Zwei

Batterien von Höllenspeeren feuerten ihre geladenen Partikelgeschosse auf die Militärbasis und die kleine Werft der Syndiks ab, die jahrhundertelang um diesen äußeren Gasriesen im Baldur-System gekreist waren. Die meisten Einrichtungen wirkten so, als hätte man sie schon vor Jahrzehnten eingemottet, und nur eine Hand voll Syndiks war zurückgeblieben, um die wenigen Systeme funktionstüchtig zu halten. In diesem Moment waren eben diese Syndiks in Rettungskapseln auf der Flucht vor der Allianz-Flotte, während hinter ihnen die aktiven sowie die stillgelegten Teile der Basis und der Werft aus nächster Nähe durch den Beschuss mit Höllenspeeren in Stücke gerissen wurden.

Geary hatte beschlossen, alle Teile seiner Flotte in den Genuss kommen zu lassen, auf dem Weg zu ihrem eigentlichen Ziel Syndik-Einrichtungen zu zerstören. In diesem Fall lag die Ehre bei der Achten Schlachtschiffdivision. Die Schiffe Relentless, Reprisal, Superb und Splendid flogen über die Basis hinweg, ihre geballte Feuerkraft zerstörte Ausrüstung, Vorräte und Ersatzteile sowie die Werften, die ihren überalterten Korvetten vielleicht noch manches Mal zu Diensten gewesen waren.

Das nächste Ziel sollte die Bergbau-Anlage sein, die sie unversehrt einnehmen wollten. Angesichts des unablässigen Strebens der Menschen, Dinge zu errichten und zu erhalten, empfand Geary es als ausgesprochen ironisch, dass es in den Kriegen der Menschheit schon immer leichter gewesen war, etwas zu zerstören, anstatt es komplett unversehrt einzunehmen.

»Haben Sie Ihren Spaß?«

Geary schaute über das Display hinweg, das zeigte, wie die Syndik-Einrichtung in Trümmer geschossen wurde, und sah, dass Victoria Rione unangekündigt sein Quartier betreten hatte. Sie war dazu in der Lage, da er die Sicherheitseinstellung des Raums so angepasst hatte, dass ihr der Zugang zu seinem Quartier erlaubt war. Es war ein Überbleibsel aus jenen Tagen, als sie sein Bett geteilt hatte. Ihm war der Gedanke gekommen, die Einstellungen angesichts ihrer distanzierten Haltung wieder zu ändern, doch bislang hatte er diesen Schritt gemieden.

Jetzt reagierte er auf ihre Frage mit einem Schulterzucken. »Es ist eine Notwendigkeit.«

Sie warf ihm einen rätselhaften Blick zu und setzte sich ihm gegenüber hin, womit sie weiter auf Abstand zu ihm blieb, wie sie es seit Ilion machte. »Eine ›Notwendigkeit‹ ist immer die Folge einer Entscheidung, John Geary. Es gibt keine klare, unverrückbare Linie, die das, was getan werden muss, von dem trennt, wofür wir uns entscheiden.«

Irgendwie kam es ihm so vor, als beziehe sich Rione damit auf etwas anderes, etwas Unausgesprochenes. Wenn er nur dahinterkäme, was es war. »Dessen bin ich mir bewusst.«

»Ich glaube, das ist bei Ihnen üblicherweise der Fall«, gestand Rione ihm zu, was für ihre Verhältnisse einen ungewöhnlichen Schritt darstellte. Einen Moment lang musterte sie ihn, schließlich fuhr sie fort: »Üblicherweise. Die Commander der Schiffe, die zur Callas-Republik und zur Rift-Föderation gehören, haben mit mir über Ihre jüngste Flottenbesprechung gesprochen.«

Geary musste eine aufflackernde Verärgerung herunterschlucken. »Sie müssen mich nicht immer wieder daran erinnern, dass diese Schiffe Ihren Empfehlungen folgen werden, weil Sie die Co-Präsidentin der Callas-Republik sind.«

»Nein«, erwiderte sie energisch. »Ich kann mir vorstellen, dass es Black Jack nicht gefällt, wenn seine Autorität herausgefordert wird. Wie ich hörte, ist genau das der Fall gewesen, und Sie haben entsprechend hart reagiert.«

»Ich muss die Kontrolle über diese Flotte wahren, Madam Co-Präsidentin! Ich hätte noch viel härter reagieren können, und das wissen Sie.«

Anstatt mit der gleichen Verärgerung zu reagieren, verzog Rione den Mund und lehnte sich nach hinten. »Ja, das hätten Sie. Wichtig ist dabei aber nicht, dass ich das weiß, sondern dass Sie das wissen. Sie denken darüber nach, was Sie tun könnten, womit Sie als Black Jack durchkommen können. So ist es doch, nicht wahr?«

Geary zögerte. Er wollte das nicht zugeben, aber Rione war vermutlich die Einzige, der er die Wahrheit anvertrauen konnte. »Ja, diese Möglichkeit ist mir durch den Kopf gegangen.«

»Das war bislang nicht so, oder?«

»Nein.«

»Wie lange können Sie ihn noch zurückhalten, John Geary? Black Jack kann tun und lassen, was er will, weil er ein legendärer Held ist. Weil er als Befehlshaber über diese Flotte gewaltige Siege errungen hat.«

Geary warf ihr einen verärgerten Blick zu. »Wenn ich keine Siege erringe, dann stirbt diese Flotte.«

Sie nickte. »Und wenn Sie es tun, wird Ihr Ruf umso legendärer. Und Sie werden mächtiger. Jeder neue Sieg birgt eine Gefahr in sich, weil es für Black Jack so viel einfacher wäre. Er müsste nicht erst andere von dem überzeugen, was er möchte. Er kann es ihnen befehlen, und er kann diejenigen bestrafen, die ihm widersprechen. Regeln und Ehre müssten ihn nicht kümmern, er könnte seine eigenen Regeln aufstellen.«

Er ließ sich nach hinten sinken und schloss die Augen. »Was schlagen Sie vor, Madam Co-Präsidentin?«

»Ich weiß es nicht. Ich wünschte, ich wüsste es. Ich habe Angst um Sie. Niemand von uns hat sich so sehr unter Kontrolle, wie wir es uns gern einreden.«

Abrupt schlug er die Augen auf, als er dieses Eingeständnis von Schwäche vernahm. Rione schaute zur Seite, ihre Miene hatte etwas Verzagtes an sich. Dann aber sammelte sie sich und riss sich zusammen, was ihn an ein Kriegsschiff erinnerte, das seine Schilde verstärkte. Sie sah ihn mit kühlem Gesichtsausdruck an. »Was werden Sie tun, wenn es in diesen Minen nicht die Materialien gibt, die unsere Flotte benötigt?«

Er gestikulierte überzogen. »Dann begeben wir uns zur nächsten Mine. Wir brauchen dieses Zeugs. Es gefällt mir nicht, dass wir deswegen länger in diesem System bleiben müssen, aber wir können nicht zum nächsten Sprung ansetzen, ohne zuvor die Bestände der Hilfsschiffe aufzustocken. Selbst wenn alle bis heute produzierten Brennstoffzellen verteilt sind, werden alle Schiffe dennoch im Durchschnitt nur über gut siebzig Prozent Reserve verfügen, und das ist zu wenig für eine Flotte, die noch einen so langen Heimweg vor sich hat.«

»Ist das alles, was Ihnen zu schaffen macht?«

»Sie meinen, außer Ihnen?«, fragte er ohne Umschweife.

Sie hielt seinem Blick stand. »Ja.«

Aus jedem Syndik-Gefangenen würde er mehr herausholen als aus Victoria Rione, wenn die über ein Thema kein Wort verlieren wollte. Aus einem unerfindlichen Grund verzog sich sein Mund wie von selbst zu einem ironischen Lächeln. »Nein, es gibt noch etwas anderes.« Sein Blick kehrte zurück zu dem anderen Display, mit dem er sich beschäftigt hatte, bevor sie sein Quartier betrat.

»Und was?« Victoria Rione stand auf, kam herum und stellte sich neben ihn, dann beugte sie sich ein wenig nach vorn, um auf das gleiche Display sehen zu können. Ihr Kopf befand sich dicht neben seinem, ihr angenehmer Duft weckte Erinnerungen an die Stunden, die er in ihren Armen zugebracht hatte. Es war nicht die Art von Ablenkung, die ihm besonders behagte, nachdem sie sich wochenlang ohne irgendeine Erklärung von ihm ferngehalten hatte. Den Grund dafür war sie ihm bis jetzt schuldig geblieben. Natürlich hatten sie sich gegenseitig nichts versprochen, also hatte sie auch kein Versprechen gebrochen, dennoch kam es ihm genau so vor.

