SIEBENTES KAPITEL Entscheidung in Sedan

Es war kaum dunkel geworden, so hörte man auf der Seite, von welcher der Feind erwartet wurde, ein ziemlich lebhaftes Gewehrfeuer, und es kam die Meldung, daß die Spahis versucht hätten, sich dem Schloß zu nähern. Als aber das Feuer auf sie eröffnet wurde, zogen sie sich zurück.

Sie versuchten es dann auf der anderen Seite, doch auch da waren die Deutschen wachsam. Man hörte bald hier, bald dort einen Schuß fallen. Königsau, dessen Vorposten einen Kreis um das Schloß bildeten, zog dieselben mehr an sich, um keine Lücken zu bilden, zwischen denen die Angreifer einzudringen vermochten. Die Spahis folgten, und als später der Major auskundschaften ging, konnte er sich überzeugen, daß außerhalb seiner Vorposten sich ein feindlicher Kreis gebildet hatte, der es ihm unmöglich machen sollte, zu entkommen.

Es fiel ihm gar nicht ein, an Flucht zu denken, vielmehr freute er sich darüber, daß der Feind ihn hier festhalten wolle. Die Verstärkung war ihm ja von Hohenthal bestimmt in Aussicht gestellt worden.

Es gab keinen Mondschein, und man vermochte selbst im freien Feld kaum einige Schritte weit zu sehen. Hinter dem Dorf zogen sich ein Erbsen- und ein Kartoffelfeld nebeneinander hin. Sie waren durch einen mit Gras bewachsenen Rain voneinander getrennt. Ein aufmerksamer Beobachter hätte, wenn er sich in der Nähe befand, hier eine Bewegung bemerken können. Zwei menschliche Körper schoben sich mit äußerster Vorsicht längs des Rains hin.

Da fiel vom Wald her ein Schuß.

„Wieder einer!“ flüsterte eine der beiden Gestalten.

Der, welcher vorankroch, hielt inne, richtete den Kopf zurück und antwortete ebenso leise:

„Es ist ganz gewiß so, wie ich sagte, unsere Husaren sind eingeschlossen. Nicht?“

„Ganz meine Meinung, Herr Feldwebel.“

„Schön! Aber mir sollen sie doch keinen Riegel vorschieben; das ist so gewiß wie Pudding. Vorwärts!“

Sie verfolgten ihre Richtung, bis sie an das Ende des Rains gelangten. Dieser stieß an den Wald.

„Jetzt links am Waldrand hinauf!“ kommandierte der, welcher Feldwebel genannt worden war.

Er war von sehr kurzer, außerordentlich dicker Gestalt, schien aber trotzdem eine ungemeine Behendigkeit zu besitzen.

Es dauerte eine ziemliche Weile, bis der Wald eine Spitze bildete, hinter welcher sich eine Straße vom Schloß her verlor. Es war dieselbe, auf welcher heute Oberst von Rallion mit seinen Gardereitern gekommen war. Eben waren die beiden Geheimnisvollen hier angekommen, so ließ sich der Huftritt eines Pferdes vernehmen.

„Halt! Nicht weiter!“ flüsterte der Dicke. „Duck dich ganz an die Erde; da sehen sie uns nicht.“

Das Geräusch kam näher.

„Es sind Leute dabei. Man hört es“, bemerkte der andere mit ganz leiser Stimme.

„Dummkopf! Das versteht sich ganz von selbst, daß ein Pferd nicht allein spazieren geht. Schweig jetzt!“

Zwei Männer nahten. Einer hatte einen weißen Paletot umhängen. Der andere war dunkel gekleidet und führte das Pferd am Zügel.

„So! Hier können Sie aufsteigen“, sagte der erstere. „Die Vorpostenkette dieser verfluchten Deutschen zieht sich dort nach rechts hinüber. Hier nun merken sie also nicht, daß sich jemand entfernt. Haben Sie den Brief gut versteckt? Das ist die Hauptsache.“

„Ja. Er steckt im Stiefelfutter.“

„Ganz wie bei mir. Mac Mahon ist ein Schlaukopf. Er gab mir zwei gleichlautende Schreiben. Kommt das eine nicht an das Ziel, so daß es vernichtet werden muß, so wird wenigstens das andere in Bazaines Hände kommen. Sie glauben also, daß Sie den Weg zu ihm noch völlig frei finden?“

„Ganz bestimmt! Ich bin überzeugt, daß der Feind heute zurückgedrängt wurde. Und selbst, wenn das nicht der Fall wäre, so würde ich mich durchzufinden wissen.“

„Gerade deshalb vertraue ich Ihnen diesen einen Brief an. Sie kennen hier ja alle Wege. Also Sie wissen nicht, ob Oberst Rallion entkommen ist?“

„Nein. Ich war so klug, den Kampf gar nicht abzuwarten. Freilich hatte ich keine Ahnung, daß Sie, Oberst, so nahe seien.“

„Machen Sie sich keine Sorge. Wenn er gefangen ist, so werden ihn die Deutschen herausgeben müssen. Mit Tagesanbruch greife ich den Feind an; dann setze ich den Ritt weiter fort, um den Brief zu übergeben. Jetzt, gute Nacht, Herr Kapitän.“

„Gute Nacht, Oberst.“

Der Reiter stieg auf; ehe er aber fortritt, meinte er:

„Und Sie halten Wort in Beziehung auf das Mädchen?“

„Gewiß.“

„Sie liefern es ab.“

„Ich gab Ihnen mein Wort. Diese Mademoiselle de Sainte-Marie werde ich mir nicht entgehen lassen.“

Der Weiße kehrte zurück, und der Reiter trabte die Straße entlang in den Wald hinein.

Die beiden Lauscher verhielten sich einige Minuten lang ruhig. Dann flüsterte der Dicke:

„Verdammt! Den Kerl sollte ich kennen!“

„Den Weißen?“

„Nein. Das war ein afrikanischer Menschenfresser. Ich meine den anderen. Er wurde Kapitän genannt und hatte ganz die Stimme eines Mannes, an dem ich meinen Narren gefressen habe. Also ein Brief von Mac Mahon an Bazaine! Sehr hübsch! Höre, hier wartest du. Bin ich in zwei Stunden noch nicht wieder da, so haben sie mir den Kopf auf den Rücken gedreht und mich einbalsamiert. Dann schleichst du dich zurück und sagst, daß bei Tagesanbruch der Tanz losgehen soll.“

Er bewegte sich wie eine Schlange, immer an der Erde über die Straße hinüber. Es war, als ob er sich zeitlebens in dieser Fortbewegungsart geübt habe.

Drüben kam er wieder unter die Bäume und schwenkte links ab, in der Richtung des Schlosses. Bald erkannte er einen mattglänzenden Punkt vor sich.

„Schau! Da steht so ein Bärlappsamenhändler!“ flüsterte er vor sich hin. „Der will Vorposten sein?!“

Er kroch weiter, kaum einige Schritte an dem Weißen vorüber. Sein Auge hatte sich an die Dunkelheit gewöhnt, und so sah er nach einiger Zeit eine andere Gestalt, aber dunkel gekleidet, an einem Baum lehnen.

„Das ist ein Deutscher“, dachte er. „Will doch sehen, ob er mich bemerken will!“

Er gab sich so außerordentliche Mühe, daß er auch hier nicht entdeckt wurde. Nun glaubte er, die Postenkette vollständig passiert zu haben. Darum erhob er sich und verfolgte seine Richtung gehend weiter. Er kam aus dem Wald hinaus. Da lag Reisig und Scheitholz. Noch war er nicht weit gekommen, so erklang es vor ihm:

„Halt! Wer da!“

„Gut Freund!“

„Die Parole!“

„Unsinn! Ich kann doch gar nicht wissen, was ihr hier für eine habt!“

„Also stehenbleiben, sonst schieße ich!“

„Schrei nicht so, Dummkopf! Die Franzmänner brauchen nicht zu wissen, daß ich da bin.“

„Schweigen, sonst schieße ich!“

„Verdammt! Ich habe es eilig. Wann wirst du abgelöst, Gevatter?“

„In fünf Minuten. Nun aber still, sonst schieße ich wirklich! Ich mache keinen Spaß.“

Der Dicke sah ein, daß er sich darein ergeben müsse. Er stand fünf Minuten lang auf derselben Stelle, während der andere den Karabiner auf ihn gerichtet hielt. Endlich kam die Ablösung.

„Herr Sergeant, hier ist ein Spion!“ meldete der Posten.

„Donnerwetter! Ist's wahr?“

„Ja. Er hat sich da vorn wirklich hereingeschlichen.“

„Schön, mein Bursche. Mit solchem Volk macht man kein Federlesens. Vorwärts, Anton!“

Mit diesem ‚Anton‘ war der Dicke gemeint. Er mußte in Reih und Glied treten und mitgehen. Er tat dies, ohne nur eine Silbe dagegen zu sagen.

Im Schloß angekommen, wurde er dem Ulanenwachtmeister abgeliefert.

„Ein Spion, Herr Wachtmeister. Herr Major von Königsau wird sich freuen.“

Als der Gefangene diesen Namen hörte, zuckte es lustig über sein fettes Gesicht.

„Mensch, wie heißen Sie?“ fragte der Wachtmeiser.

„Pudding!“ lautete die Antwort.

„Hübscher Name! Was sind Sie?“

„Pudding.“

„Donnerwetter! Dick und fett genug sind Sie dazu. Aber Pudding heißen und Pudding sein! Wo sind Sie her?“

„Pudding.“

„Kerl, glauben Sie etwa, daß Sie sich im Kasperletheater befinden? Hier handelt es sich um Leben oder Tod! Also, woher sind Sie?“

„Pudding.“

Kurz und gut die Frage konnte lauten, wie sie wollte, der Gefangene antwortete stets mit dem Wort Pudding. Der Wachtmeister geriet in fürchterlichen Grimm und ging endlich, die Meldung zu machen. Zwei Mann mußten den Gefangenen nachführen.

Die Herren Offiziere befanden sich mit den Bewohnern des Schlosses im Salon.

„Herr Oberstwachtmeister, es ist ein Spion eingefangen!“ lautete die Meldung.

„Ein Spion? Ah! Wann?“

„Vor fünf Minuten.“

„Wo?“

„Der Ulan Schellman hat ihn festgehalten. Da hat er ganz gut Deutsch gesprochen. Auf meine Fragen antwortete er aber nur mit dem einen Wort: Pudding.“

„Herein mit ihm!“

Die Tür öffnete sich, und die beiden Soldaten traten mit dem Gefangenen ein. Dieser marschierte in strammer Haltung auf Königsau zu, salutierte und sagte:

„Herr Major, melde mich als Spion, durch die französischen Linien glücklich gekommen, von unseren Leuten aber festgenommen.“

„Schneffke!“ sagte der Major erstaunt.

„Zu Befehl! Hieronymus Aurelius Schneffke, Tiermaler und Feldwebel der königlich-preußischen Landwehr.“

„Wie kommen Sie hierher?“

„Auf meinem Bauch.“

„Das müssen Sie erzählen.“

„Zu Befehl.“

Zu dem Wachtmeister sagte Königsau:

„Dieser Mann ist kein Spion. Abtreten.“

Die drei folgten diesem Befehl, indem sie sehr verdutzte Mienen zogen.

„Also, woher, lieber Schneffke?“ fragte der Major.

„Aus Trouville. Der Herr Rittmeister von Hohenthal hat Verstärkung verlangt. An hoher Stelle vermutet man wichtiges; daher wurden zwei Schwadronen Husaren und zwei Kompanien Infanterie abgesandt, die letztere natürlich per Wagen. Wir haben Etain besetzt, und ich bin mit einem Kameraden, welcher mich im Wald erwartet, vorgegangen, um dem Herrn Major unsere Auskunft zu melden und etwaige Befehle zu erbitten.“

„Welch eine Verwegenheit!“

„Oh, mir geschieht nichts. Höchstens falle ich einmal; weiter aber kann es nichts geben.“

„Es ist wirklich ein Wunder, daß Sie vom Feind nicht bemerkt wurden. Je zwanzig Schritt ein Posten.“

„Ich bin zu dick, um gesehen zu werden. Ich passe in die heutige dicke Finsternis.“

„Woher haben Sie denn diesen Anzug?“

„Ein dicker Lohgerber in Etain hat ihn borgen müssen. Er ist mir viel zu eng. Aber, ich habe gehorsamst sehr wichtiges zu melden.“

„Schießen Sie los!“

„Es ist ein Brief von Mac Mahon an Bazaine unterwegs, Herr Oberstwachtmeister.“

„Was Sie sagen.“

„Ja, oder vielmehr sogar zwei Briefe.“

„Woher wissen Sie das?“

„Ich habe es belauscht. Der eine der Briefe ist jetzt auf dem Weg nach Metz, und der andere befindet sich in dem Stiefelfutter des Obersten, der Sie belagert.“

„Ich hoffe nicht, daß Sie grad in diesem Augenblick sich in spaßhafter Stimmung befinden.“

„Herr Oberstwachtmeister, ich kenne meine Pflicht. Das ist so fest wie Pudding.“

„Erzählen Sie!“

Der dicke Tiermaler erstattete Bericht. Als er geendet hatte, fragte Königsau:

„Kapitän wurde der andere genannt?“

„Zu Befehl!“

„Und geflohen ist er bei unserem Angriff?“

„Ja.“

„Sollte er etwa gar der alte Richemonte sein?“

„Jedenfalls.“

„Sie kennen den doch auch.“

„Werde ihn nicht vergessen. Habe ihn vorhin trotz der Dunkelheit an der Stimme sogleich erkannt. Übrigens hat er sich von dem andern ausbedungen, daß dieser Fräulein de Sainte-Marie festnehmen und abliefern soll.“

„Wohin?“

„Das wurde nicht gesagt.“

„Hm! Eine neue Teufelei, die ihnen aber nicht gelingen soll! Wir kommandiert Ihr Detachement?“

„Der Herr Major von Posicki.“

„Hat er Ihnen irgend etwas anvertraut?“

„Nein. Ich habe mir Ihre Befehle zu erbitten.“

„Wann ist er disponibel?“

„In jedem Augenblick.“

„Getrauen Sie sich denn, wieder glücklich durchzuschlüpfen?“

„Ich denke, daß sie mich nicht bekommen werden.“

„Schön! Ich werde dafür sorgen, daß Ihr Mut Anerkennung findet. Sagen Sie dem Major, daß er noch während der Nacht den Feind umstellen soll. Mit Tagesanbruch werde ich angegriffen, dann befinden sich die Herren Spahis zwischen zwei Feuern. Haben Sie Hunger oder Durst?“

„Nein, danke! Aber eine Bitte habe ich.“

„Welche?“

„Darf ich, ehe ich aufbreche, zuvor erst einmal mit dem Beschließer Melac sprechen?“

„Hm! So, so! Ich habe nichts dagegen und gestatte Ihnen eine halbe Stunde. Sollte Herr Melac nicht zu finden sein, so wenden Sie sich an seine Tochter oder vielmehr Enkelin, Fräulein Marie Melac.“

„Zu Befehl, Herr Oberstwachtmeister.“

Er wendete sich ab und schritt steif zur Tür hin, unten würdigte er die Ulanen und Husaren keines Blickes. Er klopfte bei Melac an und hörte die Stimme Mariens antworten. Als er eintrat, sah er, daß Vater und Mutter zugegen waren; trotzdem aber stieß Marie einen lauten Freudenschrei aus und flog an seinen Hals.

Droben aber, im Salon, sagte der General, indem sich in seinem Gesicht ein eigentümliches Lächeln zeigte:

„Es ist wirklich wunderbar, wie diese preußische Armee sich rekrutiert! Doktoren der Philosophie werden Majore; Weinhändler werden Rittmeister und Wachmeister, und aus dem dicksten Maler wird immer noch ein höchst brauchbarer Feldwebel der Landwehr.“

Die beiden Offiziere zuckten lächelnd die Achseln.

Der General zog sich später zurück, ebenso seine Tochter. Sie war aber noch nicht fünf Minuten lang in ihrem Zimmer, als es leise klopfte. Sie glaubte, daß es die Zofe sei und sagte „Herein“, errötete aber bis in den Nacken herab, als sie Hohenthal erkannte.

„Gestatten Sie, Komtesse?“ fragte er, unter der Tür stehen bleibend.

„Treten Sie näher!“ antwortete sie, allerdings erst nach einer ziemlichen Weile.

Er zog die Tür hinter sich zu, blieb in ehrerbietiger Haltung an derselben stehen und sagte:

„Die gegenwärtigen Verhältnisse mögen mich entschuldigen, wenn ich wage, unangemeldet bei Ihnen zu erscheinen, Komtesse!“

Sie war sehr ernst; das sah man ihr an.

„Der Verteidiger dieses Hauses hat das Recht, Zutritt zu nehmen, wenn es ihm beliebt“, meinte sie. „Bitte, nehmen Sie Platz!“

Er setzte sich, und sie ging zu einem Sessel, der in weiter Entfernung von dem seinigen stand. Er mußte diese Absichtlichkeit merken. Er blickte einige Augenblicke lang wie verlegen vor sich nieder; dann begann er:

„Ich bin durch die Verhältnisse gezwungen gewesen, gegen Sie unwahr zu sein, gnädiges Fräulein. Es liegt mir sehr am Herzen, zu erfahren, ob Sie mir dies verzeihen können oder nicht.“

„Sie taten Ihre Pflicht, oder vielmehr Sie gehorchten der Ihnen gewordenen Weisung!“

„So allerdings ist es gewesen. Darf ich also annehmen, daß Sie mir nicht zürnen?“

„Ich habe kein Recht dazu.“

„Ich danke Ihnen! Ihre Freundlichkeit nimmt mir eine schwere Last vom Herzen. Sie haben mich für einen Franzosen gehalten und mich nun so plötzlich als einen Deutschen, als einen Feind Ihres Vaterlandes kennengelernt. Es ist mir, als ob meine Gegenwart eine Beleidigung für Sie sein müsse, als ob ich die heilige Pflicht habe, Ihre Nähe für jetzt und für immer zu meiden, und doch ist mir das eine Unmöglichkeit. Ich stehe als Sieger im Feindesland, und dennoch bin ich heute nicht siegesfroh. Komtesse, ich weiß nicht, ob ich morgen um diese Zeit noch unter den Lebenden weile; bitte, geben Sie mir ein Wort mit hinaus in den Kampf, ein Wort, welches mich glücklich machen wird!“

Er hatte sich wieder erhoben und sich ihr einige Schritte genähert. Auch sie stand auf.

