Vier

Ganz gleich, wie schlimm es kam, ganz gleich, wie einsam er sich als Befehlshaber der Flotte fühlte, seine Vorfahren ließen ihn nie im Stich.

Als die Flotte schließlich den richtigen Punkt im Baldur-System fand und mit Ziel Sendai in den Sprungraum überwechselte, saß Geary da und betrachtete das externe Display, das vom unendlichen, mit Sternen übersäten Schwarz zum endlosen matten Grau wechselte, durch das hin und wieder vielfarbige Lichter zuckten, die auftauchten und dann wieder verschwanden. Zu Gearys Zeit hatte niemand gewusst, was diese Lichter bedeuteten, und mit der Ankunft des Hypernets war schließlich das Interesse am Sprungraum verblasst. Vielleicht war auch die Forschung zur Ergründung dieser Lichter zurückgestellt worden, weil der Krieg in wissenschaftlicher, technischer und finanzieller Hinsicht mit allen Mitteln unterstützt werden musste.

Captain Desjani ertappte Geary dabei, wie er auf diese Lichter stierte, und als sie erkannte, dass Geary das bemerkt hatte, schaute sie rasch weg. Kurz nachdem er das Kommando über die Flotte übernommen hatte, war ihm von ihr berichtet worden, viele Matrosen glaubten, Geary sei eines dieser Lichter gewesen. Sie glaubten, sein Geist habe in der ansonsten unveränderlichen Weite des Sprungraums geruht, bis die Allianz ihn so dringend benötigte, dass der legendäre Black Jack Geary zu seinem Volk zurückgeholt wurde. Ob sie das jetzt immer noch glaubten? Obwohl sie erfahren hatten, dass Geary in Wahrheit in einer beschädigten Rettungskapsel im Kälteschlaf gelegen hatte, die um einen Stern namens Grendel am Rande des Allianz-Territoriums kreiste, deren Funksignal ausgefallen war und deren Ausrüstung ihn nur mit Mühe am Leben erhalten hatte, bis diese Flotte auf ihn gestoßen war?

Ob er Grendel wohl jemals wiedersehen würde? Er sehnte sich nicht allzu sehr danach zurück, denn Grendel war ein ziemlich nutzloser Stern, einer von der Sorte, an dem Schiffe und Konvois vorbeigeflogen waren, um wichtigere Ziele zu erreichen. Man hatte ihm erzählt, das System sei aufgegeben worden, weil es zu dicht an der Grenze zu den Syndikatwelten lag und weil es dort nichts gab, was zu verteidigen sich gelohnt hätte. Da fanden sich nur die Überreste von Dutzenden Schlachten, die als einziger Beleg für die einstige Anwesenheit von Menschen in diesem System um den Stern kreisten. Ein Teil dieser Trümmer hatte zu seinem alten Schiff gehört, jenem Schiff, das zerstört worden war, als es dem Rest eines auf dem Rückzug befindlichen Konvois Deckung gab. Viele Angehörige seiner Crew waren bei Grendel ums Leben gekommen; er schuldete ihnen zumindest einen Besuch jenes Orts, an dem sie unter seinem Kommando gekämpft hatten und gefallen waren.

Bedauerlicherweise waren unter seinem neuen Kommando noch viel mehr Menschen umgekommen, darunter fast sicher sein Großneffe, dessen Schiff Repulse zerstört worden war, als es der aus dem Syndik-Heimatsystem fliehenden Allianz-Flotte Rückendeckung gegeben hatte. Vermutlich war Michael Geary jetzt bei den Vorfahren, denen er selbst schon viel zu lange nicht mehr seinen Respekt erwiesen hatte. »Captain Desjani, stellen Sie in der nächsten Stunde ausschließlich Notrufe an mich durch.«

Sie nickte. Ihr Gesicht verriet die Müdigkeit, darin eingegraben von den vielen Stunden, die sie bislang auf der Brücke verbracht hatte. »Solange wir im Sprung sind, gibt es kaum eine Chance, dass ein Notfall eintritt. Der Sprungraum ist langweilig, aber im Moment klingt das sogar sehr verlockend.«

Geary wandte sich ab, um die Brücke der Dauntless zu verlassen, da fiel sein Blick auf den leeren Beobachterplatz. Co-Präsidentin Rione saß üblicherweise in diesem Sessel, selbst wenn sie nur im Sprungraum unterwegs waren. Ich muss herausfinden, was mit ihr los ist. Das hätte ich schon längst machen sollen, aber solange wir uns im Baldur-System aufgehalten haben, gab es immer eine Ausrede, mit der ich mich davor drücken konnte.

Er verließ die Brücke, begab sich jedoch nicht zu seinem Quartier, sondern drang tiefer ins Innere des Schiffs vor. Sein Ziel war eine Reihe von Abteilen, die vor feindlichem Beschuss und Unfällen sicher waren, da sie so weit von der Außenhülle entfernt lagen. Da sich seit Gearys Zeit fast alles verändert hatte, empfand er es als große Erleichterung, dass diese Räumlichkeiten noch immer auf Raumschiffen zu finden waren.

Matrosen und Offiziere gaben sich besonders viel Mühe, ihm zu salutieren, sobald sie ihm in den Gängen entgegenkamen. Dabei lächelten sie ihn an und betrachteten ihn mit unübersehbarer Heldenverehrung. Er erwiderte ihr Lächeln, auch wenn er sie hätte packen und schütteln wollen, um sie dann zu fragen, warum sie einfach nicht einsehen wollten, dass er ein Mensch wie sie und damit genauso fehlbar wie sie war. Er erwiderte auch jeden Salut, bis sein Arm erlahmte und er sich die Frage stellte, ob es tatsächlich eine so gute Idee gewesen war, diese Tradition wiederaufleben zu lassen.

Ein paar Matrosen hielten sich in der Nähe der Gedenkstätte auf, machten aber sofort Platz, als Geary sich ihnen näherte. Nachdem er an ihnen vorbeigegangen war, hörte er die Leute tuscheln. Es gefiel der Crew zu wissen, dass er mit den Vorfahren redete, dass er ihren Rat und ihren Trost so suchte wie auch jeder andere an Bord.

Geary betrat einen kleinen Raum und zog die Tür hinter sich zu, dann nahm er auf einer Holzbank Platz. Vor ihm befand sich ein Brett, auf dem eine Kerze stand, die er anzündete. Dann saß er eine Weile da und entspannte seinen Geist, während er darauf wartete, dass die Geister der Vorfahren sich einfanden.

Schließlich begann er zu reden. »Ich danke euch, meine Vorfahren, dass ihr diese Flotte durch ein weiteres feindliches Sternensystem geführt habt. Danke, dass ihr mich bei meinen Entscheidungen unterstützt und dafür gesorgt habt, dass wir bei Baldur keine Verluste erleiden mussten.« Er hielt inne und ließ seine Gedanken an Orte vordringen, die er schon seit einer Weile nicht mehr aufgesucht hatte. »Ich hoffe, Baldur hat sich nicht verändert. Ich möchte eines Tages diese Welt besuchen, um herauszufinden, ob sie wirklich so ist, wie alle stets behauptet haben. Aber außer mir gibt es in der Flotte niemanden, der sich daran noch erinnert. Für alle in dieser Flotte ist Baldur nur ein weiteres feindliches Sternensystem.«

Wieder machte er eine Pause, damit seine Gedanken weitertreiben konnten. »Ich hoffe, es ist die richtige Entscheidung, den Weg nach Sendai einzuschlagen. Wenn ich mich irre, dann findet bitte einen Weg, es mich rechtzeitig wissen zu lassen. Diese Menschen vertrauen mir… jedenfalls die meisten von ihnen. Ein paar von ihnen glauben… Ach, verdammt, ich habe nicht mal eine Ahnung, was sie glauben. Es ist ja nicht so, als hätte ich mich um diesen Job gerissen.«

Er betrachtete das Schott hinter der Kerze und sah vor seinem geistigen Auge die Leere jenseits der Außenhülle der Dauntless. »Die Versuchung ist groß. Ihr wisst, was mir zugeflüstert wird: Sei einfach Black Jack Geary und tu das, was du für richtig hältst. Es wäre viel einfacher. Ich müsste niemanden von meinen Plänen überzeugen, ich müsste ihnen nur sagen, was sie zu tun haben. Ich muss mir immer wieder vor Augen halten, dass ich nicht derjenige bin, der ihrer Meinung nach Black Jack sein muss. Dass ich kein vollkommener Held bin. Wenn ich anfange, mich wie jemand zu verhalten, der ich gar nicht bin, dann könnte das nicht nur für die Allianz, sondern für die gesamte Menschheit in einer Katastrophe enden.«