Er legte die Stirn in Falten und war auf Rione so wütend wie auf sich selbst. »Der Zustand meiner Schiffe bereitet mir Sorgen.«

Sie sah ihn lange an. »Es sind eigentlich die Verluste, die Ihnen vor allem zu schaffen machen«, erwiderte sie in sachlichem Tonfall. Sie wusste genauso wie Captain Desjani und ein paar andere, wie wenig Geary an den Verlust von Schiffen und ihren Besatzungen gewöhnt war. Vor hundert Jahren hatte man den Verlust eines einzelnen Schiffs als eine Tragödie betrachtet. In den Blutbädern, zu denen Schlachten seitdem verkommen waren, stellte der Verlust eines einzelnen Schiffs nichts Weltbewegendes mehr dar. Es war nur ein weiterer Name, der wieder zum Leben erwachte, wenn ein Ersatzschiff in aller Eile in Dienst gestellt wurde. Gearys Gefühle für diese Leute waren dagegen noch die gleichen wie vor hundert Jahren — einer Zeit, die für ihn durch den Kälteschlaf bedingt nur ein paar Monate her war.

»Natürlich machen mir die Verluste zu schaffen«, gab Geary knapp zurück und versuchte sein Temperament zu zügeln.

»Das spricht für Sie.« Rione setzte sich hin, das Gesicht der Liste mit den Schiffen zugewandt. »Ich fürchte mich nach wie vor vor dem Tag, an dem Black Jack solche Verluste einfach hinnimmt.«

»Black Jack führt diese Flotte nicht an, sondern immer noch ich.« Geary reagierte mit einem finsteren Blick, da es ihm missfiel, dass sie dieses Thema abermals zur Sprache brachte. »Black Jack hat keine Macht über mich. Ich kann nicht leugnen, dass er mich in Versuchung führen möchte. Es wäre alles viel einfacher, wenn ich mich einfach für diesen gottgleichen Helden halte, dessen Handeln immer gerechtfertigt ist, weil die lebenden Sterne es so wollen und weil unsere Vorfahren es absegnen. Aber das ist völliger Blödsinn, und das weiß ich auch.«

»Gut. Dann sollten Sie auch wissen, dass wir unter einem anderen Befehlshaber viel größere Verluste erlitten haben. Wollen Sie das aus meinem Mund hören? Seit Sancere habe ich nicht ein einziges Mal Ihre Kommandofähigkeiten infrage gestellt.«

Es war ihm nicht klar gewesen, doch es stimmte. »Danke. Ich wünschte, das würde etwas ändern.«

»Das sollte es, John Geary.«

Er schüttelte den Kopf. »Weil es auch viel schlimmer sein könnte? Schön. Mein Verstand kann so etwas akzeptieren, auch wenn mir das von den Gefühlen her nicht möglich ist. Aber darum geht es gar nicht. Wir können diese Verluste nicht auf Dauer durchhalten.« Geary zeigte auf die Anzeige seiner Schiffe und ihres jeweiligen Status. »Sehen Sie hier. Die Schlachtkreuzer, die dem Hinterhalt im Heimatsystem der Syndiks entkommen sind, wurden in sechs Divisionen umverteilt. Normalerweise sollte eine Division über sechs Schiffe verfügen. In diesen Divisionen gibt es jedoch nur je vier Schlachtkreuzer, bei der Siebten Division sind es sogar nur drei. Dreiundzwanzig Schlachtkreuzer haben den Hinterhalt überlebt. Die Repulse verloren wir, als wir aus dem Heimatsystem der Syndiks flohen.«

Er musste eine Pause einlegen. Verloren. Ein ganz einfaches Wort. Die Grabinschrift für ein Schiff, seine Crew und deren Commander, Gearys Großneffen. Ein Mann, der älter gewesen war als Geary selbst. Er schluckte, wusste, dass Rione ihn beobachtete, und fuhr fort: »Die Polaris und die Vanguard verloren wir bei Vidha, dann bei Ilion die Invincible und die Terrible. Fünf von dreiundzwanzig Schiffen, und wir sind noch immer weit von zu Hause entfernt. Und dabei sind noch nicht die schweren Schäden berücksichtigt, die die Schiffe von Tulevs Zweiter Schlachtkreuzerdivision bei Sancere erlitten haben und die zum Teil bis jetzt noch nicht repariert sind.«

Rione nickte. »Ich verstehe, was Sie meinen. Vor allem mit Blick auf die Dauntless. Für die Anstrengungen der Allianz in diesem Krieg ist es unverzichtbar, dass der Hypernet-Schlüssel in ihren Besitz gelangt.« Sie hielt kurz inne. »Wie viele Leute in dieser Flotte wissen, dass sich der Schlüssel auf der Dauntless befindet?«

»Ich weiß es nicht, aber wahrscheinlich zu viele.« Ein angeblicher Syndik-Überläufer hatte ihnen den Schlüssel geliefert, damit die Allianz-Flotte einen Überraschungsschlag gegen das Syndik-Heimatsystem führen konnte, um den Krieg mit einem einzigen Schachzug zu gewinnen. Für die unerbittlich aggressiven Führer der Allianz-Flotte war das einfach ein zu verlockendes Angebot gewesen. Die Syndiks wussten, sie würden den Köder schlucken, und erwarteten die Allianz-Flotte bereits mit einer übermächtigen eigenen Streitmacht. Desaster war noch ein zu harmloses Wort, um das Gemetzel zu beschreiben, doch wenigstens hatte dieser Rest der Flotte die Flucht antreten und bis jetzt überleben können. Die Syndiks mussten von Angst und Schrecken erfüllt sein, dass sich der Hypernet-Schlüssel auf einem der entkommenden Allianz-Schiffe befand. »Ich habe mich gefragt, warum die Syndiks sämtliche ranghöchsten Offiziere dieser Flotte ermordet haben, als die zu den Unterhandlungen erschienen. Es wäre verständlicher gewesen, wenn sie ein paar von ihnen am Leben gelassen hätten, um sie zu verhören.«

»Vielleicht haben sie das ja«, überlegte sie. »Videobilder lassen sich fälschen. Ich zweifle nicht daran, dass die meisten Offiziere, deren Ermordung wir mit ansahen, auch tatsächlich gestorben sind, was Sie zum ranghöchsten Offizier der Flotte machte. Aber es würde mich nicht überraschen, wenn man ein oder zwei von ihnen mit genau dieser Absicht überleben ließ.«

Womit die Syndiks vermutlich wussten, dass sich der Schlüssel an Bord der Dauntless befand und dieses Schiff um jeden Preis zerstört werden musste. »Das wird ja immer besser«, murmelte Geary sarkastisch.

»Wie bitte?«

»Oh, nichts. Ich führe nur gerade Selbstgespräche.«

Rione sah ihn verärgert an. »Wir sollten miteinander sprechen, nicht jeder mit sich selbst. Die Verluste der Schlachtkreuzer sind beunruhigend und tragisch. Allerdings haben wir kaum Schlachtschiffe verloren.«

»Stimmt.« Geary überflog die Namen. »Die Triumph bei Vidha, die Arrogant bei Kaliban.« Genau genommen war die Arrogant eines von drei Scout-Schlachtschiffen der Flotte gewesen, ein Mittelding zwischen einem Schweren Kreuzer und einem Schlachtschiff. Geary hatte eine Weile gebraucht, ehe er aufhörte, diesen Schiffstyp als Kreuzer anzusehen. Er fragte sich, welche kuriose bürokratische Laune seine Entstehung ausgelöst hatte, war ein solches Schiff doch zu klein, um als Schlachtschiff eingesetzt zu werden, während es für einen Schweren Kreuzer viel zu groß war. »Die Warrior, die Orion und die Majestic sind so erheblich beschädigt worden, dass es lange dauern wird, bis sie wieder voll einsatzfähig sind. Sofern wir das überhaupt allein bewerkstelligen können und sie nicht längst ein Fall für eine Schiffswerft sind.« Er musste nicht noch betonen, dass die nächste große Werft erst im Territorium der Allianz zu finden war. Die Flotte war auf jedes vorhandene Schlachtschiff angewiesen, um sicher nach Hause zu gelangen, aber es war nicht davon auszugehen, dass sie vor der Heimkehr die Schiffe wieder in einen voll funktionstüchtigen Zustand versetzen konnten.