„Welches Wort meinen Sie?“ fragte sie.

„Die Versicherung, daß Sie mich nicht als Ihren Feind betrachten!“

Er streckte ihr seine Hand entgegen. Sie legte die ihrige hinein und versicherte:

„Sie waren wiederholt mein Retter; Sie können niemals mein Gegner sein.“

„Darf ich das wirklich glauben?“

„Ja.“

„Und wenn der Krieg beendet ist, und die Erbitterung, welche Deutsche und Franzosen trennt, gewichen ist, darf ich dann, wenn ich in Ihre Nähe komme, Sie aufsuchen mit der Überzeugung, daß es zwischen uns beiden nie nötig war, Frieden zu schließen?“

„Kommen Sie, Herr Rittmeister. Sie werden mir und Papa stets willkommen sein.“

„Ich danke Ihnen.“

Er zog ihr Händchen an seine Lippen und wendete sich ab, um zu gehen. Ihr Blick folgte ihm; es kam eine Angst über sie, als ob sie ihn verlieren werde, wenn sie ihn so gehen lasse. Aber, konnte sie ihn halten? Er hatte ja nur beinahe gleichgültiges gesagt!

Schon hatte er die Tür in der Hand. Da war es ihm, als ob es ihn mit einem kräftigen Ruck herumdrehe. Sein Auge fiel auf sie; er sah das ihrige in voller Angst auf sich gerichtet. Rasch kehrte er zurück, erfaßte ihre beiden Hände und fragte:

„Soll, muß ich so gehen, Komtesse?“

Was sollte sie antworten? Ihr Blick schimmerte feucht und feuchter zu ihm empor; eine Träne hing sich an ihre Wimper. Da zog er sie an sich, legte die Hände auf ihr Haupt und sagte, beinahe selbst weinend:

„Herrgott! Wie lieb, wie unendlich lieb habe ich Sie, Ella! Ich könnte Sie vom Himmel herabholen, könnte tausend Leben für Sie opfern, wenn das möglich wäre. Wie selig war ich, wenn ich Sie in der Oper erblickte. Welche Wonne, wenn ich mir dachte, daß auch Sie vielleicht einmal an mich denken könnten! Es wäre mir kein Opfer und keine Tat zu groß, Sie zu erringen. Und nun ich vor Ihnen stehe, will es mir scheinen, daß ich doch bin, wofür ich mich nie gehalten habe – ein Feigling. Der Besitz, nach welchem ich meine Hand ausstrecken möchte, ist zu herrlich, zu köstlich für mich. Habe ich recht, Ella?“

Sie antwortete nicht, aber sie legte ihren rechten Arm um ihn, ergriff mit der Linken seine Hand, blickte in inniger Liebe zu ihm auf und flüsterte dann:

„Arthur!“

Da zog er sie an sich und küßte sie, sich zu ihr niederbeugend, wieder und immer wieder auf den Mund.

„Ist's wahr?“ fragte er jubelnd. „Du sagst meinen Namen? Du liebst mich?“

„So sehr!“

„Wirklich? Wahrhaftig?“

„Glaube es!“

„Dann sei der Tag gesegnet, an welchem ich in feindlicher Abwehr dein Vaterland betrat. Du sollst ein anderes finden, ein Vaterland, ein Vaterhaus, in welchem du die Königin bist, welche angebetet und verehrt wird, wie keine andere auf Erden.“

Und unten bei Papa Melac hatte das Gespräch auch eine innigere Wendung genommen, nämlich zwischen Marie und ihren Hieronymus. Der alte Schließer aber befand sich nicht mehr in den Jahren, in denen man Liebe speist und Mondschein trinkt. Er meinte:

„Also, mein bester Herr Schneffke, Sie sagen, daß Sie unsere Marie liebhaben?“

„Fürchterlich!“ beteuerte der dicke Feldwebel, indem er seine Rechte wie zum Schwur erhob.

„Gehören Sie zu den Menschen, bei denen ein solches Gefühl von längerer Dauer ist?“

„Ich pflege ewig zu lieben!“

„So! Nun, ich sage Ihnen ganz aufrichtig, daß Sie mir gleich im ersten Augenblick gefallen haben. Aber jetzt sind Sie Soldat; da dürfen Sie nicht an die Erfüllung privater Wünsche denken.“

„Warum nicht? Wenn ich zum Beispiel Appetit zu einem Glas Wein habe, so ist das wohl jedenfalls auch ein privater Wunsch. Oder nicht, Monsieur Melac?“

„Ja, gewiß.“

„Nun, wer will etwas dagegen haben, wenn ich mir diesen Wunsch erfülle, Monsieur?“

„Ich nicht.“

„Schön! Warum sind Sie denn da so streng in Beziehung meines ersten Wunsches?“

„Weil das eine ganz andere Sache ist. Ich will Ihnen sagen, mein bester Herr Schneffke: Glauben Sie, daß die Deutschen so fortsiegen werden, wie jetzt?“

„Ja, gewiß!“

„Nun, dann seien Sie getrost. Kommen Sie an dem Tag, an welchem Napoleon fortgejagt worden ist, zu mir, um Marie von mir zu verlangen, so werde ich Sie nicht fortjagen.“

„So ist mir Mariechen sicher; denn fortgejagt wird der Napoleon.“

„Etwa von Ihnen?“

„Ja, auch mit. Er soll nicht etwa mit mir besonders anfangen, sonst ist ihm sein Brot gebacken. Wir brauchen hier in Europa keinen Napoleon und in Frankreich keinen Neffen des Onkels. Er muß abdanken, damit ich eine Frau bekomme; das ist so sicher wie Pudding. Also, Sie geben mir Ihr Wort, Monsieur Melac?“

„Ja, mein Wort und meine Hand. Hier!“

Sie schlugen ein; dann verabschiedete sich der Maler.

Er mußte natürlich den Weg wieder zurücklegen, auf welchem er gekommen war. Einer der Unteroffiziere brachte ihn zu dem betreffenden Posten. Bei demselben angekommen, legte er sich auf die Erde nieder, um seine Kriechpartie zu beginnen. Noch aber war er nicht weit gekommen, so war es ihm, als ob er hart vor sich zwei ganz eigenartige Punkte erblickte.

„Sind das Menschenaugen?“ dachte er.

Er kroch schnell zur Seite und wartet. Ja, wirklich, da schob sich eine menschliche Gestalt leise und langsam an ihm vorüber.

Wer war das? Freund oder Feind? Irrte er nicht, so trug der Mensch weite Pluderhosen, so wie sie bei den Orientalen getragen werden. Was tun?

Kurz entschlossen, kehrte Schneffke wieder um, hart hinter dem andern her. Es gelang ihm, demselben zu folgen, ohne von ihm bemerkt zu werden.

Der Fremde kam an dem Posten vorüber; aber nun hielt Schneffke es für geraten, einzugreifen. Er schlug einen kurzen Bogen, traf Kopf an Kopf mit dem anderen zusammen und faßte ihn an der Kehle, die er ihm so zusammendrückte, daß er keinen Laut von sich zu geben vermochte.

„Pst!“ machte er dann leise.

Der Posten hörte es nicht.

„Pst, Ulan!“

„Was? Wer? Was?“ antwortete der Angeredete.

„Leise, ganz leise! Ich habe einen Spion.“

„Donnerwetter! Wer sind Sie denn?“

„Der Dicke.“

„Der soeben hier war?“

„Ja.“

„Das glaube der Teufel! Der ist ja fort.“

„Unsinn. Ich bin noch da. Hier, überzeugen Sie sich. Ich begegnete diesem Kerl einige Schritte weit von hier und bin also wieder umgekehrt.“

Der Posten bückte sich nieder und überzeugte sich mit den Händen, da die Augen nicht genügten.

„Wirklich“, sagte er. „Das ist der dicke Klumpen.“

„Mensch, ich bin Feldwebel.“

„Wer's glaubt! Und der da, wie der zappelt! Halten Sie ihn nur fest.“

„Er reißt mir nicht aus. Haben Sie nicht eine Schnur?“

„Einen Riemen.“

„Her damit. Wir binden ihn, und dann schaffe ich ihn zum Wachtkommandanten.“

Der Gefangene war wohl auch ein kräftiger Mensch, aber er war überrascht worden; er fand keinen Atem; dies raubte ihm sowohl die Besinnung, als auch die Kraft. Er ließ sich die Arme fesseln, ohne sich zur Wehr zu setzen.

„So, Gevatter, nun steh auf!“ meinte Schneffke. „Wir gehen spazieren.“

Er zog den anderen vom Boden auf und schaffte ihn fort.

„Verzeihung, Herr Major!“ meldete einige Zeit später der Ulanenwachtmeister. „Ein Spion.“

„Wieder?“ fragte Königsau.

„Ja.“

„Wohl wieder ein Pudding?“

„O nein. Jetzt ist's ein wirklicher Spion.“

„Kein Feldwebel?“

„Nein, Herr Oberstwachtmeister. Der dicke Feldwebel hat ihn sogar gefangen genommen.“

„Wo?“

„Da, wo er passieren sollte. Er bittet um die Erlaubnis, ihn vorführen zu dürfen.“

„Herein also!“

Schneffke brachte den Gefangenen herein. Kaum hatte Königsau einen Blick auf den letzteren geworfen, so fuhr er erstaunt empor.

„Der Zauberer!“

Der Gefangene hatte starr vor sich niedergeschaut. Bei diesen Worten erhob er den Blick.

„Abu Hassan!“ sagte der Major.

Der Beduine blickte ihn forschend an.

„Herr, kennst du mich?“ fragte er.

„Ja.“

„Wo hast du mich gesehen?“

„Das ist jetzt Nebensache.“

„Mir klingt deine Stimme bekannt; ich muß mit dir gesprochen haben.“

„Möglich. Was tust du hier?“

„Ich bin dein Gefangener. Töte mich.“

„Wie? Du verlangst nach dem Tod?“

„Ich bin in deiner Hand.“

„Du willst sterben, ohne Liama gesehen zu haben?“

„Liama? Allah! Was weißt du von ihr?“

„Mehr als du!“

„Du hast mich zufällig gesehen, und ebenso zufällig von Liama gehört. Nun sprichst du von ihr.“

„Du irrst. Vorher aber sage, wie du hier nach Malineau kommst.“

„Man hat mich gezwungen unter die Spahis zu gehen.“

„Ach so! Du befindest dich draußen bei denen, welche uns eingeschlossen haben?“

„Ja. Man nahm uns fest und steckte uns in das Regiment, mich und meinen Bruder – – –“

„Saadi heißt er? Nicht?“

„Herr, was weißt du von Saadi Ben Hassan?“

„Genug. Aber erzähle weiter!“

„Wir sind in den Krieg gezogen bis heute und bis hierher. Sollen wir weiter mit? Sollen wir unser Blut und unser Leben geben für diejenigen, mit denen wir eine ewige Blutrache haben? Nein. Während mein Bruder Wache stand, ging ich, um zu forschen, ob uns der Feind der Franzosen beschützen werde, wenn wir unsere Zuflucht bei ihm suchen.“

„So bist du demnach kein Spion?“

„Nein.“

„Sondern ein Überläufer?“

„Ja. Herr, darf ich meinen Bruder holen?“

„Wo befindet er sich?“

„Ich sagte dir bereits, daß er Wache steht.“

„Das weiß ich. Aber wo?“

„Da, wo dieser Mann mich fast erwürgte.“

„Wärst du ein Spion, so müßte ich dich töten lassen; aber ich will dir glauben, denn ich kenne dich. Du bist also gezwungen worden, deine Heimat zu verlassen?“

„Ich hätte sie auch verlassen, aber nicht als Soldat.“

„Wohin wolltest du?“

„Ich bin Hassan, der Zauberer; ich zeige den Leuten die Kunststücke, welche sie mir bezahlen.“

„Ist Saadi auch ein Zauberer?“

„Nein.“

„Warum nahmst du ihn mit?“

„Er sollte sehen – – –“

Er stockte.

„Ich weiß, was du sagen willst“, meinte Königsau. „Er sollte sehen, Marion, die Tochter Liamas.“

„Herr, woher weißt du das?“

„Ich kenne deine Gedanken. Wie lange hat Saadi, dein Bruder, Wache zu stehen?“

„Eine Stunde; dann löse ich ihn ab.“

„Komm! Ich will dir jemand zeigen.“

Während der Maler warten mußte, begab sich Königsau mit dem Gefangenen eine Treppe höher. Dort blieb er an einer Tür halten und lauschte. Drin hörte man eine weibliche Stimme sprechen.

„Hier sollst du eintreten“, sagte der Major.

„Wer befindet sich da?“

„Eine Frau.“

„Ich höre sprechen!“

„Sie spricht mit sich selbst. Gehe hinein!“

Er öffnete, ohne anzuklopfen, und schob den Beduinen in das Zimmer. Erst war alles still; dann aber hörte er Hassans Stimme:

„Liama! Allah ist groß und mächtig! Bist du Liama, oder bist du es nicht?“

„Hassan!“ antwortete sie. „Hassan!“

„Sie kennt mich. Sie ist kein Geist, keine Vision; sie lebt; sie ist wirklich Liama!“

Es folgten Ausrufe des Erstaunens, des Entzückens, der Verwunderung, der Klage. Aber Königsau hatte keine Zeit; er öffnete die Tür und sagte:

„Hassan, komm! Die Zeit ist abgelaufen.“

„Herr, sei gnädig! Laß mich noch einige Zeit bei der Herrin der Beni Hassan. Sie soll mir erzählen –“

„Nein, nein; jetzt nicht. Du sollst sie wiedersehen, noch heute; jetzt aber mußt du gehorchen.“

Hassan warf einen bedauernden Blick auf Liama und ging mit Königsau zurück.

„Also, du willst mit deinem Bruder zu uns kommen?“ fragte er.

„Ja, Herr, wenn du es erlaubst.“

„Wie heißt dein Oberst?“

„Parcoureur.“

„Was ist er für ein Mann?“

„Er ist ein Mann, den alle hassen.“

„Kämpft er selbst mit in der Gefahr?“

„Ja; mutig ist er.“

„Das ist gut, denn sonst könnte ich ihn nicht gefangen nehmen.“

„Willst du das?“

„Ja.“

„Warum?“

„Ich habe mit ihm zu reden.“

„Herr, nimmst du mich mit meinem Bruder hier auf, wenn wir dir den Obersten mitbringen?“

„Ja. Ich behalte euch auch ohne ihn. Aber, wie wollt ihr ihn in eure Gewalt bringen?“

„Sehr leicht. Er selbst sieht nach, ob die Posten wachsam sind. Wenn er kommt, bringen wir ihn zu dir.“

„Gut. Gehe jetzt, und hole deinen Bruder! Feldwebel, bringen Sie ihn wieder dahin, wo Sie ihn festgenommen haben! Sie haben es sehr gut gemeint; aber ein Spion ist dieser Mann ebensowenig wie Sie.“

„Hm!“ meinte Schneffke zu sich selbst, indem er sich mit Hassan entfernte. „Ein Spion also nicht. Aber was denn sonst? Na, er wurde ins Regiment gezwungen. Kein Wunder, wenn er es eigenmächtig wieder verläßt.“

Als sie bei dem Posten ankamen und der Feldwebel nicht wieder umkehrte, flüsterte Hassan ihm zu:

„Du gehst nicht wieder in das Schloß?“

„Nein; ich muß weiter.“

„Hinaus, über die Wächter hinaus?“

„Ja.“

„Du brauchst nicht so zu schleichen, wie vorhin. Kannst aufrecht gehen, wie ich. Mein Bruder wird dich nicht anhalten. Komm, folge mir.“

Schneffke wagte es, sich ihm anzuvertrauen und hatte es nicht zu bereuen. Er wurde durch die Kette der Vorposten gebracht und traf seinen Kameraden an derselben Stelle, an welcher er ihn verlassen hatte.

Fast eine Stunde war vergangen, da erkannte der Posten, welcher an der betreffenden Stelle stand, eine Gruppe von zwei oder drei weißen Männern, die sich auf ihn zu bewegten. Es war nicht der frühere Posten, sondern der, welcher diesen abgelöst hatte; aber er hatte seine Instruktionen erhalten.

Er fragte weder nach der Losung, noch nach dem Feldgeschrei; er legte das Gewehr schußfertig an, um im Falle eines Verrates gerüstet zu sein.

Sie gingen geräuschlos an ihm vorüber. Zwei Männer trugen einen dritten. Sie schafften ihn nach dem Schloß.

Am Eingang zu demselben stand der Wachtmeister Martin Tannert. Er hatte mit Spannung auf diesen Augenblick gewartet.

„Ist's gelungen?“ fragte er.

„Dem Sohn der Wüste mißlingt kein Überfall“, entgegnete Hassan der Zauberer.

„Bringt ihn herein.“

Er wurde in die Wachtstube gebracht. Sie hatten ihm die Gurgel zugeschnürt und, als er den Mund öffnete, einen Knebel hinein gesteckt. Die Hände waren mit einer Schnur gefesselt, und um den Kopf hatten sie ihm ein Turbantuch gewunden. Im übrigen war ihm nichts geschehen. Er trug sogar alle seine Waffen noch.

