Fünf

Geary seufzte, als die Anspannung durch die Sorgen um die anstehende Schlacht den Schmerzen wich, die die Nachwirkungen der Konfrontation verursachten. Er fühlte sich tod-müde, als hätte er eine ganze Woche lang ununterbrochen auf der Brücke der Dauntless zugebracht, nicht bloß knapp einen Tag.

»Der Syndik-Wachposten ist immer noch gut dreißig Lichtminuten vom Hypernet-Portal entfernt«, meldete eine erschöpfte Captain Desjani. »Wenn sie ihre Geschwindigkeit beibehalten, dann werden sie es in rund viereinhalb Stunden erreicht haben.«

»Gut.« Geary rieb sich die Augen und schaute wieder auf sein Display. Diese Syndik-Schiffe waren inzwischen fast zwei Lichtstunden von der Allianz-Flotte entfernt. Wären sie deutlich näher gewesen, hätte er sich wohl Sorgen machen müssen, sie könnten einen Selbstmordangriff gegen die Dauntless oder gegen die Hilfsschiffe unternehmen. Doch bei dieser Entfernung dauerte es fast einen Tag, ehe sie in die Nähe der Flotte zu gelangen vermochten. »Ich würde sagen, wir können uns später immer noch überlegen, was wir mit ihnen machen werden.«

Für den Augenblick mussten sie sich um diese Syndiks keine Gedanken machen, da sie eindeutig in der Nähe des Hypernet-Portals bleiben würden — wie schon beim letzten Mal, als die Allianz-Flotte sich hier aufgehalten hatte. Das Portal lag gut zweieinhalb Lichtstunden an Backbord, während die bewohnte Welt des Systems auf der anderen Seite der Sonne ihre Bahnen zog und gut zweieinviertel Lichtstunden entfernt war. Die dortigen militärischen Einrichtungen stellten für die Allianz-Flotte keine Bedrohung dar, es sei denn, sie kamen dieser Welt zu nahe. Aber diese Absicht hegte Geary ganz, sicher nicht.

Von diesen beiden Faktoren abgesehen, nahm die Syndik-Präsenz rapide ab, während das Licht der jüngsten Konfrontation die verschiedenen Regionen des Lakota-System erreichte: Handelsschiffe suchten Zuflucht, wo sie nur konnten, Kolonien und Bergbauminen auf den äußeren Planeten wurden geschlossen, als die Bevölkerung in die Bunker geschickt wurde. Da die Menschen daran gewöhnt waren, dass Allianz-Streitkräfte die Welten der Syndiks bombardierten, erwarteten sie von der siegreichen Flotte in ihrem System automatisch das Schlechteste. Dazu würde es zwar nicht kommen, aber Geary stand jetzt nicht der Sinn danach, das diesen Leuten zu erklären.

Rings um die Dauntless waren die weit verstreuten Schiffe der Allianz-Flotte mit den dringendsten Reparaturen beschäftigt, während einige Einheiten immer noch dafür sorgten, dass bei den beschädigten, aber nicht zerstörten Syndik-Schiffen der Antrieb überhitzt wurde. Nichts sollte hier für die Syndiks noch vorzufinden sein, was zu bergen sich lohnte.

Shuttles flogen zwischen den Allianz-Schiffen hin und her, um benötigte Ersatzteile abzuliefern. Zerstörer und Leichte Kreuzer zogen ihre Bahnen und sammelten nach und nach alle Rettungskapseln ein, die von den Schiffen während der Schlacht ausgestoßen worden waren.

Geary hatte bereits etwas über eine dieser Kapseln erfahren, in der sich Matrosen befanden, die beim ersten Gefecht im Lakota-System vor vielen Wochen die Indefatigable hatten verlassen müssen. Sie waren von den Syndiks aufgegriffen und zum Wrack der Audacious gebracht worden, aus dem sie dann am heutigen Tag von den Marines befreit worden waren. Anschließend hatte man sie zum Schweren Kreuzer Fascine gebracht, den sie dann gleich wieder verlassen mussten, als der von den Syndiks zerschossen wurde. Schließlich waren sie vom Leichten Kreuzer Tsuba aufgelesen worden. Er fragte sich, ob diese Matrosen das Gefühl hatten, vom Glück oder vom Pech verfolgt zu werden, und ob sie sich über ihre Zukunft Sorgen machten, weil sie jedes Mal auf einem noch kleineren Schiff gelandet waren.

Rione stand auf und seufzte ihrerseits schwer. »Ich muss mich um ein paar Dinge kümmern. Geben Sie mir Bescheid, wenn Sie mich brauchen«, sagte sie zu Geary.

Damit konnte alles Mögliche gemeint sein. Die Zweideutig-keit ihrer Bemerkung ließ ihn grübeln, ob Rione wohl zu dem Schluss gekommen war, ihre private Beziehung Wiederaufleben zu lassen. Dann bemerkte Geary, wie Desjani einen Moment lang die Lippen zusammenpresste, während sie stur auf ihr Display schaute. Offenbar hatte sie die Formulierung auch so gedeutet wie er, was ihr gar nicht zu gefallen schien.

Eine solche Reaktion war ihm bei ihr zuvor nicht aufgefallen, und er fragte sich, ob Desjani sich mehr Sorgen über Riones Einfluss machte, als ihm bislang bewusst gewesen war.

Allerdings konnte er jetzt unmöglich mit ihr darüber reden, also wandte er sich kopfschüttelnd an Rione: »Nein, im Moment brauche ich nichts. Sehen Sie zu, dass Sie sich ein wenig ausruhen.«

»Dazu werde ich wohl keine Gelegenheit bekommen, aber ich kann es zumindest versuchen.«

Nachdem Rione gegangen war, entspannte sich Desjani spürbar. »Sie sollten sich auch etwas Ruhe gönnen, Sir.«


»Im Augenblick gibt es noch genug zu tun«, erwiderte Geary.

»Das können wir auch erledigen. Sie haben unseren Schiffen bereits den Befehl erteilt, die Flottenformation Delta Two einzunehmen, sobald sie ihre momentanen Aufgaben erledigt haben. Das können die auch machen, ohne dass Sie dabei zusehen müssen. Sogar die Orion und die Conqueror können zuverlässig arbeiten, wenn nicht gerade auf sie geschossen wird.«

» Ja, ich glaube, Sie haben recht.« Geary stand auf und wunderte sich darüber, wie wacklig er auf den Beinen stand. »Werden Sie sich auch ausruhen gehen?«

Desjani zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Ich bin der Captain der Dauntless, Sir.«

»Und der Captain eines Kriegsschiffs darf sich niemals ausruhen.« Er zögerte kurz, dann stellte er die Frage, die er eigentlich hatte meiden wollen. »Wie viele Verluste hat die Dauntless erlitten?«

Sie atmete tief durch, dann antwortete sie mit fester Stimme: »Zwölf. Wir hatten noch Glück. Dazu kommen neunzehn Verletzte, davon zwei in kritischem Zustand.«

»Das tut mir leid.« Geary rieb sich die Stirn, bedeutungslose Phrasen von Ehre und Opfer gingen ihm durch den Kopf.

Weitere zwölf Matrosen, die die Allianz niemals wiedersehen würden. Die ihr Zuhause, ihre Familien und andere geliebte Menschen nie wiedersehen würden. Weitere zwölf allein auf diesem leicht beschädigten Schiff. Auf die gesamte Flotte hochgerechnel bot der große Sieg mit einem Mal gar keinen Grund zum Feiern mehr.

Vielleicht empfand Desjani ganz genauso. Als hätte sie seine Gedanken gelesen, schüttelte sie den Kopf. »Ich schätze, wir stehen alle ein wenig unter Schock, Sir. Morgen werde ich wohl eher zu schätzen wissen, was wir hier vollbracht haben.

Im Moment kann ich einfach nur weitermachen.«

»So wie ich auch.« Er stand da und starrte das Deck an. »Was wollte ich eigentlich?«

»Sie wollten sich ausruhen, Sir«, sagte Desjani.

»Wenn Sie das noch wissen, dann befinden Sie sich in einer besseren Verfassung als ich. Ich bin bald zurück.«

»Jawohl, Sir.«

»Rufen Sie mich in etwa einer Stunde.«

»Jawohl, Sir.«

»Das ist mein Ernst, Captain Desjani.«

»Jawohl, Sir.«

Er verließ die Brücke mit der Gewissheit, dass Desjani ihn trotzdem erst rufen würde, wenn ein absoluter Notfall das erforderlich machte. Um mit ihm darüber zu diskutieren, hatte sie aber keinerlei Lust, das war ihm auch bewusst.

Das Komm in seinem Quartier summte energisch und ließ Geary hochschrecken. Er war in seinem Sessel eingeschlafen und brauchte einen Moment, um sich zu orientieren, ehe er den Ruf annahm.