Wieder nickte Rione. »Wie ich hörte, wurde die Warrior bei Vidha fast genauso schwer beschädigt wie die Invincible. Wäre es nicht klüger, die Warrior einfach aufzugeben und zu zerstören, so wie Sie es mit der Invincible gemacht haben?«

Riones Spione in der Flotte hatten sie offenbar auf dem Laufenden gehalten. Erneut verzog Geary das Gesicht. »Das Antriebssystem der Warrior wurde nicht so in Mitleidenschaft gezogen, wie das bei der Invincible der Fall gewesen war. Sie kann mit der Flotte mithalten, und so schnell gebe ich das Schiff nicht auf. Ich kann den Grund nicht erklären, aber es schadet der Moral mehr, wenn man ein Schiff selbst zerstört, als wenn das dem Feind im Gefecht gelingt. Außerdem behalte ich die Reparaturarbeiten ständig im Auge. Die Crew der Warrior arbeitet sich krumm und buckelig, um ihr Schiff wieder in Form zu bekommen. Wenn es hart auf hart kommt, dann würde ich nach dem momentanen Stand der Dinge eher die Majestic ausschlachten, um die Warrior und die Orion wieder auf Vordermann zu bringen. Die Orion macht Fortschritte, während sich die Reparaturen bei der Majestic in die Länge ziehen. Keines dieser Schiffe wird in naher Zukunft an vorderster Front kämpfen können. Alle drei Schiffe werden sich in der Nähe der Hilfsschiffe aufhalten müssen, was ihrem Stolz nicht zugute kommt.«

»Sie haben wenig Grund, auf sich stolz zu sein.« Riones Stimme hatte einen schroffen Tonfall angenommen. »Erst lassen sie diese Flotte im Stich, dann lassen sie ihre Kameraden bei Vidha im Stich…«

»Das ist mir bekannt«, unterbrach Geary sie, dessen eigene Stimme vor Wut ebenfalls rau klang. »Aber ich kann diese Schiffe und ihre Besatzungen nicht einfach abschreiben! Ich muss nicht nur die Schiffe, sondern auch die Besatzungen wieder aufbauen, doch dazu müssen diese Leute an sich glauben. Und dafür brauchen sie ihren Stolz.«

Rione saß schweigend da und lief im Gesicht rot an.

»Tut mir leid.«

»Ich habe es verdient«, gab sie zurück und schien vor allem auf sich selbst wütend zu sein. »Ich bin Politikerin, ich sollte wissen, wie wichtig es ist, was die Leute glauben.« Sie atmete tief und gleichmäßig durch, um sich zu beruhigen. »Mir ist bewusst, wie schmerzhaft es ist, ein Schiff von der Größe eines Schlachtkreuzers zu verlieren — oder auch jedes andere Schiff. Aber es sollte Sie doch trösten, dass Sie nicht in gleicher Zahl Kriegsschiffe verlieren.«

Er schüttelte den Kopf. »Nein. Wenn ich weiterhin Schlachtkreuzer verliere, werden die Verluste bei den Schlachtschiffen größer werden.«

Diesmal konnte Rione ihn nur verständnislos ansehen. »Wieso?«

»Weil die Schlachtkreuzer gewisse Aufgaben übernehmen«, erläuterte Geary. »Ein Schlachtkreuzer besitzt die Feuerkraft eines Schlachtschiffs, kann aber wie ein Schwerer Kreuzer beschleunigen, manövrieren und verzögern. Schilde und Panzerung reichen jedoch nicht an die von Kriegsschiffen heran, dafür sind sie schneller und wendiger. Dadurch eignen sich Schlachtkreuzer für bestimmte Aufgaben, bei denen Schnelligkeit und Feuerkraft gefragt sind. Aber wenn ich zu viele Schlachtkreuzer verliere, müssen Schlachtschiffe diese Aufgaben übernehmen, für die sie allerdings zu schwerfällig sind. Sie werden den Schlachtkreuzern der Syndiks zum Opfer fallen. Ein Schlachtschiff kann sich zwar gegen einen, aber nicht gegen vier oder mehr Schlachtkreuzer zur Wehr setzen, die von leichteren Schiffen unterstützt werden. Oder ich setze Schwere Kreuzer ein, die dann noch schwerere Verluste hinnehmen müssen. Wenn sie erst einmal alle zerstört sind, bleibt mir nichts anderes übrig, als doch auf die Schlachtschiffe zurückzugreifen.«

Rione zog die Stirn in Falten, als sie endlich verstand. »Wenn wir Kriegsschiffe für Aufgaben einsetzen, für die sie nicht vorgesehen sind, werden unsere Verluste noch weiter zunehmen.«

»Richtig.« Geary deutete auf das Display. »Und wenn sich die Schlachtschiffe und Schlachtkreuzer völlig zurückhalten, werden die Leichten Kreuzer und Zerstörer vom Feind in Stücke geschossen. Es ist alles miteinander verflochten. Für verlorene Einheiten bekomme ich keinen Ersatz, also muss ich vermeiden, etwas von dem zu opfern, was ich habe.« Er stierte auf die Namen der Schiffe, während vor seinem geistigen Auge das Bild der Überreste der Terrible entstand, nachdem sie bei Ilion mit einem Schlachtkreuzer der Syndiks kollidiert war. Oder besser gesagt, ein Bild von dem Lichtblitz, der von beiden Schiffen übrig blieb, als sie mit einem Bruchteil der Lichtgeschwindigkeit aufeinandertrafen. Nicht nur das Schiff, auch seine gesamte Besatzung war innerhalb eines einzigen Augenblicks ausgelöscht worden. »Die Vorfahren mögen mir beistehen«, flüsterte er.

Geary spürte Riones Hand für einen langen Moment Trost spendend auf seiner Schulter ruhen, doch dann entzog sie sie ihm wieder. »Es tut mir leid.«

»Victoria…«

»Nein.« Sie stand abrupt auf. »Victoria ist nicht hier. Co-Präsidentin Rione spricht ihr Beileid aus und bietet ihre Unterstützung an. Es tut mir leid, Captain Geary.« Bevor er etwas sagen konnte, war sie bereits aus seinem Quartier gestürmt.


* * *

»Was haben Sie erfahren?«, fragte Geary, während er durch die nur von einer Seite transparente Scheibe in den Verhörraum schaute, wo der Captain des von ihnen zerstörten Syndik-Handelsschiffs saß. Obwohl es in dem Abteil recht kühl war, schwitzte der Mann vor Angst. Anzeigen und Displays rings um das Fenster gaben Auskunft über die körperliche Verfassung des Syndiks und über die Denkmuster in seinem Gehirn. Sollte der Syndik lügen, würde das bei den Hirnscans sofort deutlich erkennbar werden. Wenn man jemanden mit dieser Tatsache konfrontierte, konnte das genügen, um ihn zum Reden zu bringen.

Der Geheimdienstoffizier Lieutenant Iger verzog den Mund. »Nicht viel. Die Syndiks weihen ihre Zivilbevölkerung nicht in die Details ihrer Militäroperationen oder in ihre Verluste ein.«

»Hört sich irgendwie nach der Allianz an, wie?«, gab Geary ironisch zurück.

»Nun… das stimmt, Sir«, räumte der Lieutenant ein. »Aber es ist eigentlich viel schlimmer, denn die Syndiks gestatten keine unabhängige Berichterstattung und keine öffentlichen Diskussionen. Daher ist es für ihre Bürger schwieriger herauszufinden, was tatsächlich los ist. Was die Handelscrew uns sagen kann, sind die Dinge, die die Syndik-Propaganda ihnen eingetrichtert hat. Der Sieg steht kurz bevor, die Verluste der Syndiks sind nur gering, und unsere Flotte wurde komplett zerstört.«

»Dass Letzteres nicht stimmt, weiß er jetzt schon mal«, stellte Geary fest. »Woher kam sein Schiff?«

»Von Tikana. Einem weiteren System, das vom Hypernet übergangen worden ist. Sein Schiff erledigte kleinere Aufträge für ein Syndik-Unternehmen, das von den wirtschaftlichen Überresten lebt, mit denen sich die großen Konzerne gar nicht erst abgeben.«

»Also keine aktuellen Neuigkeiten oder Beobachtungen?«

»Nein, Sir.« Lieutenant Iger deutete auf den Captain des Handelsschiffs. »Er ist zu Tode erschrocken, aber er scheint trotzdem nicht in der Lage zu sein, uns irgendetwas Brauchbares zu erzählen.«

»Dann darf ich annehmen, dass ihm auch keine Gerüchte über unsere Flotte zu Ohren gekommen sind.«

»Richtig, Sir«, antwortete der Geheimdienstoffizier. »Er sagt die Wahrheit, wenn er leugnet, irgendetwas in der Richtung gehört zu haben. Als wir ihm die Namen von Systemen wie Corvus oder Sancere nannten, in denen wir uns aufgehalten haben, waren ihm diese Namen zwar ein Begriff, doch weiter ergab sich daraus nichts.«

Geary überlegte einen Moment lang, ob er sich wirklich mit diesem Syndik unterhalten sollte, entschied sich dann aber dafür. »Ich gehe rein. Wie heißt er?«

»Reynad Ybarra, Sir. Seine Heimatwelt ist Meddak.«

»Danke.« Geary durchschritt die drei Schleusen, die in den Verhörraum führten. Als er eintrat, sah er, wie der Syndik-Captain ihn anstarrte. Der Mann schien zu viel Angst zu haben, um sich von der Stelle zu rühren, aber selbst wenn er einen Angriff hätte versuchen wollen, waren doch so viele Betäubungswaffen auf ihn gerichtet, dass es ihm nicht einmal möglich gewesen wäre, sich Geary auch nur einen Schritt zu nähern. »Ich begrüße Sie im Namen der Allianz, Captain Ybarra«, erklärte Geary förmlich.