Nach einer kurzen Pause fragte er von Zweifeln erfüllt: »Ist das so richtig? Ich kann es gar nicht glauben, dass ich das überhaupt frage. Aber ist es richtig, wenn ich die Syndiks als Menschen sehe? Ihre Anführer sind grausam, und ihre Kriegsschiffe und ihre anderen bewaffneten Streitkräfte müssen gestoppt werden. Aber wenn ich anfange, alle Syndiks als Ungeheuer zu betrachten, deren Tod ohne Bedeutung ist, wäre das nicht verkehrt von mir? Wenn es auf der anderen Seite des Syndik-Gebiets tatsächlich eine nichtmenschliche intelligente Spezies gibt, die die Menschheit hereingelegt hat, damit sie aus eigenem Antrieb in jedem wichtigen, von Menschen bewohnten Sternensystem eine Bombe von ungeheurer Zerstörungskraft platziert, müssen wir uns dann nicht die guten Dinge vor Augen führen, die die Menschheit zusammenhalten? Womöglich haben wir jetzt einen gemeinsamen Gegner.«

Womöglich. Dieses Wort hing einen Moment lang in der Luft. »Ich wünschte, ich wüsste es. Ich kann ja nicht einmal mit Gewissheit sagen, ob es diese Fremden überhaupt gibt. Was wollen sie von uns? Welchen Plan verfolgen sie? Kann ich diese Flotte sicher nach Hause bringen, ohne einen Kampf zwischen der Allianz und den Syndikatwelten auszulösen, der beide Seiten auslöschen wird?«

Eine Weile saß er da und versuchte, an gar nichts zu denken, sondern seinen Geist schweifen zu lassen, um offen zu sein für Nachrichten, die für ihn bestimmt waren. Doch nichts geschah. Er seufzte und wollte eben aufstehen, da fiel ihm noch etwas ein. »Ich weiß nicht, was mit Victoria los ist. Aber irgendetwas stimmt mit ihr nicht, etwas, worüber sie weder mit mir noch mit sonst jemandem reden will. Ich weiß, sie gehört nicht zur Familie, doch wenn ich etwas für sie tun kann, dann zeigt es mir, falls es euch gestattet ist. Ich weiß wirklich nicht mehr, wie ich zu dieser Frau stehe, aber sie hat anderen Menschen viel gegeben.«

Er streckte den Arm aus, um die Kerze zu löschen. Dabei zitierte er die uralten Worte: »Gebt mir Frieden, gebt mir Führung, gebt mir Weisheit.«

Als er den kleinen Raum verließ, fühlte er sich deutlich besser.


* * *

»Bei den Aufzeichnungen, die die Marines in der Bergbaueinrichtung bei Baldur bergen konnten, findet sich einiges interessante Material.«

Diese Nachricht von Lieutenant Iger aus der geheimdienstlichen Abteilung war nicht sehr aufschlussreich, aber Geheimdienstler machten sich immer einen Spaß daraus, unverständlich und rätselhaft zu klingen, als wüssten sie immer etwas mehr als das, was sie einem tatsächlich sagen wollten. In diesem Fall hatte die Methode Erfolg, da sich Geary prompt auf den Weg in die Abteilung machte. »Was haben Sie denn entdeckt?«

Lieutenant Iger und einer von seinen Petty Officers hielten Geary einen tragbaren Reader hin. »Es ist da drauf, Sir«, erklärte Iger.

Er nahm sich das erste Dokument vor. »Liebe Asira…« Das war ein privater Brief. Er überflog den Text, dann auf einmal wurde er langsamer. »Wir bekommen nicht die Ersatzteile, die wir brauchen, um alles am Laufen zu halten. Wir müssen einen Teil der Ausrüstung ausschlachten, damit der Rest weiterhin funktionstüchtig bleibt… Letzte Woche wurden die Rationen wieder knapp… Es gibt Gerüchte über eine neue Welle von Einberufungsbescheiden. Sag mir bitte, dass diese Gerüchte nicht wahr sind… Wann wird dieser Krieg zu Ende sein?«

Er hob den Kopf. »Stammt das aus den Unterlagen der Sicherheitspolizei dieser Einrichtung? Ich nehme an, der Verfasser dieser Zeilen stand unter Arrest.«

Iger schüttelte den Kopf. »Diese Datei war zum Senden vorgesehen, Sir. Die Sicherheitsleute hatten sie bereits weitergeleitet.«

»Sie machen Scherze.« Geary betrachtete wieder den Brief. »Ich nehme nicht an, dass Sie mich zu sich gerufen haben, weil Sie mir sagen wollen, dass es auf den Syndikatwelten viel freier zugeht, als man mich hat glauben lassen.«

Der Lieutenant und der Petty Officer grinsten beide. »Nein, Sir«, antwortete Iger. »Das ist nach wie vor ein Polizeistaat. Aber das ist nur einer von vielen Briefen, die wir alle aus dem Sendespeicher der Syndiks geholt haben, und die meisten von ihnen enthalten ganz ähnliche Aussagen. Wir haben die Namen der Briefeschreiber mit den Dateien verglichen, die die Marines aus der Sicherheitsabteilung geholt haben, und von routinemäßigen Einträgen abgesehen, liegt gegen diese Leute nichts vor.«

»Wieso nicht?« Geary hielt den Reader hoch. »Sind das nicht genau die Äußerungen, für die man auf den Syndikatwelten ins Arbeitslager geschickt wird?«

»Richtig, Sir.« Iger war nun wieder ernst. »Zumindest sollte das der Fall sein. Aber allem Anschein nach wurden in dieser Einrichtung offene Klagen geduldet. Entweder waren die Sicherheitskräfte extrem nachlässig, oder die Unzufriedenheit über die allgemeine Lage hat ein solches Ausmaß angenommen, dass derartige Äußerungen viel zu häufig vorkommen, um sie noch zu unterdrücken.« Er deutete auf den Reader. »Die Dateien aus dieser Einrichtung enthalten auch Briefe von der bewohnten Welt an die Minenarbeiter, die noch nicht zugestellt worden waren. Viele von denen enthalten ganz ähnliche Klagen. Es fehlt an allem, und man macht sich Sorgen, dass mehr Menschen und Ressourcen abgezogen werden, weil der Krieg das erforderlich macht.«

»Wird die Regierung in diesen Briefen offen kritisiert?« Die wenigen Syndiks, denen Geary seit der Übernahme des Kommandos begegnet war, hatten sich alle davor gefürchtet, ein falsches Wort zu sagen oder Kritik an ihrer Führung zu üben.

»Nur in einem, Sir. Die anderen meiden jedes kritische Wort über die Führung der Syndikatwelten.« Iger tippte ein paar Befehle in den Reader ein. »Hier ist diese eine Ausnahme.«

Geary las die Zeilen sorgfältig. »Was denken sich unsere Führer nur? Jemandem müssen gravierende Fehler unterlaufen sein. Aber niemand zahlt dafür, nur du und ich. So kann das nicht weitergehen.« »War der vom Sicherheitsdienst der Anlage markiert worden? Das muss doch der Fall gewesen sein.«

»Nein, Sir.« Iger konnte sich ein Grinsen kaum verkneifen. »Dieser Brief stammt sogar vom Chef der Sicherheit.«

»Das ist ein Witz, oder?« Geary sah sich wieder die Zeilen an. »Ist das nicht vielleicht eine Fälschung? Ein Trick, um uns in die Irre zu führen?«

»Soweit wir das beurteilen können, ist der Brief authentisch, Sir.«

»Ich habe mich mit den Syndiks unterhalten, die von uns gefangen genommen wurden. Sie haben diese Leute ebenfalls verhört. Keiner von denen hat irgendetwas in dieser Art geäußert.«

»Nicht uns gegenüber, Sir«, stimmte Iger ihm zu. »Es ist eine Sache, über so etwas untereinander zu reden. Aber wenn ein Syndik uns gegenüber so etwas erwähnte, dann könnte er nach der Heimkehr auch gleich sein eigenes Todesurteil unterschreiben. ›Haben Sie der Allianz irgendetwas verraten?‹ ›Was haben Sie zu diesen Leuten gesagt?‹ Solche Fragen müssten sie über sich ergehen lassen, und da man vermuten würde, dass sie nicht die Wahrheit sagen, würde man sie… nun… brutalen Verhörmethoden unterwerfen. Und anschließend hätten sie eine Anklage wegen Verrats am Hals.«

Das klang durchaus überzeugend. »Was halten Sie von der Tatsache, dass die Syndiks untereinander offen über die Missstände sprechen, Lieutenant?«

Iger schwieg einen Moment lang und wurde wieder ernst. »Wir haben das durch unsere Sozialanalyse-Systeme laufen lassen und die besagen: Wenn diese Mitteilungen echt sind und zutreffend die öffentliche Stimmung im Baldur-System wiedergeben, ohne dass sie Bestrafungen oder Festnahmen zur Folge haben, dann steht die politische Führung der Syndiks auf tönernen Füßen. Die Belastungen durch den Krieg müssen es immer schwieriger machen, die herrschende Unzufriedenheit mit der Führungsebene totzuschweigen. In einigen Briefen werden offizielle Verlautbarungen zu Siegen der Syndiks über die Allianz diskutiert, und das fast immer in abfälligem Tonfall. Zugegeben, wir haben es hier mit einem einzelnen, vom Hypernet übergangenen Sternensystem zu tun. Anderswo kann die Stimmung durchaus abweichen, was die Zahl der Fälle und die Ausdrucksweise angeht, aber es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass es sich bei Baldur um einen Einzelfall handelt.«

»Bei Sancere haben wir nichts in dieser Art gefunden«, wandte Geary ein.

