grad erstauntes Gesicht und sagte:

„Was! Wer hat Ihnen erlaubt, hier einzutreten?“

„Entschuldigung, Herr Kapitän“, sagte Fritz in höflichem Ton. „Ich habe Ihnen eine wichtige Botschaft zu bringen.“

„Sie mir! Sind Sie nicht der – der Kräutersammler des Doktor Bertrands?“

„Ja.“

„Und Sie wagen sich zu mir?“

„Warum sollte ich nicht?“

„Das ist stark! Was haben Sie mir zu sagen?“

„Ich komme in einer sehr freundlichen Absicht und verdiene den feindseligen Empfang nicht, den ich hier finde.“

„So lassen Sie mich Ihre freundliche Absicht kennenlernen.“

„Ich soll Sie warnen.“

„Ah! Vor wem oder was?“

„Vor einem gewissen Doktor Müller.“

„Sapperment! Was ist's mit diesem?“

„Er sinnt auf Rache.“

„Das weiß ich. Wissen Sie vielleicht, wo er sich befindet?“

„Er soll sich in der Nähe des Schlosses herumtreiben.“

„Oh, er wird wohl an einem ganz anderen Ort sein, an einem Ort, den ich kenne.“

„Schwerlich!“

„Pah! Ich weiß das besser als Sie. Er ist da, wo sich Mademoiselle Marion befindet. Aber wir werden ihn zu treffen wissen. Wie aber kommt es, daß Sie, gerade Sie mich warnen? Wer hat Sie geschickt?“

„Raten Sie.“

„Fällt mir nicht ein.“

Er war von seinem Stuhl aufgestanden, ging an Fritz vorüber nach der Tür, öffnete, zog draußen den Schlüssel ab und verschloß die Tür von innen. Den Schlüssel steckte er ein, zog ein höhnisch grinsendes Gesicht und sagte:

„Sie merken jetzt wohl, wie dumm Sie sind?“

„Ich? Dumm?“ fragte Fritz.

„Ja, riesig dumm! Sie sind geradezu in die Höhle des Löwen gelaufen, der Sie verschlingen wird.“

„Des Löwen? Habe keine Ahnung. Wer soll das sein?“

„Ich.“

„Sie?“ meinte Fritz in äußerst gemütlichem Ton. „Sie wollen mich verschlingen? Sehen Sie; dazu sind Sie viel zu gut und freundlich. Übrigens glaube ich nicht, daß ich so sehr appetitlich bin, daß es Ihnen nach mir gelüstet.“

„Oh, es gelüstet mir doch sehr nach Ihnen. Sie sind mir längst verdächtig gewesen. Ich bemächtige mich Ihrer Person, Sie sind mein Gefangener.“

„Was! Gefangener soll ich sein?“

„Sie hören es ja.“

„Das ist aber doch die höchst verkehrte Welt.“

„Ah! Wieso?“

„Sie sind ja mein Gefangener.“

„Ich? Der Ihrige? Mensch, sind Sie verrückt?“

„Das scheint Ihnen auch noch unglaublich? Sie denken, weil Sie den Schlüssel abgezogen haben, bin ich Ihr Gefangener? Oh, mir ist eben gerade recht, daß Sie die Tür verschließen. Da können Sie mir nicht entkommen.“

Der Alte stieß ein lautes, höhnisches Gelächter aus, in welches die anderen einstimmten.

„Der Mensch ist wirklich übergeschnappt“, sagte er. „Oder spielt er nur den Verrückten, um loszukommen. Aber da hat er sich verrechnet. Wir werden ihn einschließen.“

„Wohl da, wo die Zofe gesteckt hat?“ fragte Fritz.

Der Alte horchte auf.

„Welche Zofe?“ fragte er.

„Ich meine dasselbe Loch, in welches auch Deep-hill eingesperrt worden ist.“

„Hölle und Teufel! Was wissen Sie davon?“

„Oder meinen Sie das Loch, in welchem Herr von Königsau steckte, oder dasjenige, in welches einst ein kleiner, dicker Maler eingesperrt wurde?“

Da sprang der Alte auf ihn zu, faßte ihn bei der Brust und brüllte voller Wut:

„Ah, habe ich endlich den Kerl! Halunke, jetzt sollst du mir beichten, auf welche Weise –“

Er sprach nicht weiter. Fritz hatte ihn bei der Gurgel gepackt, hob ihn empor und setzte ihn auf den nächsten Stuhl. Das ging so schnell, daß die anderen gar nicht Zeit fanden, dem Alten beizuspringen.