Diese wurden ihm natürlich abgenommen. Man ließ Hassan und Saadi in ein Nebengemach treten, damit er sie nicht sofort erblicken möge; dann nahm man ihm die Fesseln ab. Er holte erst sehr tief Atem, blickte sich dann um und stieß einen grimmigen Fluch aus.

„Wo bin ich?“ fragte er.

„Im Schloß Malineau.“

„Donnerwetter! Wer waren die Halunken, welche es wagten, sich an mir zu vergreifen?“

„Das interessiert uns nicht, Herr Oberst. Uns interessiert vielmehr der Besuch, welchen Sie uns machen.“

„Besuch? Ja. Denn ich hoffe doch nicht, daß man die Kühnheit haben wird, mich als Gefangenen zu betrachten.“

„Wir betrachten Sie zunächst als einen Mann, welchen der Herr Major von Königsau zu sprechen wünschte. Bitte, folgen Sie uns.“

„Zu einem Major? Schön. Aber wo ist mein Degen? Her mit ihm. Ich muß ihn haben.“

„Später, später.“

„Nein, nicht später, sondern jetzt.“

„Bitte, verkennen Sie nicht Ihre Lage. Ich handle nach dem mir gewordenen Befehl, und diese Kameraden hier sind bereit, dem was ich sage, Nachdruck zu geben.“

„Verdammnis über euch. Also, vorwärts zu diesem Major von Kö – Königsau. Dummer Name!“

Königsau empfing ihn höflich, aber kalt. Es befanden sich nur die Offiziere bei ihm.

„Herr Kamerad“, begann der Oberst, „ist es in Deutschland Brauch, Menschen zu stehlen?“

„Wohl schwerlich. Sind Sie gestohlen worden?“

„Ja.“

„Dann scheinen Ihre Freunde keinen großen Wert auf Sie zu legen, sonst hätte man Sie besser bewacht.“

„Herr Major!“ rief der Franzose drohend.

„Schon gut. Spione und ähnliche Leute weiß man zu behandeln, Monsieur.“

„Halten Sie mich etwa für einen Spion?“

„Ja.“

„Donnerwetter.“

„Pah! Vielleicht sind Sie sogar noch mehr als das! Was haben Sie mit Kapitän Richemonte in Beziehung auf Mademoiselle de Sainte-Marie besprochen?“

Der Oberst erschrak; aber er antwortete:

„Nichts, gar nichts.“

„Wo ist der Kapitän gegenwärtig?“

„Ich weiß es nicht.“

„Ach so! Sie haben ihn nicht nach Metz zu dem Marschall Bazaine geschickt?“

„Wie käme ich dazu?“

„Sie haben ihm keinen Brief anvertraut?“

„Nein.“

„Aber vielleicht besitzen Sie selbst einen solchen Brief an den Marschall?“

„Herr Major, ich verstehe und begreife Sie nicht. Von wem sollte ich einen solchen Brief haben?“

„Von dem Marschall Mac Mahon.“

Der Franzose wurde sichtlich unruhig. Er gab sich die möglichste Mühe, dies zu verbergen, und antwortete:

„Wie kommen Sie zu dieser Vermutung?“

„Das ist Nebensache. Ich habe Grund, zu behaupten, daß Sie von Marschall Mac Mahon einen Brief an Bazaine haben. Wollen Sie dies bestreiten?“

„Und wenn ich einfach sage, daß ich Ihnen gar nicht zu antworten brauche, Herr Major?“

„So würde dies ein Zugeständnis sein. Machen wir es kurz! Können Sie mir Ihr Ehrenwort geben, daß Sie einen solchen Brief nicht bei sich haben?“

Der Offizier schwieg.

„Gut“, fuhr Königsau fort, „Sie sind also im Besitz eines solchen Schreibens. Ich muß Sie ersuchen, es mir auszuhändigen.“

„Das würde ich auf keinen Fall tun, selbst wenn ich es hätte.“

„So zwingen Sie mich, Sie durchsuchen zu lassen.“

„Tun Sie das. Aber ich protestiere auf das energischste gegen eine solche Behandlung eines Staboffiziers, welcher nicht einmal das Unglück hat, Ihr Gefangener zu sein.“

„Ach, darf ich vielleicht fragen, was Sie sonst sind?“

„Haben Sie mich etwa gefangen genommen?“

„Wie Sie in unsere Hände geraten sind, darauf kommt es nicht an. Sie befinden sich eben in unserer Gewalt.“

„Ich bin Offizier. Ich trage die Uniform meines Kaisers. Ich kann nur durch den Sieg Ihrerseits in Ihre Hände geraten.“

„Nicht durch Arretur?“

„Nein; denn ich bin mir keiner Tat bewußt, welche eine solche polizeiliche Maßregel rechtfertigen könnte.“

„Sie sind uns als Spion eingeliefert.“

„Von wem? Etwa von einem Ihrer Leute?“

„Sie sind mir eingeliefert worden auf meine Veranlassung. Das ist genug. Werden Sie mir den Brief geben?“

„Nein.“

„Nun wohl. Ich werde Sie also aussuchen lassen. Ob sich dies mit Ihrer Offiziersehre verträgt, das ist mir nun sehr gleichgültig; ich habe Ihnen Gelegenheit gegeben, die Durchsuchung zu vermeiden.“

Er klingelte, und eine Ordonnanz erschien.

„Holen Sie einen Stiefelknecht!“ befahl er. „Dieser Herr wünscht, es sich bei uns bequem zu machen.“

Der Oberst erbleichte. Das hatte er nicht erwartet. Er mußte erkennen, daß Königsau nur zu gut unterrichtet sei. Aber er sagte kein Wort. Er preßte die Lippen zusammen und wartete, was man beginnen werde. Noch immer glaubte er, daß man sich hüten werde, einem französischen Oberst Gewalt anzutun.

Der Soldat brachte den Stiefelknecht.

„Bitte“, meinte Königsau zu dem Franzosen.

„Tausend Donner!“ antwortete dieser. „Meinen Sie wirklich, daß ich die Stiefel ausziehen werde?“

„Ja, gewiß. Ich meine, daß Sie so klug sein werden, mich nicht zu Gewaltmaßregeln zu zwingen.“

„Die werden Sie unterlassen.“

„Pah. Meine Zeit ist bemessen. Wollen Sie, oder wollen Sie nicht?“

„Fällt mir nicht ein.“

„Holen Sie noch zwei Mann“, befahl Königsau der Ordonnanz. „Sie ziehen diesem Herrn die Stiefel aus.“

Der Befehl war in einer Minute vollzogen.

„Herr Major, ich mache Sie verantwortlich“, knirschte der Oberst. „Ich werde Sie zur Rechenschaft ziehen. Ich bin keineswegs der Mann, den man ungefragt wie einen Dieb behandeln und aussuchen kann.“

„Haben Sie keine Sorge um mich“, lächelte Königsau. „Ich kenne meine Pflicht und weiß sie zu erfüllen. Also, vorwärts!“

Dieser letzte Befehl galt den Soldaten. Sie traten zu dem Franzosen. Der eine setzte ihm den Stiefelknecht hin und sagte:

„Allons Monsieur, Travaillez!“

Die deutschen Offiziere mußten sich Mühe geben, bei diesem komischen Befehl ein Lachen zu unterdrücken.

„Also wirklich“, stieß der Oberst hervor.

„Oui, oui!“ antwortete der Mann.

Zugleich faßte er ihn beim Arm.

„Fort, Mensch!“ schrie der Franzose. „Wenn es denn einmal sein muß, so tue ich es selbst.“

Er zog die Stiefel aus und setzte sich dann auf einen Stuhl, das Gesicht so abwendend, daß er die Deutschen gar nicht sah.

„Hier, Herr Major.“

Bei diesen Worten hielt die Ordonnanz Königsau die Stiefel hin. Dieser sagte aber:

„In diesen Stiefeln befindet sich ein Brief versteckt, jedenfalls hinter dem Futter. Sehen Sie nach.“

„Hm, gefüttert sind sie allerdings. Wollen sehen.“

Er zog ein Taschenmesser und begann damit das Futter loszutrennen. Der erste Stiefel enthielt nichts; im zweiten aber befand sich ein kleines Kuvert, welches Königsau sofort öffnete. Es enthielt einen mehrfach zusammengefalteten Brief auf sehr dünnem Papier, unterschrieben und unterstempelt von dem Marschall Mac Mahon. Der Inhalt lautete, ins Deutsche übersetzt:

„Herr Kamerad!

Soeben geht mir der Kriegsplan des Marschalls Palikao zu. Sein Befehl an mich lautet, mittels eines Flankenmarschs über Sedan und Thionville Ihnen die Hand zu reichen. Ich breche infolgedessen von Chalons auf, hoffe, Sie in guter Stellung in und bei Metz zu finden, und überlasse es Ihrer Einsicht und der Lage der Sache, ob Sie durch irgendwelche Vorstöße mir erleichtern wollen, Sie zu finden. Zur Sicherheit fertige ich ein Duplikat dieses Briefes.

Ihr ergebener Mac Mahon.“

Königsau faltete den Brief zusammen und steckte ihn wieder in das Kuvert.



„Nun, Herr Oberst“, sagte er, „sehen Sie ein, daß ich sehr gut unterrichtet war?“

„Zum Teufel, Monsieur, mir bleibt nichts übrig, als mir eine Kugel durch den Kopf zu jagen.“

Der Ulanenmajor winkte den Soldaten, sich zu entfernen und antwortete dann:

„Schonen Sie sich! Ihr Leben wird wahrscheinlich für Ihren Kaiser nicht ganz wertlos sein, obgleich es eigentlich uns verfallen ist.“

„Wie? Verfallen?“

„Gewiß!“

„Wieso?“

„Sie kennen die Kriegsgesetze?“

„Natürlich!“

„Spione hängt man auf.“

„Herr!“

„Natürlich. Habe ich recht oder unrecht?“

„Aber einen Obersten hängt man nicht auf.“

„Pah! Wenn er ein Spion ist, doch!“

„Sie wollen doch nicht etwa sagen, daß ich einer bin?“

„Was sonst?“

„Monsieur, das verbitte ich mir.“

„Pah! Sie sind mit einem Brief an den feindlichen Oberbefehlshaber getroffen worden. Daß dies ein Verbrechen, natürlich in unseren Augen, sein muß, geben Sie doch zu?“

„Auf keinen Fall!“

„Warum verstecken Sie den Brief, wenn es kein Verbrechen ist?“

„Das ist eine Spitzfindigkeit, auf welche ich mich gar nicht weiter einlassen kann.“

„Nun, so muß eben ich mich damit befassen. Bitte, ziehen Sie Ihre Stiefel wieder an.“

„Danke. Sehr freundlich“, antwortete der Franzose. „Soll ich etwa noch etwas ausziehen? Vielleicht das Hemd?“

Er hatte dies in so höhnischen Ton gesprochen, daß Königsau zornig auf ihn zutrat, um zu antworten:

„Monsieur, verkennen Sie Ihre Lage nicht. Nicht Sie sind hier Herr und Meister. Wir verlangen diejenige Achtung, welche Sie uns schuldig sind. Sie sind unser Gefangener. Haben Sie vielleicht noch etwas bei sich, was Sie uns eigentlich abzuliefern hätten?“

„Darauf antworte ich nicht.“

„Gut! Ich werde Sie also aussuchen lassen.“

„Oho!“

„Jawohl! Aussuchen bis auf das Hemd, welches zu erwähnen Sie ja doch die Güte hatten.“

„Nun wohl, ich habe nichts bei mir.“

„Geben Sie Ihr Ehrenwort darauf?“

„Ja.“

„Dann ist es gut. Ich denke, daß Sie Offizier und Kavalier sind und also die Wahrheit sagen werden. Sie werden natürlich hier bei uns bleiben, bis ich weitere Bestimmungen über Sie erhalten habe. Ich weise Ihnen ein Zimmer an und fordere von Ihnen das Versprechen, dasselbe nicht ohne die Erlaubnis des Kommandanten dieses Schlosses zu verlassen.“

„Wer ist das?“

„Jetzt bin ich es. In einigen Sekunden aber wird es hier dieser Herr, Rittmeister Graf von Hohenthal sein.“

„Ich?“ fragte Hohenthal rasch.

„Ja. Wir sprechen dann darüber. Jetzt, Herr Oberst, ersuche ich Sie, mir zu folgen.“

Er wies ihm ein Zimmer an und gab ihm einen Husaren zur Bedienung und natürlich auch zur Bewachung. Dann kehrte er zu den Kameraden zurück.

„War's ein guter Fang?“ fragte Hohenthal.

„Ein sehr guter.“

„Also der Brief ist wichtig?“

„Sogar von außerordentlicher Wichtigkeit. Hier, lies!“

Hohenthal las und meinte:

„Donnerwetter, das ist allerdings höchst wichtig! Der Brief muß sofort zum König, zu Moltke.“

„Das denke ich auch.“

„Wer schafft ihn fort?“

„Ich selbst. Ich kann ihn natürlich keinem anderen anvertrauen.“

„Ganz richtig. Also darum werde ich Kommandant. Aber, Freundchen, wie willst du hinauskommen?“

„Zu Pferd natürlich!“ lächelte Königsau.

„Wir sind eingeschlossen.“

„Pah. Ich werde mich sehr leicht durchhauen. Wir unternehmen einen kräftigen Vorstoß, gerade auf die Straße hin. Da müßte es mit dem Teufel zugehen, wenn es mir nicht gelingen sollte, durchzukommen.“

„Das denke ich freilich auch. Diese Herren Spahis werden keine Unterbrechung ihrer nächtlichen Ruhe erwarten.“

„Übrigens steht ja Major Posicki in Etain. Bin ich bis dahin, so bin ich sicher.“

„Aber allein reitest du nicht?“

„Nein. Lieutenant von Goldberg begleitet mich.“

„Das versteht sich ganz von selbst!“ meinte Fritz, der mit dieser Bestimmung sehr einverstanden war.

„Was aber tun wir mit den beiden Überläufern?“ erkundigte sich der Rittmeister von Hohenthal.

„Die brauchst du weder als Gefangene zu behandeln noch überhaupt bewachen zu lassen. Sie werden im Gegenteil die besten Beschützer für Frau Liama und Mademoiselle Marion sein. Es tut mir wirklich leid, daß ich nicht dabei sein kann, wenn ihr im Tagesgrauen über die Spahis herzieht. Der Coup gelingt natürlich auf alle Fälle.“

„Das versteht sich ganz von selbst. Aber ob wir uns für die Dauer hier halten sollen oder können, das ist eine andere Frage.“

„Nein, das ist im Gegenteil gar keine Frage. Nach dem, was wir von Mac Mahons Absichten wissen, ist es ganz notwendig, Etain und Umgegend festzuhalten. Wir müssen mit der Linie der Meuse in Fühlung stehen, und so versteht es sich ganz von selbst, daß man Schloß Malineau so besetzt, daß es nicht wieder verloren gehen kann. Ich werde das an geeigneter Stelle zum Vortrag bringen.“

„Gut, das beruhigt mich. Wann reitest du ab?“

„In einer halben Stunde.“

„Ah, einige Minuten für den Abschied.“

„Nein. Lassen wir die Damen immerhin schlafen! Was ich zu sagen hatte, das ist gesagt, und jetzt sind wir ja vor allen Dingen Soldat.“ –

Nachdem die angegebene Zeit vorüber war, sammelten sich zwei Züge Ulanen vor dem Schloß. Das geschah so geräuschlos wie möglich. Als sie sich in Bewegung setzten, ertönten die Rufe der französischen Wachen, und Schüsse krachten, einzeln, hier und da.

Die Deutschen gewannen jedoch die Straße und fegten im Karriere auf das Dorf zu.

Die Franzosen hatten, obgleich ein Verhau auf die leichteste Weise herzustellen gewesen wäre, die Straße offen gelassen, so daß die mutigen Reiter das Dorf erreichten und dasselbe auch passierten, ohne auf ein Hindernis zu treffen.

Hier nun gab Königsau ihnen den Befehl, wieder umzukehren. Sie gelangten in das Schloß zurück, ohne einen einzigen Mann zu verlieren. Nicht einmal verwundet war jemand worden, da es zu gar keinem Widerstand gekommen war.

Königsau und Fritz setzten ihren Weg fort. Vor Etain stießen sie auf die Vorposten des Majors Posicki, zu dem sie sich natürlich führen ließen. Königsau bat ihn, die Schwadron Ulanen zu ihrem Gros zurück zu dirigieren, wenn er die Überzeugung erhalten sollte, das Schloß bis zur Ankunft anderweiter Truppen halten zu können, und dann ritten sie weiter, die ganze Nacht hindurch.

Als sie am Morgen in Trouville anlangten, erfuhren sie, daß am vorigen Tag eine Schlacht gewonnen worden sei, die bekannte Schlacht von Vionville-Mars la Tour. Es hatten infolgedessen bedeutende Truppenverschiebungen stattgefunden, doch gelang es Königsau, über Saint Marcel hinaus das dritte Armeekorps zu erreichen, dessen Kommandanten er durch seine Darstellung bewog, ein genügend starkes Detachement nach Etain abzuordnen.

Hier, im Hauptquartier des dritten Korps erfuhr er auch, wo sich das große Hauptquartier befinde, welches er kurz nach Mittag erreichte. Die Offiziere und Beamten derselben befanden sich natürlich in ungeheurer Tätigkeit; aber als er meldete, daß er eine Nachricht von großer Wichtigkeit bringe, wurde er sofort Moltke angemeldet.

