Neun

Warum Wendig kein eigenes Hypernet-Portal erhalten hatte, war nicht schwer zu erraten. Und das galt auch für die Tatsache, dass das Sternensystem in den Aufzeichnungen der Syndiks als aufgegeben vermerkt worden war, nachdem die ihr Hypernet in Betrieb genommen hatten. Das einzige Rätsel bestand darin, warum sich überhaupt noch jemand in diesem System aufhielt.

Um den Stern kreisten lediglich drei Planeten sowie eine Fülle an Asteroiden. Zwei der Planeten waren über fünf Lichtstunden von dem schwachroten Stern entfernt, der nur wenig Wärme abgab, sodass diese Welten aus nichts weiter als gefrore-nem Gestein bestanden. Der Planet, der nur neun Lichtminuten entfernt lag, verfügte über zu wenig Atmosphäre, und die war für Menschen auch noch giftig. Doch auf ihm waren einmal zwei Kuppelstädte angesiedelt gewesen. Nach einem weiteren Blick auf die Daten kam Geary zu dem Schluss, dass die Bezeichnung Kleinstadt für diese Siedlungen wohl besser geeignet war.

Im Wendig-System waren keine weiteren Spuren menschlicher Aktivitäten zu entdecken, zudem war eine der Städte in Dunkelheit und Kälte getaucht, während die andere noch bewohnt wurde, auch wenn es so schien, als habe man große Bereiche stillgelegt. »Diese Leute oder vielleicht auch schon ihre Eltern hat man wohl einfach hier zurückgelassen, als die Syndik-Unternehmen, für die sie gearbeitet hatten, das System aufgaben«, merkte Desjani an.

»Ja, einen anderen Grund wüsste ich auch nicht, warum sie sonst hiergeblieben sein sollten.«


»Captain?« Der Kommunikationswachhabende deutete auf sein Display. »Von der bewohnten Welt wird ein Notruf gesendet.«

Die Mitteilung weckte unangenehme Erinnerungen an Lakota. Desjani legte die Stirn in Falten, während sie und Geary gleichzeitig mit einem Tastendruck das Signal auf ihre eigenen Displays holten.

Es war lediglich eine Audiomitteilung, ein Mann sprach mit rnühsam erzwungener Ruhe: »An alle, die das Wendig-Sternensystem passieren oder sich in der Nähe aufhalten. Hier ist die Stadt Alpha auf der Welt Wendig I.« Bestimmt zum hunderts-ten Mal ging Geary durch den Kopf, dass die nur ans Geschäft denkenden Syndik-Führer sich nie die Mühe gemacht hatten, den Welten oder Städten poetisch klingende Namen zu geben, es sei denn, sie sollten Werbezwecken dienen. »Unsere verbliebenen Lebenserhaltungssysteme stehen kurz vor dem Totalausfall« , fuhr der Sprecher fort. »Wir haben auf alle nur denkbaren Ressourcen zurückgegriffen, um die Systeme weiter arbeiten zu lassen, aber sämtliche Ressourcen sind inzwischen aufgebraucht. Über fünfhundertsechzig Bewohner benötigen dringend Hilfe und müssen evakuiert werden. Bitte antworten Sie.«

Es folgte eine Pause, dann die Angabe der Universalzeit und des Datums, schlief31ich begann die Nachricht von vorn.

Geary überprüfte das angegebene Datum. »Die senden diese Nachricht schon seit einem Monat.«

»Befindet sich irgendjemand in der Nähe von Wendig?«, fragte Desjani. »Die müssten doch wissen, dass sich frühestens im nächsten Sternensystem jemand aufhält, der die Nachricht empfangen kann, und selbst das würde Jahre dauern. Und abgesehen davon ist sie viel zu leise, als dass man sie über inter-stellare Entfernungen hinweg noch hören könnte. Wenn sie nicht gerade von einem Astronomieforscher aufgefangen wird, verhallt sie ungehört, und die Forscher meiden zudem die Frequenzen, die für menschliche Kommunikation genutzt werden, weil es da viel zu laut zugeht.«

»Vielleicht senden diese Leute schon seit Jahren Hilferufe aus, die niemand wahrnimmt. Lebt da überhaupt noch jemand?«, fragte Geary.

Ein anderer Wachhabender antwortete: »In der Stadt herrscht keine für Menschen angenehme Temperatur, aber ein wenig Wärme ist noch vorhanden. Die Atmosphäre innerhalb der Kuppel wird als atembar angegeben. Nach der Menge an Schadstoffen in der Luft zu urteilen, müssen die Wiederaufbereitungs- und Zirkulalionseinheiten allerdings in schlechter Verfassung sein.«

Geary sah zu Desjani, die den Mund verzog. Sie bemerkte seinen Blick und zuckte unbehaglich mit den Schultern.

»Keine schöne Art zu sterben. Nicht mal für Syndiks.«

»Fünfhundertsechzig. Zweifellos Familien und Kinder.«

Geary ließ den automatischen Quartierassistenten seiner Flot-tendatenbank die Zahlen durchrechnen. »Wir hätten Platz für sie.«

»Platz für sie?«, wiederholte Desjani ungläubig.

»Ja. Sie sagen ja selbst, es ist keine schöne Art zu sterben, wenn man allmählich erfriert und die Luft immer schlechter und schlechter wird. Wir könnten sie irgendwo anders absetzen.«

»Aber…« Desjani hielt kurz inne, dann erwiderte sie: »Sir, das wäre nur ein winziger Tropfen auf den heißen Stein. Zugegeben, es ist… tragisch. Auch wenn es sich bei ihnen um Syndiks handelt. Aber jede Sekunde sterben in diesem Krieg mehr Menschen, als sich dort unten auf dem Planeten befinden. Es ist durchaus denkbar, dass in diesem Moment Syndik-Kriegsschiffe eine Welt der Allianz bombardieren und dass Tausende von Zivilisten sterben.«


Geary nickte, um ihr zu zeigen, dass er ihre Aussage verstand. Und dennoch… »Wie lautete noch gleich die Dritte Wahrheit?«

Einen Moment lang konnte Desjani ihn nur anstarren, schließlich sagte sie: »Nur wer anderen Gnade gewährt, kann erwarten, dass auch ihm Gnade gewährt wird. Es ist lange her, seit ich das letzte Mal eine der Wahrheiten zu hören bekommen habe.«

»Ich schätze, vor einem Jahrhundert geschah das noch öfter.« Geary senkte den Blick, um seine Argumente zu ordnen. »Ich weiß, was geschehen ist, und ich weiß, was irgendwelche Syndik-Schiffe in diesem Moment möglicherweise anrichten. Aber wie können wir einfach vorbeifliegen und diese Leute sterben lassen? Was wir bei Lakota hätten tun können, wäre angesichts der Dimensionen dieser Katastrophe unbedeutend gewesen. Hier dagegen können wir tatsächlich etwas bewirken.«

»Sir, jeder unnötige Aufenthalt könnte uns das Leben kosten. Wir wissen nicht, welche Syndik-Streitkräfte uns verfolgen oder wo sie sich gerade sammeln, um uns in einem der nächsten Sternensysteme in Empfang zu nehmen. Die Reise zu dieser Welt wird uns einen Tag länger in diesem System fest-halten, und für die Evakuierung müssen wir Energievorräte aufbrauchen, die wir nicht vergeuden können. Viel wäre es zwar nicht, aber trotzdem. Und sie essen unsere Rationen, sobald sie an Bord sind, dabei sind unsere Vorräte auch so schon stark dezimiert. Außerdem müssen sie ständig bewacht werden, damit sie keine Sabotage begehen können. Und dann müssen wir eine Lösung finden, wie wir sie im nächsten System absetzen, ohne dass es uns zu viel Zeit und Brennstoffzellen kostet, und das alles womöglich auch noch, während wir einen Syndik-Angriff abwehren müssen.« Dann fügte sie abschließend an: »Sir, diese Geste könnte uns mehr kosten, als wir uns leisten können.«

»Ich verstehe.« Er verstand es tatsächlich. Wie sollte es moralisch vertretbar sein, Tausende von Flottenangehörigen in Gefahr zu bringen und das Schicksal der Allianz, aufs Spiel zu setzen, nur um ein paar Hundert gegnerische Zivilisten zu retten? Es war ja nicht so, als hätte er sonst nichts zu tun gehabt.

Schließlich war da die Frage, wer den Wurm verbreitet hatte.

Vielleicht würde derjenige die Gelegenheit für weitere Sabotageakte nutzen, wenn sie alle mit der Rettung dieser Leute beschäftigt waren. Seine Hoffnung war gewesen, dass irgendjemand in der Flotte während des Sprungs von seinem schlechten Gewissen heimgesucht wurde und sich nach der Ankunft in Wendig bei ihm meldete. Leider war jedoch bislang niemand in dieser Weise in Erscheinung getreten. Auch hatten weder Riones noch Duellos' Quellen etwas in Erfahrung bringen können. Aber durfte das darüber entscheiden, ob sie diesen Leuten helfen oder sie im Stich lassen sollten?