»Richtig, Sir. Aber Sancere ist — oder besser gesagt: war — ein wohlhabendes System mit etlichen militärischen Schiffswerften, bevor wir das alles in Stücke geschossen haben. Viele Regierungsaufträge, gute Jobs, Ressourcen in rauen Mengen, Anschluss ans Hypernet. Und die meisten Menschen haben in der Rüstungsindustrie gearbeitet, sodass sie keine Einberufung zum Militärdienst fürchten mussten. Da hatte kaum jemand einen Grund, sich zu beklagen.« Lieutenant Igers Miene nahm einen entschuldigenden Ausdruck an. »Ich komme aus einem ganz ähnlichen Sternensystem der Allianz. Marduk. Das Leben in einem solchen System ist richtig gut. Und mit Blick auf diesen Krieg ist es da auf jeden Fall besser als anderswo.«

Geary musterte den Lieutenant. »Trotzdem haben Sie sich der Flotte angeschlossen, anstatt einen dieser krisensicheren Jobs anzunehmen, die Sie vor einer Einberufung schützen?«

»Ahm… ja, Sir.« Iger warf dem Petty Officer einen flüchtigen Blick zu, der schon wieder einen Anlass zum Grinsen hatte. »Die Leute reißen gern Witze, ich sei deswegen auch zum Geheimdienst gegangen, damit niemand etwas von meiner dummen Entscheidung erfährt.«

Diesen Witz hätte Iger auch vor hundert Jahren reißen können, es hätte keinen Unterschied gemacht. Geary konzentrierte sich wieder auf die Briefe von Baldur. »Was schreiben sie über die Allianz?« Sekundenlang herrschte Schweigen, bis Geary die beiden Männer ansah. »Schreiben sie überhaupt irgendetwas über die Allianz?«

Iger nickte betrübt. »In erster Linie wiederholen sie die Syndik-Propaganda, Sir. Einer der letzten Briefe im Speicher wurde verfasst, nachdem unsere Flotte gesichtet worden war, und er ist fast so etwas wie ein Vermächtnis. Es gibt noch einige Nachrichten mehr, die noch nicht vollständig geschrieben und daher nicht gesendet worden waren. Alle Schreiber gehen davon aus, dass wir alles im Baldur-System auslöschen werden, dass wir nicht zwischen zivilen und militärischen Zielen unterscheiden werden. Sie drücken die Sorge um die Sicherheit ihrer Familien aus. Ein Schreiber berichtete von einem Verwandten, der von uns gefangen genommen worden war, und schrieb, er sei von uns ganz bestimmt umgebracht worden. Alles solche Dinge.«

»Propaganda?«, wiederholte Geary. »Lieutenant, ich weiß, dass Allianz-Streitkräfte seit einiger Zeit zivile Ziele bombardieren und dass Gefangene hingerichtet werden.«

Der Offizier schien geschockt zu sein. »Aber das war situationsbedingt, Sir! Es war eine Notwendigkeit. Das war noch nie Allianz-Politik — ganz im Gegensatz zur Syndik-Politik.«

»Der Bevölkerung scheint dieser feine Unterschied nicht deutlich zu sein, Lieutenant.« Geary zeigte auf den Reader. »Diese Leute sind unzufrieden mit ihren Führern, aber vor uns haben sie Angst. Ist das eine zutreffende Einschätzung?«

»Ich… Ja, Sir, das ist möglich.«

»Was folglich bedeutet, dass die Syndik-Bevölkerung ihren Führern weiterhin den Rücken stärkt und den Krieg erträgt, weil sie vor der Allianz Angst hat. Angst, die wir durch unser eigenes Handeln geschaffen haben.«

Schließlich meldete sich der Petty Officer zu Wort: »Aber, Sir, wir haben diese Dinge nur getan, weil wir es mussten.«

Geary versuchte, einen Seufzer zu unterdrücken. »Angenommen, das stimmt zu hundert Prozent, und ich habe keinen Zweifel, dass das Allianz-Personal davon felsenfest überzeugt ist… Wissen die Syndiks das auch? Oder beurteilen die Bewohner der Syndik-Welten uns nach unserem Handeln, aber nicht nach unseren Rechtfertigungen für unser Handeln?«

»Sir«, sagte Lieutenant Iger, der Geary anstarrte. »Sie haben aufgehört, zivile Ziele zu bombardieren und Gefangene zu töten, kaum dass Sie das Kommando übernommen hatten. In jedem Syndik-Sternensystem, das wir durchquert haben, weiß man jetzt, dass die Flotte mit Ihnen als Befehlshaber keine Bedrohung mehr für Heim und Familie darstellt. Woher wussten Sie, wie die Leute denken? Woher wussten Sie, was Sie zu tun hatten?«

Denk dran, dass der Lieutenant, der Petty Officer, dass jeder Mann und jede Frau in dieser Flotte sein Leben lang nichts anders gekannt hat als den Krieg gegen die Syndiks. Denk dran, dass es ihren Eltern ganz genauso ergangen ist. Denk an die Grausamkeiten, die Vergeltungsschläge, die endlosen Provokationen und Racheakte. Denk dran, dass du das nicht durchmachen musstest und dass du kein Recht hast, sie zu verurteilen, nur weil sie anders darüber denken. »Was ich getan habe, tat ich, weil es das Richtige war. Mir wurde beigebracht, dass dies das Richtige ist. Es ist das, was unsere Vorfahren von uns verlangen, was unsere Ehre von uns verlangt. Ich weiß, was Sie durchstehen mussten und was die Allianz im Verlauf dieses Krieges erduldet hat. Unter solchem Druck kann man leicht vergessen, warum man eigentlich kämpft.«

Der Petty Officer nickte betreten. »So wie Sie es uns bei Corvus gesagt haben, Sir. So wie Sie uns das vor Augen geführt haben. Unsere Vorfahren mussten uns wissen lassen, dass wir den verkehrten Weg eingeschlagen hatten, und deshalb haben sie Sie zu uns geschickt, weil sie wussten, wir würden auf Sie hören.«

Na, großartig. Er konnte ihnen nicht mal sagen, was sie einmal gewesen waren, ohne gleich zum Gesandten der Vorfahren erklärt zu werden.

Aber in gewisser Weise war er das sogar geworden, indem er ihnen vermittelte, was er vor hundert Jahren von den Vorfahren gelernt hatte.

Und weil er selbst einer ihrer Vorfahren war. Er dachte nicht gern daran, weil es ihn daran erinnerte, dass seine Welt in der Vergangenheit verschwunden war. Aber es stimmte.

Lieutenant Iger legte eine Faust auf den Tisch und starrte sie an. »Wir müssen die Syndiks davon überzeugen, dass sich die Zeiten geändert haben. Dass wir nicht länger eine größere Bedrohung für sie darstellen als ihre eigenen Führer. Wir können sie davon überzeugen, indem wir es weiter unter Beweis stellen. Richtig, Sir?«

»Richtig«, bestätigte Geary.

»Und wenn ihre Moral zu schwinden beginnt und sie einsehen, dass sie sich nicht vor uns, sondern vor ihren eigenen Anführern fürchten sollten, dann könnte das den Zusammenbruch der Syndikatwelten einleiten.«

»Das ist das Ergebnis, auf das wir nur hoffen können.« Geary spielte mit dem Reader, den er in den Händen hielt. »Halten wir die Augen offen, ob wir noch mehr von dieser Sorte finden, und falls Ihre Systeme irgendeine Idee haben, wie wir Nutzen aus der Unzufriedenheit der Syndiks ziehen können, dann will ich die sofort hören.«

Vielleicht gab es ja tatsächlich einen Silberstreif am Horizont. Die Allianz brauchte nicht darauf zu hoffen, die Syndikatwelten zu besiegen, solange die Syndik-Anführer jederzeit auf die Ressourcen aller angeschlossenen Welten zugreifen konnten. Aber wenn nur ein gewisser Prozentsatz an Welten rebellierte und sich weigerte, Menschen und Ressourcen zur Verfügung zu stellen, dann würde das der Allianz den Vorteil verschaffen, den sie ein Jahrhundert lang vergebens angestrebt hatte.