Er war kaum durch die eine Tür in das Vorzimmer getreten, als man durch die andere einen Mann brachte, welcher in Zivil gekleidet war und das Zeichen der Genfer Konvention, die Binde mit dem roten Kreuz am Arm trug. Ihn sehen und erkennen war eins. Er trat auf den Offizier, welcher diesen Mann begleitete, zu und fragte:

„Herr Hauptmann, bitte, wo waren Sie mit diesem Mann?“

„Drinnen!“ war die kurze Antwort, welche nichts anderes heißen sollte als: bei Moltke selbst.

„Wer ist er?“

„Er hat sich da in der Nähe herumgetrieben und verdächtig gemacht, doch ist es ihm gelungen, sich zu legitimieren. Er soll entlassen werden.“

„Wie nennt er sich?“

„Bonblanc aus Soissons.“

„Das ist eine große Lüge. Entlassen Sie ihn nicht. Geben Sie scharf acht auf ihn und warten Sie, bis ich da dringewesen bin.“

„Sapperlot. Kennen Sie ihn?“

„Nur zu gut.“

„Impossible!“ fiel der Mann ein, welcher sehr bleich geworden war.

Der Hauptmann blickte rasch auf.

„Alle Wetter“, sagte er. „Er hat Sie verstanden?“

„Natürlich. Er spricht ja sehr gut deutsch.“

„Und uns gegenüber behauptete er, kein Wort zu verstehen. Da, Herr Major, man winkt Ihnen, ich werde also auf das weitere warten!“

Als Königsau zu dem berühmten Schlachtendenker eintrat, saß dieser an einer langen Tafel, welche mit Karten und Plänen bedeckt war. Er erwiderte den Gruß des Majors mit einem ernsten, aber doch wohlwollenden Kopfnicken und sagte:

„Sie bringen Wichtiges?“

„Zu Befehl. Hier.“

Er zog den Brief hervor und gab ihn hin. Moltke las. Kein Zug seines Gesichtes veränderte sich. Er fragte nur:

„Wie gelangte dieses Schreiben in Ihre Hand?“

Königsau erzählte. Nachdem er geendet hatte, sagte Moltke:

„Also jener Kapitän Richemonte hat das Duplikat dieses Schreibens gehabt?“

„Ganz gewiß.“

„Es scheint ihm gelungen zu sein, es an den Adressaten zu bringen, wenigstens ist er unsererseits nicht ergriffen worden. Man ist Ihnen großen Dank schuldig, Herr Oberstwachtmeister, man wird sich Ihrer erinnern. Sie stoßen jetzt natürlich zu Ihrem Korps?“

„Nachdem ich mir die Bitte um eine Bemerkung gestattet haben werde.“

„Sprechen Sie.“

„Soeben wurde ein Mann abgeführt, der sich, wie ich auf meine Erkundigungen erfahren habe, Bonblanc nennt?“

„Ja. Was ist mit ihm?“

„Er sollte entlassen werden, ich habe aber dem Hauptmann die Weisung gegeben, im Vorzimmer mit ihm zu warten. Dieser Mann ist nämlich kein anderer als der Graf Rallion, dessen Sohn Oberst der Gardekürassiere war, welchem ich gestern auf Schloß Malineau den Kopf gespalten habe.“

Diese Nachricht brachte einen bedeutenden Eindruck hervor, von dem sich aber der große Schweiger nichts merken ließ.

„Kennen Sie ihn?“ fragte er.

„So genau wie mich selbst.“

„Nochmals herein mit ihm.“

Königsau öffnete die Tür und winkte dem Hauptmann, welcher sofort mit dem Grafen wieder eintrat. Dieser wollte leugnen, als aber Königsau auf die Narbe an der Hand wies, welche von der Verwundung herstammte, die der Graf von Fritz in der Klosterruine erhalten hatte, war es mit dem Leugnen aus.

Als kurze Zeit später Königsau mit Fritz das große Hauptquartier verließ, nahm er die Gewißheit mit, daß einer der größten Feinde seiner Familie sich im festen Gewahrsam befinde, und ihm nicht möglich sei, zu entkommen.

Das Schlachtfeld, über welches die beiden nun ritten, war ein solches, wie es selbst die Ebene von Leipzig nicht aufzuweisen hat, ein breit gedehntes, wellenförmiges Hochplateau.

Der Kampf hatte die Spuren einer wahrhaft grauenvollen Vernichtung hinterlassen. Die Felder waren mit Leichen förmlich bedeckt. Weithin schimmerten die roten Hosen der Feinde, die weißen Litzen der stolzen, zurückgeworfenen Kaisergarde, die Helme der französischen Kürassiere. Im Wirbelwind jagten die weißen Blätter der französischen Intendanturwagen gleich Möwenscharen über das Feld. Die Waffen blitzten weithin im Sonnenglanz, aber die Hände derer, welche sie geführt hatten, waren kalt, erstarrt, im Todeskampf zusammengeballt. Mit zerfetzter Brust und klaffender Stirn lagen sie gebrochenen Auges in Scharen am Boden. Schrittweise war jede Elle des Landes erkämpft worden. Zerschmetterte Leiber, Pferdeleichen, zerbrochene Waffen, Tornister, Zeltfetzen, Chassepots und Faschinenmesser lagen umher. Es war ein so entsetzliches Bild, wie es selbst Magenta, Solferino und Sadowa nicht geboten hatten. Wie roter Mohn und blaue Kornblumen leuchteten die bunten Farben der gefallenen Feinde auf dem Todesfeld, weithin über die Höhen, tief hinab in die Täler. Dazwischen die grünen Waffenröcke der Jäger, und hier und da ein umgestürzter Wagen.

Und in den Dörfern, durch welche die beiden ritten, sah es noch viel, viel gräßlicher aus als auf dem offenen Feld.

So ging es bis in die Gegend südlich von Hanonville, wo das Gardekorps lag und die beiden Offiziere endlich zu den Ihrigen stießen, um dort eine große Überraschung zu finden.

Königsau fand hier die Schwadron, welche er als Rittmeister kommandiert hatte. Sein Nachfolger in dieser Charge, welcher sich sofort bei ihm meldete, sagte nach der ersten Begrüßung und den notwendigen dienstlichen Auseinandersetzungen:

„Das Interessanteste für Sie werden unsere jetzigen Sanitätsverhältnisse sein. Darf ich Sie vielleicht ersuchen, mich einmal nach der Ambulanz zu begleiten?“

Königsau blickte ihn verwundert an und antwortete:

„Natürlich müssen mich auch unsere Sanitätsverhältnisse interessieren; aber die Art, in welcher Sie mich zur Besichtigung der Ambulanz auffordern, kommt mir doch ein wenig geheimnisvoll vor.“

„Das ist sie allerdings.“

„Es handelt sich doch nicht etwa um eine Überraschung?“

„Um nichts anderes.“

„Nun, so stehe ich zur Verfügung.“

Sie stiegen zu Pferd und ritten hinaus in das Feld, wo ein großes, langes Zelt errichtet war, in welchem die Ärzte und ihre verschiedenen Helfer und Helferinnen ihres Amtes walteten.

Schon von weitem erblickte Königsau einen alten, grauhaarigen und graubärtigen Herrn, welcher beschäftigt war, einem dort am Boden sitzenden Verwundeten den Arm zu verbinden. Es überkam ihn eine Ahnung, infolgedessen er seinem Pferd die Sporen gab.

Er hatte sich nicht getäuscht. Er sprang vom Pferd und eilte mit offenen Armen auf den Alten zu.

„Großvater!“ rief er aus.

Dieser drehte sich um, erblickte ihn und antwortete jubelnd:

„Richard!“

Sie lagen einander am Herzen.

„Aber“, meinte der Major nach der ersten herzlichen Begrüßung, „wie kannst du es wagen, im Feld zu erscheinen?“

„Wagen? Ach, Junge, die Kriegserklärung hat mich wieder jung gemacht, und als du fort warst, hat es mich auch nicht länger gelitten. Als Kombattant hat man mich freilich nicht annehmen wollen, aber ich habe wenigstens die Erlaubnis erzwungen, Wunden zuflicken zu helfen.“

„Aber sie haben dich daheim doch nicht allein fortgelassen?“

„O nein. Sie sind mit.“

„Wer?“

„Mensch, du fragst wer? Alle natürlich, alle.“

„Alle! Also auch der Vater?“

„Ja.“

„Etwa auch Emma?“

„Versteht sich. Sie hat auch noch andere mit.“

„Meinst du Nanon und Madelon?“

„Ja, und Deep-hill oder vielmehr den jungen Herrn von Bas-Montagne, der auch seinen Vater mitgenommen hat. Warte, ich werde sie holen.“

„Sie sind hier, gerade hier?“

„Ja, natürlich. Wir halten zusammen.“

Er wollte in das Zelt treten. Richard hielt ihn zurück und sagte:

„Halt, ich gehe selbst, um sie zu begrüßen.“

„Nein, du bleibst hier. Ihr würdet ein Aufsehen erregen, welches den armen Verwundeten schädlich sein müßte. Also wartet hier.“

Er ging hinein und kehrte bald mit allen den Genannten zurück. Die Herzlichkeit der Begrüßung läßt sich denken. Nanon aber achtete gar nicht auf Königsau.

„Fritz, lieber Fritz!“

Mit diesem Ruf flog sie an die Brust des einstigen Kräutermannes, der sie herzlich an sich drückte und Kuß auf Kuß bekam, ohne daß die beiden sich um die anderen bekümmerten.

„Na“, meinte da ihr Vater, „darf ich mir nicht auch ein Wort der Begrüßung ausbitten, Herr von Goldberg!“

„Sogleich, sogleich“, lautete die Antwort, wobei Fritz mit offenen Armen auf ihn zuging.

Da man sich so viel zu erzählen hatte, nahmen Königsaus Vater und Großvater nebst Emma von dem dirigierenden Arzt für kurze Zeit Urlaub und begaben sich mit Richard in das Lager, wo man bereits ein Unterkommen für den letzten besorgt hatte.

Sie hatten dort Platz genommen und wollten mit der Erzählung ihrer Erlebnisse beginnen, als ihnen eine abermalige große und freudige Überraschung zuteil wurde. Es kam ein Bote des Kommandierenden und meldete, daß eine Dame anwesend sei, welche bereits seit Tagen nach dem Gardekorps forsche, um da Angehörige der Familie Königsau aufzusuchen.

„Eine Dame?“ meinte der Major. „Das ist kühn, ja das ist sogar verwegen, unter diesen Verhältnissen dem Heer zu folgen. Woher ist sie?“

„Aus Paris!“

„Unglaublich. Eine Dame aus Paris? Eine Französin, welche nach uns die Schlachtfelder absucht? Ich erinnere mich nicht, eine einzige Pariserin zu kennen, welcher ich ein solches Unternehmen zutrauen könnte. Ist sie alt?“

„Nein, jung und nicht uninteressant. Übrigens kommt sie nicht direkt aus Paris, sondern aus Berlin, wo sie vergebens nach Ihnen gesucht hat.“

„Sonderbar.“

„Sie hat ihre Legitimation aus Paris und befindet sich auch im Besitz deutscher Papiere, welche es ihr ermöglicht haben, Sie hier zu suchen, ohne Gefahr befürchten zu müssen.“

„Wie heißt sie?“

„Ihr Name ist Agnes Lemartel.“

„Kenne ich nicht; ist mir völlig unbekannt. Wo befindet sie sich?“

„Draußen. Sie wartet auf die Erlaubnis, eintreten zu dürfen?“

„So wollen wir sie nicht länger warten lassen. Bitte, sagen Sie ihr, daß wir bereit sind, sie zu empfangen!“

Er empfahl sich und schickte die Tochter des Lumpenkönigs herein. Sie ging in Trauer und sah sehr blaß und angegriffen aus. Sie grüßte fast demütig und machte ganz den Eindruck einer Bittenden, deren Bitte eine so große ist, daß sie nur schwer an die Erfüllung derselben glauben kann.

„Bitte, mein Fräulein, nehmen Sie Platz“, sagte Richard, indem er ihr eine umgestürzte Kiste hinschob.

„Ich muß danken, gnädiger Herr“, sagte sie traurig und mit fast leiser Stimme. „Ich möchte nicht wagen, Ihrem gütigen Befehl Gehorsam zu erweisen. Ich habe im Stehen zu Ihnen zu sprechen.“

„Nicht doch, man soll nicht von uns sagen, daß wir einer Dame die mögliche Bequemlichkeit verweigert hätten.“

„Sie wissen ja nicht, in welcher Angelegenheit ich zu Ihnen gekommen bin, Herr Major.“

„Ich werde es hören. Also bitte, setzen Sie sich.“

Und als sie es auch jetzt nicht tat, nahm Emma sie am Arm und zog sie auf die Kiste nieder, indem sie in aufmunterndem Ton sagte:

„Wenn Ihre Angelegenheit eine so niederdrückende ist, bedürfen Sie ja erst recht der Unterstützung. Nehmen Sie also Platz, und seien Sie überzeugt, daß Sie auf unsere Freundlichkeit rechnen können.“

„Mein Gott, wenn ich das wirklich glauben dürfte“, sagte sie, indem sich ihre Augen mit Tränen füllten.

„Sie dürfen davon überzeugt sein. Sprechen Sie getrost. Wir sind ja gern bereit, Sie anzuhören.“

Und um ihr Mut zu machen, sagte der alte Großpapa:

„Wir hörten, daß Sie von Berlin kommen?“

„Ja. Ich reiste von Paris dorthin, um Sie aufzusuchen.“

„Leider waren wir ins Feld gezogen.“

„Ich erfuhr, daß Sie dem Gardekorps angehören. Das war mit ein Fingerzeig, Sie hier zu finden.“

„Ist die Angelegenheit denn so dringlich, daß Sie sich zu solchen Strapazen und Wagnissen entschließen konnten? Hätte es sich nicht aufschieben lassen?“

„Nein. Ich weiß nicht, ob Ihnen von dem Offizier, der die Güte hatte, mich zu Ihnen zu bringen, mein Name genannt worden ist?“

„Sie heißen Agnes Lemartel, wie wir hörten.“

„Ja. Jedenfalls ist dieser Name Ihnen unbekannt?“

„Ganz und gar.“

„In Paris kennt ihn ein jeder. Mein Vater war der bedeutendste Vendeur de chiffons in ganz Frankreich. Man nannte ihn nur den Lumpenkönig. Sie haben also zunächst zu verzeihen, daß die Tochter eines Lumpenhändlers es wagt, Sie zu inkommodieren.“

„Bitte“, sagte Richard, „es muß allerlei Menschen geben. Ich weiß sehr gut, was ein Pariser Lumpenhändler zu bedeuten hat. Diese Herren gehören keineswegs zu den Leuten, welche nicht zu beachten sind. Sie tragen Trauer, und Sie sagen, daß Ihr Herr Vater Vendeur de chiffons gewesen sei. Er ist also nicht mehr? Er ist tot?“

„Ja. Er starb vor kurzer Zeit, und zwar in Algier, wo ich mit ihm war. Er wurde ermordet.“

„Mein Gott. Von Eingeborenen?“

„Nein, sondern von Franzosen, von zwei berüchtigten Subjekten, nach denen die Polizei schon längst, jedoch vergebens, gefahndet hatte. Es war ein Mensch, der nur Vater Main genannt zu werden pflegte, und der andere hieß Lermille und war Seiltänzer gewesen.“

„Alle Wetter!“ entfuhr es dem Major.

„Wie? Haben Sie von diesen beiden Menschen gehört?“

„Ja. Erst gestern habe ich mit meinem Freund und Kameraden, dem Rittmeister von Hohenthal, von ihnen gesprochen. Den Seiltänzer habe ich sogar steckbrieflich verfolgen lassen.“

„Jedenfalls auch vergebens.“

„O doch nicht. Sie sind beide ergriffen worden. Vater Main befindet sich in Metz in Gewahrsam und wird mit dieser Stadt in unsere Hände geraten, hoffentlich wenigstens. Und den anderen habe ich selbst über die Grenze nach Deutschland gebracht. Er befindet sich jetzt in Berlin in Untersuchung und hat bereits sehr wichtige Eröffnungen gemacht.“

„So hat ihn die Nemesis doch ereilt. Diese beiden Männer ermordeten meinen Vater, während ich im Nebenzimmer weilte. Er war von dem Messer so getroffen worden, daß er mir nur noch sagen konnte, sein Name sei nicht Lemartel, und ich solle im Geldschrank nachsehen. Ich ließ ihn begraben und eilte trotz meines Gemütszustandes nach Paris. Im Schrank fand ich neben seinen Ersparnissen ein Portefeuille, nur für mich bestimmt. Es enthielt zwei Briefe und sodann ein schriftliches Geständnis meines Vaters, welches sich auf Sie bezieht.“

„Auf uns?“ fragte Richard. „Sie machen uns wirklich wißbegierig, Mademoiselle.“

„Der eine der beiden Briefe war geschrieben von dem Grafen Rallion und der andere von einem Kapitän Richemonte.“

„Ah! Wirklich? Wir sind gespannt.“

„Beide Briefe beweisen, daß die Genannten beabsichtigten, das Besitztum der Familie Königsau mit Hilfe eines Unterhändlers Samuel Cohn zu kaufen –“

„Herrgott! Ist es das?“ rief der alte Großpapa.