»Co-Präsidentin Rione, wie sieht Ihre Meinung dazu aus?«

Rione nahm sich Zeit, dann erwiderte sie in einem emo-tionslosen Tonfall: »Ich kann nicht den Argumenten widersprechen, die gegen eine Rettungsaktion sprechen. Aber Sie wollen diese Leute doch so oder so retten, nicht wahr, Captain Geary?« Er nickte. »Dann lautet mein Rat, dass Sie auf Ihre Instinkte hören sollten. Bislang haben Sie damit jedes Mal richtig gelegen.«

Desjani wollte Rione einen wütenden Blick zuwerfen, doch dann ging ihr ein Gedanke durch den Kopf, der sie dazu veranlasste, es sich anders zu überlegen. »Co-Präsidentin Rione hat recht, Sir. Was Ihre Instinkte angeht, meine ich. Sie werden auf eine Weise geführt, die uns allen versagt bleibt.«

Nur mit Mühe konnte er ein Aufstöhnen unterdrücken.


Geführt, von den Lebenden Sternen persönlich. Das jedenfalls glaubten Desjani und ein großer Teil der Flotte.

»Aber, Sir«, wandte Desjani ein, »trotzdem bleibt es ein riskantes Unterfangen, und an meiner Meinung ändert das nichts. Außerdem wird sehr wahrscheinlich eine Syndik-Streitmacht auf der Suche nach uns dieses System durchqueren, und dann wird man den Notruf dort ebenfalls empfangen.«

Er nickte und war erleichtert darüber, dass es eine men-schenwürdige Alternative gab. Doch dann kam ihm ein anderer Gedanke. »Wird eine Syndik-Streitmacht, die uns verfolgen soll, einen Umweg machen, um diesen Zivilisten zu helfen?«

Desjani presste die Lippen zusammen, bis sie nur noch eine schmale Linie bildeten, dann schüttelte sie den Kopf. »Wahrscheinlich nicht, Sir. So gut wie sicher nicht. Der Commander würde im Arbeitslager landen, weil er einen Befehl missachtet hat.«

Das musste er Desjani lassen. Eigentlich wollte sie aus vielen guten Gründen keinen Umweg einlegen, um diese Leute zu retten, doch sie hatte ihm eine ehrliche Antwort gegeben, auch wenn sie damit ihren eigenen Argumenten schadete. Er musste an diese Zivilisten auf Wendig I denken. Es war durchaus denkbar, dass einige von ihnen — ja, sogar einige Erwachsene — noch nie ein Schiff in ihrem Sternensystem zu sehen bekommen hatten. Warum sollte sich auch irgendein Schiff hierher verirren, wenn es doch das Hypernet benutzen konnte? Und jetzt, da ihre Lebenserhaltungssysteme kurz vor dem Versagen standen, blickten sie zum Himmel und sahen diese Flotte vorüberfliegen, die gleich darauf das System verließ. Und dann würden sie vielleicht noch eine Syndik-Flotte sehen, die auf der Jagd nach den Allianz-Schiffen das System durchflog und es dann auch wieder verließ. Danach würden keine Schiffe mehr vorbeikommen. Die Luft wurde dann kälter, und das Atmen fiel schwerer. Während die Alten und die kleinsten Kinder als Erste starben, klammerten sich die körperlich stärksten Bewohner verzweifelt aneinander, bis der Tod sie einen nach dem anderen ebenfalls holte. Schließlich würde es im Wendig-System kein menschliches Leben mehr geben, ganz so wie vor vielen Tausend Jahren, bevor die ersten Raumschiffe hier eingetroffen waren.

Geary atmete angestrengt durch. Dieses Bild der sterben-den Kolonie war so real, als wäre er persönlich dort gewesen.

Wie war es in seinen Kopf gelangt?

Vielleicht wurde er tatsächlich geführt. Er wusste, was sein Herz ihm sagte, und er wusste, was ihm alles sagte, was er je gelernt hatte. Dem gegenüber stand die grausame Realität des Krieges, verbunden mit den Notwendigkeiten, die mit dem Kommando einhergingen. Aber ihnen saß momentan keine Syndik-Flotte im Nacken, also gab es keine unmittelbare Bedrohung, die schwerer wog als die Rettung dieser unschuldigen Zivilisten.

Alle beobachteten ihn und warteten auf seine Entscheidung.

Nur er konnte die Entscheidung treffen. Diese Erkenntnis gab den Ausschlag, denn es lag in seiner Verantwortung, schwierige Entscheidungen zu fällen. Aber weiterzufliegen und die Kolo-nisten ihrem Schicksal zu überlassen, machte gar keine Entscheidung erforderlich, sondern bedeutete nur das Fehlen einer solchen, bis der Punkt erreicht war, an dem es zu spät war, die Rettungsaktion auszuführen. »Ich habe das Gefühl«, begann Geary, »dass es unsere Pflicht ist, diesen Leuten zu helfen. Dass dies eine Prüfung ist, die wir bestehen müssen, um zu beweisen, dass wir immer noch an die Dinge glauben, die die Allianz groß gemacht haben. Wir werden diesen Test bestehen.«

Es kam ihm vor, als hätten alle auf der Brücke der Dauntless gebannt den Atem angehalten, bis er diese Worte sprach. Geary sah zu Desjani und fürchtete, einem missbilligenden Blick zu begegnen. Er wusste, wie sie über die Syndiks dachte. Und jetzt wollte Geary ihr Schiff aufs Spiel setzen, um einige von diesen Syndiks zu retten.

Aber Desjani schien nicht wütend zu sein. Stattdessen musterte sie ihn auf eine Art, als versuche sie etwas zu sehen, das man mit dem bloßen Auge nicht erkennen konnte. »Ja, Sir«, sagte sie. »Wir werden den Test bestehen.«

Die Videoverbindung von Wendig I zur Flotte wurde von statischem Rauschen überlagert, das daran erinnerte, was sie in Lakota hinter sich gelassen hatten. »Ich kann das nicht auf Interferenzen zurückführen. Vermutlich liegt es daran, dass ihre Ausrüstung zusammengeschustert ist«, erklärte der Komm-Wachhabende.

Ein Mann sah sie verdutzt an. »Allianz-Schiff, wir haben Ihre Nachricht empfangen. Wir sind unendlich dankbar, dass Sie uns helfen wollen. Sagen Sie, ist der Krieg vorüber? Oder wie kann es sonst sein, dass Sie sich so tief im Territorium der Syndikatwelten befinden?«

Geary überprüfte die Distanz und stellte fest, dass die Flotte noch immer gut zwei Lichtstunden von Wendig I entfernt war.

Das waren nicht die besten Voraussetzungen für eine Unterhaltung. Genau genommen waren es sogar äußerst lästige Voraussetzungen, wenn seine Antwort zwei Stunden benötigte, ehe sie den Syndik erreichte, und abermals zwei Stunden ver-gehen mussten, bevor dessen Reaktion bei Geary eintraf. »Hier spricht der Befehlshaber der Allianz-Flotte. Wir beabsichtigen nicht, Ihnen etwas vorzumachen. Der Krieg ist nicht vorüber, und diese Flotte ist in einer Gefechtsmission unterwegs, um ins Gebiet der Allianz zurückzukehren. Aber wir greifen keine Zivilisten und keine Kinder an. Wir werden von unserem Kurs durch das System weit genug abweichen, um Shuttles zu Ihnen zu schicken und Ihre Siedlung zu evakuieren. Es darf dabei nicht zu irgendwelchen Verzögerungen kommen. Bei meinen Vorfahren gebe ich Ihnen mein Ehrenwort, dass man Sie gut behandeln wird, solange Sie sich an Bord meiner Schiffe befinden, und dass wir Sie im nächsten bewohnten Sternensystem der Syndikatwelten absetzen werden. Teilen Sie uns bitte die präzise Personenzahl mit, aufgegliedert nach Familien, damit wir sicherstellen können, dass während des Transits die Familienangehörigen nicht voneinander getrennt werden. Wir haben den Landeplatz im Nordwesten Ihrer Stadt als die beste Stelle identifiziert, um unsere Shuttles landen zu lassen. Ein Teil des Platzes ist mit Sandverwehungen bedeckt, die Ihre Leute nach Möglichkeit wegschaffen sollten. Alle müssen sich am nächstgelegenen Zugang zum Landeplatz eingefunden haben, wenn unsere Shuttles eintreffen. Waffen dürfen nicht mitgebracht werden, auch nichts, was als Waffe benutzt werden könnte. Das persönliche Gepäck darf zehn Kilo pro Person nicht überschreiten. Haben Sie noch irgendwelche Fragen?«

Geary lehnte sich nach hinten und schloss die Augen. Falls es Fragen gab, würde er die erst in vier Stunden zu hören bekommen.