* * *

Während der sechs Tage, die der Flug nach Sendai in Anspruch nahm, gelang es Victoria Rione, einen großen Bogen um Geary zu machen. Der verbrachte die Zeit damit, verschiedene Gefechtsszenarios durchzuspielen, um herauszufinden, wie er den Verlust seiner Schlachtkreuzer vermeiden konnte — jedes Mal ohne Erfolg. Es gab einfach kein glaubwürdiges Argument, mit dem sich diese Schiffe aus einem Kampf heraushalten ließen.

Er war wieder zurück auf der Brücke der Dauntless, als die Flotte den Sprungraum verließ. Die Chancen, dass die Syndiks das Gebiet um den Sprungpunkt vermint hatten oder überhaupt ahnten, die Allianz-Flotte könnte Sendai zum Ziel haben, waren äußerst gering. Dennoch wollte Geary bereit sein zu reagieren, immerhin war es möglich, dass die Syndik-Führer ins Blaue hinein geraten und dabei einen Glückstreffer gelandet hatten.

Sein Magen verkrampfte sich, als der Wechsel zurück in den Normalraum vollzogen wurde. Das matte Grau des Sprungraums verschwand, und die unendlich vielen Sterne tauchten wieder auf.

Geary konnte keine Zeit damit vergeuden, die Aussicht zu genießen, stattdessen erfassten seine Augen das Display und warteten darauf, dass die Sensoren Schiffe oder Minen registrierten.

»Sieht völlig leer aus«, stellte Desjani fest. »Nicht mal ein Ein-Mann-Empfangskomitee. Sie hatten recht, Sir. Die Syndiks haben nicht geahnt, dass wir Kurs auf Sendai nehmen würden.« Sie warf ihm ein bewunderndes Lächeln zu.

»Danke«, murmelte Geary voller Unbehagen. »Gibt es nicht mal Satelliten, die das System überwachen?«

»Nein, Sir«, meldete ein Wachhabender. »Aus gutem Grund.« Er zeigte auf die Mitte des Displays und machte einen nervösen Eindruck.

Normalerweise war das Display so ausgerichtet, dass sich der jeweilige Stern in der Mitte befand, da er dasjenige Objekt war, das genug Masse besaß, um den Raum ringsum zu verzerren und die Bedingungen zu schaffen, die für Sprungpunkte unverzichtbar waren. Sendai war auch einmal ein solcher Stern gewesen. Ein sehr großer Stern. Vor vielen Millionen Jahren hatten ihn zweifellos zahlreiche Planeten umkreist.

Bis er explodierte und zu einer Supernova wurde, die die Planeten ringsum in verkohlte Trümmerstücke verwandelt hatte, ehe sie in sich zusammenfiel und alle Materie, aus der Sendai bestand, immer fester zusammenpresste, bis die Masse einer riesigen Sonne zu einem Materieklumpen von der Größe eines kleinen Planeten verdichtet worden war. Dessen Schwerkraft war so gewaltig, dass nicht einmal das Licht ihm entkommen konnte.

Captain Desjani nickte, dann schluckte sie ebenfalls nervös. »Das Schwarze Loch.«

Dort, wo die Überreste von Sendai weiterhin existierten, war mit dem bloßen Auge nichts zu erkennen. Auf den Displays dagegen waren deutlich zwei eng gebündelte Strahlen zu sehen, die aus dem Nord- und dem Südpol des toten Sterns austraten und ungeheure Strahlung ins All abgaben — die Todesschreie der Materie, die mit unvorstellbarer Geschwindigkeit in das Schwarze Loch gezogen wurde.

Geary schaute sich um und stellte fest, dass die gesamte Brückencrew gleichermaßen beunruhigt auf ihre Displays starrte. Sie alle hatten unzählige Schlachten hinter sich, doch beim Anblick eines Schwarzen Lochs schienen sie Angst zu bekommen. »Fliegen überhaupt noch Schiffe zu Schwarzen Löchern?«

Desjani schüttelte den Kopf. »Warum sollten sie?«

Gute Frage. Solange der Sprungantrieb die einzige Fortbewegungsmethode gewesen war, mussten Schiffe jeden Stern anfliegen, der auf dem Weg zu ihrem Zielstern lag. Doch durch das Hypernet war es möglich geworden, von einem Portal zu einem beliebigen anderen Portal zu fliegen. Sternensysteme mit Schwarzen Löchern — die genau genommen keine Sternensysteme mehr waren, weil die Schwarzen Löcher gierig alle Materie verschlangen, die zuvor um sie gekreist war — hatten Schiffen nichts mehr zu bieten und stellten eigentlich nur noch eine Gefahrenquelle dar, da sie unablässig Strahlung ins All abgaben. Selbst Schutzschilde neueren Typs konnten einem derartigen Strahlungsbeschuss nicht lange standhalten.

Aber trotzdem war es nur ein Schwarzes Loch. Sie würden hier nicht verweilen, sondern rasch zum nächsten Sprungpunkt weiterfliegen und dabei einen großen Bogen um die Strahlung an den Polen des Schwarzen Lochs machen. Geary beugte sich zu Desjani hinüber. »Was ist los?«

Sie senkte den Blick und erwiderte zögerlich: »Es… ist unnatürlich.«

»Nein, das ist es nicht. Ein Schwarzes Loch ist etwas völlig Natürliches.«

»So meine ich das nicht.« Desjani atmete tief durch. »Man sagt, wenn man zu lange in ein Schwarzes Loch schaut, dann… dann überkommt einen das Verlangen, mit dem Schiff zum Ereignishorizont zu fliegen und nachzusehen, was sich auf der anderen Seite befindet. Das, was früher der Stern war, ruft einen zu sich, weil es die Schiffe der Menschen genauso verschlingen will wie alle andere Materie.«

Solche Geschichten hatte er noch nie gehört, und dabei waren ihm von den Matrosen, mit denen er seinerzeit als Junioroffizier diente, alle möglichen Geschichten von mysteriösen Gefahren erzählt worden, die in den eisigen Weiten des Alls Schiffe mitsamt ihren Besatzungen verschlangen. Hundert Jahre waren allerdings eine lange Zeit, um neue Geschichten entstehen zu lassen. »Ich habe nicht viele, aber einige Schwarze Löcher gesehen, doch dieses Verlangen habe ich nie verspürt.«

»Ich möchte wetten, dass in dieser ganzen Flotte niemand außer Ihnen je ein Schwarzes Loch gesehen hat«, gab sie zurück.

Das Unbekannte. Immer noch der fruchtbarste Boden, um menschliche Ängste gedeihen zu lassen. Als Geary sich umsah und nun wusste, was alle anderen glaubten, da kam es ihm so vor, als könnte er ein Ziehen spüren, das von der unsichtbaren Masse im Herzen von Sendai ausging. Es war etwas anderes als nur die Schwerkraft, die so ungeheuerlich war, das ihr nicht einmal das Licht entkommen konnte.

»Darum sind die Syndiks nicht hier«, ließ Desjani plötzlich verlauten. »Sie wussten, wenn sie hier versuchen sollten, ein Schiff zu postieren, dann würde die Crew eher eine Revolte anzetteln, als sich längere Zeit unmittelbar neben einem Schwarzen Loch aufzuhalten.«

»Gut möglich«, sagte Geary und fuhr lauter fort. »Ich habe schon früher Schwarze Löcher zu sehen bekommen.« Er merkte, dass alle auf der Brücke ihm zuhörten. »Das ist nicht gefährlich, solange wir nicht zu nahe kommen. Und das werden wir auch nicht. Bringen wir die Flotte zum nächsten Sprungpunkt.«

Dieser Befehl, den Sprung raus aus Sendai zu unternehmen, würde wahrscheinlich die einzige Anweisung sein, die sogar seine ärgsten Feinde bedingungslos befolgten.


* * *

»Verdammt!« Soeben waren drei weitere Schlachtkreuzer der Allianz explodiert.