„Ja“, fuhr das Mädchen fort. „Der Preis sollte ausgezahlt, dann aber gestohlen und unter die beiden Genannten verteilt werden.“

„Das ist ja auch geschehen. Also geteilt haben sich diese Schurken diese Summe? Dachte ich es mir doch.“

„Nein, gnädiger Herr, sie haben nicht geteilt. Derjenige, der das Geld stahl, hat es ihnen gar nicht gegeben; er hat sie betrogen und die Summe für sich behalten.“

„Kennen Sie seinen Namen?“

„Ja.“

„Henry de Lormelle?“

„So nannte er sich; aber er hieß nicht so. Er war der Diener des Grafen und des Kapitäns.“

Der alte Hugo von Königsau fuhr sich mit der Hand nach dem Kopf und sagte:

„Das sind böse, böse Erinnerungen. Jenes Ereignis kostete meiner Frau das Leben. O Margot, meine Margot.“

Es trat eine minutenlange Pause ein. Alle waren vom Schmerz tief bewegt. Endlich fragte Richard:

„Was aber haben Sie mit jenen Ereignissen zu tun, Mademoiselle? Wollen Sie uns das erklären?“

„Ich sagte, daß das Portefeuille die Bekenntnisse meines Vaters enthalten habe –“

„Allerdings.“

„Und daß er mir kurz vor seinem Tode gesagt habe, daß sein Name eigentlich nicht Lemartel sei –“

„Das sagten Sie.“

„Nun, meine Herrschaften, mein Vater war – war –“

Sie stockte und nahm das Tuch an die Augen, um den Strom ihrer Tränen zu hemmen.

„Sprechen Sie. Sprechen Sie!“ bat Richard.

Sie nahm alle Kraft zusammen und gestand: „Er war – er war jener – Henry de Lormelle.“

Bei diesen Worten fuhr der alte Königsau empor. Er richtete das große, starre Auge auf sie und sagte:

„Was? Ihr Vater war jener Dieb?“

„Ja“, schluchzte sie.

„Ah. Er stahl mir ein Vermögen, und er mordete mir mein Weib. Ich habe ihm geflucht mit Worten und in Gedanken, und ich wiederhole auch jetzt noch in dieser Stunde: Fluch ihm, Fluch –“

„Großvater!“ unterbrach ihn Emma in flehendem Ton. „Halt ein. Kann sie denn dafür? Sie ist ja unschuldig.“

„Unschuldig! Oh, Kind, es tat doch so weh, so unendlich weh, als – aber du hast recht, sie ist unschuldig, und ich will sie nicht betrüben.“

„Sprechen Sie weiter“, forderte Richard die Französin auf.

Sie gab sich Mühe, ihr Schluchzen zu überwinden, und fuhr fort:

„Ich las die Bekenntnisse meines Vaters und die beiden Briefe; ich erkannte, daß er ein Dieb – o mein Gott, ein Dieb gewesen sei, und daß ihm nichts, gar nichts gehöre und mir auch nicht. Alles, was er hinterließ, war Eigentum der Familie von Königsau. Ich war verpflichtet, es zurückzugeben.“

„Das war natürlich ein schwerer Schlag für Sie“, sagte Emma in bedauerndem Ton.

„Das?“ fragte Agnes. „Daß ich das Geld zurückerstatten mußte? O nein, das war kein Schlag für mich. Es gehört mir nicht, und ich gebe es gern und willig zurück. Aber daß mein Vater ein Dieb sei, das traf mich ins tiefste Leben. Ich bin die Tochter dieses Mannes. Sie werden mich hassen und verachten, und ich muß es tragen. Verzeihen Sie mir, daß ich es wagte, Sie aufzusuchen.“

Da sagte Richard in festem, überzeugendem Ton:

„Sie irren, Mademoiselle. Wir hassen und verachten Sie nicht. Warum haben Sie die Bekenntnisse Ihres Vaters nicht vernichtet? Niemand wußte davon, und Sie wären Besitzerin seines Nachlasses geblieben.“

„Herr Major“, sagte sie vorwurfsvoll.

„Gut, gut. Sie sehen also, daß wir vielmehr alle Veranlassung haben, Sie hochzuachten. Sie sind brav und ehrlich. Hier haben Sie meine Hand. Ich gebe sie Ihnen im Namen aller meiner Verwandten und versichere Ihnen dabei, daß von der Tat Ihres Vaters nicht der Hauch eines Schattens auf Sie fällt.“

Da ging ein Zug stillen Glücks über ihr schönes, bleiches Angesicht. Sie antwortete:

„Ich danke, o ich danke Ihnen, gnädiger Herr. Dieser Augenblick ist seit dem Tod meines Vaters der erste, an dem ein Strahl in das Dunkel meines Daseins fällt. Ich war fast leblos, fast konnte ich nicht denken. Und doch mußte ich handeln, um Ihnen Ihr Eigentum zurückzuerstatten. Der Krieg stand vor der Tür; man konnte nicht in die Zukunft sehen. Wer würde siegen und wer unterliegen? Ich tat, was ich für das Beste hielt. Ich wußte einen zahlungsfähigen Käufer und verkaufte ihm das Geschäft und alles, was wir besessen hatten. Den Erlös und die Summen, welche der Vater bar hinterlassen hatte, verwandelte ich beim Bankier in Anweisungen auf Berlin und reiste damit nach Deutschland, um sie zu suchen. Sie waren fort, und ich folgte Ihnen. Nun habe ich Sie gefunden. Hier haben Sie die Anweisungen, und hier ist auch die Brieftasche meines Vaters. Seien Sie überzeugt, daß Sie alles erhalten. Ich habe nichts, gar nichts für mich weggenommen. Ich habe alles, was auch ich besaß, Kleider, Ringe und Sonstiges verkauft und den Erlös dazu getan.“

Sie gab dem alten Königsau zwei Brieftaschen. Er zögerte, die Hand nach ihnen auszustrecken.

„Mademoiselle, Mädchen“, sagte er. „Sie sind ja ganz und gar des Teufels.“

„O nein. Ich gebe Ihnen zurück, was Ihnen gehört.“

„Aber das ist ja eine Großmut, welche ganz ohnegleichen ist, welche wir gar nicht akzeptieren können.“

„Nicht Großmut, sondern Pflicht ist es. Und obgleich ich es tue, stehe ich doch als Sünderin vor Ihnen und flehe Sie inständigst an, mir das zu vergeben, was an Ihnen verbrochen worden ist.“

Da streckte ihr der Alte denn doch die Hand entgegen und sagte in herzlichem Ton:

„Fräulein Lemartel, Ihnen haben wir nichts zu verzeihen, und auch – auch –“, es wurde ihm schwer, aber er fuhr doch fort: „Auch Ihrem Vater sei vergeben. Er mag in Frieden ruhen. Was aber dieses Geld betrifft – Gebhard, Richard, was sagt ihr dazu?“

Der Major antwortete, indem er sich an Agnes wendete:

„Sie haben nichts für sich behalten?“

„Nein; glauben Sie es mir.“

„Wir glauben es. Aber wovon wollen Sie leben?“

„Meine Zukunft ist gesichert. Ich gehe in ein Kloster, um für meinen Vater zu beten.“

Emma sah das schöne, brave Mädchen mitleidig an, faßte sie bei den Händen und sagte:

„Nein, nein! Das sollen Sie nicht! Das dürfen Sie nicht!“

„Ganz gewiß nicht!“ stimmte Richard bei. „Wir werden dieses Geld keineswegs annehmen. Wir werden es vielmehr an sicherer Stelle deponieren. Jetzt sind wir in Anspruch genommen, wir haben keine Zeit zu ruhiger, unparteiischer Prüfung. Ist der Krieg vorüber, so werden wir sehen, ob das Geld uns wirklich gehört und wieviel wir davon beanspruchen können. Sind Sie damit einverstanden?“

„Nein. Es gehört ganz Ihnen.“

„Das würde ja eben zu prüfen sein. Bis dahin aber ist es Ihr rechtmäßiges Eigentum, und da Sie es nicht behalten wollen, so müssen wir es eben deponieren. Großvater, Vater, ist das nicht auch eure Meinung?“

„Ja, ganz und gar!“ lautete die Antwort.

„Ich darf Ihnen nicht widersprechen“, sagte sie. „Aber ich darf Ihnen sagen, daß ich getröstet von Ihnen gehe. Sie haben mir und dem Vater verziehen.“

Sie stand auf. Emma hielt sie fest.

„Gehen Sie noch nicht“, sagte sie. „Sie sind ohne Mittel. Wohin wollen Sie sich wenden?“

„Ich werde im ersten besten Kloster, welches am Weg liegt, Aufnahme finden.“

„Was und wie denken Sie von uns! Haben Sie Verwandte oder Freunde in Paris?“

„Keinen Menschen. Ich habe sehr einsam gelebt.“

„Sie würden die Hauptstadt auch nicht mehr erreichen. Nein. Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Bleiben Sie hier bei uns. Beteiligen Sie sich an unserem gegenwärtigen Beruf. Wir gehören zur Krankenpflege. Dieses fromme, schöne Werk wird Ihr Herz beruhigen und Ihr Gemüt entlasten.“

„Ja, tun Sie das“, stimmte Richard bei. „Es ist das Beste, was Sie tun können.“

Da leuchteten ihre Augen freudig auf, und sie fragte:

„Wird man es mir denn erlauben? Wird man mich auch wirklich annehmen?“

„Ganz gewiß, Mademoiselle. Sie bleiben bei meiner Schwester und deren Freundinnen, welche sich auch hier befinden. Ist der Krieg zu Ende, so werden Sie ja wohl eine Heimat finden, welche nicht hinter finsteren Mauern liegt. Die Ereignisse der letzten Zeit haben Ihr Gemüt umdüstert. Es werden auch wieder helle Tage kommen, und dann werden Sie sich freuen, unserem Rat gefolgt zu sein.“

„O mein Gott! Ich habe nicht erwartet, eine solche Freundlichkeit bei denen zu finden, an welchen unsererseits so schwer gesündigt worden ist. Nehmen Sie meinen Dank, meinen herzlichsten und innigsten Dank!“

Kaum getraute sie sich, Emma die Hand entgegen zu strecken. Diese aber drückte ihr dieselbe mit freundlicher Bereitwilligkeit, und auch die drei Männer bekräftigten durch einen Druck ihrer Hände, daß in ihrem Herzen die Versöhnung wohne. –

Bereits am nächsten Tag konnte Agnes sich ihrem neuen, schwere Beruf widmen, denn das war der Tag der Schlacht von Gravelotte und Saint Privat.

Eisern fielen die Würfel, und wieder fielen sie zum Vorteil der Deutschen. In blutigem Ringen wurden Bazaines Heersäulen zurückgedrängt bis unter die Kanonen von Metz und dort vollständig eingeschlossen. Im voraus sei bemerkt, daß ein am ersten September unternommener Durchbruchsversuch vom ersten preußischen Armeekorps und der Division Kummer unter General von Manteuffel in der Schlacht von Noisseville zurückgeschlagen wurde. Dann fanden nur noch kleinere Gefechte statt, bis Metz kapitulierte.

Das Ergebnis dieser Kapitulation war ein noch nie dagewesenes. Drei Marschälle, fünfzig Generäle, sechstausend Offiziere, hundertdreiundfünfzigtausend Mann und zwanzigtausend in den Lazaretten befindliche Militärpersonen mußten sich den Deutschen ergeben. In der Festung wurden vorgefunden: dreiundfünfzig Adler, Sechsundsechzig Mitrailleusen, fünfhunderteinundvierzig Feld- und achthundert Festungsgeschütze, Material für fünfundachtzig Feldbatterien, zweitausend Militärfahrzeuge, dreihunderttausend Infanteriegewehre und große Vorräte an Ausrüstungsgegenständen und Munition.

Vor dieser Kapitulation aber war bereits eine andere Festung gefallen; Sedan nämlich.

Während der blutigen Schlachten vor Metz hatte Mac Mahon sich mit seinem bei Wörth geschlagenen Korps und demjenigen de Faillys nach Chalons zurückgezogen, wo eigentlich seine Vereinigung mit Bazaine erfolgen sollte. Da dieser letztere aber bei Metz zurückgehalten wurde, so sollte Mac Mahon, wie bereits erwähnt, sich mit ihm durch einen über Sedan und Thionville gehenden Flankenmarsch vereinigen.

Dieser Plan war kühn, und bei nur einiger Versäumnis deutscherseits war zu erwarten, daß er gelingen werde. Gelang er aber nicht, so stand nicht nur eine schwere Niederlage, sondern eine völlige Vernichtung der Armee Mac Mahons zu befürchten.

Nach der Schlacht von Gravelotte waren von der ersten deutschen Armee das Garde-, vierte und zwölfte (sächsische) Armeekorps abgezweigt und zu einer vierten deutschen Armee vereinigt worden, über welche der Kronprinz von Sachsen den Oberbefehl erhielt.

Diese hatte dieselbe Bestimmung wie die vom Kronprinzen von Preußen befehligte dritte Armee, über Verdun auf Chalons und auf der Straße von Nancy nach Toul zu gehen.

Eigentlich wäre bei Chalons eine Schlacht zu erwarten gewesen, zumal das bei Grand Mourmelon, etwa zwei Meilen von dieser Stadt gelegene stehende Lager außerordentlich befestigt sein sollte. Als aber die Führer der beiden genannten deutschen Armeen bemerkten, daß die direkt nach Paris führende Straße preisgegeben worden sei, wurden sofort Auskundschaften eingeleitet. Diese ergaben, daß Mac Mahon eine Marschrichtung ungefähr auf Stenay und La Chêne genommen hatte. Er wollte also die Absicht ausführen, welche er in dem aufgefangenen Brief ausgesprochen hatte.

Natürlich wurde den beiden deutschen Armeen sofort eine Direktion gegeben, welche es ermöglichte, die von dem Feind ins Auge genommenen Marschpunkte noch vor ihm zu erreichen.

Dieser rasche Entschluß und die ohne irgendeine Verwirrung oder den geringsten Verzug bewirkte Ausführung desselben müssen als eine der bewundernswertesten Leistungen der deutschen Truppen und ihrer Heeresleitung betrachtet werden. Die Verwirklichung des feindlichen Planes konnte damit als vereitelt gelten.

Bereis am Abend des 31. Augusts hielten die Deutschen den Feind in einem weiten Halbkreis umspannt, und es war nur noch nötig, diesen in seinem Rücken zu schließen, so war er verloren, denn er konnte dann nicht auf das neutrale belgische Gebiet übertreten, um sich zu retten.

Aus diesem Grund erhielt das sächsische Korps seine Stellung in Pouru Saint Remy und Pouru aux Bois, dem Feind zunächst. Das vierte preußische Korps war zur Unterstützung bestimmt, und das Gardekorps erhielt die Aufgabe, sich hinter diesen beiden Heeresteilen gegen Norden hinaufzuziehen, um die von Sedan über La Chapelle zur belgischen Grenze führende Hauptstraße zu besetzen.

Am Morgen des ersten Septembers verhüllte ein dichter Nebel jede Fernsicht und breitete über die Niederung der Maas und ihre Seitentäler einen undurchsichtigen Schleier. Dennoch zögerte man nicht, die Schlacht zu beginnen.

Nun kam es, wie der Dichter sagt:

„Nun gibt's ein Ringen um den höchsten Preis,


Ein heißes Wogen und ein heißes Wagen,


Und manch ein Herze schwitzt purpurnen Schweiß


Und schlägt nur, um zum letzten Mal zu schlagen.“

Und auch hier wieder fielen die Würfel zugunsten der Deutschen. Der von ihnen um Sedan gebildete, erst nach Norden zu offene Ring wurde geschlossen. Zusammengehauen und zusammengeschossen, wurde die französische Armee am Nachmittage nach vergeblichem Ringen von einer wahren Panik ergriffen. Zu Tausenden ließen sich die an jeder Rettung verzweifelten Franzosen gefangen nehmen, und in wahnsinniger Flucht strebten ihre aufgelösten Haufen Sedan zu erreichen, wohin sämtliche Trümmer der geschlagenen Armeekorps zurückgeworfen wurden.

Gleich am Beginn der Schlacht war Mac Mohan verwundet worden. Sein Nachfolger hatte nicht vermocht, das Glück an seine Fahnen zu fesseln.

Nur in Daigny und Balan hatten sich zwei Korps lange Zeit behauptet, doch ein konzentrischer Vorstoß der kämpfenden Deutschen entschied auch hier. Von den tapferen Sachsen in der Front durchbrochen und von den preußischen Garden und dem vierten Armeekorps an beiden Flanken umfaßt, sahen sich die Franzosen mit unwiderstehlicher Gewalt nach Sedan hineingeworfen.

Zu diesem Schlag waren die preußischen Garden über das Bois de Garenne und durch das Tal der Givonne vorgerückt. Bei ihnen stand Königsau, welcher, da der Oberst und der Oberstwachtmeister verwundet waren, das Regiment befehligte.

Kurz vor dem letzten, entscheidenden Stoß, als die Franzosen einen wahrhaft verzweifelten Widerstand leisteten, mähte eine ihrer Batterien mit ihrem wohlgezielten Eisenhagel die Glieder der Deutschen förmlich nieder. Es war ihr mit Artillerie nicht beizukommen; sie wurde von zwei Bataillonen Infanterie gedeckt und hatte im Rücken ein Bataillon Zuaven. Die deutschen Infanteriekörper waren an dieser Stelle engagiert, und so erhielt das Gardeulanenregiment den Auftrag, die Batterie zum Schweigen zu bringen.

Königsau ließ zur Attacke blasen. Er sah, daß er buchstäblich einen Todesritt vor sich habe. Er gab mit dem gezogenen Degen das Zeichen, und das Regiment setzte sich in Bewegung.

Erst Schritt, dann Trab, nachher Galopp und endlich Karriere donnerte es gegen den Feind. Eine fürchterliche Salve riß tiefe und weite Lücken, welche sich aber augenblicklich wieder schlossen. Wie ein Hagelsturm krachten die Ulanen in die zwei Bataillone, welche sich schnell zur Verteidigung formiert hatten. Ein fürchterliches Gewirr, kaum einige Minuten andauernd, und die Bataillone waren zusammengeritten.

Dann ging es, allerdings sehr gelichtet, auf die Batterie los. Im Nu war sie genommen. Aber da avancierte das hinter ihr stehende Zuavenbataillon.