Nach weniger als zwei Stunden ging bei Captain Desjani eine Meldung ein, woraufhin sie ihren Platz verließ, zu Geary kam und das akustische Eindämmfeld aktivierte. »Mein Offizier von der Systemsicherheit meldet, dass das Subnetz, über das wir uns vor dem Sprung aus Branwyn unterhalten haben, erneut benutzt wurde, um einen Wurm einzuschleusen. Der konnte identifiziert und blockiert werden, aber alle Versuche, den Absender ausfindig zu machen, sind fehlgeschlagen.«


»Wieder ein Angriff auf den Sprungantrieb?«

»Nein, Sir.« Sie deutete mit einer Kopfbewegung auf das Sternendisplay. »Dieser Wurm hätte die Gefechtssysteme von zwei Kriegsschiffen infiltriert und den Abschuss kinetischer Munition ausgelöst, die die Syndik-Stadt zum Ziel haben sollte. Ein Alarm ist an alle Schiffe ausgegeben worden, damit sie ihre Gefechtssysteme auf Würmer untersuchen, die auf einem anderen Weg verteilt worden sein könnten.«

Geary stockte sekundenlang der Atem. »Dann wollen unsere Saboteure also nicht nur ihre ahnungslosen Kameraden ermorden, sondern jetzt auch noch wehrlose Syndik-Zivilisten. Um welche Schiffe geht es?«

»Die Munition wäre von der Courageous und der Furious abgefeuert worden, Sir.«

»Schiffe, deren Kommandanten zu meinen stärksten Befür-wortern in dieser Flotte gehören.« Er spürte, wie die Wut in ihm hochstieg. Weder die Flotte noch die Shuttles hätten die Uberlebenden rechtzeitig erreichen können, um sie vor der Munition in Sicherheit zu bringen. »Da hat jemand äußerst kranke Rachegelüste, und er ist offenbar zu allem bereit.«

Desjanis Miene ließ erkennen, dass sie seine Meinung teilte.

»In einer halben Stunde werden sie wissen, dass ihr Plan fehlgeschlagen ist. Dann sollten die Schiffe ihr Ziel erfassen und das Bombardement beginnen.«

»Vielen Dank, Captain. Es gibt da einige Leute, mit denen ich reden muss.« Mit diesen Worten verließ er die Brücke, und erst als er in seinem Quartier war und alle Sicherheitsmaßnahmen aktiviert waren, nahm er mit Rione Kontakt auf und brachte sie auf den neuesten Stand. »Ich weiß nicht, ob irgendjemand eine Reaktion erkennen lassen wird, wenn der Wurm nicht funktioniert, aber es wäre nicht schlecht, wenn Ihre Quellen die Augen offenhalten könnten.«


Rione, die kreidebleich geworden war, nickte zustimmend.

Dann informierte Geary Captain Duellos und wartete ab. Er überlegte, was er unternehmen sollte, wenn irgendein anderer Wurm nicht entdeckt und gestoppt worden war und einige seiner Schiffe dennoch damit begannen, die im Sterben liegende Syndik-Kolonie zu bombardieren. Aber nichts geschah, und niemand meldete sich bei ihm. Natürlich hatte er auch nicht erwartet, dass jemand einen Tobsuchtsanfall bekam, wenn die Zeit verstrich und der Angriff nicht stattfand, doch es hatte offenbar nicht mal unterschwellige Anzeichen von Verärgerung über diesen neuerlichen Fehlschlag gegeben.

Gewissheit gab es lediglich in dem Punkt, dass die Verschwörer spätestens jetzt wussten, dass der von ihnen gewählte Weg über das Subnetz entdeckt worden war.

Wer immer zuvor versucht haben mochte, die drei Allianz-Schiffe zu zerstören, war also auch dagegen, dass Geary diesen Syndiks half. Das war zumindest ein Zeichen dafür, dass er sich tatsächlich richtig entschieden hatte.

Dann endlich traf die Antwort von der Syndik-Kolonie ein.

Der gleiche Syndik wie zuvor war auf dem Display zu sehen und machte nun einen nervösen Eindruck. Unwillkürlich musste Geary daran denken, wie viel nervöser der Mann noch sein würde, wenn er wüsste, wie dicht seine Stadt davorgestan-den hatte, in einen großen Krater verwandelt zu werden. »Sir, meine Leute sind sehr besorgt. Verstehen Sie das bitte nicht falsch, aber viele von ihnen trauen der Allianz nicht. Wenn sich nichts Grundlegendes geändert hat, seit wir vor vielen Jahrzehnten das letzte Mal Kontakt mit der Außenwelt hatten, dann nimmt dieser Krieg kaum Rücksicht auf die Zivilbevölkerung. Ich versuche die Leute davon zu überzeugen, Ihnen zu vertrauen, weil ich keinen Grund wüsste, warum Sie sich die Mühe machen sollten, uns an Bord zu holen und uns dort zu töten, wenn Sie uns genauso gut hier unten sterben lassen könnten. Außer vielleicht… die Frauen… die Mädchen… all unsere Kinder. Es tut mir leid, aber Sie müssen verstehen, wovor wir Angst haben. Was kann ich meinen Leuten sagen, Sir?«

Geary dachte gründlich über seine Erwiderung nach. Dieser Mann wollte und musste überzeugt werden, wenn er seinen eigenen Leuten klar machen sollte, dass sie ihm vertrauen konnten. »Sagen Sie Ihren Leuten, dass Captain John Geary diese Flotte befehligt und dass er im Auftrag seiner Vorfahren handelt, die er niemals entehren würde, indem er den Hilflosen Schaden zufügt oder sein Wort bricht. Ich wiederhole, dass ich Ihnen mein Ehrenwort gebe, dass Ihnen nichts geschehen wird, solange keiner von Ihnen versucht, einem meiner Schiffe Schaden zuzufügen. Jeder Angehörige meiner Flotte, der einen Ihrer Leute angreift, wird nach dem Kriegs-recht für sein Verhalten zur Rechenschaft gezogen. Ich hätte Ihnen Lügen auftischen können, was den Krieg oder die Mission dieser Flotte angeht, aber das habe ich nicht getan. Ihre Leute haben militärisch nicht den geringsten Wert. Aber es sind Menschen, und wir lassen keine Menschen sterben, wenn wir sie retten können. Bitte geben Sie uns schnellstmöglich die angeforderten Informationen durch.«

Der nächste halbe Tag verlief so völlig normal, dass es Geary fast schon surreal vorkam. Er autorisierte die Freigabe der Information über die neuesten Würmer, auch wenn es Be-fürchtungen gab, es könnten sich einzelne Offiziere auf die Seite der Saboteure schlagen, weil sie gegen seine Entscheidung waren, den Syndiks zu helfen. Doch stattdessen sorgte die Meldung von der versuchten Kaperung der Gefechtssysteme für einen erneuten Sturm der Entrüstung in der Flotte.

Die Menschen hatten sich nie so ganz ihres Misstrauens gegenüber automatisierten Waffensystemen entledigen können, und somit war allein schon der Gedanke, mit schädlicher Software ein Waffensystem zum eigenständigen Handeln ver-anlassen zu wollen, für die meisten ein Unding.

Shuttles flogen zwischen den Kriegsschiffen hin und her, um sie mit Brennstoffzellen und neuer Munition, mit. Ersatz-teilen und allem anderen zu versorgen, was die Hilfsschiffe seit dem Abflug aus Lakota produziert hatten. Zufrieden nahm Geary zur Kenntnis, dass der durchschnittliche Bestand an Brennstoffzellen auf 65 Prozent anstieg. Das war zwar kein großartiger Schnitt, aber immer noch deutlich besser als der Zustand, der noch kurz zuvor geherrscht hatte. Commander Savos wechselte als neuer Befehlshaber auf die Orion, wobei er nur zu gut wusste, welchen Widrigkeiten er sich dort ausgesetzt sehen würde. Aber vielleicht gelang es ihm ja, auf der Orion einen Stimmungswandel auszulösen, so wie es Commander Suram an Bord der Warrior geschafft hatte.

Die nächste Meldung von den Syndiks traf erst ein, als die Allianz-Flotte weniger als eine Lichtstunde von Wendig I entfernt war, den sie bei der momentanen Geschwindigkeit in gut zehn Stunden erreichen würde. »Wir werden Ihnen vertrauen, weil uns keine andere Wahl bleibt. Einige unserer Leute sind mit den wenigen noch funktionierenden Schutzanzügen nach draußen gegangen, um die Landefläche vom Sand zu befreien. Wir werden alle bereitstehen, wenn Ihre Shuttles eintreffen.«

Desjani lauschte resigniert dieser Mitteilung, Riones Miene verriet nichts darüber, was sie dachte. Alle anderen auf der Brücke schienen sich nur zu wundern, warum Geary das machte. In gewisser Weise hatte das etwas Deprimierendes an sich. Aber wenigstens gab es von keiner Seite mehr Widerspruch, und das ließ ihn zumindest hoffen.