»Captain Geary«, meldete sich Desjani. »Es gibt ein Problem am Hypernet-Portal der Syndiks.«

Prompt verkrampfte sich sein Magen. »Verstärkung für die Syndiks?« Seine Flotte war nicht in der Verfassung, sich auf einen Kampf mit einer weiteren großen Streitmacht einzulas-sen. Die Aliens auf der anderen Seite des Syndik-Territoriums hatten eine große Syndik-Streitmacht ins Lakota-System umgeleitet, um sie auf die Allianz-Flotte zu hetzen, was von den Syndiks selbst mit größter Verwunderung zur Kenntnis genommen worden war. Es war den Aliens fast gelungen, die Flotte auszulöschen. Aus einem unerklärlichen Grund war diesen Aliens bekannt gewesen, dass die Allianz-Schiffe nach Lakota unterwegs waren, doch die sofortige Rückkehr ins System nach der Flucht in Richtung Ixion sollte auch für sie unerwartet gekommen sein.

»Nein, Sir.« Seine Erleichterung über diese Antwort schwand gleich wieder, als sie fortfuhr: »Die Syndik-Streitmacht zerstört das Portal.«

In Rekordzeit legte er den Weg zur Brücke zurück, blieb außer Atem neben seinem Kommandosessel stehen und betrachtete die Bilder auf dem Display. Einen Moment lang musste er innehalten, ehe sein Verstand akzeptierte, was seine Augen sahen. Wie Desjani gemeldet hatte, feuerte die Syndik-Wachflotte auf das Hypernet-Portal. »Sie schießen das Portal in Stücke, obwohl wir immer noch Lichtstunden davon entfernt sind.« Seine Fassungslosigkeit musste ihm deutlich anzusehen sein.

Desjani überprüfte ihr eigenes Display und machte eine abfällige Geste. »Der Kommandant dieser Wachflotte muss in Panik geraten sein. Er hat den Befehl zu verhindern, dass wir das Portal benutzen können, also führt er diese Anweisung aus, lange bevor er musste.«

»Aber unsere Flotte ist so weit von dort entfernt, dass die Energieentladung uns gar nicht so viel anhaben dürfte.« Er musterte die Darstellung der Wachflotte. »Seine Schiffe befinden sich dagegen direkt am Portal. Warum sollten die fast sicheren Selbstmord begehen, wenn es nicht unbedingt sein muss?«

Rione ergriff das Wort, und das in einem energischen Tonfall. Er hatte sie nicht auf die Brücke kommen sehen, aber sie musste sich dicht hinter ihm befunden haben. »Offenbar ist dem Syndik-Commander nicht klar, was passieren wird, wenn das Portal zusammenbricht. Man hat ihn nicht darüber informiert. Vielleicht aus einem falsch verstandenen Verschwiegen-heitsverständnis heraus, vielleicht auch nur, weil niemand das für nötig hielt, nachdem unsere Flotte in diesem System bereits vor zwei Wochen scheinbar geschlagen worden war.«

»Oder«, sagte Desjani mehr zu sich selbst, »weil der Exekutivrat der Syndiks ihren Untergebenen ganz bewusst nicht eingeweiht hat, damit er den Befehl ausführt, ohne von den möglichen Folgen seiner Tat abgeschreckt zu werden.«

Geary hatte das ungute Gefühl, dass Desjani mit ihrer Überlegung richtig lag. Die Syndik-Führung wollte sicherstellen, dass die Allianz-Flotte nicht das Hypernet-Portal benutzen konnte, also dürften sie ihren eigenen Commander im Dun-keln gelassen haben, da er sich sonst vielleicht gegen eine Zerstörung des Portals entschieden hätte, um nicht die eigene Flotte aufs Spiel zu setzen.

»Folglich«, fuhr Rione fort, als hätte Desjani gar nichts gesagt, »geht dieser Commander auf Nummer sicher, da er fürchtet, diese Flotte könnte wieder irgendetwas unternehmen, das eigentlich unmöglich ist.«

Er drehte sich zu ihr um. »Die Syndiks gehen auf Nummer sicher, weil sie glauben, dass diese Flotte Unmögliches voll-bringen kann?«, fragte er.

»Geben Sie nicht mir die Schuld«, erwiderte sie und warf ihm einen kühlen Blick zu. »Sie sind derjenige, der immer wieder aufs Neue Unmögliches leistet.«

Mit Rione diskutieren zu wollen, wäre so sinnlos wie immer, also versuchte er es gar nicht erst. Stattdessen überlegte er kurz und rief dann die Furious. »Captain Cresida, können Sie mir eine Schätzung geben, wie lange die Syndiks benötigen werden, um das Hypernet-Portal zusammenbrechen zu lassen?«


Sekunden später tauchte Cresidas Bild auf dem Display auf.

»Einen Augenblick, Sir«, sagte sie, nickte kurz und studierte irgendwelche Anzeigen. »Vorausgesetzt, sie feuern im gleichen Tempo weiter und zerstören die Portaltrossen im gleichen Rhythmus wie bisher, dann dürfte das Portal in zwanzig bis dreißig Minuten unkontrolliert zusammenbrechen. Leider kann ich Ihnen keine genaueren Zahlen liefern, weil das Ganze reine Theorie ist. Wir haben nicht genug Daten da-rüber, was sich exakt beim Kollaps eines Portals abspielt, daher kann ich nur grob schätzen.«

Zwanzig bis dreißig Minuten. Und das Portal war mehr als zweieinhalb Lichtstunden entfernt. »Dann ist es vermutlich schon vor zwei Stunden zusammengebrochen.«

Wieder verstrichen einige Sekunden, dann nickte Cresida bestätigend. »Ja, Sir.«

»Gibt es eine Möglichkeit, das Ausmaß der Energieentladung zu schätzen, bevor wir davon getroffen werden?«

»Die Energiewelle wird sich mit Lichtgeschwindigkeit nach außen bewegen, Captain Geary.« Cresida schüttelte den Kopf.

»Wir werden es erst wissen, wenn wir getroffen werden. Was in zwanzig Minuten der Fall sein könnte.«

Es blieb ihnen nur sehr wenig Zeit um zu reagieren. Geary wirbelte zu Desjani herum. »Berechnen Sie einen Kurs, der uns so weit wie möglich vom Hypernet-Portal wegbringt!«

Während sie sich an die Arbeit machte, widmete er sich seinem Display und erkannte, dass ihm bei der momentanen Ver-teilung seiner Schiffe keine Zeit mehr blieb, um sie neu zu positionieren.

»Nach Backbord eins vier null Grad, nach unten eins zwei Grad«, meldete sie.

Geary betätigte die Komm-Taste, um sich an die gesamte Flotte zu wenden. »An alle Einheiten der Allianz-Flotte: Sofort Kursänderung vornehmen. Alle Schiffe nach Backbord eins vier null Grad drehen, nach unten eins zwei Grad, und beschleunigen Sie auf 0,1 Licht. Ich wiederhole: Alle Schiffe nach Backbord eins vier null Grad drehen, nach unten eins zwei Grad, und beschleunigen Sie auf 0,1 Licht. Die Syndik-Wachflotte hat das Hypernet-Portal in diesem System kollabieren lassen, was eine Energieentladung von unbekanntem Ausmaß nach sich ziehen wird. Diese Entladung kann theoretisch das Ausmaß einer Nova erreichen. In eins fünf Minuten beenden alle Schiffe ihre Beschleunigung und drehen sich, sodass sie mit dem Bug in Richtung Hypernet-Portal zeigen. Verstärken Sie die Bugschilde auf maximale Leistung, und treffen Sie alle denkbaren Vorbereitungen für die Schadenskontrolle und mögliche Reparaturen.«

Er ließ sich in seinen Sessel sinken, während Desjani ihre Befehle erteilte und die Dauntless auf einen neuen Kurs einschwenkte, wobei die Maschinen so gefordert wurden, dass die Trägheitsdämpfer vor Anstrengung aufheulten. »Captain Desjani«, wollte Geary wissen, »kann dieses Schiff den Energieausstoß einer Nova aushalten, wenn es sich in dieser Entfernung zur Quelle befindet?« Er war sich ziemlich sicher, die Antwort bereits zu kennen und sie nicht zu mögen, dennoch musste er Gewissheit haben.

»Das möchte ich bezweifeln«, meinte sie, sah sich auf der Brücke um und wandte sich dann an einen der Wachhabenden. »Einschätzung?«, fragte sie ihn.