Der Syndik schwieg und zeigte keine andere Regung als die, dass er Geary nervös ansah.

»Wie läuft der Krieg?«, fragte Geary.

Diesmal kam eine Reaktion, und der Captain begann etwas zu zitieren, was er schon so oft gehört haben musste, dass er die Worte auswendig kannte: »Die Streitmächte der Syndikatwelten erringen einen Sieg nach dem anderen. Unser Sieg über die Aggressoren der Allianz ist eine Gewissheit.«

Geary setzte sich ihm gegenüber hin. »Haben Sie sich schon mal die Frage gestellt, wieso Sie den Krieg noch immer nicht gewonnen haben, wenn Ihre Streitmächte seit hundert Jahren einen Sieg nach dem anderen erringen?« Der Mann schluckte, sagte aber nichts. »Die Allianz war nicht der Aggressor, müssen Sie wissen. Ich weiß es, weil ich dabei war.« Der Syndik riss ungläubig und ängstlich zugleich die Augen auf. »Sicherlich hat man Ihnen bereits gesagt, dass ich Captain John Geary bin.« Er wurde noch etwas ängstlicher. »Möchten Sie, dass dieser Krieg ein Ende nimmt?« Noch größere Angst. Dies Thema war dem Mann gar nicht geheuer. Zweifellos konnte man einem Syndik-Bürger Verrat vorwerfen, wenn er nur über den Frieden redete.

Wie konnte er den Mann dazu bringen, den Mund aufzumachen? Geary griff zu einem erprobten Trick. »Haben Sie noch Familie auf Meddak?«

Der Syndik zögerte, als überlege er, ob er die Frage bedenkenlos beantworten konnte. Schließlich nickte er.

»Alle wohlauf?«

Das brachte ihn endlich zum Reden. »Nur meine Eltern. Meine Schwester starb, als Ikoni bombardiert wurde«, brachte der Syndik heraus. »Und mein Bruder starb vor fünf Jahren, als sein Schiff in einem Gefecht zerstört wurde.«

Geary verzog den Mund. Ein Bruder und eine Schwester im Krieg gefallen. Ein viel zu häufiges Schicksal in einem Krieg, der von blutigen Schlachten und von Bombardements ziviler Ziele geprägt war. »Das tut mir leid. Mögen sie in den Armen ihrer Vorfahren Ruhe finden.« Der Syndik reagierte mit Ratlosigkeit auf diese Beileidsbekundung. »Ich werde Ihnen etwas erzählen, und danach werden wir Sie und Ihre Crew wahrscheinlich freilassen. Ich will mir nicht die Arbeit machen, Ihnen zu erklären, dass Ihre Anführer Sie belogen haben, denn das belegt schon die Tatsache, dass Sie sich momentan auf einem Schiff befinden, das angeblich längst zerstört wurde. Nein, ich möchte Ihnen stattdessen zu verstehen geben, dass wir diesem Krieg auch ein Ende setzen wollen. Er hat schon zu viele Leben gefordert, ohne dass diese Opfer irgendetwas bewirken. Ihre Heimat ist vor der mir unterstellten Flotte sicher. Reisen Sie in ein beliebiges System, das wir auf unserem Flug hinter uns zurückgelassen haben, und Sie werden sehen, dass nur militärische Ziele oder solche Ziele zerstört wurden, die mit dem Militär zu tun haben. Die Allianz wird so lange und so erbittert kämpfen, wie es nötig ist, um die Sicherheit unserer eigenen Welten zu gewährleisten. Aber wir werden ehrbar kämpfen. Wenn Sie wollen, können Sie das jedem erzählen, dem Sie begegnen.«

Dann stand Geary auf und verließ den Raum, während der Syndik ihm nachblickte. Zurück im Beobachtungsraum fand er den Offizier vor, wie der sich bereits mit den Anzeigen beschäftigte. »Und?«

»Er glaubt Ihnen nicht«, sagte der Lieutenant.

»Das hatte ich auch nicht anders erwartet. Glauben Sie, wir können aus einem von ihnen noch irgendetwas Nützliches herausholen?«

»Nein, Sir.«

»Dann setzen Sie sie wieder in ihre Rettungskapsel und schicken Sie sie irgendwohin, wo sie in Sicherheit sind.«

»Jawohl, Sir.« Lieutenant Iger zögerte. »Captain Geary, das Personal, das sich die Rettungskapsel angesehen hat, meldet, dass billige Materialien und nachlässige Wartung für einige gravierende Systemausfälle gesorgt haben.«

»Das haben Sie überprüft?«, fragte er beeindruckt.

Der Lieutenant grinste. »Ja, Sir. Dieses Schiff rangierte wirtschaftlich ziemlich tief unten, aber sein Zustand verrät uns etwas über die Wirtschaftslage der Syndiks insgesamt.«

Geary nickte. »Ich kann mich nicht daran erinnern, dass die Rettungskapseln des Syndik-Militärs in einem ähnlich schlechten Zustand waren.«

»Stimmt, Sir«, bestätigte der Lieutenant. »Das Militär hat in jeglicher Hinsicht Priorität. Nur die Führungsebene wird noch einmal bevorzugter behandelt, wenn sie etwas will.«

»Das sollte mich eigentlich nicht überraschen. Können wir die defekten Systeme dieser Rettungskapsel reparieren?«

»Ich glaube schon, Sir.«

»Dann möchte ich, dass das erledigt wird, bevor die Kapsel wieder startet«, ordnete Geary an. »Die sollen wissen, dass sie allein durch unsere Hilfe in Sicherheit gelangen konnten.«

Der Geheimdienstoffizier salutierte und demonstrierte dabei, wie gut er die respektvolle Geste beherrschte, die Geary in der Flotte wieder eingeführt hatte. »Aye, aye, Sir. Aber diese Handelscrew besteht nur aus ein paar Leuten. Selbst wenn die Ihnen dankbar sind, wird uns das nicht weiterhelfen.«

»Vielleicht nicht.« Geary wandte sich zum Gehen, blieb dann jedoch noch mal stehen und drehte sich zu dem Mann um. »Aber wenn viele kleine Gruppen einsehen, dass wir nicht die Bösen sind, kann das durchaus etwas in Gang setzen. Möglicherweise können wir die Syndik-Führung ja ein wenig aus dem Gleichgewicht bringen. Außerdem gefällt es den Vorfahren manchmal, dass wir etwas für andere tun, ohne davon einen Nutzen für uns selbst zu erwarten. Meinen Sie nicht auch?«


* * *

Geary war zurück auf der Brücke der Dauntless und betrachtete die Bilder der Syndik-Mine, während seine Flotte sich mit 0,2 Licht ihrem Ziel näherte. Sie würden das Tempo der Flotte noch weiter reduzieren müssen, damit die Shuttles auf Landegeschwindigkeit verzögern konnten und nicht über ihr Ziel hinausschossen. Gleich neben diesem Bild zeigte ein virtuelles Fenster Colonel Carabali, die mit ernster Miene dreinschaute. »Der Landetrupp ist bereit, Sir.«

»Danke, Colonel.« Geary musterte Carabali eingehend. »Wollen Sie Ihre Leute begleiten?«

Carabali zögerte, da sein Angebot allzu verlockend war. »Ich sollte auf dem Schiff bleiben, Sir, um den Kampf vom Kontrollzentrum aus zu koordinieren.«

Schon eigenartig, dachte Geary. Wenn ein Flottenoffizier befördert wurde, änderte das wenig an den Risiken, denen er im Gefecht ausgesetzt war. Selbst der ranghöchste Admiral war genauso in Gefahr wie der einfachste Matrose, wenn das Schiff vom Feind beschossen wurde. Bei den Marines war es dagegen ganz anders. Wenn eine Eingreiftruppe auf einem Planeten oder einem anderen Schiff zum Einsatz kam, mussten die ranghöchsten Befehlshaber die nötige Disziplin besitzen, nicht persönlich ins Gefecht zu ziehen, sondern den Verlauf des Kampfs zu überwachen. Es war merkwürdig, dass im Fall eines Marine-Commanders mehr Disziplin und in gewisser Weise auch mehr Mut erforderlich waren, um nicht in die Schlacht zu ziehen. Sich dem Tod zu stellen, konnte leichter sein, als seine Truppen sterben zu sehen, während man selbst aus sicherer Entfernung zuschaute.