Als die Flotte sich ihrem Ziel näherte, starteten die Shuttles in Richtung Wendig, während die Allianz-Kriegsschiffe Brems-manöver einleiteten, damit die Shuttles genug Zeit hatten, um zu landen, die Menschen an Bord zu nehmen und sich auf den Rückweg zu machen. Von der Brücke der Dauntless aus verfolgte Geary das Geschehen mit. An Bord einesjeden Shuttles befand sich eine Einheit Marines in voller Gefechtsmontur, worüber Geary gar nicht begeistert war, weil es bedeutete, dass weniger Passagiere Platz fänden und mehr Shuttles losge-schickt werden mussten. Allerdings hatte Colonel Carabali darauf bestanden, und ihm war klar gewesen, wie recht sie mit ihrer Ansicht hatte.

»Alle Vögel gelandet«, meldete der Wachhabende.

Auf seinem Display wurde Geary eine Draufsicht der gelan-deten Shuttles angezeigt, aus denen die Marines ausschwärmten, um ihre Wachpositionen einzunehmen und die Passagiere zu durchleuchten. Evakuierungsschläuche wurden mit der Luftschleuse an der Stadt der Zivilisten verbunden. Geary schaltete kurz auf den Video-Feed eines der Marines um. Die Randbezirke der Syndik-Stadt wirkten wie vor sehr langer Zeit aufgegeben, an den Hauswänden hatten sich Wehen aus Sand und giftigem Schnee gesammelt. Die leblose Landschaft war mit nicht mehr zu gebrauchenden Überresten von Ausrüs-tungsgegenständen übersät. Die kalte, verlassene Siedlung ließ Geary unwillkürlich frösteln. »Könnten Sie sich vorstellen, an einem solchen Ort festzusitzen?«, fragte er Desjani.

Sie betrachtete das Bild, sagte aber nichts dazu.

»Ladevorgangabgeschlossen«, meldete Colonel Carabali. Es war eine Lande-Expedition und damit eine Operation der Marines, und davon hatte sich Carabali auch nicht abbringen lassen. »Evakuierungsschläuche werden in die Shuttles zurückgeholt. Shuttles starten in schätzungsweise null drei Minuten.«


»Irgendwelche Probleme, Colonel?«, erkundigte sich Geary.

»Noch nicht, Sir.« Bei über fünfhundert Syndiks hielt Carabali es offenbar nur für eine Frage der Zeit, bis sich die ersten Schwierigkeiten ergaben.

»Vögel planmäßig in der Luft«, meldete der Ops-Wachhabende. »Rendezvous mit den Kriegsschiffen in fünfundzwanzig Minuten.«

Desjani tippte auf ihre Kontrollen. »Colonel Carabali, be-stätigen Sie bitte, dass die Syndiks auf Waffen und gefährliche Stoffe abgesucht worden sind.«

Als Carabali darauf reagierte, klang sie ein wenig beleidigt darüber, dass ein Flottenoffizier einen Marine fragte, ob der seine Arbeit gemacht hatte. »Vollständige Scans. Die Leute sind sauber. Sie haben ohnehin nicht viel bei sich.«

Zusammen mit Desjani begab sich Geary zum Shuttlehangar, um die Syndik-Zivilisten zu empfangen, die an Bord der Dauntless gebracht wurden. Von Marines in Gefechtsmontur begleitet, die ihre Waffen im Anschlag hielten, verließen die Syndiks das Shuttle. Einige versuchten, eine tapfere Miene zu machen, aber letztlich wirkten sie doch alle verängstigt. Insgesamt waren es einundfünfzig Personen, deren Kleidung ein heilloses Durcheinander aus verschiedenen Stilen, Materialien und Farben war, die aus alten Beständen stammen mussten, da ihre Sachen irgendwann so sehr verschlissen worden waren, dass sie sie nicht mehr tragen konnten. Alle waren recht hager; zweifellos eine Folge immer kleiner werdender Rationen, da die Lebensmittelvorräte in den letzten Jahren kontinuierlich geschrumpft waren.

Sie gaben sich Mühe, nicht das Schiffsinnere oder das Alli-anzpersonal auf dem Hangardeck anzustarren. Mit einem Mal wurde Geary bewusst, dass diese Leute noch nie in ihrem Leben irgendwelchen Fremden begegnet waren und noch nie einen unbekannten Ort besucht hatten. Obwohl sie durch Zeit und Raum weit von den Ursprüngen der Menschheit entfernt waren, ließen sich diese Syndiks mit den uralten Bewoh-nern einer kleinen Insel vergleichen, die zum ersten Mal ein Schiff zu sehen bekamen. Und dann waren diese Schiffe auch noch Kriegsschiffe ihrer Erzfeinde!

Desjani stand stocksteif neben ihm, während sie mit reglo-ser Miene beobachtete, wie diese Fremden an Bord ihres Schiffs kamen.

Als Geary den Mann wiedererkannte, mit dem er über die Videoverbindung gesprochen hatte, ging er auf ihn zu. »Willkommen an Bord des Flaggschiffs dieser Allianz-Flotte. Wir müssen Sie alle bewachen, außerdem ist ein Kriegsschiff nicht dafür ausgelegt, viele Passagiere an Bord zu nehmen, weshalb Ihre Quartiere recht beengt ausfallen werden.«

Der Mann nickte. »Ich bin der Bürgermeister von… nun, ich war einmal der Bürgermeister von Alpha. Wir haben keinen Anlass, uns über die Bedingungen zu beklagen. Es ist warm, wir können atmen. Ehrlich gesagt wussten wir nicht, ob unsere Lebenserhaltungssysteme bis zum Eintreffen Ihrer Shuttles durchhalten würden.« Den Augen des Mannes war anzusehen, dass ihm die Erinnerungen an ein quälendes Warten noch immer zu schaffen machten. »Aber wenigstens wussten wir, Sie waren auf dem Weg zu uns. Seit der Konzern sich zurückgezogen hat, ist kein Schiff mehr zu uns gekommen. Bevor Ihre Nachricht uns erreichte, waren wir im Begriff auszulosen, wer die Kuppel verlassen und wer bleiben sollte. Allerdings mein-ten einige, die Alteren sollten gar nicht erst Hölzchen ziehen, weil wir ohnehin nicht so lange durchhalten würden.«

Man konnte sich nur zu gut vorstellen, was diese Leute empfunden haben mussten. »Warum wurden Sie nicht evakuiert, als alle anderen das System verließen?«


Diesmal reagierte der Bürgermeister mit einer ratlosen Geste. »Das wissen wir nicht. Wir alle haben für Subunterneh-men des gleichen Konzerns gearbeitet, und unsere Vorgesetzten verließen unseren Planeten mit dem letzten Schiff, das von einer anderen Gesellschaft geschickt worden war. Man sagte uns, die nächsten Schiffe würden bald eintreffen, aber danach geschah nichts mehr.«

»Wir bringen Sie nach Cavalos, also nehme ich an, dass Ihre Schiffe letztlich doch noch eingetroffen sind.«

Der Bürgermeister grinste nervös. »Besser spät als gar nicht, so sagt man doch. Sie erwähnten, dass Sie Captain John Geary sind, stimmt das? Wir kennen den Namen aus unseren Ge-schichtsbüchern, allerdings steht in denen wahrscheinlich etwas anderes geschrieben als in Ihren. Sind Sie sein Enkel?«

»Nein, ich bin es selbst«, antwortete er kopfschüttelnd und fügte hinzu: »Das ist eine lange Geschichte, aber lassen Sie sich gesagt sein, dass ich bei Grendel die erste Schlacht dieses Krieges ausgetragen habe, und wenn die Lebenden Sterne es wollen, werde ich auch noch die letzte Schlacht dieses Krieges miterleben.«

Der Mann wich unwillkürlich vor ihm zurück und sah ihn mit großen Augen an. Neben ihm stand eine Frau, die unablässig zwischen ihm und Geary hin und her schaute und dann wieder zu den drei Kindern sah, die sich an ihr festklammer-ten. Der älteste Junge bemerkte, wie sein Vater leicht zurück-zuckte, und warf daraufhin Geary einen trotzigen Blick zu.

»Wagen Sie es ja nicht, meinem Vater was anzutun!«

Bevor Geary etwas erwidern konnte, bemerkte er, dass Desjani neben ihm stand. Sie betrachtete den Jungen, wobei ihr Gesicht zwar noch immer keine Regung zeigte, während ihre Augen von einer unerklärlichen Traurigkeit erfüllt waren. »Deinem Vater wird auf meinem Schiff nichts geschehen, wenn er nichts unternimmt, was meinem Schiff schaden könnte.«

Der Junge schob sich zwischen Desjani und seine Mutter.

»Wir können Ihnen nicht glauben. Wir wissen, was Sie getan haben.«

Zu Gearys Verwunderung kniete sich Desjani hin, damit sie auf Augenhöhe mit dem Jungen war. »Junger Mann von den Syndikatwelten«, sprach sie den Jungen an, als wäre er bereits so alt wie sein Vater. »Unter dem Kommando von Captain John Geary greift die Allianz-Flotte nicht länger die Unschuldigen oder die Hilflosen an. Und selbst wenn er sein Kommando abgeben sollte, würden wir nicht wieder so handeln, weil er uns daran erinnert hat, was die Ehre von einem Krieger verlangt. Du musst deine Familie nicht vor uns beschützen.«

Dem Jungen fehlten die Worte, weil er nicht glauben konnte, dass sie ihn ernst genommen hatte, und er nickte nur stumm.