„Drauf und durch!“ rief Königsau.

Die Seinen flogen hinter ihm her. Der Feind ließ sie nahe herankommen, und dann gab es Feuer. Königsau erhielt eine Kugel in den linken Arm; er bemerkte es gar nicht. Er flog mit einem gewaltigen Satz seines Pferdes in die Reihen der Franzosen, ohne sich umzublicken, ob die Seinen ihm auch folgten.

Aber sie waren da, die Tapferen, hart hinter ihm aber Fritz, der treue, todesmutige Freund.

Die Schwerter und Lanzen wüteten. Die Reihen der Zuaven waren aufgelöst, aber diese verteidigten sich, sie flohen nicht.

Der Kampf löste sich zu Einzelgefechten auf.

Vor allen machte sich ein Kapitän durch fast wunderbare Tapferkeit bemerkbar. Wer ihm zu nahe kam, mußte sterben. Sein Gesicht war von Pulver geschwärzt, seine Züge konnte man kaum erkennen.

„Verdammter Kerl!“ rief Fritz. „Dich kaufe ich mir!“

Er spornte sein Pferd auf ihn zu, erreichte ihn und holte zum tödlichen Hieb aus; aber der Kapitän war auf der Hut und parierte. Sein Hieb traf Fritz in die Seite, doch glücklicherweise nicht gefährlich.

Königsau war dem Freund gefolgt. Er sah ihn in Gefahr; er sah aber auch, daß er diesem Franzosen gewachsen sei. Jetzt befand er sich ganz nahe bei ihm, so daß er das Gesicht des Franzosen erkennen konnte. Eben holte Fritz aus; der Kapitän hatte sich eine Blöße gegeben, welche der Ulan augenblicklich benutzte. Der Hieb mußte tödlich sein.

„Um Gottes willen!“ schrie Königsau. „Fritz, es ist ja dein Bruder!“

Er schlug ihm den Degen auf die Seite, aber doch nicht so weit, daß er sein Ziel nicht zu erreichen vermocht hätte; er fuhr dem Franzosen in die Achsel.

Dieser ließ sich dadurch keineswegs stören und holte nun seinerseits zum Stoß aus. Er mußte treffen, denn Fritz hatte den Säbel sinken lassen und starrte dem Gegner in das Gesicht.

„Halt!“ schrie Königsau. „Graf Lemarch, töten Sie Ihren Bruder nicht!“



Jetzt gelang es ihm, den Stoß mit seinem Degen zu parieren.

„Meinen Bruder?“ stammelte Lemarch.

„Ja“, bestätigte Königsau.

„Herr Haller!“ rief Fritz. „Tausend Donner! Haben Sie einen Löwenzahn?“

„Ja.“

„Herr, mein Gott! Bruder, du bist ein Deutscher! Unser Vater ist ein preußischer General. Komm an mein Herz!“

Er stürzte sich, gar nicht auf das Kampfgewühl achtend, vom Pferd und zog ihn an seine Brust.

Königsau hatte sich sofort wieder abgewendet. Die Zuaven hatten doch nicht zu widerstehen vermocht und liefen in hellen Haufen davon. Die Ulanen verfolgten sie, konnten dabei aber in das Feuer einer rückwärts stehenden feindlichen Batterie kommen. Darum ließ Königsau zum Sammeln blasen.

Das Regiment hatte seine Aufgabe glänzend gelöst. Es hatte drei Bataillone niedergeritten und eine Batterie genommen; aber es hatte auch fast den vierten Teil seiner Mannschaft verloren.

Während sich seine Glieder wieder vereinten, hielt Fritz den Kapitän bei der Hand gefaßt.

„Bruder, du mußt mit mir“, sagte er.

„Ich kann nicht.“

„Warum nicht?“

„Meine Pflicht.“

„Pah, Pflicht! Du bist ein Deutscher.“

„Noch nicht. Noch bin ich französischer Offizier.“

„Und du denkst wirklich, daß ich dich fortlasse?“

„Du mußt! Noch habe ich meinen Säbel.“

„Unsinn. Siehe dich um. Dort laufen deine Zuaven. Du bist mein Gefangener. Wenn du dich nicht ergibst, haue ich dich ohne Gnade und Barmherzigkeit nieder. Du bist ja von uns vollständig umschlossen.“

Der Kapitän blickte sich um und sah, daß Fritz recht hatte. Dieser aber fügte noch hinzu:

„Übrigens bist du verwundet – von deinem eigenen Bruder.“

„Du auch.“

„So lassen wir uns verbinden.“

„Wo?“

„Da unten im Tal. Ich lasse mich von Nanon verbinden und du – na rate.“

„Von wem?“

„Von einer gewissen Madelon.“

„Mille Diables! Ist sie hier?“

„Jawohl, als Krankenpflegerin.“

„Bruder, hättest du doch ein bißchen tiefer gehauen.“

„Und du noch ein bißchen tiefer gestochen. Dann legten wir uns nebeneinander, und die beiden Schwestern müßten uns pflegen nach Noten. Na, ergibst du dich?“

„Ja; hier ist mein Degen.“

„Unsinn! Du gibst mir dein Ehrenwort, daß du nie wieder gegen Deutsche fechten willst.“

„Ich gebe es.“

„So behalte den Säbel. Dort läuft ein lediger Gaul. Ich will ihn holen, damit du aufsteigen kannst.“

Das Regiment kehrte zurück, Königsau, Fritz und der gefangene Kapitän an der Spitze. Der General kam ihnen entgegengesprengt und reichte dem ersteren die Hand.

„Bravo, Herr Oberstwachtmeister! Das war Hilfe in der Not, und welche Hilfe! Man wird es nicht vergessen.“

Er ließ ein Regiment Infanterie vorgehen, um das eroberte Terrain zu besetzen und gab den Ulanen den Befehl, sich aus dem Feuer zurückzuziehen.

Sie konnten dies. Die Schlacht war gewonnen, und der Widerstand des Feindes vollständig gebrochen.

Die Sonne neigte sich zum Untergange und beleuchtete die Höhenzüge, um deren Besitz so blutig gerungen worden war. Die Aufmerksamkeit der Sieger hatte sich jetzt ausschließlich auf die Festung gerichtet. Man zögerte dort, die weiße Fahne aufzupflanzen. Der König hatte einen Generaladjutanten mit der Aufforderung zur Übergabe abgesandt.

Man vernahm ein dumpfes Getöse und den Knall einzelner Schüsse. Der König war, um die Lager besser beurteilen zu können, bis zu der auf der Höhe von Saint Pierre aufgefahrenen großen Batterie geritten. Dorthin sendeten die Sieger alle heute dem Feind entrissenen Feld- und Siegeszeichen.

Endlich, gegen sechs Uhr sprengten einige Reiter der Höhe zu, auf welcher der König mit dem Stab hielt. Es war der nach der Festung gesendete Generaladjutant, in dessen Begleitung sich General Reilly befand, der erste persönliche Adjutant des Kaisers Napoleon.

Dieser General händigte dem König ein Schreiben aus. Der Kaiser bat in demselben um die Erlaubnis, seinem Besieger, dem Oberfeldherrn der verbündeten Armeen, König Wilhelm, seinen Degen zu Füßen legen zu dürfen.

Man hatte keine Ahnung gehabt, daß Napoleon in Sedan anwesend sei. Der König teilte diese Kunde dem Kreis seiner Heerführer mit; sie pflanzte sich in weiteren und immer weiteren Kreisen fort. Ein Taumel des Entzückens schien die um die Festung postierten Hunderttausende zu ergreifen. Die Trommeln wirbelten, und die Trompeten schmetterten. Da aber erscholl es von Höhe zu Höhe:

„Herr Gott, dich loben wir! Herr Gott, dir danken wir!“

Die Nacht sank hernieder, und welch eine Nacht! Was Frankreich seit Jahrhunderten an Deutschland verschuldet hatte, war in dieser ewig denkwürdigen Nacht vor Sedan zur Vergeltung gekommen.

Noch um Mitternacht wurde zwischen Moltke und dem General Wimpffen, welcher an Mac Mahons Stelle heute das Oberkommando geführt hatte, die Kapitulation abgeschlossen. Am nächsten Morgen fand eine Unterredung zwischen Bismarck und Napoleon statt, nach welcher der letztere die Erlaubnis erhielt, vor König Wilhelm zu erscheinen. Jenes an Benedetti telegraphierte ‚Brusquez le roi‘ hatte sich schnell gerächt.

Um die Mittagszeit streckten die Franzosen das Gewehr.

Gegen neunzigtausend Mann mußten sich gefangen geben. Dreihundertdreißig Kanonen, sechsundsiebzig Mitrailleusen und hundertvierunddreißig Festungsgeschütze wurden erbeutet. Acht Adler und fünfzig Geschütze waren bereits während der Schlacht dem Feind abgenommen worden. Außerdem betrug der Verlust der Franzosen an Toten und Verwundeten gegen zwanzigtausend Mann – eine fürchterliche Lehre, die sie erhalten hatten. Ob sie dieselbe beherzigen werden?

Nachdem Königsau sich mit seinem siegreichen Regiment zurückgezogen hatte, gab er das Kommando für kurze Zeit ab, um nach der Ambulanz zu reiten. Man brachte von allen Seiten Verwundete herbei.

Ein alter Herr, mit dem Genfer Zeichen am Arm, schleppte einen Schwerverwundeten zum Arzt. Er mußte an den Dreien vorüber, erblickte sie, sah den Franzosen und rief erstaunt:

„Herr Haller!“

„Herr Untersberg!“ antwortete dieser. „Sie hier, Sie? Haben Sie sich entschließen können, Ihre Kolibris zu verlassen?“

„Oh, zwei habe ich mit!“

„Wo?“

„Sie sind da drinnen.“ Dabei deutete er auf das Zelt. „Sehen Sie, da kommt der eine.“

Madelon war im Eingang erschienen. Sie erblickte die drei und rief, genau wie ihr Vater:

„Herr Haller!“

„Ah, Mademoiselle Madelon, wer hätte denken können, Sie hier zu treffen. Sie wagen sich in so gefährliche Nähe des Todes?“

Da sagte Königsau:

„Bitte, keine Verwechselung, meine Herrschaften. Dieser Herr heißt nicht Haller, sondern von Goldberg; er ist der Bruder unseres Herrn Lieutenant von Goldberg. Nun aber und vor allen Dingen wollen wir einmal nach unseren Wunden sehen.“

Diese zeigten sich glücklicherweise bei allen dreien als nicht gefährlich. Sie wurden verbunden und zogen sich dann zurück, da die Sanitäter zu sehr in Anspruch genommen waren.

Als dann später die Kunde verlautete, daß der Kaiser gefangen genommen worden sei, hielt Königsau vor seinem Regiment in der Nähe von Daigny. Sie stimmten alle in das ‚Herr Gott, dich loben wir‘ mit ein.

Da kam ein Bataillon Infanterie vorübermarschiert. Es waren Gardemänner, hohe, breitschulterige Gestalten. Daher stach ein kleiner Kerl gegen sie ab, welcher an der Flanke marschierte. Er war außerordentlich dick, trug die Zeichen eines Feldwebels von der Linie und hatte, anstatt Pickelhaube oder Mütze zu tragen, seinen Kopf mit einem roten Taschentuch umwickelt.

Er war blessiert, beteiligte sich aber mit weitgeöffnetem Mund an dem Lobgesang.

Die Begeisterung, mit welcher er dies tat und der Kontrast seiner kugeligen Figur mit den anderen Gestalten riefen bei den Ulanen ein lustiges Lachen hervor. Er bemerkte es, blieb einen Augenblick stehen und trat dann schnell näher.

„Mensch“, sagte er zum Flügelmann. „Was lachst du denn? Bin ich dir etwa zu dick?“

„Ja.“

„Gut. Und du bist mir zu dumm. Guten Abend!“

Er marschierte weiter und mußte an Königsau vorüber. Diesen erblicken und sofort halten bleiben, war eins.

„Donnerwetter! Herr Doktor Mül – – – Oh, Pardon! Wollte sagen, Herr Oberstwachtmeister von Königsau.“

„Feldwebel Schneffke!“ rief der Genannte, der den Kleinen erst jetzt erkannte.

„Zu Befehl. Hieronymus Aurelius Schneffke, Kunst- und Tiermaler außer Dienst.“

„Was haben Sie denn am Kopf?“

„Hm. Bin an eine vorüberfliegende Kanonenkugel gerannt.“

„Ich dachte, Sie wären gefallen.“

„Heute nicht. Im Dienst überhaupt nicht. Ah, wer ist denn das? Sapperlot, Herr Haller aus dem Tharandter Wald? I, grüß Sie doch der liebe Gott, alter Schwede! Aber, französische Uniform? Kapitän?“

„Ja, Sie sehen, wie man sich irren kann“, sagte Königsau. „Aber, bester Feldwebel, wie kommt denn eigentlich Saul unter die Propheten?“

„Sie meinen, der Dicke unter die Langen?“

„Ja.“

„Ich hatte Brieftaschen zu überbringen, und da hier der Krakeel kein Ende nehmen wollte, so habe ich tüchtig mit zugehauen. Es ist deshalb so rasch alle geworden.“

„Schön, schön! Ich habe aus Malineau keine Nachricht empfangen können. Wie ging es dort?“

„Wir nahmen drei Viertel der Spahis gefangen; die anderen mußten dran glauben. Herr Rittmeister von Hohenthal ritt mit seinen Husaren ab. Er liegt jetzt mit vor Metz. Vielleicht erstürmt er es, wenn es sich nicht freiwillig ergibt.“

„Und die Damen des Schlosses?“

„Sie befanden sich sehr wohl, als wir drei Tage später abgelöst wurden und abziehen mußten.“

„Danke! Wann gehen Sie zurück?“

„Morgen.“

„Begeben Sie sich nach der Ambulanz da unten, um sich verbinden zu lassen. Sie werden Bekannte treffen.“

Der Dicke salutierte und setzte dann seinen Marsch fort, jetzt freilich allein. –

Am Abend gab es ein entsetzliches Gedränge in der Festung. Auf den Straßen fand sich kaum Platz, daß sich einer an dem anderen vorüberdrängen konnte. Militär und nur wieder Militär! Zivilisten waren kaum zu sehen.

Daher kam es wohl, daß ein bürgerlich gekleideter Mann, welcher langsam hart an einer Häuserreihe hinstrich, sich einen Begegnenden, welcher auch Zivil trug, etwas genauer anblickte, als er es sonst wohl getan hätte. Sie waren schon aneinander vorüber, da blieb er halten, wandte sich um und sagte:

„Pst, Sie da! Warten Sie einmal.“

Der Angeredete blieb stehen und ließ den anderen herankommen. Dann fragte er:

„Was wollen Sie?“

„Kennen wir uns nicht?“

„Hm. Wüßte nicht.“

„O doch! Nur ist es Ihnen vielleicht nicht lieb, wenn Ihr Name genannt wird.“

„Warum nicht?“

„Aus gewissen Gründen.“

„Die möchte ich doch kennenlernen.“

„Sie können sie erfahren.“

Er bückte sich zu dem anderen, welcher etwas kleiner war, nieder und flüsterte ihm ins Ohr:

„Vater Main.“

„Donnerwetter!“ entfuhr es diesem.

„Habe ich recht?“

„Nein. So ist mein Name nicht.“

„Papperlapapp! Ich kenne Sie. Fürchten Sie sich nicht. Sehen Sie einmal her.“

Er schlug die Hutkrempe, welche den oberen Teil seines Gesichtes verdeckt hatte, empor, so daß der Schein einer Laterne auf Stirn und Nase fiel.

„Wetter noch einmal!“ sagte Vater Main.

„Nun, kennen Sie mich?“

„Natürlich, Herr Kapitän.“

„Was treiben Sie hier?“

„Hm. Was treiben Sie denn hier?“

„Auch hm. Haben Sie Obdach?“

„Nein.“

„Kommen Sie mit mir.“

„Wohin?“ fragte Main ein wenig argwöhnisch.

„Fürchten Sie sich nicht. Ich will Ihr Unglück nicht. Ich wohne bei einem Offizier der bisherigen Garnison.“

„Bin ich dort sicher?“

„So gut wie ich.“

„O weh! Sicher sind Sie doch nur bis morgen.“

„Leider! Doch vorwärts jetzt.“

Sie wanderten miteinander weiter. Der alte Kapitän führte den einstigen Wirt in ein nicht sehr großes Haus, in den Hof desselben und dirigierte ihn dann eine steile, schmale, hölzerne Treppe empor.

„Wohin geht denn das?“ fragte Vater Main. „Etwa gar in den Taubenschlag?“

„Nein, es ist nur die Holzkammer. Da; bleiben Sie stehen, bis ich Licht angebrannt habe, damit Sie sehen können.“

Bald leuchtete ein Flämmchen auf, bei dessen Schein Main sehen konnte, daß er sich in einem mit Brettern verschlagenen, kleinen Raum befand, dessen vier Wände von hohen Lagen gespaltenen Brennholzes verdeckt waren. In der Mitte stand ein Schemel, und in der einen Ecke lag eine wollene Pferdedecke.