Geary schaltete die Simulation ab, indem er gereizt auf die Tasten tippte. Die Taktik, die er diesmal versucht hatte, war ihm von Anfang an ein wenig verrückt erschienen, und offenbar war das auch tatsächlich der Fall. Zumindest hatte sie nicht funktioniert. Anstatt das Risiko für die Schlachtkreuzer zu verringern, waren die zwischen zwei Fronten aus überlegenen Syndik-Schiffen geraten und in Stücke geschossen worden. Zugegeben, in der Simulation waren die Syndik-Commander vielleicht klüger als die, denen die Allianz-Flotte tatsächlich begegnen würde. Aber von Offizieren, die Geary vor hundert Jahren gekannt und respektiert hatte, war er gewarnt worden, bei einem Plan niemals von der Annahme auszugehen, einen dummen Gegner vor sich zu haben. Eine Falle für einen schlauen Feind funktionierte weitaus besser als eine für einen Feind, der zu dumm war, um das Offensichtliche zu sehen. Jetzt brauche ich nur noch eine solche Falle.

Die Türglocke wurde betätigt und kündigte einen Besucher in Gearys Quartier an. Es war Captain Desjani, die eintrat und salutierte. »Wir sind zwei Stunden vom Sprungpunkt nach Daiquon entfernt, Sir. Sie wollten darüber informiert werden.«

»Das ist richtig, trotzdem hätten Sie dafür nicht extra herkommen müssen.«

Desjani zuckte mit den Schultern. Ihr war ein gewisses Unbehagen anzumerken. »Sie… Sie wecken Zuversicht, Sir. Sicherlich haben Sie bemerkt, wie sehr es der Besatzung gefällt, Sie zu sehen, wie Sie so dicht an einem Schwarzen Loch die Ruhe bewahren. Ich kann Ihnen versichern, das hat sich auf jedem Schiff der Flotte herumgesprochen und dazu beigetragen, das Unbehagen der Crewmitglieder zu lindern.«

»Hm.« Es kam ihm etwas eigenartig vor, dafür gelobt zu werden, dass er beim Anblick eines Schwarzen Lochs keine Angst bekommen hatte. Tatsächlich war durch den Aberglauben der anderen seinerseits ein wachsender Widerwillen entstanden, das Ding zu betrachten. »Danke, aber ich mache auch keinen Hehl daraus, dass ich mich nicht nach diesem System zurücksehnen werde, wenn wir es erst einmal hinter uns gelassen haben.«

»Da geht es Ihnen so wie jedem in dieser Flotte«, erwiderte Desjani und lächelte flüchtig. »Tut mir leid, wenn ich Sie gestört habe, Sir.«

»Sie haben mich nicht gestört. Ich habe nur eine Simulation laufen lassen, die nicht funktionieren wollte.« Seufzend lehnte er sich in seinem Sessel nach hinten. »Setzen Sie sich. Ich freue mich über jede Gelegenheit, mal über etwas anderes zu reden als über Taktiken, Strategien, Syndiks und den Krieg.«

Desjani zögerte kurz, dann kam sie näher und nahm gegenüber von Geary Platz, wobei sie eine Habtachthaltung einnahm, wie sie es fast immer machte, wenn sie sich in seinem Quartier aufhielt. »Diese Themen beherrschen das Leben in der Allianz schon länger, als ich auf der Welt bin«, räumte sie ein. »Ich wüsste gar nicht, worüber ich reden sollte, wenn wir diese Themen nicht hätten.«

»Es gibt andere Themen. Themen, die uns weitermachen lassen, wenn der Krieg das Einzige zu sein scheint, was das Universum zu bieten hat.« Gearys Blick ruhte auf den immer noch fernen Sternen des Allianz-Gebiets. »Was werden Sie unternehmen, wenn Sie nach Kosatka zurückkommen, Tanya?«

Die Frage schien sie zu erschrecken, ihr Blick wanderte ebenfalls zu der Sternenlandschaft. »Meine Heimatwelt«, murmelte sie. »Ich war schon lange nicht mehr dort. Und es gibt keine Garantie, dass ich sie besuchen kann, falls wir… wenn wir zurückgekehrt sind.«

»Ich verstehe. Der Krieg wird nicht aufhören, nur weil wir es zurück nach Hause schaffen.« Einen Moment lang saß Geary schweigend da. »Sind Ihre Eltern noch dort?« Leben Ihre Eltern noch?, hatte er eigentlich wissen wollen, doch so unverblümt konnte er seine Frage nicht formulieren.

Sie wusste, was er meinte, und nickte bestätigend. »Sie sind noch beide dort. Mein Vater arbeitet in einer Fabrik, die die Orbitalwerften beliefert. Mutter ist Teil der planetaren Verteidigungsstreitmacht.«

Rüstungsindustrie, sogar auf einem Planeten wie Kosatka, der so weit von der Front entfernt lag. Aber was sollte man nach einem Jahrhundert Krieg auch anderes erwarten? »Was sagen Ihre Eltern dazu, dass Sie Captain eines Schlachtkreuzers sind?«

Captain Tanya Desjani, die durch Dutzende von Raumschlachten abgehärtet worden war, errötete bei seiner Frage tatsächlich und schaute rasch zur Seite. »Sie… sie sind stolz. Sehr stolz.« Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich. »Sie kannten die Risiken, die man als Offizier der Flotte in Kauf nimmt. Ich bin mir sicher, sie rechnen schon seit meinem ersten Schiff täglich damit, eine Benachrichtigung zu erhalten, dass ich im Gefecht gefallen bin. Bislang habe ich dem Tod ein Schnippchen schlagen und sie vor dieser Nachricht bewahren können. Aber es kann gut sein, dass sie mich jetzt für tot halten… so wie den Rest der Flotte.«

Das veranlasste Geary dazu, das Gesicht zu verziehen. »Das wird die Allianz-Regierung der Bevölkerung doch bestimmt nicht gesagt haben. Es ist zwar nicht so, als hätten die Menschen kein Recht, die Wahrheit zu erfahren, aber Regierungen neigen doch zu der Ansicht, dass es ihr gutes Recht ist, anstelle der Wahrheit Lügen zu erzählen.« Kurz nachdem er das Kommando über die Flotte übernommen hatte, war er auf die Idee gekommen, sich die offizielle Geschichte des Krieges zu Gemüte zu führen. Dabei war deutlich geworden, dass diese Chronik ein gnadenlos positives Bild zeichnete und von den angeblichen Siegen der Allianz über die Syndiks berichtete. Unbeantwortet blieb bei alledem die Frage, wieso diese vielen Siege nicht längst dazu geführt hatten, dass die Allianz den Krieg gewann. Das Ganze war dem Unsinn erschreckend ähnlich gewesen, den er zuletzt von dem gefangen genommenen Captain des Handelsschiffs zu hören bekommen hatte. Eine Regierung, die die Geschichte so zurechtbog, wie sie ihr am geeignetsten erschien, würde nicht so schnell eingestehen, dass ihre Hauptflotte hinter den feindlichen Linien verschwunden und sehr wahrscheinlich komplett ausgelöscht worden war.

»Sicher«, stimmte Desjani ihm zu. »Aber die Propagandasender der Syndiks hätten diese Meldung längst verbreitet. Sie lassen vollautomatische Sendereinheiten in angrenzende Sternensysteme springen, damit sie dort ihre Lügen so lange verbreiten, bis sie von unseren Verteidigungseinheiten zerstört werden.«

Geary nickte und konnte sich gut vorstellen, dass die Allianz umgekehrt genau die gleiche Taktik anwandte, um die Syndiks ihrerseits mit Propaganda zu beschallen.

»Offiziell«, fuhr Desjani fort, »soll niemand wiederholen, was er von den Syndiks zu hören bekommt. Aber es spricht sich dennoch herum. Im Gegensatz zu den Syndiks können die Bürger der Allianz immer noch frei ihre Meinung äußern, und sie glauben auch nicht alles, was Politiker erzählen.« Sie zuckte mit den Schultern und machte eine düstere Miene. »Meine Eltern haben bestimmt gehört, dass die Syndiks behaupten, unsere Flotte sei tief in ihrem Territorium aufgerieben worden. Den Syndiks werden sie nicht glauben, aber offizielle Dementis der Allianz-Regierung werden für sie auch kein Trost sein. Sie sind zweifellos besorgt um mich.«

»Das tut mir leid.« Die Worte waren eigentlich zu wenig für das, was Geary ausdrücken wollte, doch in diesem Moment wollte ihm einfach nichts Angemesseneres einfallen. »Dann werden sie sicher umso erfreuter sein, wenn Sie nach Hause kommen.«

Desjani grinste breit. »Oh ja, das werden sie.« Dann warf sie ihm einen fast schüchternen Blick zu. »Und wenn sich auf meiner Heimatwelt herumspricht, dass Black Jack Geary an Bord meines Schiffs war, dass er die Flotte von meiner Brücke aus befehligt hatte, während er uns gegen jede Chance nach Hause führte, dann werden sie die berühmtesten Menschen auf ganz Kosatka sein. Davon bin ich überzeugt.«

Geary lachte, um seine Verlegenheit zu überspielen. »Ich habe mit dem Gedanken gespielt, nach unserer Rückkehr nach Kosatka zu reisen.« Ihm fiel ein, was Victoria Rione einmal zu ihm gesagt hatte: Kosatka ist nicht Ihre Bestimmung, Captain Geary. »Um diese Welt zu besuchen«, schob er erklärend nach.