Desjani stand auf, sah den Jungen und dann dessen Mutter an, wobei sie irgendeine stumme Botschaft übermittelte, die von der Mutter mit einem Kopfnicken und einer beruhigten Miene aufgenommen wurde. Dann ließ Desjani ihren Blick über das Hangardeck schweifen, und mit der energischen Stimme eines Kommandanten erklärte sie: »Bürger der Syndikat-Welten, ich bin Captain Desjani, befehlshabender Offizier des Allianz-Schlachtkreuzers Dauntless. Sie sind keine Angehörigen des Militärs, daher werden Sie wie Zivilisten behandelt, die humanitäre Hilfe benötigen, es sei denn, Sie versuchen, meinem Schiff oder einem meiner Besatzungsmitglieder Schaden zuzufügen. Befolgen Sie alle Anweisungen und Befehle, die man Ihnen gibt. Wer gegen einen Befehl verstößt oder dem Schiff oder dessen Personal Schaden zuzufügen versucht, wird als feindlicher Soldat angesehen und entsprechend behandelt.


Wir benötigen noch drei Tage, um den Sprungpunkt nach Cavalos zu erreichen, dann folgt der Sprung nach Cavalos, der nicht ganz neun Tage in Anspruch nehmen wird. Laut den jüngsten Sternenführern der Syndikat-Welten, die sich in unserem Besitz befinden, gibt es auf den Welten dieses Sterns eine größere menschliche Bevölkerung. Dort angekommen, werden wir einen sicheren Platz auswählen, wo wir Sie absetzen können.«

Während sie die Zivilisten musterte, kam ihr ein Gedanke.

»Ich werde Sie von meinem medizinischen Personal untersuchen lassen. Ich empfehle Ihnen, die Anweisungen dieses Personals zu befolgen und zu kooperieren. Als Verpflegung erhalten Sie das, was meine Crew auch isst. Derzeit handelt es sich dabei überwiegend um Syndik-Rationen, die das Haltbarkeits-datum überschritten haben. Haben Sie irgendwelche Fragen?«

Eine Frau mittleren Alters rief: »Warum?«

Desjani sah zu Geary, aber der signalisierte ihr, dass sie darauf antworten durfte, wenn sie wollte. Sie wandte sich der Frau zu. »Weil nur derjenige, der Gnade gewährt, erwarten kann, dass auch ihm Gnade gewährt wird. Und weil die Ehre unserer Vorfahren es von uns verlangt. Marines, begleiten Sie die Zivilisten zu ihren Quartieren.«

Entgegen Gearys Befürchtungen ereigneten sich im Verlauf der beiden folgenden Tage keine weiteren Sabotagever-suche, während sich die Flotte dem Sprungpunkt nach Cavalos näherte. Die Syndik-Zivilisten waren so verängstigt, dass keiner von ihnen irgendwelche Schwierigkeiten machte. Als Geary auf der Brücke saß und darauf wartete, den Sprungbefehl zu geben, fiel ihm auf, dass Desjani mit betrübter Miene ihr Display betrachtete, auf dem Wendig I zu sehen war.

»Stimmt was nicht?«, fragte er.

Sie schüttelte den Kopf. »Ich musste gerade darüber nachdenken, wie ich mich wohl fühlen würde, wenn diese Leute immer noch auf dem Planeten wären, während wir nach Cavalos springen wollen. Ich musste über viele Dinge nachdenken, aber Sie haben das Richtige gemacht, Sir.«

»Wir haben das Richtige getan, Captain Desjani.« Sie sah ihn an und nickte, dann warf er einen letzten Blick auf den Planeten Wendig I, der wieder so völlig frei von Leben war wie zuletzt vor vielen Jahren, bevor Menschen ihn besiedelten.

»An alle Schiffe: Sprung nach Cavalos — jetzt.«

Neun Tage im Sprungraum waren eine recht lange Zeit, und es blieb nicht aus, dass die Gedanken irgendwann um die Frage zu kreisen begannen, was geschehen wäre, hätte man die Würmer in den Antriebseinheiten nicht entdeckt. Geary starrte in das trübe Grau des Sprungraums, durch das immer wieder diese unerklärlichen Lichter zuckten, und verspürte einmal mehr jenes seltsame Unbehagen, als würde seine Haut nicht richtig an seinem Körper anliegen, ein Gefühl, das mit jedem Tag etwas stärker wurde und die Frage in ihm aufkom-men ließ, wie lange sich ein Mensch im Sprungraum aufhalten konnte, ohne den Verstand zu verlieren.

Die verängstigten Syndiks machten keinerlei Probleme, und die Besatzung war damit beschäftigt, weiter die erlittenen Schäden zu reparieren, während die Hilfsschiffe eifrig produ-zierten, um die Vorräte der Kriegsschiffe aufzustocken.

Die ganze Zeit über kreisten Gearys Gedanken immer wieder um die Feinde in den eigenen Reihen, die ihm mehr Sorgen bereiteten als das Syndik-Militär. Das war zuvor nicht der Fall gewesen, allerdings war bis dahin von seinen Widersachern auch keine Todesgefahr für ihn und für die Schiffe der Flotte ausgegangen.


Nach fünf Tagen im Sprungraum wurde ihm eine kurze Nachricht übermittelt, die das Einzige war, was in dieser Umgebung von Schiff zu Schiff geschickt werden konnte. Mache Fortschritte. Die Mitteilung stammte von Captain Cresida.

Wenn es ihr gelang, die Gefahr wenigstens zum Teil einzudämmen, die von zusammenbrechenden Hypernet-Portalen für die gesamte Menschheit ausging, würde ihm das eine immense Last von den Schultern nehmen.

Neun Tage, eine Stunde und sechs Minuten, nachdem sie das Wendig-System verlassen hatten, kehrte die Allianz-Flotte im Sternensystem Cavalos in den Normalraum zurück. Die Waffen waren feuerbereit, die Sensoren scannten nach möglichen Zielen. Aber es erwarteten sie hier keine Minen am Sprungpunkt, nicht mal ein paar Schiffe waren als Wachtpos-ten stationiert worden. Offenbar hatte der unerwartete Sieg der Allianz bei Lakota die Syndiks überrumpelt.

Im Cavalos-System fand sich tatsächlich noch eine passable menschliche Präsenz. Eine halbwegs angenehme Welt kreiste in acht Lichtminuten Entfernung um den Stern, der in einem höheren Orbit noch ein halbes Dutzend Planeten aufwies, darunter die typische Zahl von drei Gasriesen. Auf einem von ihnen wurde immer noch Bergbau betrieben, zudem fanden sich in seinem Orbit verschiedene Fabrikanlagen. In der Nähe der bewohnten Welt entdeckten die Sensoren einen veralte-ten Leichten Kreuzer, dazu drei Korvetten, deren Stapellauf noch vor dem des Kreuzers stattgefunden haben musste.

Geary betrachtete das Bild, das sich ihnen bot, dann sah er zu Desjani. »Nur eine standardmäßige Streitmacht zur Selbst-verteidigung, aber keine Bedrohung für uns.«

Sie zuckte mit den Schultern. »Wir sollten sie unbrauchbar machen, falls sich die Gelegenheit ergibt. Sie stellen legitime Ziele dar.«


»Ich weiß, aber ich rechne nicht damit, dass sie so dumm sind, uns damit anzugreifen. Die sind weder die Zeit noch die Brennstoffzellen wert, die wir verbrauchen, wenn wir sie jagen.«

Diesmal nickte sie. »Stimmt, außerdem sind sie schon jetzt Schrott. Was unsere interne Bedrohung angeht, sind die für die Sicherheitssysteme zuständigen Offiziere überall in der Flotte alarmiert worden, aber bislang hat sich nichts gerührt.«

Keine akute Bedrohung für die Flotte, also Zeit, um sich wieder einmal Gedanken über die Syndiks von Wendig zu machen. »Dieses Sternensystem scheint unter dem Bau des Hypernets nicht gelitten zu haben. Sollen wir unsere Passagiere an dieser Orbitaleinrichtung absetzen? Sie liegt nicht so weit abseits von unserer Route, und wir müssen nicht allzu tief ins System fliegen.« Die Syndik-Einrichtung im Orbit um den Gasriesen war eineinviertel Stunden von der Allianz-Flotte entfernt und befand sich nur ein kleines Stück abseits des Kurses, dem die Flotte folgen müsste, um direkt zu den Sprungpunkten zu gelangen, die zu den beiden nächsten Sternen führten, zwischen denen Geary wählen konnte — Anahalt oder Dilawa. Das Aufwendigste würde es sein, die Flotte abbrem-sen zu lassen, damit die Shuttles die Syndik-Zivilisten abliefern konnten. Der Zeitverlust würde dabei minimal ausfallen, der wahre Preis bestand in den Treibstoffzellen, die dafür verbraucht werden mussten.