„So“, sagte der Alte. „Haben Sie sich jetzt orientiert?“

„Ja. Man braucht nicht lange Zeit. Die Bude ist klein genug.“

„So wollen wir wieder auslöschen. Setzen Sie sich auf den Schemel. Ich lege mich auf die Decke. Haben Sie etwa Hunger?“

„Mehr als genug.“

„Nun, ich habe da zwischen dem Holz etwas Fleisch und Brot stecken. Das wird für beide zureichen.“

Er zog seinen kleinen Vorrat hervor, teilte ihn, gab Vater Main die Hälfte und sagte dann:

„Ein eigentümliches Zusammentreffen. Ich glaubte gehört zu haben, daß Sie in Metz gefangen sind?“

„Ich war es.“

„Also entflohen?“

„Nein. Es galt Briefschaften herauszuschaffen, durch den Kreis der Belagerer. Das ist lebensgefährlich. Man ließ mich frei mit der Bedingung, diese Briefe zu besorgen.“

„Und Sie haben es fertig gebracht?“

„Nur halb.“

„Wieso?“

„Die Briefe bekamen die Deutschen; ich aber entkam ihnen.“

„Sapperment! Wie ist das möglich?“

„Man rannte mir nach, als man mich bemerkt hatte. Ich warf einen Brief nach dem andern von mir. Während sie hinter mir die Schreibereien auflasen, erreichte ich den Wald.“

„Und dann?“

„Dann, verdammte Geschichte. Ihnen kann ich es ja sagen: Ich bin vogelfrei. Da traf ich einen Bauern, welcher Spannfuhre hatte tun müssen. Ich bemächtigte mich seines Fuhrwerks und seiner Legitimation und setzte mich auf seinen Wagen. So kam ich in die Nähe von Stonne. Da kamen die verdammten Soldaten und zwangen mich, sie zu fahren, während ich nebenher laufen mußte.“

„Wohin wollten Sie?“

„Hier ganz in die Nähe, nämlich nach Daigny. Da habe ich einen nahen Verwandten, der mir verschiedenes zu verdanken hat und mir sicher durchgeholfen hätte.“

„Paßte denn die Legitimation zu dieser Tour?“

„Wunderbar gut. Der Bauer war nämlich aus der Gegend von Mézières; ich mußte also über Sedan, wenn ich dahin wollte.“

„Sapperment! Das könnte passen.“

„Was? Wie?“

„Sagen Sie mir vorher, was aus dem Bauer geworden ist, dem Sie das Fuhrwerk abgenommen haben.“

„Ich weiß nicht. Ich glaube, er lebt nicht mehr.“

„Ach so! Ja, ich kenne Vater Main. Wissen Sie, als Sie in Ihrer Wirtschaft in Paris den Werber für mich machten, hätten wir nicht gedacht, welch elenden Anfang dieser Krieg nehmen würde.“

„Anfang?“

„Ja doch.“

„Ich denke, daß es das Ende ist.“

„Glauben Sie dies ja nicht. Es ist ein Zusammentreffen verschiedener unglücklicher Umstände, welches diese Deutschen bisher begünstigt hat. Aber Frankreich besitzt unerschöpfliche Hilfsquellen. Das Unglück wird uns stark und einig machen und uns zum endlichen Sieg führen.“

„Davon habe ich nichts.“

„Sie als Franzose!“

„Ja doch. Ich bin gar nichts mehr, also auch kein Franzose. Ein jeder kann mich totschlagen. Ich will zu meinem Verwandten; der muß Geld schaffen, damit ich nach Amerika oder nach Australien kann.“

„Sind Sie denn ganz mittellos?“

„Hm! Ich hatte Geld, da drüben in Algier; aber die Polizei hatte entdeckt, welche Banknotennummern es waren.“

„Sie hatten also einen Geniestreich ausgeführt?“

„Ja. Er war so prächtig gelungen. Aber, der Teufel hole das Genie. Glück ist die Hauptsache.“

Der Kapitän hielt es nicht für geraten, zu sagen, daß er jetzt selbst blutarm sei. Er antwortete:

„Was nützt einem das Geld, wenn es einem an den Kragen geht.“

„An den Kragen?“

„Ja. Wenn mich morgen die Deutschen erwischen, bin ich verloren. Sie haben Ursache dazu.“

„Das ist dumm!“

„Freilich, freilich. Wie nun, wenn wir uns gegenseitig unterstützten, Vater Main?“

„Wie sollte das geschehen?“

„Sie bringen mich aus der Stadt, und ich sorge für Geld.“

„Das letztere wäre mir schon recht, wenn nur auch das erstere ermöglicht werden könnte.“

„Sehr leicht.“

„Auf welche Weise?“

„Haben Sie Ihr Fuhrwerk noch?“

„Das ist zum Teufel! Alles kaputtgeschossen.“

„Aber die Legitimation haben Sie noch?“

„Ja, hier in der Tasche.“

„So wird man Sie ja doch passieren lasen.“

„Meinen Sie?“

„Gewiß. Und weil Sie sich ausweisen können, ist es Ihnen ja sehr leicht, mich zu legitimieren.“

„Auf diese Art und Weise. Sie sind aus meinem Dorf und haben mit Pferd und Wagen dem Heer folgen müssen, gerade ebenso wie ich. Sie haben dabei alles verloren, mehr noch als ich, nämlich die Legitimation.“

„So meine ich es.“

„Wir können es versuchen. Aber, Sie haben doch Beziehungen im Kreis der Offiziere.“

„Oh, selbst ein Marschall könnte mich nicht retten, wenn die Deutschen einmal erfahren, wer ich bin.“

„So möchte ich fragen, wie Sie hier nach Sedan gekommen sind. Das ist ja gefährlich.“

„Wer konnte dies ahnen? Wer wußte, daß die Deutschen an allen Stellen siegen würden? Ich hatte einen Brief Mac Mahons nach Metz zu bringen. Es gelang mir. Ich empfing Antwort und brachte sie dem Marschall, nachdem ich den Deutschen entkommen war. Sie hatten Metz noch nicht vollständig zerniert. Ich blieb bei der Armee, weil ich glaubte, daß wir die Deutschen schlagen würden. Nun stecke ich in der Mausefalle. Der Teufel hole Preußen.“

„Meinetwegen mag er die ganze Welt holen und mich mit. Zuvor aber will ich das Leben noch ein wenig genießen. Was fangen wir heute abend an? Könnten wir nicht schon heute aus der Stadt kommen?“

„Unmöglich. Man läßt keine Maus hinaus.“

„So müssen wir uns allerdings leider gedulden.“

Sie hatten sich für heute nichts weiter zu sagen, da es keinem einfiel, den anderen zum Vertrauten seiner besonderen Erlebnisse zu machen. Darum streckten sie sich nieder und waren bald in Schlaf versunken.

Sie erwachten bereits am sehr frühen Morgen. Der ungeheure Lärm, den es auf den Straßen gab, machte es unmöglich weiterzuschlafen. Sie begaben sich hinunter auf die Gasse. Dort erfuhren sie, daß die Stadt noch vollständig eingeschlossen sei und kein Mensch sie vor Abschluß der Kapitulation verlassen dürfe.

Infolgedessen zogen sie sich wieder in ihr Versteck zurück, wo der Alte, mehr aus Langeweile als aus Aufrichtigkeit, dem einstigen Restaurateur mitteilte, daß er freilich im Augenblick nicht bei Mitteln sei, bald aber zu Geld gelangen könne, wenn es ihm nur gelänge, das Lager der Deutschen ungehindert zu passieren.

„Nun“, sagte Vater Main, „wenn es auch Ihnen am Geld fehlt, so wird mein Cousin welches schaffen müssen. Er soll es wieder erhalten.“

Als sie gegen Mittag die Straße wieder betraten, erfuhren sie, daß die Kapitulation abgeschlossen worden sei, und daß man es Zivilpersonen bereits erlaube, sich aus der Stadt zu entfernen.

Sie machten den Versuch und gelangten in das Freie, ohne daß sie gehindert worden wären. Nur draußen am Tor wurden sie von dem machthabenden deutschen Offizier nach Namen und Stand gefragt, und als Vater Main seine Legitimation vorzeigte und dabei bemerkte, daß sein Begleiter ein Kamerad von ihm sei, der mit ihm nach der Heimat wolle, so wurde ihnen nichts in den Weg gelegt.

Sie passierten verschiedene Truppenteile und sahen alle die Spuren des gestrigen Kampfes. Sie erreichten nach kurzer Zeit Daigny, wo der Cousin Vater Mains sich vor einigen Jahren als Krämer niedergelassen hatte.

Main kannte das Haus, vor dessen Tür ein vielleicht fünfzehnjähriger Junge stand. Er sah sich die beiden an, welche eintraten, ohne daß er ihnen ein Wort sagte.

Sie öffneten die Tür zur Wohnstube, fuhren jedoch erschrocken zurück. Der Raum war voller Verwundeter; er wurde als Lazarett benutzt.

Gerade jetzt trat aus der gegenüberliegenden Tür der Besitzer des Hauses. Er sah seinen Verwandten und erschrak.

„Himmel! Du bist hier“, stieß er hervor.

„Ja. Bin ich dir unwillkommen?“

„Nein. Aber, hat man dich gesehen?“

„Die da drinnen.“

„Du bist in diese Stube getreten?“

„Ja, weil es die Wohnstube ist.“

„Was! Und dieser dumme Junge, dieser Nichtsnutz, steht hier an der Tür und sagt den Fremden, welche eintreten, nicht, daß da das Lazarett ist. Wie nun, wenn jemand dich erkannt hätte. Warte Bursche! Hier.“

Er gab dem Knaben einige Ohrfeigen und führte dann die beiden eine Treppe höher. Dort öffnete er eine Tür.

Das Haus hatte nur ein Stockwerk. Unten befand sich die Wohnstube und der Kramladen. Darüber lagen zwei einfache Kammern mit Bretterwänden. In die eine derselben brachte er sie.

„Hier wohne ich jetzt“, sagte er. „Dieser Krieg ist ein Unglück, aber er bringt mir Geld ein. Ich habe seit gestern früh fast alle meine Vorräte verkauft. Es ist jammerschade, daß ich nicht mehr habe. Wer ist dieser Herr?“

„Ein Freund von mir. Der Name tut nichts.“

„So kennt er dich?“

„Natürlich.“

„Auch deine gegenwärtigen Verhältnisse?“

„Nicht genau. Er weiß nur, daß die Polizei die Patschhändchen nach mir ausstreckt.“

„Wie aber kannst du dich in diese Gegend wagen!“

„Ich bin überall gefährdet. Ich mußte zu dir, weil ich Geld brauche, ohne welches ich nicht weiterkann.“

„Du sollst haben, was ich entbehren kann. Wohin willst du dich wenden?“

„Nach Amerika.“

„Hm! Hast du Legitimation?“

„Hier mein Freund wird sorgen – Donner und Doria. Da kommen drei auf dein Haus zu.“

Er hatte durch das Dachfensterchen geblickt. Sein Cousin warf auch einen Blick hinaus und sagte:

„Meine Einquartierung.“

„Alle Teufel! Sie wohnen bei dir?“

„Ja. Es ist ein Major von den Ulanen. Diese Herren sind auch froh, wenn sie unter Dach und Fach sind. Die Zimmer werden als Lazarett benutzt, darum nehmen die Offiziere die Kammern.“

Auch der Kapitän war ans Fenster getreten. Er erbleichte.

„Kommen diese Männer hierher?“

„Ja. Sie kommen hier herauf. Sie logieren drüben in der anderen Kammer.“

„Alle Wetter! Sie dürfen uns nicht sehen. Was ist zu tun?“

„Sind es Bekannte von Ihnen?“ fragte Vater Main.

„Freilich, freilich.“

„Pfui Teufel“, sagte der Krämer. „Sie treten auch in diese Kammer, wenn sie mich suchen.“

„Und hinunter können wir nicht, denn sie sind nur noch wenige Schritte entfernt. Ein Versteck, ein Versteck! Gibt es denn keins hier oben?“

„Einen ganz engen Raum oben unter dem Dachfirst.“

„Dann schnell da hinauf.“

„Es geht weder Leiter noch Treppe hinauf. Turnen Sie sich da an den Balken in die Höhe.“

Die beiden Flüchtlinge kletterten bis zu dem engen, schmalen Hahnebalkenboden empor und krochen soweit wie es möglich war, hinein. Sie hatten sich kaum in Sicherheit gebracht, so kamen die drei Männer zur Treppe herauf. Es waren die drei Königsau, Enkel, Vater und Großvater.

Der erste trat in die Kammer des Wirtes und fragte:

„Hat jemand nach mir begehrt?“

„Nein, Herr Major.“

„Schön! Gehen Sie hinab. Sorgen Sie dafür, daß niemand nach hier oben kommt. Bei diesen Bretterwänden ist ja jedes gesprochene Wort für jedermann hörbar.“

Der Wirt gehorchte und stieg hinab. Richard überzeugte sich, daß niemand vorhanden war; dann traten sie in die gegenüberliegende Kammer, über welcher die beiden Flüchtlinge steckten.

Diese Kammer enthielt drei Strohsäcke und einen Stuhl; das war das ganze Meublement. Es war eben Krieg. Ein Dachfenster erlaubte den Ausblick ins Freie.

Der Großvater mußte auf dem Stuhl Platz nehmen; die beiden anderen setzten sich auf die Strohsäcke.

„So“, sagte der Major. „Die Anstrengung ist für Großpapa zu viel. Gestern und die ganze Nacht im Lazarett tätig gewesen. Du sollst hier nun einige Stunden schlafen.“

„Ein wenig ruhen, ja“, sagte der alte Liebling Blüchers. „Schlafen aber kann ich nicht.“

„Du mußt ja mehr als müde sein!“

„Nicht im geringsten. Kinder, Ihr glaubt nicht, was mit mir vorgeht. Der Kanonendonner, der Hufschlag, das Kriegsleben hat in mir Erinnerungen geweckt, welche längst gestorben schienen. Ich befinde mich auf dem Schauplatz früherer Taten.“

Er trat an das Fensterchen, blickte hinaus und fuhr fort.:

„Dort geht es nach Roncourt und Chêne. Dort sang ich als Erkennungszeichen die Arie ‚Ma chérie est la belle Madeleine‘. Da drüben geht es nach dem Meierhof Jeanette, wo ich den großen Napoleon belauschte, und da rechts führt die Straße nach Bouillon, wo ich damals – ah, die Kasse, die Kriegskasse.“

„Großpapa schone dich“, bat Richard.

„Schonen? Schonen? Jetzt, wo es hell und licht wird? Nein, nein! Denken will ich; denken muß ich! Oh, mein Gott, die Erinnerung kommt.“

Er hielt sich an den Fensterbalken an und starrte hinaus. Seine Lippen zitterten; über sein altes, ehrwürdiges Gesicht ging ein wechselvolles Mienenspiel. Dabei fuhr er fort:

„Da geht's nach Bouillon. In der Schenke blieb ich über Nacht. Dann am Wasser entlang, bei den Bäumen links ab, an der Köhlerhütte vorüber nach der Schlucht. Dort erschlug der Kapitän den Baron Reillac. Und da gruben wir – gruben wir – – – die Kriegskasse aus und – – – schafften sie – – – Herr, mein Heiland, ich hab's! So ist's gewesen. O Gott, o Gott! Endlich, endlich weiß ich alles, was damals geschehen ist! Hört, hört! Ich muß es euch erzählen!“

Und er erzählte es, Wort für Wort, was damals geschehen war. Er konnte sich auf jedes Wörtchen, auf jeden Strauch besinnen. Er beschrieb die Stelle, an welcher er die Kasse zum zweiten Mal vergraben hatte, so genau, als wenn es erst gestern geschehen wäre. Dann fügte er hinzu:

„Wir müssen hin, unbedingt hin, heute oder morgen oder wann es sei, aber bald, recht bald!“

„Welch ein psychologisches Rätsel“, sagte Gebhard von Königsau.

Aber sein Sohn winkte ihm Schweigen zu. Der Großvater fuhr fort:

„Nun möchte ich den Kapitän haben! Ah, könnte ich doch mit ihm kämpfen, noch heut, noch heut! Kinder, ich weiß nicht, wie mir ist. Es strengt mich doch an. Laßt mich ruhen; ich will schlafen; ich will ausschlafen, und dann gehen wir nach der Kasse – der Kasse – – – der Kasse!“

Er stand vom Stuhl auf und setzte sich auf einen der Strohsäcke. Sein Sohn wollte irgendwelche Bemerkungen machen; aber Richard sagte bittend:

„Laß ihn, Vater! Ja, er mag schlafen. Später werden wir ja weitersprechen können.“

Er nahm den Kopf des alten Mannes in den Arm und ließ ihn langsam nach hinten gleiten. Wunderbar! Es währte nicht eine Minute, so war Hugo von Königsau in einen Schlaf versunken, aus welchem ihn vielleicht kein Schuß zu erwecken vermocht hätte.

„Die Anstrengung des Gehirns war zu groß“, sagte sein Enkel. „Der Schlaf wird ihn stärken. Komm, Vater, gehen wir wieder. Wir könnten ihn stören.“

„Seltsam. Seltsam!“

„Sogar unbegreiflich. Der fünfzig Jahre lang verlorene Zusammenhang ist plötzlich gefunden, einzig und allein durch den Anblick dieser Gegend. Komm, wir werden bald wieder nach ihm sehen.“

Sie gingen.

Die beiden Männer über ihnen hatten jedes Wort verstanden; sie konnten sogar durch einige im Boden befindliche Ritzen herabblicken.

„Da waren Sie gemeint“, flüsterte jetzt Vater Main.

„Ja“, antwortete der Kapitän, welcher schnell berechnete, daß er ohne Hilfe nichts unternehmen könne.

„Diese Kriegskasse existiert wirklich?“

„Freilich! Es ist genauso, wie dieser alte Satan erzählte.“

„Donnerwetter! Wollen wir sie holen?“

„Warum nicht? Aber es fehlt uns eins dazu, was wir unumgänglich nötig haben.“

„Was?“

„Geld.“

„Geld, wenn wir Geld holen?“

„Ja. Wir können von hier nicht mitnehmen, was wir brauchen: Wagen, Hacken, Schaufeln und anderes.“

„Mein Cousin mag Geld schaffen. Oder, noch besser, er soll mit. Drei sind besser als zwei.“

„Das ist sehr richtig. Aber wird er Zeit haben?“

Der alte Schlaukopf sagte sich im stillen: Helfen mögen sie; dann schaffe ich sie auf die Seite.