„Armer Teufel! Mich bei der Brust zu fassen!“ sagte er. „So einen alten Gardekapitän drückt man ja mit einer einzigen Hand zu Sirup. Und Sie, meine Herren, bleiben Sie ruhig sitzen, sonst geschieht Ihnen etwas, was Sie auf die Dauer nicht vertragen können.“

„Schurke“, stöhnte der Kapitän, indem er sich wieder von seinem Sitz erhob. „Ich lasse dich fuchteln, zu Tode fuchteln. Du sollst mir – Tod und Verdammen – wer ist das? Wer hat hier –“

Das Wort blieb ihm im Mund stecken. Die Wand hatte sich geöffnet, und Königsau war eingetreten.

„Guten Abend, Herr Kapitän“, grüßte er höflich.

„Was – was – – – was – – –“, stammelte der Alte, der vor Schreck weiter keine Worte fand.

„Was das ist?“ fragte Königsau. „Besuch ist es!“

Da gewann der Kapitän wieder die Herrschaft über seinen Schreck. Sein Auge leuchtete tückisch auf, und seine langen, gelben Zähne nagten an dem weißen Bart.

„Schön“, sagte er. „Besser konnte es nicht kommen. Die Vögel haben sich gefangen. Verdacht hatte ich bereits damals. Jetzt aber weiß ich bestimmt, wer mir mein Haus durchspionierte. Aber Sie sind heute, da Sie heimlich zurückkehrten, in Ihr eigenes Verderben gerannt. Hier hinaus“ – er deutete nach der Tür – „hier hinaus können Sie nicht, und da, wo Sie jetzt eingetreten sind, noch viel weniger.“

„Wer wollte es mir verwehren?“

„Ich.“

„Pah! Sie alter, schwacher Mann.“

„Lachen Sie! Sie sind ein Spion. Ich aber will Ihnen sagen, daß Sie noch heute nacht aufgeknüpft werden. Da unten harren fünfhundert Mann tapferer französischer Krieger. Ihnen laufen Sie in die Arme!“

„Französische? Hm! Das machen Sie mir nicht weis.“

„Sie werden sie sehen.“

„Na, da werde ich Ihnen die tapferen französischen Krieger zeigen, welche da unten warten. Sergeant Baumann, herein!“

Im nächsten Augenblick standen zehn preußische Jäger längs der Hinterwand postiert, die Läufe der schußfertigen Gewehre auf die Franzosen gerichtet.

„Nun, Herr Kapitän, was sagen Sie zu diesen tapferen Franzosen? Bitte, antworten Sie.“



Ein lautes Stöhnen war zu hören, weiter nichts. Die Augen schienen dem Alten aus dem Kopf treten zu wollen; er fand keine Worte. Er bot einen schrecklichen Anblick dar. Er sah aus wie einer, den der Schlag im nächsten Augenblicke treffen muß. Er rang nach Atem, und endlich, endlich stieß er einen lauten Schrei hervor.

„So sieht einer aus, den der Teufel holt“, sagte Fritz, auf den Kapitän deutend.

Das aber gab diesem sofort die Fassung wieder.

„Hund!“ brüllte er. „Sag das noch einmal, und ich zermalme dich.“

Auch die anderen Franzosen traten um einen Schritt näher. Sie vergaßen um des Alten willen für einen Augenblick die drohend auf sie gerichteten Gewehrläufe.

„Halt! Bewegt euch nicht!“ gebot Königsau. „Ein Wink von mir, und zehn Schüsse krachen. Und damit der Herr Kapitän Richemonte nicht zweifeln kann, daß es mir Ernst ist, so will ich ihm sagen, daß ich eigentlich nicht Müller heiße. Mein Name ist Richard von Königsau, Major im königlich preußischen Gardeulanenregiment. Und hier steht Friedrich von Goldberg, mein Kamerad.“

„Ein – ein – buckliger Major“, stieß der Alte hervor, indem er aber doch vor Schreck auf den Stuhl sank.

