Rione hat recht.

Eine Weile saß er da und versuchte zu überlegen, was er tun sollte. In gewisser Weise hatten sie ja schon darüber geredet.

Sie konnten nicht, und sie würden auch nichts tun, was für einen Befehlshaber und seinen untergebenen Offizier nicht angemessen war. Das bedeutete aber nicht, dass sie deshalb nicht weiter eng zusammenarbeiten könnten, denn gerade die jüngsten Ereignisse hatten gezeigt, wie wichtig ihr Beistand besonders in kritischen Situationen für ihn war. Allerdings musste er aufpassen, dass es nicht darüber hinausging, dass er sie nicht in einer Weise unter Druck setzte, die nichts mit ihrer Arbeit als Offizier dieser Flotte zu tun hatte. Sie hatte ihn nicht aufgefordert, etwas für sie zu empfinden, und er hatte kein Recht, das auch nur anzusprechen.

Dass Rione ihm vorgeworfen hatte, Desjani empfinde auch etwas für ihn, zählte nicht. Er konnte nicht davon ausgehen, dass das stimmte, und erst recht konnte er nicht so handeln, als ob es stimmte. Es wäre für alle Beteiligten besser, wenn diese Behauptungen nicht zutrafen.

Schließlich kam ihm in den Sinn, was diesen jüngsten Streit mit Rione ausgelöst hatte, und er rief die vorläufige Liste der Allianz-Angehörigen auf, die man von der Audacious gerettet hatte. Die Liste war erfreulicherweise sehr lang, dennoch wollte Geary sie nicht mit einer Aufstellung all jener Offiziere und Matrosen vergleichen, die sie in diesem Sternensystem verloren hatten. Und genausowenig wollte er im Moment länger darüber nachdenken, dass diese befreiten Gefangenen die Lücken würden schließen müssen, die die Schlacht auf den überlebenden Schiffen gerissen hatte. Die meisten ehemaligen Gefangenen waren Unteroffiziere, dazwischen fänden sich einige Junioroffiziere, und nur ein einziger Offizier war aufgeführt, der oberhalb des Dienstgrads eines Lieutenants ran-gierte. Gearys Blick ruhte sekundenlang auf dem Namen von Commander Savos, dann stellte er fest, dass der Mann derzeit auf dem Schlachtkreuzer Implacable untergebracht war, und rief das Schiff. »Wenn Commander Savos dazu in der Lage ist, würde ich gern mit ihm reden.«

Zehn Minuten später meldete die Implacable, dass Savos bereit war, um mit ihm zu reden. Geary stand auf, zog seine Uniform zurecht, dann forderte er die Implacable' auf, die Verbindung herzustellen.

Das Bild des vormaligen Befehlshabers des Leichten Kreuzers Spur, der beim ersten Aufenthalt der Allianz-Flotte im Lakota-System zerstört worden war, tauchte vor ihm auf und zeigte einen arg mitgenommenen Mann. Seine Uniform war neu, offenbar von jemandem an Bord der Implacable zur Verfügung gestellt, um die alte zu ersetzen, die er während seiner Gefangenschaft getragen hatte, doch dem Mann selbst war noch deutlich anzusehen, was er in den letzten Wochen durchgemacht hatte. Commander Savos wirkte hager, sein Gesicht trug deutliche Spuren, die den Stress der letzten Zeit erkennen ließen. Eine Seite seines Kopfs war mit einem Flex-Verband bedeckt, sein Auge wies noch die Überreste einer hässlichen Prellung auf. Dennoch versuchte er, in Habacht-haltung vor Geary zu stehen und zu salutieren. Der erwiderte den Salut flüchtig und verspürte ein schlechtes Gewissen, dass er den Mann hatte antreten lassen. Warum hatte ihm auch niemand sagen können, dass Savos' Verfassung so schlecht war? »Rühren Sie sich, Commander, und setzen Sie sich hin.

Werden Sie auf der Implacable gut versorgt?«

Savos nahm vorsichtig Platz und setzte sich steif hin, dann nickte er: »Ja, Sir. Auf der Implacable kümmert man sich ganz hervorragend um uns, Sir. Exzellente Behandlung, auch wenn das Essen zu wünschen übrig lässt, das wir den Syndiks abgenommen haben.«

»Das müssen Sie mir nicht sagen. Ich sehne mich inzwischen bereits nach einem Danaka Yoruk-Riegel, was ich niemals für möglich gehalten hätte.« Geary hielt kurz inne. »Wie geht es Ihnen?«

»Ich fühle mich glücklicher, als ich es vor ein paar Tagen noch für möglich gehalten hätte, Sir«, erwiderte er grinsend, wurde aber gleich wieder ernst. »Die Syndiks haben uns hun-gern lassen und sind ziemlich grob mit uns umgesprungen.