Desjani schürzte die Lippen, als sie die Rückmeldungen der Flottensensoren studierte. »Es gibt dort genügend kalte Bereiche, was bedeutet, dass sie sich notfalls bis dorthin ausbreiten können. Entweder das, oder aber sie haben überschüssige Lebenserhaltungskapazitäten in den belegten Bereichen. Auf jeden Fall sollte es für sie ein Leichtes sein, die Zivilisten von Wendig aufzunehmen.«


»Co-Präsidentin Rione?«, fragte Geary.

»In dieser Angelegenheit überlasse ich das Ihrem fach-lichen Urteilsvermögen«, erwiderte Rione.

»Also gut.« Er konzentrierte sich, dann betätigte er die Komm-Taste. »Hier spricht Captain John Geary, befehlshabender Offizier der Allianz-Flotte. Ich wende mich hiermit an alle Bewohner und Behörden des Sternensystems Cavalos. Wir beabsichtigen keine militärischen Aktionen in Ihrem System, es sei denn, wir werden von Ihnen angegriffen. Sollten Sie uns angreifen, werden wir in angemessener Weise zurückschla-gen.« Nach einer kurzen Pause fuhr er fort; »An Bord dieser Flotte befinden sich fünfhundertdreiundsechzig Zivilisten, bei denen es sich um Bürger der Syndikat-Welten handelt. Wir haben sie im Wendig-System angetroffen, wo sie nach dem Ausfall ihrer Lebenserhaltungssysteme einen Notruf abgesetzt hatten. Wir werden diese Zivilisten an der Orbitaleinrichtung nahe dem Gasriesen absetzen, der 5,3 Lichtstunden von Ihrem Stern entfernt ist. Jeder Angriff auf unsere Flotte während dieses Transits könnte Ihren eigenen Bürgern schaden, daher rate ich Ihnen, davon Abstand zu nehmen.« Ehe er weiterredete, atmete er erst einmal tief durch. »Diese Flotte hielt sich im Lakota-System auf, als Kriegsschiffe der Syndikat-Welten das Hypernet-Portal des Systems zerstörten und damit eine zerstörerische Energiewelle entfesselten, die auf der bewohnten Welt und bei allen anderen Standorten menschlicher Präsenz verheerende Schäden angerichtet hat. Wir werden an alle Schiffe und bewohnte Planeten Kopien unsere Aufzeichnungen von diesem Ereignis ebenso übermitteln wie den Hilferuf der Uberlebenden auf Lakota III. Diese Menschen benötigen dringend Hilfe, daher bitten wir Sie, diese Informationen so schnell wie möglich weiterzuleiten. Ich wiederhole: Jeder Angriff auf diese Flotte wird mit überwältigender Schlagkraft beantwortet. Auf die Ehre unserer Vorfahren.« Er lehnte sich zurück und sah zu Desjani. »War das bedrohlich genug?

»Sofern sie klug genug sind.«

Es überraschte niemanden, dass die Syndiks weder auf Gearys Mitteilung noch auf den Hilferuf von Lakota reagierten.

Der Schiffsverkehr im System folgte dem üblichen Muster da-hingehend, dass man die Flucht in Richtung der Sprungpunkte oder der Einrichtungen antrat. Darüber hinaus ließ sich nicht feststellen, dass mit Ausnahme der Zivilschutzaktivi-täten auf der bewohnten Welt irgendwer auf die Anwesenheit der Flotte im System reagierte. Gleichermaßen ließen auch die Saboteure innerhalb der Flotte nichts von sich hören, was aber kein Grund zum Aufatmen war, sondern vielmehr die Angst schürte, man könnte irgendetwas übersehen haben.

Als sich die Allianz-Flotte der Orbitaleinrichtung näherte und nur noch zwei Flugstunden entfernt war, tat sich plötzlich etwas. »Da kommt eine Nachricht von der Syndik-Anlage«, meldete der Komm-Wachhabende der Dauntless.

Geary rief sie auf und bekam das Gesicht einer Frau mit grauen Haaren und nervösen Augen zu sehen. »Nähern Sie sich nicht dieser Einrichtung. Sie können hier keine Shuttles landen lassen«, erklärte sie.

»Das werden wir aber«, gab Geary zurück. »Wir werden Bürger der Syndikat-Welten bei Ihnen absetzen und dann wieder abreisen.«

»Wir werden uns zur Wehr setzen, wenn Sie versuchen, in diese Einrichtung einzudringen.«

»Wir wollen weder in diese noch in eine andere Einrichtung in diesem System eindringen. Unsere Shuttles werden von Sicherheitspersonal aus den Reihen der Marines begleitet werden. Stellen Sie sicher, dass sich kein bewaffnetes Personal in der Nähe aufhält, wenn wir Ihre Bürger absetzen. Sobald das geschehen ist, werden unsere Shuttles und die Marines sich wieder zurückziehen.«

Die Frau schüttelte den Kopf, ihre Wangen nahmen etwas Farbe an. »Ich kann nicht zulassen, dass sich Angehörige der Allianz in der Nähe meiner Einrichtung aufhalten. Wir werden uns verteidigen.«

Geary hatte Bürokraten noch nie leiden können, erst recht keine Bürokraten, die nicht in der Lage waren, sich an neue Gegebenheiten anzupassen, wenn die Realität mit den Regeln in Konflikt geriet, nach denen sie ihr Leben ausrichteten.

»Hören Sie zu. Wenn Sie versuchen sollten, meinen Schiffen, meinen Shuttles oder meinen Leuten Schaden zuzufügen, während wir Ihre Zivilisten absetzen, dann werde ich diese Station so unter Beschuss nehmen lassen, dass die Quarks nie wieder den Weg zurück zu ihrem Platz innerhalb ihrer Atome finden. Haben Sie das verstanden? Wenn jemand auf die Zivilisten feuert, die wir bei Ihnen absetzen wollen, dann erwidern wir das Feuer. Das sind Ihre Leute. Wir haben sie unter Gefahr für unser eigenes Leben gerettet, und wir nehmen uns Zeit, die wir eigentlich gar nicht haben, nur um sie hier abzusetzen.

Und Sie sollten sich verdammt noch mal gut um diese Leute kümmern, sobald sie bei Ihnen sind!« Geary wurde mit jedem Satz lauter und brüllte die Stationsleiterin der Syndiks schließlich so laut an, dass die es mit der Angst zu tun bekam.

»J-ja, ich… ich verstehe«, stammelte sie. »Wir machen alles bereit, um sie in Empfang zu nehmen. Aber ich bitte Sie, wir haben Familien auf dieser Station…«

»Dann sollten Sie dafür sorgen, dass es keine Probleme gibt«, erwiderte Geary, während er versuchte, wieder zu einer normalen Lautstärke zurückzukehren. »Einige Zivilisten von Wendig leiden unter langwierigen oder chronischen Gesund-heitsproblemen, die sie dort nicht behandeln konnten. Wir haben getan, was in unserer Macht stand, aber sie werden von Ihnen weiter versorgt werden müssen. Ich mache keinen Hehl daraus, dass es mich anwidert, dass Ihre Führer die eigenen Bürger sich selbst überlassen und es ihnen egal ist, ob ein Lebenserhaltungssystem funktioniert oder nicht.«

»Sie werden uns nicht töten? Und nicht diese Station zerstören?« Die Verwalterin schien große Probleme zu haben, diesen Gedanken zu begreifen.

»Nein. Der militärische Wert, den Ihre Station besitzt, wiegt nicht das Leid auf, das damit den Zivilisten in diesem System zugefügt würde.«

»Und Sie haben diese Leute tatsächlich aus dem Wendig-System mitgebracht? Wir dachten, da ist niemand mehr.« Die Frau schien kurz vor einem Zusammenbruch zu stehen. »Es hieß, dass jeder von dort abgeholt wurde, als man das System aufgab.«

»Von den Menschen, die wir evakuiert haben, mussten wir erfahren, dass die Unternehmen, für die sie selbst oder ihre Eltern gearbeitet haben, niemals Schiffe hingeschickt haben, um sie abzuholen. Warum das nicht geschah, konnten sie natürlich nie herausfinden. Vielleicht können Sie ihnen dabei ja behilflich sein«, fügte Geary an.

»W-wie viele sind es?«

»Fünfhundertdreiundsechzig.« Ihrem Gesichtsausdruck war anzusehen, dass ihr die gleiche Frage auf der Zunge lag, die sich alle Syndiks und sogar viele seiner eigenen Leute immer wieder stellten. Warum? Verärgert darüber, dass er einmal mehr mit einer Frage konfrontiert wurde, deren Antwort seiner Ansicht nach völlig offensichtlich war, fügte er schroff an: »Das wäre dann alles.«

Desjani tat schon wieder so, als sei sie völlig auf ihr eigenes Display konzentriert.