Dennoch entgegnete er nur: »Also gut, Colonel. Soll ich mich noch an Ihre Leute wenden, bevor die sich auf den Weg machen?«

Wieder zögerte Carabali, diesmal aber aus einem anderen Grund. »Sie stehen kurz vor dem Start, Sir. Jede Ablenkung wäre zu diesem Zeitpunkt möglicherweise unklug.«

Fast hätte Geary gelacht. Eine Ablenkung. Wenn das das Schlimmste war, was er an Problemen verursachen konnte. »Also gut, Colonel. Falls Sie irgendetwas benötigen, lassen Sie es mich sofort wissen. Ansonsten werde ich Sie in Ruhe lassen, damit Sie sich Ihrem Gefecht widmen können.«

»Danke, Sir«, erwiderte Carabali grinsend und salutierte präzise. Anders als der Rest der Flotte hatten die Marines den Salut nie aufgegeben, also musste auch keiner von ihnen die Geste erst erlernen. »Ich lasse es Sie wissen, wenn die Einrichtung in unserer Hand ist, Captain Geary.«

Das Bild des Colonels verschwand, und Geary lehnte sich seufzend in seinem Sessel nach hinten. In Augenblicken wie diesen fühlte er sich ausgesprochen hilflos. Die Schiffe waren mit der richtigen Geschwindigkeit auf Kurs, die Marines warteten einsatzbereit auf das Startsignal, und nun konnte er nur noch dasitzen, abwarten und darauf hoffen, dass nichts schiefging. Commander einer ganzen Flotte, und trotzdem bin ich den Gesetzen von Zeit und Raum nach wie vor unterworfen. Zu meiner Zeit kannte ich einige Befehlshaber, die glaubten, über diesen Dingen zu stehen, aber ich schätze, die haben in diesem Krieg nicht lange überlebt. Ich dagegen trieb im Kälteschlaf durchs All und wurde von der Allianz zu einer mythologischen Gestalt gemacht. Ich frage mich, wer von uns sich als der Glücklichere bezeichnen kann.

»Niemand verlässt die Mine«, stellte Captain Desjani fest.

Geary richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das Display und nickte. »Keine Rettungskapseln. Und sogar der alte Kahn dort rührt sich nicht von der Stelle. Ganz gleich, wer sich da aufhält, er will offenbar lieber bleiben, anstatt die Anlage zu evakuieren.«

»Vermutlich fürchten sie, dass wir auf alles feuern, was zu entkommen versucht«, warf Desjani in einem Tonfall ein, der Geary verriet, dass ein solches Gebaren an der Tagesordnung gewesen war, bevor er das Kommando übernommen hatte.

Er verkniff sich die Frage, was daran ehrbar sein sollte, wenn man auf wehrlose Rettungskapseln feuerte. Praktiken, die Geary als schlichtweg abscheulich empfand, waren in einem Jahrhundert Krieg an der Tagesordnung gewesen, da die Syndiks zu immer schlimmeren Grausamkeiten gegriffen hatten, auf die die Allianz dann entsprechend reagierte. Mit der Zeit war vieles in Vergessenheit geraten, da die Nachfahren an die Stelle jener Offiziere und Matrosen rückten, die Geary noch gekannt hatte. Erst als der angebetete Black Jack Geary erwachte, wurden die Menschen der Gegenwart mit den Dingen wieder vertraut gemacht, an die die Menschen der Vergangenheit geglaubt hatten. Desjani war mit als Erster bewusst geworden, was der Allianz abhandengekommen war, als sie versuchte, sich so unmenschlich zu geben wie die Syndiks. Daher wäre es überflüssig gewesen, sie abermals darauf hinzuweisen. Stattdessen nickte er nur wieder. »Oder sie haben unser Bremsmanöver bemerkt und erkannt, dass wir diese Einrichtung nicht zerstören, sondern einnehmen wollen. Allerdings werden sie wohl nicht ernsthaft glauben, unseren Angriff abwehren zu können.«

»Das bestimmt nicht«, pflichtete Desjani ihm bei. »Aber sie könnten uns Verluste zufügen und uns dazu bringen, dass wir langsamer vorankommen. Die Syndik-Führer würden die Minenarbeiter dafür opfern.«

»O ja, das würden sie.« Beispiele dafür hatten sie in fast jedem System beobachten können, durch das sie geflogen waren. Die Syndiks setzten sogar ganze Welten aufs Spiel, nur um eine Gelegenheit zu bekommen, der fliehenden Allianz-Flotte Verluste zuzufügen. Wieder sah er sich das Bild der Einrichtung an. »Da verlaufen Maglev-Schienen für den Erztransport.«

Desjani nickte. »Wenn wir die aus dieser Entfernung zerschießen, riskieren wir, die Vorräte zu treffen.«

»Wie stehen die Chancen, dass die Syndiks daraus Waffen machen, die sie gegen uns richten können?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Versuchen könnten sie das. Aber wir würden es sehen, wenn sie die Schienen ausrichten, um unsere Schiffe oder Shuttles anzuvisieren.«

Geary nickte und sah nach seinen beiden verbliebenen Scout-Schlachtschiffen Exemplar und Braveheart, die soeben verzögerten, um über der Einrichtung in Position zu gehen. Dabei passten sie ihren Kurs und ihre Geschwindigkeit exakt an die Anlage an, damit sie aus nächster Nähe mit Höllenspeeren das Feuer eröffnen konnten. Rein theoretisch konnte ein kleines kinetisches Geschoss so zielgenau abgefeuert werden, dass es in einem stationären Orbit auch ein kleines Ziel traf, doch Geary wollte seinen Vorrat an jenen Projektilen schonen. Außerdem hielt er lieber an der alten Theorie fest, dass man ein Ziel umso genauer traf, je näher man ihm war. Und es gab auch gar keinen Grund, zu viele Waffen für dieses Ziel zu vergeuden. Höllenspeere würden genau das richtige Mittel sein.

Er hatte herausfinden müssen, dass die neue Theorie nach einem Jahrhundert Krieg in erster Linie darin bestand, große kinetische Projektile einzusetzen und nicht nur das eigentliche Ziel, sondern auch noch einen Großteil der Umgebung zu zerstören — ohne Rücksicht darauf, ob sich dort Schulen, Krankenhäuser oder Wohnhäuser befanden. Schließlich gehörte das alles ja dem Feind. Allerdings hatte Geary nicht die Absicht, sich jemals dieser Logik anzuschließen.

Keines der Scout-Schlachtschiffe hatte bislang das Feuer eröffnet, und auch das Ziel verhielt sich immer noch ruhig. Aber sie würden dicht über der Oberfläche sein, sobald die Shuttles mit den Marines an Bord zur Landung ansetzten.

»Eingreiftruppe startet«, meldete ein Wachhabender.

Ein Dutzend Shuttles löste sich von ihren Schiffen und nahm direkten Kurs auf die Bergbau-Einrichtung.

»Warum nur ein Dutzend?«, wollte Co-Präsidentin Rione wissen, die auf ihrem Platz hinter Geary saß. »Es ist untypisch für Colonel Carabali, dass sie nicht eine möglichst große Streitmacht einsetzt.«

Wollte sie damit andeuten, Geary könnte Carabali Vorschriften gemacht haben, wie viele Leute sie einsetzen durfte? Er wandte sich zu ihr um. »Das ist eine kleine Einrichtung, Madam Co-Präsidentin. Der Platz reicht nicht aus, um mehr Shuttles dort landen zu lassen.«

Als er sich wieder nach vorn drehte, bemerkte er Captain Desjanis finstere Miene. Offenbar hatte sie sich über Riones Frage geärgert, doch als sie etwas sagte, klang ihre Stimme ruhig. »Bewegungen rund um die Maglevs.«

Geary konzentrierte sich auf die Schienen der Magnetschwebebahn, mit der Erz, Loren und anderes Material innerhalb der Einrichtung transportiert wurden. Die das gesamte Spektrum umfassenden optischen Sensoren der Allianz-Schiffe waren so empfindlich, dass sich mit ihnen sogar kleine Ziele am anderen Ende eines Sonnensystems verfolgen ließen. Aus dieser geringen Entfernung hätte man notfalls einzelne Staubkörner zählen können. Ein Ziel von der Größe eines Menschen war umso müheloser auszumachen.

Tatsächlich hatte sich eine Gruppe Personen am Ende einer der Schienen versammelt und hob sie an, um sie auf die Braveheart und die Exemplar dicht über ihnen zu richten. »Idioten«, murmelte Geary unwillkürlich.

Desjani nickte. »Die Exemplar feuert Höllenspeere ab.«

Für ein Feuerleitsystem, das innerhalb von Sekundenbruchteilen Ziele treffen konnte, die Tausende Kilometer entfernt waren, stellte es keine große Herausforderung dar, einen exakten Treffer zu landen, wenn das Ziel zum Greifen nah war und sich in Relation zum Schiff fast in Ruheposition befand. Auf der visuellen Darstellung konnte Geary nicht den geladenen Partikelstrahl sehen, der sich durch das Maglev-Segment fraß, aber er sah die Folgen des Treffers. Der Abschnitt der Schienenbahn wurde zerschmettert, und die Wucht der ihnen entgegengeschleuderten Trümmerstücke warf die Arbeiter zu Boden. In der Oberfläche des Mondes klaffte ein kreisrundes Loch, das von dem Höllenspeer geschaffen worden war, dem das unbedeutende Hindernis kaum etwas von seiner Durchschlagkraft hatte nehmen können.