Der Wachhabende tippte hektisch auf eine Datentafel ein, dann schüttelte er den Kopf. »Nein, Ma'am. Je weiter sich die Explosion ausdehnt, umso stärker sinkt zwar die Intensität der Strahlung, aber das geschieht nicht schnell genug. Die Schilde und Panzerung eines Schlachtkreuzers können dem selbst bei maximaler Leistung und umfassendster Vorbereitung nichts entgegenstellen. Zerstörer und Kreuzer wären auf noch hoffnungsloserem Posten. Ein Schlachtschiff könnte bei dieser Entfernung noch eine Chance haben, aber selbst die ist nicht allzu groß. Ein paar Schiffe könnten das überstehen, trotzdem wären die Systeme nicht mehr zu gebrauchen.«

Er unterbrach sich kurz, tippte noch ein paar Daten ein und sagte schließlich: »Allerdings wäre das auch nicht mehr von Bedeutung, da die Besatzung nach dem Ausfall der Schilde ohnehin von der Strahlung getötet würde.«

Desjani atmete gedehnt aus und sah Geary an. »Dann sollten wir besser hoffen, dass es nicht das Ausmaß einer Nova annimmt.«

»Das dachte ich auch gerade«, pflichtete er ihr bei.

Sie schien zu zögern, dann wandte sie sich wieder dem Wachhabenden zu. »Was ist mit der bewohnten Welt?«

Geary sah sie verdutzt an. In seiner Sorge um die Flotte hatte er gar nicht an die Folgen für diesen Planeten gedacht.

Sie hatte daran gedacht, oder zumindest war ihr in den Sinn gekommen, dass es ihn interessieren würde.

Der Wachhabende rieb sich über die Stirn und tippte wieder auf seine Datentafel. »Da gibt es viele Unwägbarkeiten.

Wenn die Energiewelle das Ausmaß einer Nova hat oder sich in der ungefähren Größenordnung bewegt, wird der Planet in einen Haufen Asche zerlegt. Wenn sie deutlich darunter liegt, wird die Seite geschmort, die zum Hypernet-Portal zeigt. Die abgewandte Seite könnte es überleben, würde aber von verheerenden Stürmen heimgesucht. Ob der Planet danach noch bewohnbar wäre, lässt sich nicht sagen.«

»Und was ist mit dem Stern selbst?«, warf Geary ein. »Welche Auswirkungen wird das auf Lakota haben?«

»Auch das lässt sich nicht exakt sagen, solange das Energie-niveau nicht bekannt ist, Sir.« Der Wachhabende zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Beim Ausmaß einer Nova wird das den Stern ziemlich mitnehmen, allerdings ist dann auch niemand mehr im System, den das noch kümmern könnte. Bei allem, was darunter liegt, ist das schwer abzuschätzen. In einem Stern laufen ständig ungeheuer komplexe Reaktionen ab, und sie besitzen eine bemerkenswerte Fähigkeit, sich selbst zu regulieren. Aber selbst der stabilste Stern weist bei seinem Ausstoß ein paar Variabilitäten auf. Wenn ich eine Einschätzung abgeben soll, dann würde ich sagen, dass eine massive Energiewelle in der Photosphäre von Lakota für genügend Probleme sorgen wird, was mehr Variabilitäten in kürzeren Intervallen nach sich ziehen dürfte.«

»Das heißt, die bewohnte Welt könnte anschließend zwar noch bewohnbar sein, aber Lakota könnte dem in nächster Zukunft ein Ende setzen?«

»Richtig, Sir. Ich kann nicht mit Sicherheit behaupten, dass es so kommen wird, aber ich halte es für wahrscheinlich.«

Desjani überprüfte stirnrunzelnd ihr Display. »Diese Welt ist fast fünf Lichtstunden vom Portal und zweieinviertel Lichtstunden von unserer Flotte entfernt. Wenn wir ihnen eine Warnung zukommen lassen, dann hätten sie noch Zeit, die Bewohner aufzufordern, Schutzräume aufzusuchen, auch wenn das den Leuten auf der Seite, die von der Energiewelle getroffen wird, wenig helfen wird.«

Die Kriegerin, die sich einmal darüber beklagt hatte, dass man Null-Felder nicht gegen feindliche Planeten einsetzen konnte, war auf einmal bereit, Zivilisten zu warnen. »Danke, dass Sie daran gedacht haben«, sagte Geary zu ihr.

»Wir benötigen Uberlebende, Sir. Leute, die anderen Syndiks berichten können, dass es nicht die Allianz-Flotte war, die das Portal zerstört hat.«

Desjani dachte also bloß pragmatisch. Oder aber sie schob ein pragmatisches Argument vor. Er fragte sich, welche von beiden Möglichkeiten wohl zutraf. Sein Blick wanderte zurück zur Anzeige des Lakota-Systems, und er betrachtete die Daten für die bewohnte Welt, für die Kolonien auf anderen Welten und Monden, für die Orbitalanlagen und den zivilen Raum-schiffsverkehr, der noch nicht dort angekommen war, wo sich die Besatzungen in Sicherheit bringen konnten. Er betrachtete die Scharen von Symbolen, die die Rettungskapseln aus den zerstörten Syndik-Kriegsschiffen und die Reparaturschiffe darstellten, die sich zu retten versuchten. Hunderte, vielleicht Tausende von Syndiks waren auf diese Kapseln verteilt, aber Geary wollte nicht einmal eine ungefähre Zahl wissen. Sie alle hatten keine Chance, wenn die Energiewelle sie traf, und es gab nichts, was er für sie hätte tun können. »Ich muss eine Nachricht an das gesamte Sternensystem richten.«

Wie vermittelte man so vielen Menschen, dass der Tod wo-möglich schon auf dem Weg zu ihnen war? Geary versuchte, ruhig zu sprechen, aber er wusste, dass in seiner Stimme ein hoffnungsloser Tonfall mitschwang. »An die Bewohner des Lakota-Systems: Die Kriegsschiffe der Syndikatwelten haben das Feuer auf das Hypernet-Portal eröffnet, um zu verhindern, dass die Allianz-Flotte es benutzen kann. Wenn Sie diese Nachricht empfangen, wird das Portal bereits zusammengebrochen sein. Sobald das geschehen ist, wird eine Energiewelle von vermutlich ungeheurer Energie freigesetzt, die stark genug sein könnte, um alles Leben in diesem Sternensystem auszulöschen. Wenn wir Glück haben, wird der Energieausstoß deutlich niedriger ausfallen. Dennoch könnte er allem menschlichen Leben, allen Schiffen und allen Einrichtungen in diesem System extrem gefährlich werden. Ich rate Ihnen daher, alle erdenklichen Schutzmaßnahmen zu ergreifen, die in der Kürze der Zeit möglich sind.« Er machte eine kurze Pause, dann fügte er bedächtig an: »Ich weiß nicht, wie viele Menschen in diesem System überleben werden. Mögen die Lebenden Sterne über sie wachen, und mögen die Vorfahren jeden willkommen heißen, der am heutigen Tag stirbt. Auf die Ehre unserer Vorfahren. Hier spricht Captain John Geary, Befehlshaber der Allianz-Flotte.«

Der sich anschließenden Stille setzte Rione ein Ende. »Sie haben bereits mit einem Bombardement durch uns gerechnet und Schutzräume aufgesucht. Vielleicht ist das ja von Nutzen.«

»Ja, vielleicht. Aber die Syndiks in den Rettungskapseln haben nichts davon.« Ein kurzer Blick auf das Display genügte, um die Bestätigung dafür zu bekommen, dass kein Allianz-Schiff mehr nahe genug an irgendeiner der Rettungskapseln war, um sie noch an Bord zu holen. »Wenn die Energieentladung sich nicht gerade nahe null bewegt, haben die nicht die geringste Chance.«

»Dank sei den Lebenden Sternen, dass wir unsere Kapseln bereits geborgen haben«, murmelte Desjani.

»Zwei Minuten bis zum Wendemanöver«, ließ der Steuer-Wachhabende wissen.

Die ersten Flugmanöver, um sich von der Position des Hypernet-Portals zu entfernen, hatten Schiff für Schiff stattgefunden, so wie Gearys Befehl sie erreicht hatte, wobei die am weitesten entfernten Schiffe als Letzte beidrehten. Aber das nächste Manöver beruhte auf dem Zeitpunkt, an dem Geary den ersten Befehl erteilt hatte, und so wendeten alle Schiffe exakt fünfzehn Minuten später, um den Bug so auszurichten, dass er zum Portal zeigte. Das schien immer noch intakt zu sein, zuckte und flatterte aber, da die Syndiks weiterhin eine Trosse nach der anderen wegschossen. Natürlich war das Licht dieser Ereignisse bereits zweieinhalb Stunden alt und zeigte, was in der Vergangenheit geschehen war. Mit dem Heck voran flogen die Allianz-Schiffe mit fast 0,1 Licht weiter, um den Abstand zum Portal zu vergrößern und die Wucht des Einschlags zu verringern. »Vordere Schilde auf maximale Leistung«, meldete der Gefechtswachhabende. »Alle Abteilungen versiegelt, Crew ist auf Schäden gefasst, Reparaturteams in höchster Alarmbereitschaft.«

»Sehr gut.« Desjani ließ den Kopf sinken und schloss die Augen, dann bewegten sich ihre Lippen lautlos.