»Wann bringen wir die Syndiks zu den Shuttles?«, fragte Geary, der noch immer wütend war.

»Sie sollten bereits auf dem Weg zum Shuttlehangar sein«, erwiderte Desjani in einem Tonfall, der sich in Gearys Ohren verdächtig beschwichtigend anhörte. Er versuchte zu entscheiden, ob er sich darüber auch noch ärgern sollte, als sie auf einmal aufstand und anfügte: »Ich war eben im Begriff, sie zu verabschieden.«

Geary zwang sich zur Ruhe. »Was dagegen, wenn ich mitkomme?«

»Natürlich nicht, Sir.«

Die gleiche Szene wie vor elf Tagen spielte sich im Hangar nun in umgekehrter Reihenfolge ab, da die Syndik-Zivilisten sich wieder zu den Shuttles begaben. Manche blieben kurz stehen und winkten einzelnen Besatzungsmitgliedern der Dauntless zu, die sich im Hangar eingefunden hatten und schweigend die Prozession beobachteten. Die Marines in ihren Kampfanzügen wirkten so furchteinflößend wie eh und je, doch diesmal schienen die Syndiks nicht ganz so viel Angst vor ihnen zu haben.

Der ehemalige Bürgermeister von Alpha drehte sich zu Geary und Desjani um, als die beiden sich der Gruppe näherten. »Ich danke Ihnen. Ich wünschte, ich wüsste, was ich sonst noch sagen könnte. Keiner von uns wird jemals vergessen, was Sie für uns getan haben.«

Zu Gearys Verwunderung kam Desjani ihm mit einer Erwiderung zuvor. »Wenn sich irgendwann in der Zukunft eine Gelegenheit bieten sollte, dann gewähren Sie Allianz-Bürgern die gleiche Gnade.«

»Ich verspreche Ihnen, das werden wir machen. Und wir werden andere bitten, sich ebenfalls so zu verhalten.«

Die Frau des Bürgermeisters trat vor und sah Desjani eindringlich an. »Vielen Dank, Lady, dass meine Kinder leben dürfen.«

»Captain«, korrigierte Desjani sie zwar, doch zugleich verzog sie einen Mundwinkel zu einem schiefen Lächeln. Sie senkte den Blick ein wenig und nickte dem Jungen zu, der sie ernst betrachtete und dann auf Syndik-Art salutierte. Desjani erwiderte den Salut und wandte sich abermals der Mutter zu.

»Vielen Dank, Captain«, sagte die Frau. »Möge dieser Krieg enden, bevor meine Kinder alt genug sind, um Ihrer Flotte im Gefecht zu begegnen.«

Wieder nickte Desjani nur, dann verfolgte sie gemeinsam mit Geary, wie die letzten Syndik-Zivilisten rasch zu den Shuttles liefen. Als sich auch die letzte Luke geschlossen hatte, sagte sie so leise, dass nur Geary sie hören konnte: »Es ist leichter, wenn er kein Gesicht hat.«

Geary benötigte einen Moment, ehe er verstand, was sie meinte. »Sie reden vom Feind?«

»Ja, genau.«

»Sind Sie nie zuvor einem Syndik begegnet?«

»Nur solchen in Kriegsgefangenschaft«, erwiderte sie in abfälligem Tonfall. »Das waren Syndiks, die noch kurz zuvor versucht hatten, mich und andere Allianz-Bürger zu töten.«

Einen Moment lang kniff sie die Augen zu. »Ich weiß nicht, was mit den meisten von ihnen geschehen ist, aber bei einigen von ihnen weiß ich es.«

Geary zögerte, ihr die offensichtliche Frage zu stellen. Kurz nachdem er das Kommando über die Flotte übernommen hatte, war ihm zu seinem Entsetzen bewusst geworden, dass Kriegsgefangene gelegentlich wahllos erschossen wurden — ein Auswuchs von einhundertjahren Krieg, in dem eine Grausamkeit die andere überboten hatte. Er hatte Desjani nicht danach gefragt, ob sie daran ebenfalls beteiligt gewesen war.


Dann schlug sie die Augen auf und sah ihn an. »Ich habe es mitangesehen. Ich habe nie den Abzug betätigt, ich habe auch nie den Befehl gegeben, aber ich habe zugesehen und nichts dagegen unternommen.«

Er nickte, ohne den Blick von ihr abzuwenden. »Man hatte Ihnen eingeredet, dass das ein annehmbares Verhalten war.«

»Das ist keine Entschuldigung.«

»Ihre Vorfahren…«

»… haben mir gesagt, dass es verkehrt ist«, unterbrach Desjani ihn, was sie bei Geary nur selten machte. »Ich wusste es, ich habe es gespürt, aber ich habe nicht auf sie gehört. Ich übernehme die volle Verantwortung für mein Handeln. Ich weiß, ich werde irgendwann dafür bezahlen müssen. Vielleicht haben wir deswegen im Heimatsystem der Syndiks so viele Schiffe verloren. Vielleicht dauert der Krieg deswegen schon so viele Jahre. Wir werden dafür bestraft, dass wir aufgehört haben, das Richtige zu tun, weil wir glaubten, das Falsche tun zu müssen.«

Er wollte sie nicht verdammen, wenn sie schon die ganze Schuld auf sich lud. Aber er konnte zu ihr stehen. »Ja, vielleicht werden wir bestraft.«

Desjani stutzte. »Sir? Warum sollte man Sie für Dinge bestrafen, die geschehen sind, als Sie gar nicht bei uns waren?«

»Ich bin aber jetzt bei Ihnen, nicht wahr? Ich bin Teil dieser Flotte und ich bin der Allianz loyal verbunden. Wenn Sie bestraft werden, dann werde ich auch bestraft. Ich habe nicht so wie Sie den jahrelangen Krieg erleiden müssen, aber mir wurde alles genommen, was ich hatte und kannte.«

Sie schüttelte den Kopf und machte eine noch ernstere Miene. »Sie sagten gerade, das ist Ihre Flotte, und Sie sind der Allianz loyal verbunden. Diese Dinge wurden Ihnen nicht genommen.«


Erstaunt musste Geary erkennen, dass er das so noch nicht gesehen hatte.

Desjani schaute ihn eindringlich an. »Sie wurden uns geschickt, als wir Sie brauchten. Wir haben eine zweite Chance bekommen, und Sie haben ebenfalls eine zweite Chance bekommen. Anstatt Sie bei der Schlacht von Grendel oder danach sterben zu lassen, hat man Sie in der Rettungskapsel überleben lassen. Uns wird Gnade gewährt, wenn wir uns als würdig erweisen.«

Erneut verblüffte sie ihn, indem sie einen Standpunkt aussprach, der ihm selbst nie in den Sinn gekommen wäre: Er war kein losgelöster Held aus den Mythen, sondern einer der ihren.

»Vielleicht haben Sie ja recht«, entgegnete Geary. »Wir können diesen Krieg nicht durch die Zerstörung der Gegenseite gewinnen, es sei denn, wir lassen alle Hypernet-Portale hochgehen und begehen als Spezies Selbstmord. Wenn dieser Krieg ein Ende nehmen soll, dann müssen wir sie nicht nur auf dem Schlachtfeld besiegen, sondern auch bereit sein, den Syndiks zu vergeben, wenn sie echte Reue zeigen. Vielleicht hat man uns ein Beispiel vorgegeben, dem wir folgen sollen.«

Eine Zeit lang standen sie beide schweigend da und sahen zu, wie sich die inneren Hangartüren schlossen, damit die äußeren geöffnet werden konnten. Der Vogel hob ab und brachte seine Passagiere zu der Syndik-Einrichtung. Schließlich schaute Desjani ihn wieder an. »Ich habe lange Zeit damit verbracht, die Syndiks bestrafen zu wollen. Ich wollte ihnen so wehtun, wie sie uns wehgetan haben.«

»Ich kann verstehen, warum Sie das wollten«, sagte Geary.

»Danke, dass Sie mich diesen Zivilisten haben helfen lassen.