Dann wurde ein weiterer Abschnitt der Maglev-Strecke zerstört, schließlich ein dritter. Fluchend schlug Geary auf seine Komm-Kontrollen. »Exemplar, Braveheart, hier spricht Captain Geary. Feuern Sie nur auf festgestellte Bedrohungen.«

»Sir, die wollen die Maglevs als Waffen nutzen«, wandte die Exemplar ein.

Ehe er etwas erwiderte, überzeugte sich Geary davon, ob das Bombardement eingestellt worden war. Erleichtert stellte er fest, dass sie damit aufgehört hatten. »Die haben es versucht, und Sie hervorragende Arbeit geleistet, sie zu stoppen. Aber unsere Leute könnten den Rest dieser Linie noch benötigen.« Er ließ eine kurze Pause folgen. »Übrigens gut gemacht. Ihre Waffen sind äußerst präzise.«

»Danke, Sir. Habe verstanden. Die Exemplar wird den Beschuss auf Bedrohungen konzentrieren.«

Gut so. Geary rief den Flottenstatus auf, um Informationen über den Befehlshaber der Exemplar zu erhalten. Commander Vendig. Sehr gute Beurteilungen. Empfohlen als Commander eines Schlachtkreuzers. Wieso nicht ein Schlachtschiff? Geary stutzte, als ihm zum ersten Mal bewusst wurde, dass seine besten Commander allesamt Captain eines Schlachtkreuzers waren. Umgekehrt waren es vor allem die Schlachtschiff-Befehlshaber, die ihm den meisten Arger bereiteten, darunter solche Störenfriede wie Captain Faresa und Captain Numos und neuerdings auch Captain Casia. Mir war dieses Verhaltensmuster gar nicht aufgefallen, aber vielleicht ist für die Offiziere der heutigen Flotte offensichtlich, was dahintersteckte. Zu meiner Zeit hatte es nicht so viele Schlachtschiffe gegeben, und das Kommando über eines war immer das gewesen, was jeder gute und ehrgeizige Offizier anstrebte. Etwas muss in den letzten hundert Jahren passiert sein, was diese Veränderung ausgelöst hat. Ich sollte besser zusehen, das herauszufinden.

Die Shuttles näherten sich jetzt der Bergbaueinrichtung und schossen wie Greifvögel auf ihre Ziele herab. Die Maschinen arbeiteten auf Hochtouren, um ihre Geschwindigkeit so schnell wie möglich an die der Einrichtung anzupassen. Geary wechselte immer wieder zwischen dem Display, das die gesamte, über mehrere Lichtsekunden verteilte Flotte zeigte, der Ausschnittvergrößerung rund um die Anlage und der taktischen Anzeige hin und her, die die Marines benutzen würden. Symbole für die feindlichen Streitkräfte leuchteten auf dem taktischen Display auf, sobald einzelne Verteidiger entdeckt wurden, die sich zwischen der Ausrüstung und den Gebäuden versteckt hielten.

Geary markierte eines der Gefahrensymbole, ein Standbild wurde eingeblendet, begleitet von einem erläuternden Text. Nahezu idiotensicher, dachte Geary und staunte, wie simpel dieses System doch war. Dann aber stutzte er, da sich weitere Fenster öffneten, so schnell, dass er ihnen nicht mehr folgen konnte. Jedes von ihnen überschüttete ihn mit einer Fülle von Informationen und Details zur geschätzten feindlichen Bewaffnung, zum Energieverbrauch und zu Energiesystemen, Panzerung und Dutzenden anderen Punkten, für die ein Flottencommander keinerlei Verwendung hatte. Aber irgendjemand hatte die Einstellungen so vorgenommen, dass er jetzt mit nutzlosen Daten überschüttet wurde. Es gibt immer Idioten, die einen Weg finden, wie sie doch noch was verbocken können.

Fluchend machte sich Geary daran, ein Fenster nach dem anderen zu schließen, bis er endlich wieder das Bild betrachten und eine Hand voll wichtiger Daten lesen konnte. Er sah sich die Aufnahme genauer an, die etwas zeigte, das nach einem Schutzanzug, aber nicht nach einem Panzeranzug aussah. Der begleitende Text bestätigte das und führte zudem aus, das Erscheinungsbild entspreche dem eines seit Langem überholten Standardschutzanzugs der Syndiks. Bei der Waffe handelte es sich dem Text zufolge um eine Art Impulsgewehr, das zu leistungsschwach war, um einem Marine in Gefechtspanzerung gefährlich zu werden. Vermutlich, so die Erläuterungen, handele es sich um eine Waffe für internes Sicherheitspersonal. Internes Sicherheitspersonal? In einer so kleinen Einrichtung? Ach ja, sie benötigten solche Leute sicher, um die Syndik-Bürger auf dieser Anlage in Schach zu halten. Angesichts der Maglev-Schienen wäre es nicht ratsam, irgendwelchen Rebellen zu erlauben, eine Einrichtung in ihre Gewalt zu bringen, mit der man Felsbrocken auf den bewohnten Planeten in diesem System abfeuern konnte.

Er überprüfte die übrigen Gefahrensymbole und stellte fest, dass sie alle vor den gleichen Bedrohungen warnten. »Keine richtigen Soldaten. Internes Sicherheitspersonal und Mitarbeiter der Einrichtung, denen man eine Waffe in die Hand gedrückt und die man dann in den Kampf geschickt hat. Welchen Sinn soll das denn ergeben?«

Desjani brütete über dem Bild, das auch auf ihrem Display zu sehen war. »Sie können nur hoffen, dass es ihnen gelingt, unser Vorrücken allmählich zu verzögern. Das muss ihre Mission sein, sofern ihr Commander nicht völlig größenwahnsinnig geworden ist.«

Unser Vorrücken verlangsamen. Wieder schaute Geary auf die taktische Darstellung und fragte sich, was er da hätte sehen sollen, was er aber nicht sah. Dann wurde es ihm auf einmal bewusst. »Die sabotieren überhaupt nichts. Warum wurde nichts in die Luft gejagt? Nicht mal die Maschinen schalten sich ab, was zwangsläufig der Fall wäre, wenn sie ihre Betriebssysteme löschten.«

»Eine Falle?«, überlegte Desjani.

»Das wäre nicht das erste Mal.« Geary tippte auf seinen Schirm, um Carabali zu rufen. »Colonel, das sieht nach einer Falle aus.«

Carabali nickte besorgt. »Ja, Sir. Es sieht ganz danach aus. Meine Leute haben den Befehl, nach allem zu suchen, was uns zum Verhängnis werden könnte. Es sollte auch viele kleine Schäden geben, selbst wenn diese Anlage laut meiner Experten nicht über die Mittel verfügen dürfte, um eine große Explosion herbeizuführen. Erst recht in der kurzen Vorwarnzeit, die ihnen nur geblieben ist.«

»Das scheint Sie allerdings nicht sehr zu beruhigen, Colonel.«

Sie lächelte flüchtig und völlig humorlos. »Nein, Sir. Wenn Sie nichts dagegen haben, Sir, möchte ich mich wieder meinen Leuten widmen.«

»Ja, natürlich, Colonel. Verzeihen Sie.« Geary versuchte sich zu entspannen, war aber wütend auf sich selbst, weil er gegen eine seiner wichtigsten Regeln verstoßen hatte, indem er einen Offizier aufhielt, der eigentlich alle Hände voll zu tun hatte, die von Geary erteilten Befehle auszuführen.

»Admiral Bloch hatte den Commander der Marines immer auf seinem Display«, ließ Desjani ihn mit gedämpfter Stimme wissen. »Der Admiral gab gern Kommentare und Vorschläge zum Besten, und natürlich wollte er jede Frage sofort beantwortet haben.«

»Sie machen Scherze.«

Desjani schüttelte den Kopf.

Geary lachte kurz auf. »Wenigstens bin ich nicht ganz so schlimm.«

»Ich fand, Sie sollten wissen, dass sich Colonel Carabali vermutlich gar nicht so sehr über die Art ärgert, wie Sie das Kommando handhaben, Sir.«

Was Captain Desjani anging, konnte er ohnehin gar nichts verkehrt machen. Dennoch schauderte ihm selbst bei dem Gedanken, unter einem Commander zu dienen, der einen während eines Einsatzes ständig beobachtete und der beachtet werden wollte, obwohl es nötig war, sich voll und ganz auf das Gefecht zu konzentrieren.