Ein Gebet war eine gute Idee, überlegte Geary. Er nahm sich auch einen Moment, um stumm ein paar Worte zu sagen und die lebenden Sterne darum zu bitten, diese Flotte und ihre Matrosen und Offiziere zu beschützen, und seine Vorfahren zu bitten, ihnen alle erdenkliche Hilfe zukommen zu lassen.

»Bereithalten für den frühestmöglichen Zeitpunkt des Einschlags«, warnte ein anderer Wachhabender. »Drei… zwei… eins… jetzt.«

Nichts geschah. Der Augenblick verstrich, ohne dass sich irgendetwas tat. Das Bild des fernen Hypernet-Portals war immer noch zu sehen. Es fluktuierte stärker, da immer mehr Trossen zerschossen wurden, die die Energiematrix bändig-ten. Es war absurd gewesen zu glauben, dass Cresidas frühestmögliche Einschätzung auf die Sekunde genau eintreffen würde, aber es lag nun einmal in der Natur des Menschen, mit dieser Möglichkeit zu rechnen.

Eine weitere Minute verstrich, während der jeder auf der Brücke auf sein Display starrte, als würde dort eine Vorwar-nung zu sehen sein, obwohl doch die Energiewelle sich mit Lichtgeschwindigkeit durch das System bewegen würde, sodass sie erst spürbar wurde, wenn sie sie erreichte.

Geary musterte das Bild des weit entfernten Portals, dessen Fluktuationen selbst auf diese Distanz noch von den Flottensensoren wahrgenommen werden konnten. Niemals würde er vergessen, wie es sich angefühlt hatte, sich in der Nähe eines kollabierenden Portals aufzuhalten, als die Dauntless, die Daring und die Diamond im Sancere-System gekämpft hatten, um das Hypernet-Portal davon abzuhalten, das gesamte System in Asche zu verwandeln, dem es gedient hatte. Der Raum an sich hatte sich innerhalb des Portals verzerrt, da dort so ungeheure Kräfte entfesselt worden waren, die Schilde und Panzerung der Schiffe durchdrangen und sich auf den menschlichen Körper auswirkten. Allein Captain Cresidas theoretischer Plan zur Zerstörung des Portals auf eine Weise, die die Energieentladung auf ein Minimum reduzierte, hatte die drei Allianz-Schiffe, den Rest der Flotte und alle Bewohner des Systems vor dem sicheren Tod bewahrt.

Er überlegte, wie es wohl den Besatzungen dieser Syndik-Schiffe ergangen war. Hatten sie die gleichen ungeheuren Kräfte gespürt und sich gefragt, ob sie diesen Befehl tatsächlich weiter ausführen sollten? War ihnen überhaupt klar gewesen, dass sie nicht nur sich, sondern alles Leben im Lakota-System zum Untergang verdammten? Er würde es niemals erfahren, denn diese Schiffe waren so gut wie sicher schon vor über zwei Stunden zerstört worden, und ihre Besatzungen waren für immer verstummt.

Wieder eine Minute. Zwei Minuten. Geary hörte von verschiedenen Seiten Gemurmel. Die Worte waren unverständlich, aber es war eindeutig ein flehender Tonfall. Die Worte der Gebete ändern sich, aber ihre Bedeutung bleibt immer gleich. Habt Gnade mit uns, denn es gibt nichts, was menschlicher Erfindungsreichtum jetzt noch bewirken könnte.

Dann wurde die Dauntless von der Schockwelle getroffen.

Geary musste gegen seine Angst ankämpfen, als das Schiff durchgeschüttelt und die Beleuchtung schwächer wurde. Sein Verstand sagte ihm, dass ihm gar keine Zeit mehr geblieben wäre, Angst zu empfinden, wenn die Energiewelle stark genug gewesen wäre, um die Dauntless zu zerstören.

»Vordere Schilde um dreißig Prozent gesunken, keine Hüllenschäden. Energie, die sich auf die Systeme auswirkt, ist in minimalem Umfang eingedrungen.« Die Meldungen gingen von allen Seiten ein, während Geary darauf wartete, dass das Display aktualisiert wurde und Auskunft über den Zustand seiner Flotte gab. Er wollte wissen, ob seine Leichteren Schiffe den Einschlag überlebt hatten.

»Erste Schätzungen stufen den Energieausstoß an der Quelle bei 0,13 auf der Yama-Potillion-Novaskala ein.«

»0,13«, murmelte Desjani, ließ den Kopf erneut sinken und betete abermals.

Geary folgte ihrem Beispiel und schickte ein Danke an die lebenden Sterne und die Vorfahren, dass der Energieausstoß nur so gering ausgefallen war.

Das Display aktualisierte seine Darstellung, und Geary überflog die Statusmeldungen, wobei er nach rot markierten Systemen Ausschau hielt. Am härtesten hatte es die Zerstörer getroffen, da deren Schilde am schwächsten waren. Aber keines der Schiffe schien ernsthafte Schäden davongetragen zu haben. Etliche Untersysteme waren ausgefallen, und in ein paar Fällen gab es Hüllenschäden, doch davon abgesehen hatten sogar die kleinsten Schiffe der Flotte überlebt.

Wo sich eben noch das Hypernet-Portal und die Syndik-Schiffe befunden hatten, war nun nichts mehr zu sehen. Die Flottensensoren benötigten eine Weile, ehe sie das fanden, was von der Wachflotte übrig geblieben war. Die Stücke waren einfach so klein, dass die Sensoren sie im ersten Moment nicht feststellen konnten. Größere Trümmerstücke in der Nähe des Portals wurden als die Überreste von zwei Syndik-Schlachtkreuzern identifiziert. Eines der beiden Schlachtschiffe war ebenfalls in mehrere große Teile zerbrochen, während das andere in zwei Stücke gerissen worden war, die übel zugerich-tet schienen. Noch während Geary zusah, explodierte eines der beiden Stücke. Genauer gesagt, er sah jetzt das Licht einer Explosion, die sich vor zweieinhalb Stunden zugetragen hatte. »Die haben überhaupt nicht mehr mitbekommen, was mit ihnen geschah. In dieser unmittelbaren Nähe zum Portal hätten selbst zusätzlich verstärkte Schilde nichts mehr bewirkt.«

Desjani nickte. »Genau das wäre uns auch widerfahren, wenn Captain Cresidas Berechnungen bei Sancere verkehrt gewesen wären, nicht wahr?«

»Ja, richtig.«

»Ich schulde dieser Frau einen Drink, wenn wir nach Hause kommen.«

Geary musste unwillkürlich lachen. »Ich glaube, wir schul-den ihr mehr als nur das. Eine Flasche vom besten Gebräu, das wir finden können. Ich gebe Ihnen die Hälfte dazu.«

Desjani lächelte breit. »Abgemacht.« Dann wurde sie wieder ernst und fragte: »Und wohin jetzt?«

»Wir nehmen den Sprungpunkt nach Branwyn. Welchen Kurs müssen wir einschlagen, wenn wir diese Geschwindigkeit beibehalten?« Er hätte es selbst ausrechnen können, aber im Moment vertraute er nicht darauf, dass er klar denken konnte.

Sie warf dem Steuer-Wachhabenden einen Blick zu, der darauf die Manöverlösung ausarbeitete.

Erst nachdem Geary wieder seiner Stimme zutraute, dass die ihn nicht im Stich ließe, betätigte er die Komm-Taste. »An alle Einheiten in der Allianz-Flotte, kehren Sie zurück auf Ihre Position in der Flottenformation Delta Two. Bei Zeit drei fünf nehmen alle Einheiten Kurs auf Steuerbord eins null sechs Grad, nach oben null vier Grad.«

Nachdem die Schockwelle sie passiert hatte, konnten sie mitverfolgen, wie sie sich weiter ihren Weg durch das System bahnte. Es war so, als würde man sich eine grausame Vorher-Nachher-Präsentation ansehen. Vor der Schockwelle sprühte das Lakota-System vor Leben und es wimmelte von Aktivitäten. Nachdem sie über Siedlungen und Schiffe hinweggezo-gen war, blieben nur noch Trümmer und Tod zurück.