»Tatsächlich?« Desjani war beeindruckt.

»Ich sagte Ihnen ja, dass ich mal dort gewesen bin. Vor langer Zeit.« Geary hielt sich davon ab, sich mit der flachen Hand gegen die Stirn zu schlagen, weil er solchen Unsinn redete. In seinem Leben gab es kaum etwas, das nicht unter die Rubrik »Vor langer Zeit« fiel. »Ich hätte nichts dagegen, dort noch einmal hinzureisen.«

»Seit damals dürfte sich viel verändert haben, Sir.«

»Ja, ich schätze, ich werde einen Fremdenführer benötigen.«

Desjani zögerte. »Wir könnten… Ich meine… Wenn Sie mitkommen wollen, wenn ich… Also ich meine…«

»Das klingt gut«, gab er zurück. »Vielleicht werde ich darauf zurückkommen.« Ein vertrautes Gesicht an seiner Seite zu haben, wäre sicher nicht verkehrt. Und er hatte bereits überlegt, wie er sich wohl fühlen würde, wenn er diese Flotte nach Hause gebracht und sie verlassen hatte, nachdem er seiner Pflicht und noch einigem mehr nachgekommen war. Denn das, was zunächst eine Ansammlung seltsamer Schiffe und fremder Menschen war, wandelte sich zusehends zu etwas, das er als seine Flotte bezeichnen konnte. Bevölkert wurde sie von Menschen, die er inzwischen kannte und in einigen Fällen mochte und bewunderte. Nachdem er gesehen hatte, wie die Crews der Dauntless, Daring und Diamond nicht von der Stelle wichen, als das Hypernet-Portal bei Sancere kollabierte, da hatten der Mut und die Hingabe dieser Matrosen bei Geary Stolz und Bewunderung erwachen lassen. Wollte er das tatsächlich eintauschen gegen ein Leben auf einer zivilen Welt, wo er noch schwieriger der Anbetung entkommen würde, die Black Jack Geary bei den Menschen auslöste?

Sollte er sich überhaupt solche Fragen stellen? Nach der Rückkehr ins Allianzgebiet würde er das Kommando über diese Flotte nicht behalten können. Da war nicht nur das Problem, dass er sich den Anforderungen an diese Position nicht gewachsen fühlte. Er fürchtete auch, Victoria Rione könnte recht behalten, was die Versuchungen anging, mit denen er sich dann konfrontiert sehen würde. Black Jack Geary, der mythische Held, auferstanden von den Toten, um die Allianz zu retten, die Flotte unter seinem Kommando. Ganz gleich, was er haben wollte, er würde es bekommen. Er musste nur die Hand ausstrecken und zugreifen.

»Sir?«, fragte Desjani und betrachtete ihn rätselnd. »Habe ich etwas Verkehrtes gesagt?«

»Was? Oh, nein. Das tut mir leid. Ich musste nur gerade an etwas denken.« Er lächelte sie aufmunternd an. »Kommen Sie, wir gehen auf die Brücke und bereiten uns darauf vor, von Sendai Abschied zu nehmen.«

Jeder auf der Brücke vermied es ganz bewusst, auf das Display zu sehen, auf dem das Schwarze Loch alles dominierte. Als Geary dazukam, fiel ihm auf, dass von allen Seiten Blicke auf ihn gerichtet waren, in denen sich Hoffnung und Vertrauen vermischten. So wie Desjani, hielten auch sie ihn offenbar für eine Art Talisman, der sie vor dem Dämon im Inneren des Schwarzen Lochs beschützen konnte.

Zu schade, dass er keinen Talisman hatte.

Noch eineinhalb Stunden, bis die Flotte den Sprungpunkt erreichte. Geary nahm sich einen Moment Zeit, um seine Gedanken zu ordnen, dann tippte er auf die Kontrollen, damit er sich an die ganze Flotte wenden konnte. Sobald sie sich im Sprungraum befanden, würde die Kommunikation von Schiff zu Schiff nur noch eingeschränkt möglich sein, da Nachrichten dann lediglich ein paar Worte umfassen konnten. Aber es waren mehr als nur ein paar Worte, die Geary an die Flotte richten wollte, also musste er das tun, solange sie sich noch im Normalraum befanden — sofern man den Raum in der unmittelbaren Nähe eines Schwarzen Lochs als normal bezeichnen konnte.

»An alle Schiffe der Allianz-Flotte, hier spricht Captain Geary«, begann er in bewusst ruhigem Tonfall. »Wir wissen nicht, was uns in Daiquon erwartet. Die Syndiks haben nicht damit gerechnet, dass wir nach Sendai kommen würden, aber mittlerweile dürften sie wissen, dass wir keines der anderen Systeme angeflogen haben, die von Baldur aus erreicht werden konnten. Es kann also sein, dass sie rechtzeitig Daiquon als unser wahrscheinlichstes nächstes Ziel ausgemacht haben, sodass ihnen Zeit genug geblieben sein könnte, um ihre Streitkräfte über das Hypernet dort in Stellung zu bringen. Ich will, dass alle Schiffe gefechtsbereit sind, wenn wir bei Daiquon den Sprungraum verlassen. Es kann sein, dass wir dort sofort in Kämpfe verwickelt werden, und falls man uns erwartet, will ich, dass die Syndik-Kriegsschiffe von uns mit solcher Geschwindigkeit in die Sonne von Daiquon getreten werden, dass sie nicht mal Zeit haben zu überlegen, was gerade passiert ist.« Er machte eine kurze Pause und überlegte, wie er seine Übertragung am besten beenden sollte. »Auf die Ehre unserer Vorfahren.«

Danach waren sie alle zum Warten verdammt. Geary vertrieb sich die Zeit, indem er einmal mehr den Flottenstatus überprüfte. Die Hilfsschiffe hatten im Eiltempo neue Brennstoffzellen und Munition produziert, als wollten die Ingenieure die Fehler ausbügeln, die zur Knappheit an Spurenelementen geführt hatten. Aber auch ohne diesen Nachschub befanden sich die Kriegsschiffe der Flotte in einem guten Zustand, um in ein Gefecht zu ziehen, falls die Syndiks bei Daiquon warteten. Ausnahmen waren natürlich die Orion, die Majestic und die Warrior. Der größte Teil der bei Sancere erlittenen Schäden war jedoch inzwischen repariert worden, und die Leviathan, Steadfast, Dragon und Valiant waren wieder voll einsatzfähig.

Falls die Syndiks bei Daiquon auf sie warteten, war diese Flotte gewappnet.

»Captain Geary«, unterbrach Desjani seine Überlegungen, »die Flotte hat den Sprungpunkt nach Daiquon erreicht.«

»Gut, dann nichts wie weg von hier.« Wieder tippte er auf die Kommunikationstasten. »An alle Schiffe der Allianz-Flotte, wir springen jetzt nach Daiquon.«

Als die Flotte in den Sprungraum überwechselte und das Schwarze Loch namens Sendai von den Displays verschwand, war die Erleichterung an Bord der Dauntless so überwältigend, dass es Geary fast so vorkam, als hätte das Schiff selbst beruhigt aufgeatmet.

Vier Tage und ein paar Stunden bis Daiquon. Victoria Rione schaffte es, Geary die ganze Zeit über aus dem Weg zu gehen. Also arbeitete er weiter an Simulationen, die ihn aber nur frustrierten, da seine Schlachtkreuzer ein ums andere Mal explodierten.


* * *

Die Syndiks waren in Daiquon.

Genau vor dem Sprungpunkt.

Beim Anblick der Symbole für die feindlichen Schiffe, die urplötzlich auf dem Display des Sternensystems auftauchten, konzentrierte sich Geary zuerst auf zwei Schlachtschiffe und zwei Schlachtkreuzer, die offenbar vor dem Sprungpunkt ihre Kreise zogen.

»Die legen Minen!«, warnte Desjani.