„Er muß Zeit haben. Seine Frau mag während seiner Abwesenheit den Kramladen versorgen.“

„Gut. Dann aber sobald wie möglich aufbrechen. Wir haben gehört, daß diese Menschen da unten hin wollen. Sie könnten uns zuvorkommen.“

„Ich will den Cousin holen.“

Er stieg leise hinab, und der Kapitän folgte ihm, um in die Kammer zu treten. Vater Main brachte sehr bald den Wirt. Sie führten eine leise, eifrige Unterhaltung, welche allerdings gar nicht lange dauerte.

Während derselben kam leise, leise der Knabe, welcher vorhin geschlagen worden war, zur Treppe heraufgeschlichen und lehnte den Kopf an die Bretterwand. Als er bemerkte, daß die Unterredung zu Ende sei, wollte er sich zurückziehen, stolperte aber im Eifer und fiel hin auf den Boden. Sofort wurde die Kammertür aufgerissen, und der Wirt trat heraus.

„Bube, du hast gelauscht“, sagte er.

„Nein“, lautete die Antwort.

„Was willst du hier?“

„Es sind Leute unten, die kaufen wollen. Ich kam um Sie zu rufen und stolperte über die letzten Stufen.“

„So bist du eben erst gekommen und hast nichts gehört?“

„Gar nichts.“

„Hier, hast du etwas für das Stolpern.“

Er gab ihm abermals eine Ohrfeige und stieß ihn zur Treppe hinab. Der Knabe war ihm in die Lehre gegeben; er wurde brutal behandelt und haßte seinen Meister. Als dieser nach einiger Zeit mit den zwei Männern das Haus verließ, um die Straße nach Bouillon einzuschlagen, folgte ihnen der Knabe mit seinen Blicken und sagte leise zu sich selbst:

„Sie sollen die Kriegskasse nicht haben. Ich werde es dem schönen, guten Offizier sagen, der mir gestern einen ganzen Franken geschenkt hat und heute wieder.“

Und als nach einiger Zeit Königsau wieder kam, um nach seinem Großvater zu sehen, ging er ihm nach, hinauf auf den Boden und machte sich durch ein Husten bemerkbar.

„Was willst du?“ fragte ihn der Offizier.

„Sie wollen die Kriegskasse.“

„Wer?“

„Die drei.“

Königsau war überrascht.

„Welche drei?“ erkundigte er sich.

„Mein Meister und die Fremden. Sie kamen und versteckten sich da oben.“

Er zeigte nach dem Hahnebalkenboden.

„Da oben haben Männer gesteckt?“ fragte Königsau, förmlich erschrocken.

„Ja, zwei. Sie steckten sich da hinauf. Ich kenne sie nicht; aber der alte war der Kapitän. Der andere hat ihn so genannt.“

„Beschreibe ihn mir.“

Der Knabe tat dies, und Königsau bekam die Überzeugung, daß wirklich Kapitän Richemonte hiergewesen sei.

„Was haben sie denn gesprochen?“ fragte er.

„Als Sie fort waren, kam der eine hinab in den Laden, nicht der Alte, sondern der andere. Sie sprachen leise; aber ich hörte doch, daß sie einen Schatz heben wollten. Dann gingen sie hinauf zu dem Alten, der wieder in der Kammer war. Ich schlich nach und horchte. Sie wollen die Kasse ausgraben und teilen. Dann aber, wenn sie wiederkommen, wollen sie drei totmachen, welche Königsau heißen.“

„Haben sie nicht gesagt, wann sie wiederkommen werden?“

„Nein.“

„Gut, mein Sohn. Hier hast du fünf Franken. Deine Mutter ist arm, wie du mir sagtest. Ich werde sie so beschenken, daß es ihr wohlgehen soll. Aber sage jetzt noch keinem Menschen ein Wort von dem, was du weißt.“

Er weckte den schlafenden Großvater nicht auf, sondern begab sich in die Ambulanz zu seinem Vater, dem er das Ereignis erzählte. Dieser war natürlich im höchsten Grad aufgeregt. Er sagte:

„Das ist kein Unglück, sondern ein Glück für uns!“

„Natürlich. Der Alte läuft uns da hübsch in die Hände.“

„Nur schleunigst nach!“

„Bitte, keine Überstürzung, Vater. Wir reiten natürlich, und die drei sind zu Fuß. Wir werden sie überholen, und das ist nicht vorteilhaft.“

„Warum nicht? Wir nehmen sie gefangen, da wo wir sie treffen.“

„Bedenke, daß Bouillon jetzt luxemburgisch ist. Ich darf nicht einmal in Uniform hinüber.“

„Das ist fatal, höchst fatal!“

„Großpapas Beschreibung nach aber liegt die Kasse wieder auf französischem Boden vergraben, da man von Bouillon sich nach rechts, also nach Westen zu wenden hat. Fassen wir die Kerls dort, so sind sie uns sicher.“

„Werden wir sie transportieren dürfen?“

„Ja. Wenn wir sie auf französischem Boden verhaften und nur um eine Ecke des Luxemburger Gebietes wieder auf französisches Territorium schaffen, kann man es uns nicht verbieten. Übrigens wird es Nacht sein, da wird alles möglich gemacht.“

„Wer reitet mit?“

„Du, Großvater, ich und Fritz. Vier sind genug. Um aber auf alle Fälle sicher zu sein, wollen wir auch Fritzens Bruder mitnehmen. Wir sind seiner sicher.“

„Werdet ihr Urlaub bekommen?“

„Gewiß. Da laß mich sorgen. Freilich brauchen wir Zivilanzüge für die beiden Brüder und mich. Ich hoffe, daß sie in Sedan zu haben sind. Ich werde sie besorgen.“

„Wann also reiten wir?“

„Kurz vor Einbruch der Dunkelheit.“

„Aber, wird Großvater während der Nacht den Ort auch finden? Es ist fünfzig Jahre her.“

„Ich hoffe es. Er hat ihn so genau beschrieben, daß ich allein ihn zu finden mir getraue.“

Er teilte Fritz und dessen Bruder mit, um was es sich handelte. Der erstere hatte den letzteren bereits mit den Schicksalen der Familie Königsau bekannt gemacht, und so war der bisherige französische Kapitän sofort bereit, an dem Ritt teilzunehmen.

Der Urlaub wurde gewährt, und kurz vor Abend ritten sie davon, drei ledige Pferde mit sich am Zügel führend.

Da sie nicht Uniform trugen und auch keine Waffen sehen ließen, wurden sie an der Grenze gar nicht inkommodiert. Jenseits derselben kehrte Richard ganz allein in einer an der Straße liegenden Restauration ein und erfuhr, daß die drei hier gerastet hatten.

Es war eigentümlich, welchen Eindruck der Anblick dieser Gegend auf Hugo von Königsau machte. Er fühlte sich wie ein Jüngling, er ritt an der Spitze und machte erst wieder halt, als sie Bouillon passiert und die letzten Häuser erreicht hatten.

„Hier“, sagte er, „ist die Schenke, in welcher ich übernachtete. Es ist ein neues Gebäude angebaut worden, wie ich sehe; aber das alter erkenne ich sofort. Von hier aus müssen wir laufen, lieber Richard.“

„So steigt ab und wartet. Ich werde die Pferde einstellen. Fritz mag helfen.“

Die beiden führten die Pferde nach dem Gasthof, wo genug Stallung vorhanden war, und ließen sie unter ihrer Aufsicht einstellen. Dann wurde die Fußwanderung begonnen.

Sie folgten dem Wasser bis zu den bekannten Erlen, welche wirklich noch standen. Dann bogen sie links ein und stiegen den Berg hinauf.

Die Köhlerhütte war zwar nicht mehr vorhanden, doch diente die Lichtung, auf welcher sie gestanden hatte, zur Orientierung. Von da aus erreichten sie die Schlucht, welche der alte Hugo sofort, trotz der Dunkelheit, erkannte und trotz der veränderten Baumphysiognomie, welche sie zeigte.

„Da drinnen hat der Schatz gelegen“, sagte er. „Da drin wurde Reillac erschlagen. Jetzt drehe ich mich nach Süden. Kommt, folgt mir, aber leise, heimlich! Die drei Halunken sind sicher da.“

Der Abend war heute hell; die Sterne glänzten am Himmel. Hier gab es kein Unterholz. Man konnte ohne große Schwierigkeit die Richtung einhalten.

Es ging talabwärts und dann wieder empor. Auf der Bodenwelle oben angekommen, blieb der Alte stehen. Trotz seiner Betagtheit war sein Gehör so scharf, daß er einen hier des Nachts ungewöhnlichen Laut vernommen hatte.

„Horcht!“ flüsterte er. „Da unten ist der Ort. Habt ihr es gehört? Das klang wie eine Hacke.“

„Ja. Ich sehe sogar Licht“, bestätigte Richard.

„So wollen wir hinab. Aber um Gottes willen, äußerst vorsichtig. Wir müssen sie plötzlich fassen, daß sie ganz starr sind vor Schreck.“

Sie stiegen leise in die neue Bodenvertiefung hinab, einer hinter dem anderen. Je tiefer sie kamen, desto heller und größer wurde der Schein des Lichts. Endlich waren sie so nahe, daß sie alles genau bemerken konnten.

Die drei hatten bereits ein ziemlich bedeutendes Loch aufgeworfen. Sie waren so vorsichtig gewesen, den Rasen behutsam abzustechen, um dann mit ihm die Stelle so belegen zu können, daß nichts zu bemerken war.

Eine Laterne stand dabei. Zwei hackten, und der alte Kapitän schaufelte.

„Das ist Richemonte, mein Herr Schwager“, flüsterte Hugo Königsau, „und unser Wirt aus Daigny. Wer aber ist der dritte?“



„Ich kenne ihn“, antwortete Richard wieder ebenso leise. „Er ist einer der gefährlichsten Verbrecher der Hauptstadt und muß aus Metz entsprungen sein. Umgehen wir sie. Sobald ich mit der Zunge schnalze, werfen wir uns von allen Seiten auf sie. Am besten wird es sein, wir stoßen sie ins Loch hinab. Das vermindert ihre Beweglichkeit. Stricke zum Binden haben wir mit.“

Sie teilten sich, um die nichtsahnenden Schatzgräber zwischen sich zu bekommen. Diese letzteren arbeiteten mit lautloser Anstrengung. Trotz des unzureichenden Lichts, welches die Laterne verbreitete, sah man ihre Augen vor Gier leuchten.

Da erscholl ein dumpfer Schlag.

„Halt! Was war das?“ fragte der Kapitän.

„Das war meine Hacke“, antwortete Vater Main. „Sie ist auf einen hohlen Gegenstand getroffen.“

„Weiter, weiter! Es ist die richtige Stelle; sie ist es, bei allen Teufeln, ja!“

In zwei Minuten war ein Stück des Deckels bloßgelegt.

„Ha!“ jubelte der Alte. „Da steckt das Geld, da, da! Ihr Hunde aus dem verfluchten Geschlecht der Königsau, kommt herbei, wenn Ihr uns den Fund streitig machen wollt!“

„Hier sind wir schon!“ ertönte es hinter ihm.

Zehn Hände griffen zu. Im nächsten Augenblicke stürzten die drei Schatzgräber in die von ihnen gegrabene Grube.

„Tod und Teufel!“ schrie Vater Main. „Wer ist das? Ha, das soll euch nicht gelingen!“

Er schnellte sich empor, aus der Grub heraus, wie ein Panther aus seiner Höhle springt. Richard faßte ihn; Fritz und Gebhard von Königsau griffen zu. Er schlug mit den Fäusten um sich wie ein Rasender.

„Vater Main, deine Stunde ist gekommen. Uns sollst du nicht entwischen, wie du aus Metz entwichen bist!“ sagte Richard, indem er ihn zu packen suchte.

Der Mörder erkannte die Gefahr, in welcher er schwebte. Das verdoppelte, verdreifachte seine an und für sich bereits ungewöhnlichen Kräfte.

„Ihr kennt mich!“ rief er. „Nun, so wißt Ihr auch, daß ich nicht mit Euch spaßen werde.“

Er ließ sich nicht anfassen. Er schlug mit den Fäusten und stieß mit den Füßen. Es gelang ihm, erst den einen, dann den anderen von sich abzuhalten. Dabei entfernte er sich von der Grube. Geriet er in das Dunkel, war es schwierig, ihn zu halten.

„Nur drauf!“ gebot Richard. „Fassen, fassen müssen wir ihn. Dann ist er unser.“

„Versucht es, ihr Jungen!“

Auch der Krämer hatte sich herausschnellen wollen; aber Lemarch hatte sich auf ihn geworfen. Er hielt ihn fest, aber mehr konnte er nicht. Um ihn zu fesseln, dazu waren zwei nötig, und drei hatten ja bereits mit dem wütenden Vater Main zu tun.

Der alte Kapitän war im ersten Augenblick ruhig liegengeblieben. Er war von jeher mehr schlau als kühn gewesen; das zeigte sich auch hier. Erst als er bemerkte, daß Vater Main mehrere beschäftigte, machte er den Versuch, sich zu erheben. Er sah die hohe Gestalt seines alten Erzfeindes vor sich stehen, der die Arme über der Brust verschränkt hielt und sich um die anderen gar nicht kümmerte.

„Königsau!“ entfuhr es ihm.

„Richemonte! Heute rechnen wir ab!“ tönte es ihm kalt, stolz und drohend entgegen.

Der Kapitän überflog mit einem schnellen Blick die Szene. Er sah sich dem Feind allein gegenüber; das stählte seinen Mut.

„Ja, heute rechnen wir ab!“ erwiderte er. „Heute gibt es das letzte Fazit, und das ist dein Tod!“

Im Nu raffte er die Hacke auf und drang damit auf den alten Hugo ein. Dieser stieß ein höhnisches Lachen aus, bückte sich, sprang zur Seite und schlug dem Gegner die Faust unter das Kinn, daß diesem ein heiserer Schmerzensschrei entfuhr und ihm die Hacke aus der Hand flog. Sie kam an eine Wurzel zu liegen, so daß die Spitze nach oben gerichtet wurde.

„Hund, das war dein letzter Hieb!“ brüllte Richemonte.

Er tat einen mächtigen Satz auf den Gegner zu. Dieser wich abermals geschickt zur Seite, faßte ihn mit beiden Händen, hob ihn empor wie einen Knaben und schleuderte ihn zur Erde.

Ein fürchterlicher, entsetzlicher Schrei erscholl aus Richemontes Mund. Er blieb liegen, ohne sich zu regen.

„Da hast du es!“ sagte der Sieger. „Jetzt her mit dir!“

Er zog zwei Stricke hervor, band dem Besinnungslosen die Füße zusammen und wendete sich nun den anderen zu.

Jetzt endlich war Vater Main überwältigt worden. Er schäumte wie ein wildes Tier. Die drei waren eben dabei, ihn zu binden.

„Hierher, zu mir!“ bat Lemarch.

Der alte, tapfere Hugo eilte hinzu und half, den Krämer zu fesseln. Er wurde neben Vater Main geworfen. Als man auch Richemonte diese Stelle anweisen wollte, zeigte es sich erst, daß Großpapa Königsau ihn so auf die Hacke geschleudert hatte, daß ihm die Spitze derselben in den Rücken gedrungen war.

„Ist es tödlich?“ fragte Fritz.

„Vielleicht“, antwortete Richard. „Wollen ihn, so gut es geht, verbinden.“

Selbst während man dies tat, blieb der alte Schurke besinnungslos.

„Was nun?“ fragte Lemarch. „Die Kasse ist da.“

„Aber fortschaffen können wir sie nicht. Das muß berechtigteren Leuten vorbehalten bleiben. Füllen wir die Grube wieder zu, und zwar so, daß man keine Spur der Arbeit, welche hier getan worden ist, entdecken kann.“

Dies geschah, und nun setzte sich der Zug in Bewegung.

Unten im Tal angekommen, weckten Richard und Fritz den Hausknecht des Gasthofs, um sich ihre Pferde ausliefern zu lassen. Die Gefangenen wurden festgeschnallt, was bei Richemonte allerdings höchst schwierig war. Dann trat die Kavalkade ihren Rückweg an.

Der Kapitän war aufgewacht. Ein immerwährendes Ächzen und Stöhnen ließ erraten, welche Qualen er auszustehen hatte; darauf konnte aber keine Rücksicht genommen werden. Möglichst im Galopp ging es durch Bouillon und dann der französischen Grenze entgegen, über welche sie mit Hilfe eines Seitenweges, der zufälligerweise nicht von einem Posten besetzt war, glücklich gelangten.

Die Gefangenen wurden in Sedan ausgeliefert.

Die Frau des Krämers erhielt durch unbekannte Hand einen Brief ihres Mannes, in welchem er sie benachrichtigte, daß er auf kurze Zeit verreist sei, aber bald zurückkehren würde: sie solle dem Geschäft indessen vorstehen. Die Mutter des Lehrlings empfing ebenso von unbekannter Hand ein Geldgeschenk, durch welches sie in den Stand gesetzt wurde, ihre Lage aufzubessern.

Richemontes Verletzung war tödlich. Sie verursachte ihm so entsetzliche Schmerzen, daß er wie ein gespießter Eber brüllte. Und diese Qualen machten ihn so mürbe, daß er ein vollständiges Geständnis aller seiner Sünden und Verbrechen ablegte.

Es war ihrer eine schaurige Zahl. Die Vernehmung erforderte so viel Zeit, daß dieselbe unterbrochen werden mußte. Von Seiten des herbeigerufenen Arztes wurden alle Mittel angewendet, den Tod von dem Verbrecher hinzuhalten, was auch auf einige Zeit noch gelang. – – –

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