Die Syndik-Rettungskapseln waren von der Schockwelle einfach ausgelöscht worden; wie ein Schwarm Mücken, der von einem schweren, rasend schnellen Fahrzeug erfasst wurde. Die Matrosen in den Kapseln hatten keine Chance gehabt, und auch ein paar Frachter, die zu weit von einem schützenden Ort entfernt gewesen waren, hatten der Wucht des Aufpralls nicht standhalten können. Eine Kolonie auf dem Mond eines Gasriesen war von dem Gasriesen selbst geschützt worden, der seinerseits aber durch die Schockwelle einen Großteil seiner oberen Atmosphäre verloren hatte. Diese Kolonie bildete aber die Ausnahme, da zwei andere auf dem fünften Planeten schwere Schäden erlitten hatten und eine dritte auf einem anderen Mond offenbar vollständig ausgelöscht worden war.

Am schlimmsten waren jedoch die Folgen auf der bewohnten Welt mitanzusehen. Auf der von der Energieentladung getroffenen Seite war die Atmosphäre zu weiten Teilen weggerissen worden. Ozeane, Seen und Flüsse waren augenblicklich verdampft, Wälder und Felder waren für einen kurzen Moment in Flammen aufgegangen, wobei die Hitze so intensiv war, dass sie fast in der gleichen Sekunde völlig verkohlten.

Städte zerschmolzen zu großflächigen Massen, kleinere Siedlungen wurden so schwer getroffen, dass sie praktisch gar nicht mehr vorhanden waren.

Innerhalb von Sekunden war die Hälfte dieser Welt gestorben.

»Es ist möglich, dass sich einige Leute auf der betroffenen Seite tief genug unter die Oberfläche zurückgezogen haben, um die Entladung zu überleben«, meldete ein Wachhabender.

»Und was ist mit den Nachwirkungen?«, wollte Rione wissen.

Der Wachhabende verzog den Mund. »Viele von ihnen sitzen in der Falle. Es gibt keine Lebensmittel mehr, die Atmosphäre ist weltweit erheblich dünner, außerdem ist sie voll von Wasserdampf und Asche. Es wird verheerende Stürme geben. Ich weiß nicht, Madam Co-Präsidentin. Die Leute auf der abgewandten Seite könnten es überstehen, auch wenn ihnen ein schreckliches raues Leben bevorsteht. Diejenigen, die getroffen worden sind… Nun, ich möchte nicht dort unten gewesen sein, als die Schockwelle einschlug, und ich möchte auch nicht jetzt da unten sein und versuchen zu überleben.«

Geary nickte. »Und das war nur ein Energieausstoß von der Stärke 0,13 auf der Novaskala. So ziemlich das Geringste, was über uns hinwegziehen konnte.«

Desjani starrte nur stumm auf das Bild der zur Hälfte verwüsteten Welt.

»Wenn man das so sieht«, warf Rione leise ein, »dann kann man diese Leute nicht als unsere Feinde sehen, sondern als Menschen, die Hilfe benötigen.«

Wieder nickte Geary.

»Können wir ihnen irgendwie helfen?«, wollte sie wissen.

Diesmal schüttelte er den Kopf. »Leider habe ich da einschlägige Erfahrung. Als ich Junioroffizier war, stieß der Stern des Cirinci-Systems eine gewaltige Protuberanz aus, die die der Sonne zugewandte Seite des größten bewohnten Planeten fast völlig verbrannte.« Niemand auf der Brücke der Dauntless schien mit diesem Ereignis etwas anfangen zu können. Die über einhundert Jahre alte Tragödie war im Zuge der zahllosen Katastrophen in Vergessenheit geraten, die der Krieg mit sich gebracht hatte.

Während er gegen das allvertraute Gefühl ankämpfte, inmitten von Fremden verloren und von der Zeit vergessen worden zu sein, deutete er mit einer Hand auf das Display.

»Cirinci hatte es nicht so schlimm erwischt wie diese Welt, aber wir mussten überprüfen, was unsere Flotte tun konnte, und die Antwort war, dass wir so gut wie nichts tun konnten. Die Allianz-Regierung musste zivile Frachter beschlagnahmen, damit die Vorräte für den Wiederaufbau transportierten, doch selbst da dauerte das alles viel zu lang. Ich glaube, am Ende stellte das Militär ein paar große Truppentransporter zur Verfügung, um Hilfskräfte nach Cirinci zu bringen und Teile der evakuierten Bevölkerung aufzunehmen. Selbst wenn unsere Flotte komplett bestückt wäre — und davon sind wir weit entfernt — und selbst wenn wir alles zur Verfügung stellen würden — was wir gar nicht machen könnten -, wäre das nicht mehr als der berühmte Tropfen auf den heißen Stein. Außerdem würde das die Syndik-Führung nicht dankbar stimmen.

Die würden weiterhin alles unternehmen, um uns zu vernichten, wenn wir uns noch länger hier aufhalten.«

Rione seufzte. »Dann können wir also gar nichts tun?«

»Wir werden in jedem Syndik-System, das wir noch durchqueren, die Nachricht aussenden, dass hier dringend Hilfe benötigt wird.« Wieder zeigte er auf das Display. »Außerdem haben einige ihrer Handelsschiffe überlebt, weil sie sich im Schutz der anderen Planeten aufgehalten haben. Diese Schiffe können ebenfalls Hilfe holen.«

»Ja, die werden jedem erzählen, was sich hier zugetragen hat.« Rione sah Geary bei diesen Worten in die Augen, woraufhin er ein weiteres Mal nickte.

Es ging nicht länger darum, das zerstörerische Potential eines kollabierenden Hypernet-Portals zu verheimlichen, sondern darum, mit den Folgen dieses Wissens umzugehen, das sich so schnell ausbreiten würde, wie die Leute es weitersagen konnten.

Desjani meldete sich wieder zu Wort. »Die Syndik-Führer.«

Sie sah Geary eindringlich an. »Nach Sancere werden einige von ihnen ganz sicher eine Vermutung gehabt haben, was die Zerstörung des Portals für dieses System bedeuten würde.

Trotzdem haben sie den Befehl gegeben und offenbar niemanden darüber informiert, welche Folgen dieser Befehl haben kann. Wenn die Energieentladung stark genug gewesen wäre, dann wäre alles Leben in diesem System ausgelöscht worden, und niemand hätte berichten können, was sich tatsächlich zugetragen hat.« Ihr Blick kehrte zum Bild der verwüsteten Welt zurück. »Das hat nichts mehr mit dem Krieg zu tun. Das ist eine ungeheure Grausamkeit, die eine Regierung an ihrem eigenen Volk begeht, nur um diese Flotte zu vernichten.«

Er konnte nichts ergänzen, und so blieb nichts anderes zu tun, als zustimmend zu nicken.

»Auf dieser Welt könnten sich Allianz-Gefangene befunden haben«, redete Desjani energisch weiter. »Einige Gefangene könnten in den vierzehn Tagen nach unserem ersten Aufenthalt auf den Planeten gebracht worden sein.«

Geary betrachtete das Bild auf seinem Display, dann zwang er sich zu einer Antwort: »Wenn sie auf der Seite waren, die von der Schockwelle getroffen wurde, dann gibt es für sie ohnehin keine Rettung mehr.«

»Und wenn sie sich auf der anderen Seite befinden?« Sic drehte sich zu ihren Wachhabenden um und brüllte ihre Befehle raus: »Ich will, dass die Planetenoberfläche in ihrem Zustand vor der Schockwelle Stück für Stück analysiert wird.

Halten Sie Ausschau nach jeglichen Hinweisen auf Gefange-nenlager und nach Anzeichen, die auf Einrichtungen hinweisen, in denen Allianz-Personal festgehalten werden könnte!«

»Captain, die Analyse des Planeten vor dem Eintreffen der Schockwelle hat keinerlei Hinweis darauf ergeben, dass…«

»Dann analysieren Sie eben alles noch einmal! Wenn auf dieser Welt auch nur ein einziger Allianz-Floh zu finden ist, dann will ich das wissen!«

Desjanis Stimme hallte auf der Brücke wider, auf der Stille Einzug gehalten hatte. Dann bestätigten die Wachhabenden hastig den Befehl und machten sich an die Arbeit. Während sich Desjani in ihren Sessel sinken ließ und finster auf ihr Display starrte, beobachtete Rione sie mit ernster Miene, machte auf dem Absatz kehrt und verließ die Brücke. Geary zögerte, erkannte Desjanis Frust und Verbitterung über das, was sich in diesem Sternensystem abgespielt hatte, dann verließ er ebenfalls die Brücke. Manchmal benötigten sogar die engsten Freunde Freiraum anstelle von Nähe.

Geary schlenderte eine Weile durch die Gänge der Dauntless und fühlte sich deprimiert und rastlos. Er hatte gerade das Tief überwunden, das nach jeder Schlacht eintrat, wenn man sah, zu welchem Preis man einen Sieg errungen hatte, und dann war er mit den Bildern einer verwüsteten Welt konfrontiert worden.