Und die Flugbahn der Allianz-Flotte führte zum Teil in den Bereich, der bereits vermint war. Geary errechnete das Ausweichmanöver im Kopf. »Alle Einheiten der Allianz-Flotte: Manöver sofort ausführen. Drehen Sie nach Steuerbord vier null Grad, nach oben zwei null Grad.« Er drehte sich zu den Wachhabenden auf der Brücke um. »Zeigen Sie eine Markierung des Minenfelds auf dem Kurs an, dem diese Syndik-Schiffe gefolgt sein müssen!«

Vier große Kriegsschiffe. Gearys Augen huschten über das Display, um den Rest der Syndik-Streitmacht zu erfassen. Drei Schwere und fünf Leichte Kreuzer, ein Dutzend Syndik-Jäger. Vermutlich hatte man sie hergeschickt, damit sie die Sprungpunkte verminten, danach wären dann einige leichte Einheiten zurückgeblieben, um eine Meldung abzusetzen, falls die Allianz-Flotte in dieses System geflogen kam. Aber die Syndiks waren zu langsam gewesen, weshalb das Minenfeld erst teilweise ausgelegt worden war. Die Kriegsschiffe stellten an sich keine Bedrohung für die Allianz-Flotte dar, wenn Geary genug Zeit gehabt hätte, einen Angriffsplan auszuarbeiten. Doch so befand sich die feindliche Flotte unmittelbar vor ihnen, und beide Formationen schoben sich zu einem Wirrwarr ineinander, ohne dass Zeit blieb, sich die beste Vorgehensweise zu überlegen. »An alle Schiffe: Eröffnen Sie das Feuer auf die Syndik-Kriegsschiffe in Ihrer unmittelbaren Nähe!«

Ein Zerstörergeschwader war soeben aus dem Sprungpunkt gekommen und praktisch auf dem Schoß der zwei Kriegsschiffe gelandet. Die Zerstörer drehten hektisch bei und feuerten ihre wenigen Waffen ab, die wirkungslos an den massiven Schilden der feindlichen Kriegsschiffe verpufften. Die Syndiks erwiderten das Feuer, ihre Geschosse fraßen sich mühelos durch die vergleichsweise schwachen Schilde und bohrten sich durch die dünne Panzerung der Zerstörer. Die Kheten verging unter dem Sperrfeuer in einer Explosion, die Epee wurde in Stücke gerissen, die in verschiedene Richtungen davontrieben.

Die restlichen Zerstörer entgingen nur dadurch ihrer Vernichtung, dass ein Allianz-Geschwader aus Leichten Kreuzern aus dem Sprungraum kam und den Syndik-Kriegsschiffen geradewegs in die Arme flog. Die feindlichen Schiffe verlagerten ihr Feuer gierig auf die neuen Ziele, sodass die Glacis in Fetzen geschossen wurde und die Aegis sowie die Hauberk schwere Treffer einstecken mussten.

Mittlerweile waren aber die Schweren Kreuzer und die Schlachtkreuzer der Allianz in Reichweite gekommen, deren Schilde stark genug waren, feindlichem Beschuss standzuhalten, und deren Feuerkraft ausreichte, das Kräfteverhältnis augenblicklich zum Nachteil der Syndiks zu kippen.

Sechs Syndik-Zerstörer hatten die Schlachtschiffe eskortiert, aber gleich fünf von ihnen wurden ausgelöscht, als ein Schwarm Allianz-Zerstörer um die schweren Schiffe herumgeschossen kamen und die leichteren feindlichen Zerstörer ins Visier nahmen. Der letzte feindliche Zerstörer bemühte sich noch, die Flucht anzutreten, doch die Zeit reichte nicht zur Beschleunigung, bevor die Treffer ihn zerfetzten. Zwei Leichte Kreuzer versuchten, sich hinter den Schlachtschiffen zu verstecken, gerieten dabei aber zwischen drei Divisionen von Schweren Kreuzern der Allianz, die ihnen ein schnelles Ende bereiteten. Der einzelne Schwere Kreuzer der Syndiks wurde mit Tulevs kompletter Division aus Schlachtkreuzern konfrontiert und durch eine einzige Salve der riesigen Allianz-Schiffe zerstört.

»Erste, Zweite und Vierte Schlachtkreuzerdivision«, meldete sich Geary zu Wort. »Ignorieren Sie die Syndik-Schlachtschiffe und greifen Sie stattdessen die feindlichen Schlachtkreuzer und ihre Eskorten an.« Er betrachtete das Display und überlegte, wen er noch wohin beordern sollte. »Zweite, Fünfte und Siebte Schlachtschiffdivision, Sie nehmen sich die Syndik-Schlachtschiffe vor. Alle Schweren Kreuzer versuchen, die verbliebenen Eskorten rings um die gegnerischen Schlachtkreuzer zu attackieren. Alle leichteren Allianz-Einheiten: Sie feuern auf jedes Ziel, das sich Ihnen bietet.« Hier ging es weniger um Taktik als vielmehr darum, die feindliche Streitmacht so schnell wie möglich zu überrennen. In diesem Moment erschien ihm das als die beste Vorgehensweise.

Außerdem musste er verhindern, dass die Syndiks einen Verzweiflungsschlag gegen sie unternahmen. »Achte und Zehnte Schlachtschiffdivision, Sie bewachen die Hilfsschiffe. Sorgen Sie dafür, dass der Feind nicht bis zu ihnen vordringt.« Er wusste nicht, ob all diese Schiffe im Eifer des Gefechts seine Befehle befolgen würden, aber selbst wenn nur ein paar entsprechend reagierten, würde das schon für genügend Schutz sorgen.

Elf Allianz-Schlachtkreuzer drehten bei und nahmen Kurs auf die beiden Syndik-Schlachtkreuzer, gefolgt von einem Gewirr aus Schweren Kreuzern sowie Leichten Kreuzern und Zerstörern. »Beschleunigen auf 0,1 Licht«, befahl Captain Desjani. »Nach oben null fünf Grad, backbord null vier Grad. Alle Waffen auf die vorderen Syndik-Schlachtkreuzer ausrichten. Bereit machen zum Abfeuern der Phantome.«

Zur gleichen Zeit steuerten die elf Schlachtschiffe der Zweiten, Fünften und Siebten Division auf die Syndik-Schlachtschiffe zu. Geary sah, wie die beiden überlebenden und gefechtsbereiten Schlachtschiffe der Vierten Division ebenfalls Kurs auf den Feind nahmen, aber er unternahm nicht den Versuch, ihnen dieses Vorhaben zu verbieten. Die Vengeance und die Revenge hatten mit den Syndiks noch eine Rechnung offen, da sie bei Vidha die Triumph zerstört und die Warrior schwer beschädigt hatten.

Dreizehn Schlachtschiffe jagten den Syndiks entgegen, aber die Entfernung war zu gering, um die Phantome einsetzen zu können. Stattdessen feuerten die vordersten Allianz-Schiffe Kartätschen ab. Die Metallkugeln schlugen in die feindlichen Schilde ein, dann eröffneten die Schlachtschiffe der Allianz von drei Seiten gleichzeitig das Feuer und ließen Höllenspeere auf den Feind niederprasseln. Die geschwächten Schilde der Syndik-Schlachtschiffe flammten bei jedem Treffer grell auf und brachen fast augenblicklich zusammen, sodass sich die Höllenspeere durch die Panzerung ins Innere der Schiffe fressen konnten. Löcher wurden in die Außenhülle gebohrt, und während die Kriegsschiffe unter den Treffern erzitterten, entwich die Atmosphäre explosionsartig ins All.

Die Vengeance und die Revenge flogen in geringer Entfernung vorbei und feuerten ihre Null-Feld-Projektoren ab. Die glühenden Kugeln dieser Null-Felder berührten die Hüllen der Syndik-Schiffe und lösten die Molekularstruktur aller Materie auf. Ganze Abschnitte der feindlichen Schiffe schienen förmlich zu verschwinden, sodass klaffende Löcher im Rumpf entstanden.

Die beiden Syndik-Schlachtkreuzer hätten wohl noch die Flucht antreten können, doch ihre Commander zögerten offensichtlich und verurteilten damit die Schiffe zum Untergang. »Phantome Feuer frei«, befahl Desjani. Als die Dauntless eine Raketensalve abfeuerte, folgten die anderen Schlachtkreuzer diesem Beispiel und jagten einen Schwarm selbstlenkender Geschosse los, die auf die feindlichen Schiffe zuhielten und beschleunigten.

Die Syndiks erwiderten das Feuer, während die überlebenden Jäger und Leichten sowie Schweren Kreuzer sich schützend zwischen die Allianz-Geschosse und die Syndik-Schlachtkreuzer schoben. Trotz der Ausweichmanöver und der hohen Geschwindigkeit flammten zahlreiche Phantome auf und starben kurz vor ihrem Ziel. Doch indem sie ihr ganzes Feuer auf die Phantome konzentrierten, ließen die Syndiks es zu, dass die leichteren Allianz-Schiffe beinahe in Feuerreichweite gelangten.