Aber jetzt geht es uns ja wieder gut.«

»Sie sind der ranghöchste Offizier, den wir befreit haben.«

»Von den Gefangenen auf der Audacious, ja, Sir«, bestätigte Savos. »Nach allem was ich gehört habe, könnte auch der eine oder andere Captain in Gefangenschaft geraten sein, aber der wird dann auf eines der Syndik-Kriegsschiffe gebracht worden sein, um ihn zu verhören.« Der Commander machte eine Pause und sah besorgt drein. Geary wusste, was mit dem Mann los war. Er wurde ebenso von dem Gedanken daran geplagt, dass sich an Bord von einigen der Syndik-Kriegsschiffe, die im Verlauf der Schlacht zerstört worden waren, weitere Gefangene befunden haben mussten. Es war jedoch unmöglich, das mit Gewissheit zu sagen, und noch unmöglicher wäre es gewesen, auch nur einen von ihnen zu retten. Dennoch musste Geary immer wieder daran denken.

»Nachdem ich den Befehl gegeben hatte, die Spur zu verlassen«, redete Savos weiter, »war ich eine Weile nicht bei Bewusstsein, weil das Schiff durch einige Treffer heftig durchgeschüttelt worden war. Meine Crew brachte mich zu einer Rettungskapsel, aber es dauerte einige Tage, ehe ich wieder klar denken konnte. Vielleicht ließ man mich deswegen auf der Audacious, ansonsten hätten sie mich wohl auch zum Verhör mitgenommen.«

»Was sagen unsere Ärzte zu Ihrer Kopfverletzung?«

»Nichts, was sie nicht wiederherstellen könnten, Sir.« Savos lächelte schief und legte eine Hand an den Kopfverband.

»Wäre das nicht behandelt worden, hätte ich irgendwann später große Probleme bekommen. Aber so ist jetzt alles auf dem Weg der Besserung.«

»Gut. Das mit der Spur tut mir leid.«

Savos schaute betrübt drein, dann antwortete er: »Sie war nicht das einzige Schiff, das wir verloren haben, Sir.«

»Das stimmt. Aber sie hat den Feind nicht ungeschoren davonkommen lassen. Ihr Schiff hat gut gekämpft.« Er wusste, dass jedem befehlshabenden Offizier ein solcher Zuspruch gut tat. »Das Gefecht mit den Syndiks hat dafür gesorgt, dass die befreiten Gefangenen mit den Besatzungsmitgliedern anderer Schiffe zusammengepfercht wurden, die dem Feind zum Opfer gefallen waren. Wir sortieren momentan die Gefangenen aus, und sobald wir eine Liste der Spur vorliegen haben, bekommen Sie eine Kopie.«

»Vielen Dank, Sir.«

»Wir werden die Leute vermutlich auf die Schiffe umver-teilen, die Personal verloren haben«, ließ Geary ihn wissen.

»Sagen Sie mir Bescheid, wenn es jemanden gibt, mit dem Sie zusammen auf dem gleichen Schiff sein möchten.«

Commander Savos nickte. »Danke, Sir.«

Geary betrachtete den Offizier einen Moment lang. Savos hatte einen guten Eindruck bei ihm hinterlassen, und er be-nötigte einen neuen Befehlshaber für die Orion. Würde Savos damit zurechtkommen? Von einem Leichten Kreuzer auf ein Schlachtschiff zu wechseln, war womöglich ein zu großer Schritt, zumal Savos noch mit den Folgen seiner Kriegsverlet-zung zu kämpfen hatte. Es war wohl besser, ihn nicht zu über-fordern. Wenn die Flotte Branwyn erreicht hatte, würde er sich Savos abermals ansehen, und dann konnte er immer noch entscheiden, ob er ihm das Kommando übertrug. »Ich weiß, der Geheimdienst befragt nach und nach alle befreiten Gefangenen, trotzdem möchte ich Sie fragen, ob Ihnen irgendetwas einfällt, was ich jetzt schon wissen sollte.«

Savos dachte darüber nach. »Wir haben wenig mitbekommen. Sie haben uns in kleinen Gruppen rausgeholt und uns arbeiten lassen, ansonsten waren wir die ganze Zeit in unseren Abteilen untergebracht. Aber eine Sache dürfte Sie interessieren.«