Die Crewmitglieder, denen er unterwegs begegnete, waren ebenfalls betrübt, gleichzeitig waren sie aber auch wie be-rauscht, dass sie gesiegt und überlebt hatten. Mit der Zeit würde ihnen das ganze Ausmaß des Sieges bewusst werden, dann würde Erleichterung folgen. Doch für den Augenblick waren die meisten einfach nur froh, dass sie noch lebten und immer noch eine Chance bestand, nach Hause zurückzukehren. Sie schienen Geary noch ehrfürchtiger als bisher zu betrachten, was ihm jedoch schnell zu viel wurde, sodass er sich an den einzigen Ort zurückzog, an dem er vor dieser gren-zenlosen Bewunderung sicher war.

Als er sein Quartier erreichte und sich darauf freute, eine Weile allein sein zu können, wartete Rione bereits auf ihn. Ihr Blick war auf das Sternendisplay gerichtet, und sie machte einen distanzierten Eindruck. »Mein Beileid zu den Verlusten der Flotte«, sagte sie leise.

»Danke.« Geary setzte sich und sah ebenfalls auf das Display. Er wollte im Moment einfach niemanden um sich haben, und er wollte auch nicht über die jüngsten Verluste seiner Flotte reden. Nicht, wenn die Erinnerung an die durch den Kollaps des Hypernet-Portals angerichteten Zerstörungen noch so frisch war.

»Soweit ich das beurteilen kann«, fuhr sie fort, »ist Captain Faresa auf der Majestic gestorben.«

»Niemand hat das Schiff lebend verlassen«, gab er knapp zurück.

»Und Captain Kerestes starb auf der Warrior zusammen mit Commander Suram.«

Diese Worte versetzten ihm einen Stich. Kerestes war auf eine aggressive Weise passiv gewesen, etwas, das Geary bis dahin für ein Ding der Unmöglichkeit gehalten hatte. Er hatte solche Angst davor gehabt, einen Fehler zu machen, dass er alles daran gesetzt hatte, möglichst überhaupt nichts zu tun.

Im Gegensatz zu ihm war Commander Suram in seiner kurzen Zeit als Captain der Warrior eine Inspiration für seine entmu-tigte Besatzung gewesen, und er hatte zu kämpfen verstanden.

»Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, damit er die Anerkennung bekommt, die er als befehlshabender Offizier der Warrior verdient. Captain Kerestes hatte damit nichts zu tun.« Einen Moment lang überlegte Geary, ob Kerestes wohl lange genug überlebt hatte, um zu denen zu gehören, die noch versucht hatten, das Schiff zu verlassen. Es war aber auch möglich, dass er in seinem Quartier gestorben war, als die Höllenspeere der Syndiks das Schiff durchbohrten. Es passte zu einem Mann, der seine Karriere dem Bemühen verschrie-ben hatte, jede Initiative zu vermeiden, die ihn womöglich schlecht dastehen ließ, dass er durch den Beschuss eines Feindes starb, dem es völlig egal war, ob Captain Kerestes' Dienst-akte frei von jeglichen Fehlentscheidungen war.

»Und Captain Falco?«, fragte Rione.

Fast wäre er zusammengezuckt, als er an den geisteskran-ken Captain Falco denken musste, der sein Quartier nicht einmal hatte verlassen dürfen, als die Warrior ihren letzten Kampf austrug. Bislang hatte er nicht herausgefunden, wie Falco seine letzten Augenblicke erlebt hatte, und er wusste auch nicht, ob irgendjemand dazu etwas sagen konnte. »Ich habe gehasst, was dieser Mann getan hat, aber niemand hat es verdient, so zu sterben.«

»Wahrscheinlich war er völlig in seine Wahnvorstellungen eingetaucht«, überlegte Rione. »Bestimmt dachte er, dass er das Geschehen bestimmt und bis zum heldenhaften Ende kämpft, ohne zu ahnen, wie wenig er sein Schicksal in Wahrheit in der Hand hatte.«

»Machst du dich über ihn lustig?«, gab Geary zurück, ohne sie anzusehen.

»Keineswegs. Aber manchmal frage ich mich, wie sehr sich Falcos Wahnvorstellungen von dem unterscheiden würden, was du und ich tun.« Sie hielt kurz inne. »Faresa, Kerestes und Falco sind in der Schlacht gefallen. Wenigstens bleibt dir damit erspart, sie vor ein Kriegsgericht zu stellen, wenn wir heimkehren.«

Daraufhin ging sein Temperament mit ihm durch. »Verdammt, Victoria. Wenn du versuchst, einen Silberstreif am Horizont zu finden, dann bist du so auf dem falschen Weg! Ich wollte nicht, dass diese beiden Schiffe sterben, nur damit den dreien Gerechtigkeit widerfährt! Verdammt, ich weiß ja nicht mal, was für Falco eine gerechte Bestrafung wäre!«

Nach seinem Wutausbruch schwieg Rione eine Weile. »Ich weiß, du hast dir Unterlagen über Falcos Vergangenheit angesehen, aus der Zeit vor seiner Gefangenschaft in den Händen der Syndiks. Du hast seine Reden gesehen, in denen er seine angeblich so großartigen Siege feierte, bei denen Dutzende von Allianz-Schiffen zerstört worden waren, nur um bestenfalls genauso viele Schiffe der Syndiks zu vernichten. Glaubst du, er würde auch nur eine Sekunde lang den Verlust von ein paar Schlachtschiffen betrauern?«

»Darum geht es nicht«, konterte Geary verbittert.

»Nein, natürlich nicht. Du beurteilst dich selbst nicht im Verhältnis zu Leuten wie Falco.« Sie atmete tief durch. »Soweit ich das beurteilen kann, sind diese drei Offiziere tatsächlich auf ihren Schilfen ums Leben gekommen.«

Der Gedanke, es könnte nicht so gewesen sein, war ihm bislang noch gar nicht gekommen. »Gibt es einen Grund zu der Annahme, dass sie nicht ums Leben gekommen sind?«

Sie lächelte ihn humorlos an. »Ein argwöhnischer Geist.

Hätte Captain Faresa Zeit gehabt, dann wären ihre Sympathi-santen unter der Besatzung sicherlich auf die Idee gekommen, ihr die Flucht von der Majestic zu ermöglichen. Diejenigen, die Falco für ihre Zwecke benutzen wollten, könnten versucht haben, ihn von der Warrior zu schaffen, aber…« Wieder hielt sie inne. »Ein Narr und ein Verrückter. Aber sein letzter Akt bestand darin, sich zu weigern, die Warrior zu verlassen, als ihm die Gelegenheit dazu geboten wurde. Hast du davon nichts mitbekommen? Ein paar Augenzeugen haben überlebt. Falco erklärte, sein Pflichtgefühl verlange von ihm, auf der Warrior zu bleiben. Ob ihm wirklich klar war, was sich um ihn herum abspielte, kann man nicht wissen, aber man sollte von den Toten nicht schlecht reden, also können wir einfach annehmen, dass er es wusste.«

Geary fiel es nicht schwer, das zu glauben. Nur zu deutlich konnte er sich vorstellen, wie Captain Falco durch die zer-schmetterten Gänge der Warrior lief, während er mit einstu-dierter, zuversichtlicher Miene seinen Offizieren und Matrosen Mut zusprach, die nichts anderes tun konnten, als auf ihr Ende zu warten. Es war die ideale theatralische Rolle für einen Mann wie Falco, und falls er lange genug klar bei Verstand gewesen war, dann hatte er womöglich die Chance willkommen geheißen, als toter Held zu enden, anstatt vor ein Kriegsgericht gestellt zu werden. Abgesehen davon, ob er bewussl oder unbewusst gehandelt hatte, hatte er in jedem Fall einen ehrbaren Tod gewählt und seinen Platz in einer der Rettungskapseln jemandem überlassen, der an seiner Stelle weiterle-ben durfte. »Niemand weiß, was ihm als Letztes durch den Kopf gegangen ist, also sehe ich keinen Grund, warum ihm nicht diese letzte Ehre erwiesen werden sollte.« Plötzlich fiel ihm etwas ein, und er stutzte kurz. »Stimmt das? Es hat niemand überlebt, der lange genug bei ihm war, um dazu etwas sagen zu können?«

Rione runzelte die Stirn. »Woher soll ich das wissen?«

»Du hast ganz offensichdich Aussagen von Augenzeugen gehört. Auf diesen Schiffen musst du auch deine Spione gehabt haben.«

Ihre Mundwinkel zuckten, aber dann setzte sie eine ausdruckslose Miene auf. »›Gehabt haben‹ ist richtig. Einer von Ihnen hat sich von der Warrior retten können. Das Ende der Majestic hat niemand überlebt, wie du selbst gesagt hast.«

Oh, verdammt. »Ich habe gar nicht daran gedacht, dass deine Spione zusammen mit allen anderen umgekommen sind, die auf diesen Schiffen waren. Das tut mir leid.«

Sie nickte nur, zeigte aber nach wie vor keine Gefühlsregung. »Sie mussten mit den gleichen Risiken leben wie jeder in der Flotte.«

Geary musterte sie, seine Nerven waren bis zum Zerreißen angespannt. »Manchmal benimmst du dich wie ein kaltblütiges Miststück.«

Sie reagierte mit einem neutralen Blick. »Das heißt, dir sind warmblütige Miststücke lieber?«

»Verdammt, Victoria…«

Abwehrend hob sie ihre Hand. »Jeder von uns verarbeitet seinen Schmerz anders,John Geary. Du und ich, wir gehen damit grundverschieden um.«

»Das kannst du laut sagen.« Er sah zu Boden und wusste, dass er noch immer eine nachdenkliche Miene machte. Da war eine Sache, die ihm zu schaffen machte, aber die er bislang nicht hatte einordnen können. Es hatte etwas mit den Verlusten der Flotte zu tun. Majestic, Warrior, Utap, Vambrace…

Vambrace?