Jäger wurden unter dem Beschuss durch Zerstörer und Leichte Kreuzer der Allianz in Feuerbälle verwandelt, während die drei Leichten Kreuzer der Syndiks vom Feuer der Schweren Kreuzer eingehüllt wurden.

Dann waren die Allianz-Schlachtkreuzer nahe genug, um ihre Höllenspeere einzusetzen. Der vorderste Syndik-Kreuzer schien zu glühen, da die Schilde einen Treffer nach dem anderen einstecken mussten. Schließlich brachen die Schilde zusammen, und die Höllenspeere zerschossen das Schiff selbst.

Geary hielt gebannt den Atem an und versuchte, sich nicht seine Sorge anmerken zu lassen, während Desjani die Dauntless, die Daring und die Victorious dicht an dem getroffenen Syndik-Schlachtkreuzer vorbeifliegen ließ, um ihn mit Null-Feldern zu beschießen. Da mache ich mir erst Gedanken, wie ich meine Schlachtkreuzer schützen kann, und jetzt schicke ich sie mitten ins schlimmste Gewühl, angeführt von dem einen Schiff, das ich unter keinen Umständen verlieren darf. Wenn die Dauntless zerstört wird, dann verlieren wir damit auch den Hypernet-Schlüssel, der sich an Bord befindet. Für dieses Problem muss ich mir irgendeine Lösung einfallen lassen.

Natürlich stellte der führende Syndik-Schlachtkreuzer keine Bedrohung mehr dar. Die Null-Felder in Verbindung mit dem Trommelfeuer aus Höllenspeeren hatten das Schiff längst in ein treibendes Wrack verwandelt, aus dem in Schüben Rettungskapseln ausgestoßen wurden, als die überlebenden Crewmitglieder bemüht waren, irgendwie in Sicherheit zu gelangen.

Geary suchte nach dem zweiten feindlichen Schlachtkreuzer und musste zu seinem Schrecken feststellen, dass dessen Commander Kurs auf die Hilfsschiffe genommen hatte.

»Er hat keine Chance«, versicherte Desjani ihm.

Als sich der Kreuzer seinen Weg durch die Allianz-Formation bahnte, musste er Treffer um Treffer einstecken. Jeder einzelne dieser Treffer fügte ihm nur geringe Schäden zu, aber die summierten sich, während er weiter in dem Bemühen beschleunigte, die Zielerfassungssysteme seiner Gegner zu verwirren. Doch da Zeit und Entfernung nicht genügten, um eine ausreichend hohe Geschwindigkeit zu erreichen, fanden mehr und mehr Geschosse ins Ziel. Der Schlachtkreuzer glitt an der Illustrious und der Incredible vorbei und geriet ins Trudeln, als die beiden Schiffe seine Backbordseite unter Dauerbeschuss nahmen.

Der Schlachtkreuzer flog scheinbar unbeirrt weiter, während eine Salve nach der anderen auf ihn niederprasselte.

Als er schließlich die Schiffe der Zehnten Schlachtschiffdivision einholte, hatte er bereits so viele Treffer einstecken müssen, dass er vermutlich nur noch blindlings drauflos flog und aufgrund zerstörter Sensoren ebenso blindlings um sich feuerte, ohne noch einen Treffer zu landen. Nur der Hauptantrieb am Heck war einigermaßen unversehrt geblieben, sodass das fliegende Wrack es tatsächlich noch schaffte, auf über 0,1 Licht zu beschleunigen.

Die Amazon und die Guardian, die der Flugbahn des Kreuzers am nächsten waren, feuerten Kartätschensalven ab, die durch ihr eigenes Tempo mit einer kombinierten Geschwindigkeit von fast 0,2 Licht in den Rumpf einschlugen.

Die vordere Hälfte des Schlachtkreuzers wurde förmlich zermahlen, der Rest schüttelte sich, als er über die eigenen Wrackteile flog. Dann zerbrach er in ein breit gestreutes Feld aus Trümmerstücken, von denen ein paar wirkungslos von den Schilden der Amazon und der Guardian abprallten.

Desjani seufzte. »Die gesamte Besatzung des Kreuzers muss umgekommen sein.«

»So etwas kann niemand überlebt haben«, stimmte Geary ihr zu.

»Zu schade.« Sie drehte sich zu ihm um. »Zum ersten Mal in meinem Leben wollte ich wirklich einem Syndik gegenübertreten. Und zwar dem Commander dieses Schiffs, der so tapfer gekämpft hat.« Nichts erinnerte mehr an die Desjani, die Geary bei ihrer ersten Begegnung kennengelernt hatte, eine Frau, für die ein Syndik ein unmenschlicher Feind war, dem man nur Verachtung entgegenbringen konnte. »Aber natürlich ist es besser, dass er tot ist«, ergänzte sie wie selbstverständlich. »Es würde mir nicht gefallen, einen solchen Syndik am Leben zu lassen.«

»Sie wollen einen Syndik-Offizier, den Sie respektieren, nicht leben lassen?«, fragte Geary erstaunt.

Sie zog die Augenbrauen zusammen. »Den ich respektiere? Ich könnte doch keinen Syndik respektieren, Sir. Wie könnte irgendjemand dazu fähig sein? Allerdings ist dieser Syndik ehrenvoll gestorben. Ich hätte nur gern gewusst, wie ein solcher Syndik ist.«

Geary zuckte mit den Schultern. »Im Moment ist er so wie die anderen tot. In kleine Stücke gerissen, ganz so wie seine Kameraden und ihr Schiff.«

»Ja, Sir.« Desjani lächelte ihn an.

Vielleicht hatte sie sich doch nicht ganz so sehr verändert. Andererseits war Desjani auch das Kind einer Zeit, die hundert Jahre Krieg erlebt hatte, hundert Jahre Austausch von Grausamkeiten. Der Feind war ihr so fremd wie die unbekannte Intelligenz, von der Geary vermutete, dass sie hinter dem Syndik-Gebiet zu Hause war. »Dann wollen wir diese Flotte mal wieder sortieren. An alle Einheiten: Sie haben gut gekämpft.«

Sein Blick wanderte zum Display, wo in einer Ecke in roter Schrift die Verluste aufgeführt wurden: zwei Zerstörer und drei Leichte Kreuzer. Viele Schiffe mehr waren in diesem Gefecht beschädigt worden, manche Zerstörer so schwer, dass eine Reparatur vielleicht nicht möglich war und sie hier zurückgelassen werden mussten. Außerdem hatte mindestens ein Schwerer Kreuzer massive Schäden davongetragen. »Formation Delta-Eins einnehmen, ausgenommen die Schiffe, die mit der Bergung von Rettungskapseln der Allianz beschäftigt sind.« Er musste wissen, welche Kriegsschiffe so schwer beschädigt waren, dass sie sich zurückfallen lassen mussten, damit die Hilfsschiffe leichter die notwendigen Reparaturen ausführen konnten. Zusammen mit den Schlachtschiffen Orion, Majestic und Warrior konnten sie dann eine Formation der Kriegsversehrten bilden.

Geary schaltete auf interne Kommunikation um und rief die Geheimdienstabteilung. »Finden Sie heraus, ob in irgendeiner Syndik-Rettungskapsel hochrangige Offiziere unterwegs sind.« Er musste erfahren, was die Syndiks vorhatten und wie der Krieg entlang der Grenze zur Allianz verlief. Angesichts der Tatsache, dass die Syndiks davon besessen waren, so viel wie möglich geheimzuhalten und ihre eigenen Offiziere an der kurzen Leine zu führen, musste Geary davon ausgehen, dass er keine Antworten auf seine Fragen erhalten würde, selbst wenn sie auf den Commander der gesamten Streitmacht stoßen sollten. Aber je länger Geary blindlings entscheiden musste, umso mehr machten ihm diese Unklarheiten zu schaffen. Wie lange konnte er noch einem Feind aus dem Weg gehen, wenn er so gut wie nichts darüber wusste, wo der sich gerade aufhielt?

Wäre die Allianz-Flotte einen halben Tag später nach Daiquon gekommen, dann wäre sie geradewegs in ein fertiggestelltes Minenfeld gleich vor dem Sprungpunkt gerast, und die Syndik-Schiffe hätten entkommen können, um ihrem Oberkommando zu melden, welchen Weg die Allianz-Schiffe genommen hatten.

Jeder Ansatz von Freude über den errungenen Sieg war wie weggeblasen, als Geary auf die Namen der toten Schiffe und auf die Liste der verletzten oder gefallenen Crewmitglieder an Bord der anderen Schiffe schaute. Es war ein kleiner Sieg, den sie sich teuer erkauft hatten.

Загрузка...