Die Shuttles glitten in den Landeanflug, die Hangartüren öffneten sich, und die Marines in ihrer Gefechtsausrüstung rollten sich nach draußen. Die Shuttles flogen währenddessen langsam weiter, damit die Bodentruppen verteilt wurden und keine Ansammlung bildeten, die ein leichtes Ziel bot. Zwölf Shuttles setzten zwölf Reihen Marines ab, dann beschleunigten sie und gewannen wieder an Höhe. »Das ist ja bestens gelaufen«, meinte Geary. »Waren die Flugbahnen automatisch gesteuert?«

Desjani legte die Stirn in Falten und gab einem Wachhabenden ein Zeichen, dann wartete sie auf die Antwort. »Nein, Sir. Die Shuttle-Piloten benutzen lieber die persönliche Kontrolle. Die Marines haben mit ihnen eine Abmachung getroffen: Solange die Shuttle-Piloten gute Arbeit leisten, lassen die Marines sie ihre Vögel selbst fliegen.«

»Eine vernünftige Vereinbarung. Und wenn ein Pilot versagt, dann verlangen die Marines von ihm, beim nächsten Mal den Landeanflug von den automatischen Kontrollen durchführen zu lassen?«

»Ahm… ja, Sir«, bestätigte der Wachhabende. »Nachdem jeder Marine, der den fehlgeschlagenen Landeanflug überlebt hat, sich den Piloten vorgeknöpft und ihn grün und blau geschlagen hat. Nicht, dass jemals einer von ihnen dabei erwischt worden wäre.«

»Natürlich nicht«, stimmte Geary ihm zu und musste sich ein Lächeln verkneifen. Die Marines rückten in die Anlage vor. Sie liefen geduckt von einer Deckung zur nächsten und bewegten sich in Gruppen, um sich gegenseitig Feuerschutz zu geben.

Keine dieser Vorsichtsmaßnahmen schien erforderlich zu sein. Geary beobachtete mit wachsendem Unbehagen das Display, auf dem zu sehen war, dass die Feinde sich schneller zurückzogen, als die Marines vorrückten. Die ersten Verteidiger setzten sich bereits in Minenschächte ab, von denen die Mondoberfläche übersät war. »Was gibt denn das?«

Im nächsten Moment meldete sich Colonel Carabali. »Captain Geary, die Verteidiger versuchen gar nicht erst, ihre Positionen zu halten. Sie ziehen sich in Minenschächte zurück.«

»Das ist mir auch gerade aufgefallen. Irgendeine Ahnung, warum sie nicht kämpfen?«

»Sir, ich würde sagen, sie wollen die Einrichtung evakuieren, bevor etwas passiert. Wir hatten ja bereits überlegt, dass es sich um eine Falle handeln könnte.«

Die Verteidiger ziehen sich aus dem Sprenggebiet zurück? »Wozu würden Sie raten, Colonel?«

»Sir, so ungern ich das auch tun möchte, glaube ich, wir müssen den Rückzug antreten und diesen Steinbrocken Atom für Atom scannen, bis wir finden, was die Syndiks hier für uns vorbereitet haben.«

Geary zögerte. Wie sollten sie ihren Weiterflug so lange unterbrechen, bis das erledigt war? Die Flotte würde noch langsamer werden müssen, was noch mehr Treibstoffreserven kostete. Aber er konnte die Marines nicht in eine Situation schicken, die mit jeder Sekunde mehr nach einer tödlichen Falle aussah. »Colonel…«

Plötzlich ertönte hinter Geary eine energische Stimme. »Das ist ein Bluff.« Er drehte sich zu Co-Präsidentin Rione um, die auf ihrem Platz nach vorn gebeugt saß. »Pokert denn keiner von Ihnen? Die Syndiks haben eine Situation geschaffen, die nach einer Falle aussieht. Aber sie haben bislang keinen einzigen Beweis erbracht, dass sie in der Lage sind, die gesamte Anlage zu sprengen. Ganz im Gegenteil, sie lassen alles völlig unversehrt zurück. Wenn wir die Flucht ergreifen, dann haben die ihre Einrichtung gerettet, und wir haben nicht bekommen, wofür wir hier sind. Wenn wir bleiben und alles gründlich durchsuchen, verbringen wir unnötig viel Zeit in diesem System. In jedem Fall holen die Syndiks einen Vorsprung heraus.«

Colonel Carabali wirkte unentschlossen. »Co-Präsidentin Riones Einschätzung klingt logisch, aber…«

»Colonel«, unterbrach Rione sie. »Legen die Syndiks üblicherweise großen Wert auf das Wohl von niederem Personal wie beispielsweise Minenarbeitern?«

»Nein, Madam Co-Präsidentin, das tun sie nicht.«

»Warum haben die Minenarbeiter dann nicht den Befehl erhalten, ihr Leben zu opfern, um die Besetzung der Einrichtung hinauszuzögern und dabei auch noch weitere Marines in die angebliche Falle zu locken? Warum ziehen sie sich in die Minenschächte zurück, wo sie uns nicht mehr stören und wo sie zudem in der Falle sitzen, wenn wir auf die Idee kommen, blindlings in die Schächte zu feuern?«

Mit großer Beherrschung warf Captain Desjani ein: »Bei allem Respekt, aber Sie sind nicht da unten bei den Marines, Madam Co-Präsidentin.«

Mit zusammengekniffenen Augen sah Rione sie an. »Falls Sie denken, ich nehme das Ganze auf die leichte Schulter, möchte ich Sie daran erinnern, dass einige der Marines dort unten Angehörige der Callas-Republik sind. Ich würde sie keinem Risiko aussetzen, wenn ich der Ansicht wäre, dass dort eine Gefahr lauert.«

Carabali grübelte über ihre Worte nach, Desjani ebenfalls. Beide sahen sie Geary an. Schon klar. Rione glaubt an das, was sie sagt. Aber kann ich mich dem anschließen? Immerhin gehört sie nicht dem Militär an. Und sie hat auch nicht das Kommando über die Flotte, weshalb ja auch alle mich so erwartungsvoll ansehen. Ich muss entscheiden. Ich möchte glauben, dass Rione recht hat, weil dann alles so laufen kann, wie ich es mir vorgestellt habe. Aber ist es überhastet von mir, ihr zu glauben? Was, wenn sie sich irrt und das Ganze ist gar kein Bluff?

Dann verlieren wir etliche Marines und alles, wofür wir hergekommen sind.

Aber warum sollen die Syndiks plötzlich so großen Wert auf das Wohl einfacher Arbeiter legen und sie dann in eine hoffnungslose Situation bringen?

Ich muss die Entscheidung treffen. Wenn ich mich irre, sehe ich womöglich etliche Marines sterben. Oder aber ich zwinge die Flotte völlig unnötig dazu, noch mehr Zeit in diesem System zu vertrödeln, während die Syndiks ihre Streitkräfte in den umliegenden Sternensystemen aufstocken.

Vorfahren, gebt mir bitte ein Zeichen.

Falls sie ihn erhört hatten, konnte Geary das Zeichen weder sehen noch spüren. Er schaute zu Desjani und entdeckte in ihrem Gesicht das unerschütterliche Vertrauen, dass er schon richtig entscheiden würde. Wie auch immer die richtige Entscheidung aussah. Rione musterte ihn mit ernster Miene, als wollte sie ihn fast herausfordern, damit er ihr glaubte. Colonel Carabali wartete einfach nur ab, ihre Gesichtszüge waren so starr wie eine Maske, hinter der sie jegliche Gefühlsregung verbarg. Je länger er zögerte, umso wahrscheinlicher wurde es, dass die Ereignisse ihm die Entscheidung abnehmen würden. Er hatte gegenüber diesen Marines die Pflicht und die Verantwortung, sich zu äußern, um deutlich zu machen, wer zur Rechenschaft gezogen wurde, wenn der schlimmste Fall eintreten sollte. Eigenartig daran war, dass Rione für gewöhnlich diejenige war, die ihn vor dem Schlimmsten warnte…

Rione war eine Politikerin, und sie hatte es noch nie gemocht, wenn ein Teil der Flotte ein hohes Risiko einging. Und doch drängte sie ihn zu einer Vorgehensweise, die die Befehlshaberin der Marines und eine seiner treuesten Anhängerinnen dazu veranlasste, zur Vorsicht zu mahnen. Entweder war Rione verrückt geworden… oder seine Vorfahren hatten ihm ein Zeichen geschickt. Durch Rione.

Geary schickte ein Stoßgebet zum Himmel. »Ich glaube, Co-Präsidentin Rione liegt mit ihrer Vermutung richtig. Lassen Sie die Marines da unten und geben Sie ihnen den Befehl, die gesamte Anlage zu besetzen.«

Mit starrer Miene salutierte Carabali. »Jawohl, Sir.« Ihr Schirm verblasste, während sie die Befehle weitergab.