Ihm musste anzusehen sein, dass ihn die Erkenntnis getroffen hatte, denn Rione fragte in einem sanfteren Tonfall: »Was ist jetzt los?«

»Mir ist nur gerade etwas eingefallen.« Der Schwere Kreuzer Vambrace war das Schiff, auf das Lieutenant Casell Riva von der Furious versetzt worden war. Fast zehn Jahre hatte er in einem Arbeitslager der Syndiks zugebracht, bis Gearys Flotte ihn befreit und ihn nach Lakota mitgenommen hatte. Und jetzt war er möglicherweise tot. Geary versuchte sich ins Ge-dächtnis zu rufen, wie viele Besatzungsmitglieder von der Vambrace entkommen waren, bevor die explodierte. War Riva unter ihnen gewesen? Geäußert hatte sich Desjani dazu nicht, auch wenn sie deutlich früher als er zu der gleichen Erkenntnis gekommen sein musste.

»Und was?«, hakte Rione nach.

»Das ist eine vertrauliche Personalangelegenheit.« Er musste sorgfältig formulieren, damit es für sie einen Sinn ergab, ohne ihr mehr sagen zu müssen. »Tut mir leid, dass ich dir vorhin so ins Gesicht gesprungen bin.« Rione schwieg so lange, dass Geary schließlich den Kopf hob und sie ansah.

»Was ist?«

»Kannst du weitermachen?«

»Natürlich kann ich das.«

»Natürlich?« Sie schüttelte den Kopf. »Wir haben wieder schwere Verluste erlitten, und ich weiß, dass die Zerstörungen auf dieser bewohnten Welt schwer auf dir lasten. Nachdem du das Kommando über diese Flotte übernommen hattest, hast du lange Zeit auf Messers Schneide gestanden, immer bereit, dich fallen zu lassen, wenn der Druck zu groß wird. Du warst Verluste in solchen Größenordnungen nicht gewöhnt, obwohl sie für die Allianz seit Langem zum Alltag gehören. Du hast jemanden gebraucht, der dich gestützt hat, der dir geholfen hat weiterzumachen, und eine Weile war das meine Rolle-als Verbündete und als Widersacherin, die dich herausfordert.

Aber das ist jetzt nicht mehr meine Rolle.«

»Wie bitte?« Er musterte sie und versuchte zu begreifen, was Rione ihm sagte.


»Wofür kämpfst du?«, fragte sie und wandte sich wieder dem Sternendisplay zu.

»Für die Leute in dieser Flotte. Für die Allianz. Das weißt du.«

»Ich weiß, dass das abstrakte Begriffe sind. Du weißt bestenfalls einen winzigen Bruchteil über die Leute in dieser Flotte.

Die Allianz, wie du sie kanntest, hat sich verändert, dein eigenes Zuhause hat sich auf eine Weise verändert, von der ich weiß, dass sie dir Sorgen bereitet.« Sie schaute ihn an. »Du kämpfst nicht für etwas Abstraktes. Niemand macht das. Die Leute erzählen, dass sie für eine wichtige Sache eintreten, aber jeder einigermaßen gute Politiker findet sehr bald heraus, dass es die kleinen, persönlichen Dinge sind, die die Menschen zum Handeln motivieren. Gute Freunde, Familie, das kleine Gebiet, das sie als ihr Zuhause bezeichnen. Solche Dinge erheben sie zu Idealen und bezeichnen sie als kostbar, aber kostbar sind sie aus ganz persönlichen Gründen. Soldaten legen zwar ihren Eid auf die Flagge ab, aber in Wahrheit kämpfen sie nur wegen der anderen Soldaten um sie herum.

Du hast etwas ähnlich Persönliches hier in der Flotte gefunden, John Geary. Hier in der Flotte existiert eine persönliche Verbindung, die dir die Kraft und die Entschlossenheit gibt, um weiterzumachen.«

Geary sah sie lange an. »Und was für eine Verbindung soll das sein?«

»Jemand außer mir.« Wieder betrachtete Rione die Sterne.

»Ich weiß, wer es ist. Ich glaube nicht, dass du es schon weißt.

Falls ja, hast du es dir selbst gegenüber nur noch nicht einge-standen.«

»Dann sag es mir.«

»Nein. Früher oder später wirst du selbst dahinterkommen.

Und dann wirst du dich damit arrangieren müssen. Für den Moment brauchen wir alle dich in Bestform, also werde ich einfach die Dinge so akzeptieren, wie sie sind.« Sie atmete tief durch und drehte sich wieder zu ihm um. »Wohin führst du die Flotte als Nächstes?«

Ihre Art, abrupt das Thema zu wechseln, erschreckte ihn, andererseits war Geary auch nicht daran interessiert, sich anzuhören, wen oder was Rione für seine persönliche Verbindung hielt, also deutete er nur auf das Display. »Das hast du ja gehört.

Wir nehmen Kurs auf den Sprungpunkt nach Branwyn.«

Sie zog eine Augenbraue hoch. »Das muss ja nicht heißen, dass wir diesen Sprungpunkt auch benutzen werden. Branwyn war das ursprüngliche Ziel, als wir das erste Mal in dieses System gekommen waren. So schnurgerade wie möglich in Richtung Allianz.«

»Ganz richtig. Die Syndiks sollten noch über genügend Streitkräfte verfügen, um uns in einen weiteren Kampf verwickeln zu können. Außerdem wissen wir, dass sie weiter Nachschub für die zerstörten Schiffe liefern, obwohl wir ihre Werften bei Sancere in Schutt und Asche gelegt haben.

Schließlich besitzen sie auch noch anderswo Werften. Aber nach dem, was wir hier angerichtet haben, werden sie ihre Schiffe zusammenziehen müssen. Das heißt, wir sollten relativ problemlos Branwyn durchqueren und dann Kurs auf Wendig nehmen können. In Branwyn sollte nur noch eine minimale Syndik-Präsenz vorhanden sein, und den Unterlagen zufolge, die wir in unseren Besitz bringen konnten, wurde Wendig vor fast dreißig Jahren komplett aufgegeben. Von dort aus stehen uns verschiedene Systeme zur Auswahl, allerdings tendiere ich zu Cavalos. Dort existiert eine große Syndik-Präsenz, also werden sie wohl von uns erwarten, dass wir einen Bogen um das System machen.«

Rione nickte nachdenklich. »Ja, ich verstehe. Werden die Minen kein Hindernis darstellen, die die Syndiks bei unserem letzten Aufenthalt in diesem System vor dem Sprungpunkt nach Branwyn ausgelegt haben?«

»Nein.« Er deutete auf das Display. »Sie haben die Minen so dicht am Sprungpunkt platziert, dass die nicht in einer stabi-len Position bleiben konnten. Das war uns beim letzten Mal auch schon klar, aber wir wussten auch, dass es einige Wochen dauern würde, bis die Minen weggedriftet sind. Deshalb konnten wir zu dem Zeitpunkt noch keinen Nutzen daraus ziehen.«

Er hielt inne und lächelte gequält. »Teufel auch, was bin ich doch für ein Idiot! Diese Energieentladung wird sämtliche Minen unschädlich gemacht haben, die irgendwo in diesem System ausgesetzt worden sind. Es ist also völlig egal, ob sie noch da sind oder nicht.«

»Bedauerlicherweise wirst du damit recht haben. Wenn bloß die Minen das Einzige wären, was von der Schockwelle zerstört wurde. Glaubst du, uns erwarten noch viele Minen in den Systemen, die wir aufsuchen werden?«

»Eher nicht. Wenn unsere Schätzungen ihrer Minenvorräte auch nur annähernd akkurat sind, dann dürften sie alles aufgebraucht haben, als sie versuchten, uns bei Lakota in die Falle zu locken. Sie müssen erst mal eine größere Menge herstellen und sie in die Systeme schaffen, von denen sie glauben, dass wir sie zum Ziel haben werden.«

»Gut.« Dann betrachtete sie ihn mit einem fordernden Blick. »So viel zur Bedrohung durch die Syndiks. Was ist mit den Aliens?«

»Keine Ahnung.« Mit finsterer Miene musterte er die virtuellen Sterne. »Die haben eingegriffen, um uns eine Syndik-Flotte auf den Hals zu hetzen, und irgendwie ist es ihnen möglich, unsere Bewegungen zu verfolgen. Im Moment wüsste ich nicht, was man gegen sie unternehmen kann.«


»Ich ebenfalls nicht. Du musst mehr Leute auf die Existenz der Aliens aufmerksam machen, damit sie ihre Überlegungen beisteuern können.«

Sein Erstaunen über ihren Vorschlag musste ihm deutlich anzusehen sein.