„Pah! Der Buckel wird von jetzt an verschwinden. Aber horch. Fritz, geh hinab. Sie sind da.“

Von unten herauf ertönte Pferdegetrappel. Der Lieutenant entfernte sich und kehrte nach wenigen Augenblicken mit einem Ulanenrittmeister zurück. Dieser salutierte vor Königsau und meldete:

„Schloß Ortry von allen Seiten zerniert, Herr Major – zehn Minuten nach zwölf.“

„Schön, Herr Rittmeister! Sie sind pünktlich. Danke! Bringen Sie mir diese Leute hier herunter in den Speisesaal. Ich werde dafür sorgen, daß auch die anderen Bewohner des Schlosses da erscheinen.“

Er ging mit Fritz. Während dieser auf seinen Befehl die Dienerschaft zusammenkommandierte, begab er selbst sich zu der Baronin. Sie befand sich in ihrem Gemach und war an das Fenster getreten. Sie war überzeugt, daß französische Reiter angekommen seien, erstaunte daher nicht wenig, als sie Königsau eintreten sah.

„Doktor Müller“, stieß sie hervor.

„Einstweilen mag ich das noch sein. Wo ist Ihr Sohn?“

„Er schläft.“

„So mag er noch weiter schlafen. Sie aber kommen mit.“

Er bot ihr den Arm.

„Was fällt Ihnen ein?“ sagte sie.

„Mir fällt ein, daß Sie mir zu gehorchen haben. Vorwärts!“

Er ergriff ihren Arm und hielt diesen rücksichtslos fest, daß sie mit ihm gehen mußte. Als er mit ihr in den Saal trat, wurden durch die andere Tür die übrigen Gefangenen herbeigeführt. Königsau zählte sie durch und fand, daß niemand fehlte.

„Herr Rittmeister, bitte, nehmen Sie die Versammlung unter Ihre eigene Obhut, bis ich zurückkehre. Es darf niemand entkommen. Folge mir, Fritz.“

Er entfernte sich mit dem Lieutenant, kehrte in das Zimmer des Alten zurück, und von da aus stiegen sie in den Gang hinab; dieses Mal ohne Licht.

Als sie ihr Ziel fast erreicht hatten, vernahmen sie ein dumpfes Stimmengewirr.

„Sie sind versammelt“, meinte Fritz.

„Und zwar scheinen alle sich im Gewölbe zu befinden. Es ist im Gang vollständig finster. Wir werden also leichte Arbeit haben.“

Sie schlichen weiter bis zur nächsten Tür. Dort klopfte Richard von Königsau an und nannte leise seinen Namen. Sofort wurde geöffnet und der Oberlieutenant trat heraus.

„Alles bereit und in Ordnung“, meldete er.

„Schön! Nähern Sie sich mit den Ihrigen so leise wie möglich dem Gewölbe. Ich werde den Herrn Hauptmann holen.“

Er gab dort dasselbe Zeichen, und nun kamen die Jäger von beiden Seiten herbei. Er trat zu der angelehnten Tür des Gewölbes und warf einen Blick hinein.

Der Raum war sehr groß. Er bildete einen Saal von bedeutender Länge und Breite. An der hinteren Wand standen eine Menge Kisten, welche jetzt geöffnet waren. Fünfhundert Menschen bildeten die verschiedensten, oft wahrhaft lächerlichen Gruppen. Man teilte sich die Blusen und Kopfbedeckungen.

„Man beachtet den Eingang gar nicht“, sagte er. „Soll ich Ihnen die Sache überlassen, Herr Hauptmann?“

„Ich bitte darum!“

„Gut. Ich werde hier warten.“

Er trat mit Fritz weiter zurück, um den Jägern Raum zu lassen. Ein leises Kommando des Offiziers, und die Jäger marschierten mit dumpf im Takt klingenden Schritten in den Saal. Die beiden im Gang Stehenden hörten vielstimmige Rufe, ein wirres Getöse, welches aber von der Stimme des Hauptmannes übertönt wurde. Dieser letztere trat nach kurzer Zeit heraus und meldete, daß alles in Ordnung sei. Die unbewaffneten Franzosen hatten sich in ihr Schicksal ergeben.

„Nehmen Sie Ihre braven Burschen wieder heraus! Hier ist der Schlüssel zur Tür; er schließt auch alles andere. Lassen Sie den Eingang verrammeln. Material dazu finden Sie in jedem anderen Raum. Im übrigen haben Sie Ihre Instruktion. Der Kamerad, welcher sich als Wächter hier befand, wird Ihnen jede gewünschte Auskunft erteilen. Gute Nacht!“

Er ging mit Fritz. Sie kehrten durch das Zimmer des Kapitäns nach dem Speisesaal zurück. Dort herrschte große Aufregung. Der – – – Kapitän war fort.