Ich weiß, das hat gegen vieles verstoßen, woran Sie glauben.«


»Woran ich geglaubt habe«, korrigierte sie ihn. Wieder schwieg sie, aber Geary wartete geduldig ab, da er spüren konnte, dass sie noch etwas sagen wollte. »Aber dieser Teufelskreis der Vergeltung kennt kein Ende. Mir ist etwas bewusst geworden. Ich möchte nicht eines Tages diesen Jungen töten müssen, wenn er alt genug ist zum Kämpfen.«

»Ich auch nicht. Und auch nicht seinen Vater oder seine Mutter. Und ich will auch nicht, dass der Junge eines Tages Bürger der Allianz tötet. Wie können wir dem ein Ende setzen, Tanya?«

»Sie werden schon eine Lösung finden, Sir.«

»Na, herzlichen Dank.«

Er meinte das sarkastisch, und ganz sicher hatte es auch so geklungen, dennoch lächelte Desjani ihn an. »Haben Sie gemerkt, wie sie uns angesehen haben? Erst waren sie verängstigt, dann ungläubig, und schließlich waren sie sogar dankbar.« Sie wurde ernst und sah nach draußen. »Ich mag den Kampf. Ich mag es, mich mit dem Besten zu messen, was die Syndiks aufzubieten haben. Aber ich habe genug davon, Menschen wie diese zu töten. Können wir die Syndiks davon überzeugen, nicht länger zivile Ziele zu bombardieren?«

»Wir können es versuchen. Unsere Waffen sind präzise genug, um bei einem Bombardement industrielle Ziele zu treffen und die Verluste unter der Zivilbevölkerung auf ein Minimum zu reduzieren.«

Nun machte sie eine finstere Miene. »Die ermorden unsere Leute, aber wir lassen ihre am Leben?«

»Es muss auf Gegenseitigkeit beruhen. Wenn wir zurück sind, werden wir ihnen sagen, dass sie aufhören sollen, unsere Leute zu bombardieren, und wir werden ihre Leute auch weiterhin verschonen.«

»Aber warum sollten sie…?« Desjani unterbrach sich mitten in ihrer Frage, dann sah sie Geary lange an. »Sie könnten uns glauben, dass wir uns an unser Versprechen halten, weil Sie demonstriert haben, dass Sie das tun wollen.«

»Vielleicht ja.«

»Und wenn sie trotzdem nicht aufhören?«

»Dann zerstören wir weiterhin ihre industriellen und militärischen Ziele.« Als Desjani daraufhin den Mund verzog, erklärte er: »Sehen Sie, Tanya, wenn diese Leute nichts mehr herstellen können und sie keine Waffen mehr haben, um zu kämpfen, dann werden sie für die Syndiks zu einer Last, weil die sich dann um sie kümmern und sie mit Lebensmitteln und allem anderen versorgen müssen.«

»Die werden neue Fabriken bauen, und neue Militäranlagen.«

»Und die werden wir auch wieder dem Erdboden gleichma-chen«, sagte Geary und deutete mit einer Kopfbewegung auf das All jenseits der Hülle der Dauntless. »Seit die Menschheit routinemäßig das All bereist, sind wir in die Lage versetzt worden, Steinblöcke aus dem All auf Planeten zu werfen und damit Bauwerke auf Planeten viel schneller und müheloser zu zerstören, als sie von den Menschen wiederaufgebaut werden können. Die Syndiks können rund um die Uhr das wiederauf-bauen, was wir zerstört haben, und trotzdem werden wir auch das im Handumdrehen wieder vernichten.«

Desjani dachte über seine Worte nach und nickte bedächtig. »Sie haben recht. Aber diese Logik traf doch auch schon zu, als wir anfingen, neben militärischen und industriellen Zielen auch zivile Ziele zu bombardieren. Warum haben wir vor vielen Jahrzehnten überhaupt damit angefangen?«

»Das weiß ich nicht.« Geary versuchte sich vorzustellen, wann im vergangenen Jahrhundert der Punkt erreicht worden war, an dem sich die Menschen verändert hatten, um zu dem zu werden, was sie heute waren. Aber es hatte keinen solchen Punkt, kein einzelnes Ereignis gegeben. Vielmehr war das geschehen, was Victoria Rione als ein allmähliches Abglei-ten bezeichnete, bei dem eine vernünftig erscheinende Entscheidung, immer noch einen Schritt weiter zu gehen als der Gegner, von der nächsten gefolgt wurde. »Vielleicht war es die Rache für ein Bombardement der Allianz-Welten gewesen. Vielleicht eine aus Verzweiflung geborene Taktik, weil der Krieg kein Ende nehmen wollte. Ein Versuch, der Moral des Gegners einen Todesstoß zu versetzen. Wir haben uns mit solchen Dingen beschäftigt, als ich noch Junioroffizier war, allerdings als Lektion für etwas, das nicht funktioniert.

Immer wieder haben in der Vergangenheit Menschen versucht, einen Feind so unter Beschuss zu nehmen, dass er aufgibt. Aber sobald der Feind glaubt, dass seine Heimat oder seine Überzeugungen in Gefahr sind, gibt er nicht auf.

Es ist völlig irrational, aber wir sind nun mal alle menschlich.«

»Die Bombardements durch die Syndiks haben uns nie dazu bewegen können, einfach aufzugeben«, bestätigte Desjani seine Worte. »Wir sind unzufrieden mit unseren Führern, aber wir wollen, dass sie siegen. Wir wollen nicht, dass sie sich ergeben. Allerdings gibt es vor allem in dieser Flotte nicht mehr viele Leute, die noch an einen Sieg glauben wollen. Deshalb hat Ihnen…«

Er horchte auf, als sie verstummte. »Deshalb hat mir Captain Badava dieses Angebot gemacht? Wollten Sie das sagen?

Sie wissen auch davon?«

»Ja, Sir. Natürlich, Sir. Fast alle reden darüber.«

»Ich werde das nicht machen, Tanya. Ich'werde der Allianz nicht auf diese Weise in den Rücken fallen, indem ich das Angebot annehme und mich zum Diktator aufschwinge. Das habe ich Badaya auch gesagt.« Desjani senkte den Blick, ihr Gesicht verriet keine Gefühlsregung. »Das würde nicht funktionieren, außerdem wäre es grundverkehrt.«

Sehr leise fragte Desjani daraufhin: »Ich muss Ihnen die Frage stellen, ob Ihnen sonst noch etwas versprochen worden ist. Für den Fall, dass Sie annehmen, meine ich.«

Er versuchte sich an die Unterhaltung zu erinnern, da er Tanya ansah, dass es ihr sehr zu schaffen machte, doch ihm wollte nichts einfallen. »Nein, nichts Spezielles. Es war alles sehr allgemein gehalten.«

»Ganz sicher?« Ihr Tonfall klangjetzt verärgert, aber immer noch sehr leise. »Ist Ihnen wirklich nicht irgendetwas versprochen worden, Captain Geary?« Er schüttelte ratlos den Kopf.

»Oder irgend jemand, Captain Geary?«

Irgendjemand? Was sollte denn…? Er war davon überzeugt, dass sie ihm seine Fassungslosigkeit ansah. »Reden Sie etwa von sich?«, flüsterte er ungläubig.

Sie sah ihn wieder an, betrachtete eingehend sein Gesicht, dann schien sie sich zu entspannen. »Ja. Einige Personen haben mich bedrängt, damit ich… mich Ihnen anbiete. Ich hatte mich gefragt, ob sie Ihnen dieses Angebot ohne mein Wissen gemacht haben.«

Verlegenheit und Wut brachten sein Gesicht zum Glühen.

Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er zum letzten Mal so zornig gewesen war. »Wer?«, zischte er. »Wer wagt es, mit einem solchen Ansinnen an Sie heranzutreten? Sie sind keine Trophäe, die man jemandem überreicht. Sagen Sie mir, wer das war, dann werde ich…« Diesmal musste er sich bremsen, da ein Flottenkommandant nicht damit drohen durfte, seine Untergebenen in Stücke zu reißen und durch die Luftschleuse ins All werfen zu wollen.

Desjani reagierte mit einem schwachen Lächeln. »Ich kann meine Ehre selbst verteidigen, Sir. Trotzdem danke. Vielen Dank, Sir.«

»Tanya, ich schwöre, wenn ich herausfinde…«

»Lassen Sie mich das in die Hand nehmen, Sir. Bitte.«

Widerstrebend nickte er. »Wir sollten auf die Brücke zurückkehren, Sir, um das Geschehen im Auge zu behalten.« Wieder nickte er. Desjanis Mundwinkel wanderte ein Stück weiter nach oben. »Sie wären kein guter Diktator, nicht wahr?«

»Wahrscheinlich nicht.«

»Vielleicht auch das aus gutem Grund.«

Er wartete ungeduldig, ob noch irgendetwas schiefging, aber die Allianz-Shuttles setzten alle Syndik-Zivilisten ab, starteten und kehrten zu ihren Schiffen zurück, ohne dass auch nur ein Syndik versuchte, ihnen dazwischenzufunken.

»Haben wir tatsächlich diese Operation hinter uns gebracht, ohne dabei von den Syndiks in irgendeinen Hinterhalt gelockt zu werden?«, fragte Desjani.

»Sieht ganz so aus. Und bislang haben sich die Verschwörer in unseren Reihen auch zurückgehalten.« Geary betrachtete sein Display und verspürte den gleichen Unglauben wie Desjani. Alle Shuttles waren zurückgekehrt, und die Allianz-Flotte war wieder auf Kurs quer durch das Cavalos-System zu dem Sprungpunkt, der nach Anahall oder Dilawa führte. »Noch drei Tage bis zum Sprungpunkt?«

»Ja, Sir. Solange nichts Unvorhergesehenes passiert.« Desjani presste die Lippen zusammen, als der Alarm losging. »Was genau jetzt der Fall ist.«

Aus dem Sprungpunkt, auf den sie zusteuerten, kamen ihnen Syndik-Kriegsschiffe entgegen.

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