»Es gibt«, fuhr sie fort, »in dieser Flotte Offiziere, denen du vertrauen kannst. Ein solches Problem können wir unmöglich mit nur zwei Leuten lösen.«

»Klingt überzeugend. Einige wenige sind bereits darauf aufmerksam gemacht worden, aber ich hatte bislang keine Gelegenheit, mit dieser Gruppe insgesamt darüber zu reden.«

Rione nickte, als ob sie diese Antwort von ihm erwartet hätte.

Geary schüttelte den Kopf, als er darüber nachdachte, was dieser Versuch der Aliens zu bedeuten hatte, die Allianz-Flotte auszulöschen. Wer immer sie auch waren, ihre Technologie war auf jeden Fall der der Menschheit überlegen. »Ich weiß nicht, ob ich erleichtert sein soll, dass sie allem Anschein nach keine weiteren Schritte gegen uns eingeleitet haben, oder ob ich besorgt sein soll, dass wir immer noch nicht wissen, was sie eigentlich vorhaben.«

»Ich würde dir vorschlagen, besorgt zu sein«, erklärte Rione.

»Das hatte ich fast erwartet. Gibt es sonst noch was?«

»Ja.« Sie lächelte ironisch, als sie sah, wie er gequält das Gesicht verzog. »Deine Feinde in den eigenen Reihen, die Senioroffiziere der Flotte, die gegen dich arbeiten, seit du das Kommando übernommen hast.«

Wenn es eine Sache gab, die er gar nicht ausstehen konnte, dann waren es illoyale Offiziere, die im Verborgenen gegen ihn Stimmung machten. »Hast du irgendwas Bestimmtes ge-hört? Irgendwelche konkreten Pläne?«


»Nein, aber ich weiß, dass sie etwas planen müssen und dass sie bald handeln werden.«

»Wieso?« Er beugte sich vor. »Deine Spione werden dir doch irgendetwas Konkretes gesagt haben, das dich zu einer solchen Aussage veranlasst.«

»Ich habe gar nichts gehört!« Sie sah ihn wütend an. »Ver-stehst du denn nicht? Mit jedem Sieg, mit jedem System, das uns näher ans Allianz-Gebiet heranbringt, wächst deine Legende, und deine Position in der Flotte festigt sich noch ein bisschen mehr. Der Sieg über die Syndiks in diesem System war eine erstaunliche Leistung, und selbst wenn du mich als diejenige vorschieben willst, die dich auf diese Idee gebracht hat, was du gerne machen kannst, dann ist es allein schon eine Leistung, auf einen solchen Vorschlag einzugehen. Diese Flotte glaubt an dich. Die Matrosen auf jedem Schiff dieser Flotte reden davon, dass die lebenden Sterne höchstpersönlich eingegriffen haben, um zu verhindern, dass diese Energieentladung uns alle vernichtet. Und dass sie eingegriffen haben, weil du diese Flotte befehligst.«

Ungläubig sah er sie an. Erklärte das die Blicke, die die Crewmilglieder der Dauntless ihm seit Kurzem zuwarfen? »Das kann doch nicht dein Ernst sein.«

»Ich kann dir die Berichte zeigen, die ich erhalten habe. Du kannst ebenso gut durch dieses Schiff spazieren und ein wenig länger zuhören, was die Leute reden. Sogar diejenigen, die nicht daran glauben, dass eine göttliche Intervention uns gerettet hat, finden genügend Argumente, dass nur deshalb so viele Schiffe und Menschenleben gerettet werden konnten, weil du die Gefahr so schnell erkannt und darauf reagiert hast. Diejenigen in der Flotte, die dem Mythos Black Jack Geary nichts abgewinnen können, beginnen allmählich an den Mann Black Jack Geary zu glauben. Diejenigen, die von vornherein an dich geglaubt haben, sind inzwischen in ihrem Glauben durch nichts mehr zu erschüttern. Das ist auch deinen Feinden in dieser Flotte bewusst. Nach dem, was du hier vollbracht hast, indem du zurückgekehrt bist, um eine zahlenmäßig deutlich überlegene Syndik-Flotte auszulöschen, werden deine Widersacher der Verzweiflung nahe sein und dringend etwas unternehmen wollen. Auch wenn sie selbst nicht an dich glauben, müssen sie doch früher oder später zu dem Schluss kommen, dass du diese Flotte tatsächlich nach Hause zurückbringen könntest. Also müssen sie dich schleunigst in Misskredit bringen oder dich auf andere Weise stoppen, denn später werden sie keine Gelegenheit mehr dazu bekommen.«

Geary nickte und kniff nachdenklich die Augen zusammen.

»Was glaubst du, was sie unternehmen werden?«

»Ich weiß nicht. Ich versuche, es herauszufinden. Sie könnten versuchen, an deinem Ruf zu kratzen, indem sie dir irgendwelche Skandale anhängen. Aber das reicht nicht, um dich aus dem Kommandosessel zu vertreiben. Jetzt jedenfalls nicht mehr. Casia beispielsweise, der von den anderen vorge-schoben wurde, um dich schlecht zu machen, hat jede Glaubwürdigkeit verloren; nicht nur durch deinen Sieg, sondern auch durch sein eigenes Handeln. Du solltest davon ausgehen, dass deine wahren Kontrahenten letztlich ins Rampen-licht treten müssen. Denn sie müssen zuschlagen, und ihnen bleibt nicht mehr viel Zeit.«

»Du stellst das so hin, als könnten sie versuchen, ein Attentat auf mich zu verüben.«

»Das ist denkbar. Zum Glück bist du auf diesem Schiff von loyalen Leuten umgeben, allen voran von deinem Captain.

Desjani würde mit Freuden ihr Leben geben, um Blackjack zu retten.« Ihr entging seine verärgerte Reaktion nicht. »Versuch nicht, es abzustreiten. Sei einfach dankbar. Sie und ich, wir haben unsere unterschiedlichen Ansichten, aber im Augenblick sind wir beide ausschließlich darauf bedacht, dass dir nichts zustößt.«

Von allen seltsamen Dingen, die ihm seit seinem Erwachen aus dem künstlichen Schlaf in der Rettungskapsel widerfahren waren, empfand er die Vorstellung am seltsamsten, dass Victoria Rione und Tanya Desjani links und rechts von ihm standen und als seine Leibwächter agierten. »Ich muss eine Konferenz mit den Schiffskommandanten einberufen. Wirst du teilnehmen?«

»Diesmal nicht«, antwortete Rione. »Ich werde mir das Ganze aus der Ferne ansehen, allein schon weil ich wissen will, was die Leute sagen, wenn ich mal nicht mit am Tisch sitze.«

Geary sah sie argwöhnisch an. »Die Flottenkonferenzen finden unter absoluter Geheimhaltung statt. Niemand, der nicht dabei ist, kann die Ereignisse beobachten.«

»Oh, dann habe ich dir wohl soeben eine weitere Illusion zerstört. Alles, was ein Mensch verschlüsselt, kann von einem anderen Menschen wieder entschlüsselt werden, John Geary.«

Sie ging zur Tür. »Ich werde zusehen. Was wirst du übrigens mit Captain Casia und Commander Yin machen?«

»Das überlege ich immer noch«, antwortete er wahrheitsgemäß.

»Du musst nicht Black Jack sein, um sie standrechtlich erschießen zu lassen, wie du weißt. Sogar Admiral Bloch hätte einen solchen Befehl geben können.«

»Ich weiß. Aber ich weiß nicht, was ich mit ihnen machen soll. Findest du, sie gehören hingerichtet?«

»Ja, und zwar so bald wie möglich«, erklärte Rione todernst und verließ sein Quartier.

Загрузка...