Der Rittmeister selbst hatte ihn mit bewacht. Zehn Jäger und mehrere Ulanen hatten sich im Saal befunden. Der Alte hatte sich ganz bewegungslos verhalten, war aber plötzlich auf und nach dem Kamin gesprungen. Die Mauer hatte sich geöffnet und im nächsten Augenblick hinter ihm geschlossen.

Das war nun freilich eine höchst unangenehme Botschaft. Eben wollte Königsau zum Kamin treten, da hörte man draußen einen Schuß, dann noch einen.

„Ob er das war?“ fragte Fritz.

„Möglich!“ antwortete Major.

Dann trat er an den Kamin.

„Hat man hier untersucht?“ fragte er den Sergeanten.

„Ja, Herr Major. Aber der Herr Rittmeister hat nicht entdecken können, wie man da öffnen kann.“

„Wo ist er jetzt?“

„Er ging selbst, um den Kordon fester schließen zu lassen.“

„Bewachen Sie die übrigen gut, ich kehre bald wieder.“

Er fand ganz die Vorrichtung wie bei den anderen geheimen Türen, ergriff ein Licht, winkte Fritz und öffnete. Sie traten durch die Öffnung und verschlossen sie hinter sich wieder.

„Ah, auch eine Treppe!“ meinte Fritz.

„Sie kann aber nicht nach dem Gang führen, der mit bekannt ist. Ich müßte sie sonst entdeckt haben.“

Sie stiegen hinab und gelangten allerdings in einen schmalen Gang, aber dieser führte zu einer niedrigen, eisernen Tür, welche nur angelehnt war. Als sie hinaustraten, befanden sie sich im Hof des Schlosses.

„Wie dumm, wie dumm!“ meinte Königsau. „Wer aber konnte ahnen, daß hier so eine Ausfallpforte sei. Ich habe sie wohl bemerkt, ihr aber keine Beachtung geschenkt.“

In diesem Augenblick kam der Rittmeister zum Tor herein. Er erblickte beim Schein der brennenden Hoflaternen den Major, kam auf ihn zu, salutierte und meldete:

„Herr Oberstwachtmeister, der Kapitän ist entkommen, doch ohne meine Schuld, wie ich bemerken möchte.“

„Ich weiß es. Ich hätte den Saal untersuchen sollen. Hier durch dieses Pförtchen ist er ins Freie gelangt. Warum hat man geschossen?“

„Er hat sich durchgeschlichen. Die beiden Ulanen, zwischen denen er hindurchschlüpfen wollte, haben Feuer gegeben.“

„Wurde er getroffen?“

„Ich weiß es nicht. Er scheint entkommen zu sein. Beim Aufblitzen der Schüsse haben beide seinen grauen Bart und sein weißes Haar erkannt. Er ist es gewesen.“

„Lassen Sie mit Laternen nach Blut suchen.“

„Dürfen wir es wagen, Laternen sehen zu lassen?“

„Ja. Ich hoffe, nach ein Uhr Nachricht zu bekommen, daß Oberst von der Heidten uns von Thionville aus die Hand reicht. Er hat Befehl erhalten, im Geschwindmarsch heranzurücken. Ich kehre in den Saal zurück.“

Der Rittmeister ging.

„Eine verteufelte Geschichte!“ brummte Fritz.

„Allerdings. Aber unsere Aufgabe, die hiesigen Vorräte zu fassen, ist glanzvoll gelöst. Dem Oberstkommandierenden kann es sehr gleichgültig sein, daß der Alte entkommen ist. Aber in unsere Privatangelegenheit macht es uns einen Strich durch die so wohl angelegte Rechnung.“

„Ich denke, er wird nach Malineau gehen.“

„Ganz gewiß. Aber, wenn es mir möglich ist, soll ihm das nicht gelingen. Wir reiten nachher fort.“

„Was geschieht mit der Baronin und ihrem Mann?“

„Sie bleiben hier gefangen. Ich werde die nötigen Instruktionen hinterlassen.“

Kurz vor zwei Uhr kam eine Ordonnanz angeritten, welche nach dem Oberstwachtmeister von Königsau fragte und diesem meldete, daß der Oberst von der Heidten Thionville gegenüber am diesseitigen Ufer der Mosel angekommen sei. Der Besitz von Ortry war gesichert.

Eine Stunde später verließen Königsau und Fritz von Goldberg das Schloß. Sie hatten einen weiten Ritt vor sich. – – –

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