Er senkte den Blick und hoffte, dass er sich nicht zur Eile hatte antreiben lassen und darüber seinen gesunden Menschenverstand vergaß. Als er sich wieder das taktische Display ansah, konnte er mitverfolgen, wie die Marines tiefer in die Anlage vorrückten und ein Bereich nach dem anderen grün aufleuchtete, sobald er von ihnen besetzt worden war.

Nichts war bislang in die Luft gegangen.

Da er der Versuchung nicht widerstehen konnte, rief er das Bild auf, das von der Kamera eines der Marines gesendet wurde. Vor ihm schwebte ein Fenster in der Luft, das ihm zeigte, was der Junioroffizier in diesem Moment sah. Dieser Teil der Anlage befand sich unter freiem Himmel, also bewegten sich die Marines durch einen Bereich ohne Atmosphäre. Ein gelegentlicher Lichtschein erfasste einen Teil eines Ausrüstungsgegenstands, an dem die Marines soeben vorbeigingen, und die exakten Lichtkegel konzentrierten sich nur auf das, was angestrahlt wurde, da sich die Helligkeit ohne Luft nicht ausbreiten konnte. Die Schatten waren im Gegenzug dementsprechend scharf abgegrenzt und tiefschwarz.

Verlassene Anlagen hatten stets etwas Unheimliches an sich und vermittelten das Gefühl, die Vorbesitzer seien eigentlich doch nicht fortgegangen, sondern lauerten irgendwo, wo man sie nicht entdecken konnte, um von dort die Eindringlinge zu beobachten. Da sich im luftleeren Raum so wenig änderte, konnte ein Ort, der erst vor Minuten aufgegeben worden war, dennoch so unheimlich wirken, als sei er bereits seit Jahrhunderten verlassen. War jemand vor einer Stunde noch hier gewesen? Vor einem Tag? Vor hundert Jahren? Obwohl er selbst gesehen hatte, wie sich die Verteidiger noch kurz zuvor durch dieses Gebiet bewegt hatten, wirkte die Anlage hier unter freiem Himmel, als sei sie seit einer Ewigkeit ausgestorben.

Eine luftdicht verschlossene Schleuse tauchte vor dem Offizier auf. Geary verfolgte mit, wie zwei Unteroffiziere eine Vorrichtung an dem Schließmechanismus befestigten, um das codierte Zugangssystem zu überwinden. Waffen wurden auf die Schleuse gerichtet, als die sich langsam öffnete. Ein Marine warf ein kleines Objekt in die Öffnung, dann duckten sich alle, während die magnetische Impulsladung detonierte, um die Schaltkreise von Waffen, Schutzanzügen und Zündern von Sprengfallen durchschmoren zu lassen.

Dann waren die Marines auch schon vorgerückt, bewegten sich durch leere Korridore, traten Türen ein oder sprengten sie auf und hielten die ganze Zeit über Ausschau nach irgendetwas Ungewöhnlichem, das auch nur annähernd nach einer Bombe aussah.

Geary schlug sich an den Kopf, als ihm einfiel, dass er etwas wirklich Wichtiges und womöglich Hilfreiches vergessen hatte. Hastig tippte er auf die Komm-Taste. »Captain Tyrosian. Ihre Schiffe erhalten jetzt Zugriff auf die Bilder, die die Marines aus der Bergbaueinrichtung senden. Ich nehme an, die Ingenieure kennen sich mit der Art von Geräten aus, die wir hier vor uns haben, und sie müssten wohl auch in der Lage sein, Objekte zu identifizieren, die da nichts zu suchen haben. Sorgen Sie dafür, dass sich ein paar von ihnen schnellstens die Bilder ansehen.«

Tyrosians Antwort brauchte etwas länger, als es der Fall hätte sein sollen. Immerhin befanden sich die Hilfsschiffe jetzt mitten in der Formation der Allianz-Flotte. »Sir«, erwiderte sie zögerlich. »Meine Leute spielen normalerweise keine aktive Rolle bei irgendwelchen Operationen.«

Er musste sich zusammenreißen, damit er Tyrosian nicht anschnauzte. »Diesmal tun sie es aber. Ich will, dass qualifizierte Leute sich sofort die Bilder ansehen, die von da unten übertragen werden. Und wenn sie irgendetwas Verdächtiges entdecken, sollen sie das sofort melden.«

Bevor Tyrosians Erwiderung ihn erreichen konnte, öffnete sich ein Fenster und Colonel Carabali meldete sich zu Wort: »Jemand leitet die Übertragungen meiner Leute an die Ingenieure auf den Hilfsschiffen weiter.«

»Dieser Jemand bin ich, Colonel.«

»Dagegen muss ich protestieren, Sir. Bei ihnen handelt es sich nicht um kämpfendes Personal, und sie haben keine Verwendung für Echtzeitbilder, die von meinen Leuten gesendet werden.«

Geary bemühte sich, seine Verärgerung nicht durchscheinen zu lassen. »Die sind harmlos.«

»Bei allem Respekt, Sir«, gab Carabali förmlich zurück. »Wenn Ingenieure nicht beaufsichtigt werden, können sie in der realen Welt das größte Chaos anrichten. Ich habe aber keine Zeit, um für sie Kindermädchen zu spielen.«

Kaum hatte Carabali ausgesprochen, ging Captain Tyrosians Antwort ein: »Captain Geary, wir haben keine Liste, die spezifiziert, wonach wir Ausschau halten sollen.«

Seine Anspannung wich stärker werdenden Kopfschmerzen, und Geary presste heraus: »Warten Sie, Colonel. Captain, Ihre Ingenieure sollen nach allem Ausschau halten, was in einer Mine nichts zu suchen hat.« Tyrosian nickte, aber ihr Blick verriet ihre Ratlosigkeit. »Bomben, Sprengfallen, Dinge, die in die Luft gejagt werden können.«

Tyrosian reagierte darauf nur noch verständnisloser. »Ein Großteil an Ausrüstungsgegenständen kann bei unsachgemäßer Handhabung verheerende…«

»Captain Geary«, verkündete Carabali, deren Haltung und Tonfall ihre Missbilligung erkennen ließen. »Ich muss entschieden davon abraten, dass…«

»Meine Leute müssen unmittelbar mit den Offizieren vor Ort über das reden können, was sie sehen«, schlug Tyrosian widerstrebend vor. »Ohne detaillierte Führung…«

»Schon gut«, fiel Geary ihnen beiden ins Wort. Das war keine gute Idee. Ich kann ihnen befehlen, es einfach zu machen, oder ich kann die Sache abblasen. Ich bin wütend genug, um zu sagen: »Tun Sie's gefälligst!« Aber das verrät mir, ich sollte es wohl besser nicht machen. Das geschieht mir ganz recht, wenn ich improvisiere und versuche, zwei so verschiedene Denkweisen unter einen Hut zu bringen. »Vergessen Sie meinen letzten Befehl. Die Bilder der Marines werden an die Ingenieure übertragen, doch sie werden sie nur empfangen. Wenn sie etwas sehen, was sie für verdächtig halten, dann nehmen Sie sofort mit mir Kontakt auf, Captain Tyrosian. Colonel Carabali, Sie machen weiter wie gehabt, und ich entschuldige mich für die Ablenkung.«

Beide Offiziere schauten drein, als hätten sie einen anderen Ausgang dieser Situation erwartet. Dann salutierte Carabali hastig, ehe sich ihr Fenster wieder schloss. Tyrosian nickte. »Jawohl, Sir. Die… ähm… Shuttles mit dem Erkundungsteam und der Ausrüstung sind gestartet.«

»Gut. Machen Sie jedem Teammitglied klar, dass sie alle der Befehlsgewalt des Commanders der Eingreiftruppe unterstellt sind.«

Als sich auch das andere Komm-Fenster schloss, ließ sich Geary in seinen Sessel sinken und rieb sich die Stirn in der Hoffnung, so etwas gegen die mittlerweile rasenden Kopfschmerzen zu unternehmen. Desjani, die seine privaten Unterhaltungen nicht mitangehört haben konnte, warf ihm einen mitfühlenden Blick zu. »Ingenieure?«

»Und Marines«, erwiderte er mürrisch. »Warum kommt es mir nur so vor, dass ich mehr Zeit damit verbringe, gegen meine eigenen Offiziere als gegen den Feind zu kämpfen?« Er schaute wieder auf das Display, das den Fortgang des Angriffs auf die Bergbaueinrichtung darstellte. Die Marines rückten immer weiter vor und hatten mittlerweile fast die gesamte Anlage besetzt. Posten wurden aufgestellt, um die Schächte zu bewachen, in die sich die Syndik-Verteidiger zurückgezogen hatten. Vom Himmel über dem Mond näherten sich die Shuttles mit den Ingenieursteams, die direkt auf der zentralen Landeplattform abgesetzt werden sollten.

Falls doch noch irgendetwas explodieren würde, dann wahrscheinlich in den nächsten Sekunden.

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