»Und zwar?«

»Wir wussten gestern nicht, was los war, aber den Syndiks war bekannt, dass ich ein höherrangiger Offizier bin. Ein paar Leute von ihrer Mobilen Eingreiftruppe zerrten mich nach draußen, hielten mir ihre Waffen unter die Nase und fragten mich, ob Sie tatsächlich das Kommando über die Flotte haben und ob es stimmt, dass Sie verboten haben, gefangene Syndiks zu töten.« Savos zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, warum sie mich das gefragt haben, aber ich habe wahrheitsge-mäß beides bejaht. Ich habe ihnen erklärt, dass Sie darauf bestehen, die alten Regeln der Kriegführung zu befolgen, und dass wir uns alle daran halten. Dann sagte einer von ihnen etwas in der Art von ›Zum Teufel mit unseren Befehlen«, und ich wurde wieder eingesperrt. Danach passierte eine Weile nichts mehr, bis auf einmal unsere Marines die Luke öffneten. Die Syndik-Wachposten müssen zu ihren Rettungskapseln gelaufen sein, gleich nachdem ich befragt worden war.«

Geary überlegte, von welchen »Befehlen« da wohl die Rede gewesen war. Hatten sie die Lebenserhaltungssysteme an Bord abschalten oder den Antrieb zur Überhitzung bringen sollen?

Offenbar hatte seine Drohung in Verbindung mit vorange-gangenen Beobachtungen Wirkung gezeigt. »Danke, Commander. Jetzt ruhen Sie sich erst mal aus, das haben Sie sich mehr als verdient. Wir sprechen uns bei Branwyn wieder.«

»Jawohl, Sir.« Savos machte eine Geste hin zu den Kontrollen an seinem Standort, dann hielt er inne. »Die haben Angst, Sir. Die haben Angst vor dieser Flotte und vor Ihnen.

Das konnte ich ihnen anmerken.«

»Hm.« Wie sollte er darauf reagieren? Er hatte noch nie seine Leute geführt, indem er sie in Angst und Schrecken versetzte. Allerdings war es auch ein Unterschied, ob die eigenen Untergebenen einen fürchteten oder ob der Feind Angst hatte. Trotzdem sah er sich nicht in einer solchen Rolle. »Tja, dann sollten sie sich vor jedem Einzelnen in dieser Flotte fürchten, denn ohne die Männer und Frauen auf jedem dieser Schiffe hätte ich überhaupt nichts erreicht.« Savos machte einen dankbaren Eindruck, als hätte er diese Antwort nicht erwartet. Dann verschwand sein Bild und Geary war wieder einmal allein.

»Das Shuttle mit Captain Casia und Commander Yin ist auf dem Weg zur Illustrious«, meldete Desjani so beiläufig, als sei es ganz normal, dass ein Senioroffizier auf dem Weg zu seiner Hinrichtung und ein zweiter auf dem Weg in die Arrestzelle war.

»Sie sind zusammen in dem Shuttle unterwegs?«


Desjanis Bild auf dem Display in seinem Quartier zeigte, wir sie bestätigend nickte. »Die Conqueror und die Orion liegen dicht beieinander, da wäre es unsinnig, die Brennstoffzellen von gleich zwei Shuttles zu verbrauchen. Der Vogel sollte die Illustrious in fünfundzwanzig Minuten erreichen.«

Damit blieben immer noch gut viereinhalb Tage, ehe die Flotte den Sprungpunkt nach Branwyn erreichte. Also noch genügend Zeit für das Erschießungskommando, seine Arbeit zu erledigen, solange sie sich im Lakota-System befänden, was Geary Casia versprochen hatte. Dennoch kam ihm die verbleibende Zeit viel zu kurz vor.

Es kam ihm verkehrt vor, in seinem Quartier zu sitzen, während das Shuttle mit den Gefangenen und ihren Bewachern die Illustrious ansteuerte. Also begab Geary sich auf die Brücke und nahm neben Desjani Platz. Unwillkürlich fragte er sich, ob Colonel Carabali wohl genügend Freiwillige hatte finden können, um ein Erschießungskommando zusammenzustellen. Aber er wollte sie jetzt nicht danach fragen. Dazu fühlte er sich noch nicht bereit. Er wollte über diese ganze Angelegenheit nicht nachdenken, und doch war sie das Einzige, was ihm durch den Kopf ging.

Zehn Minuten später setzte ein Alarm ein.

»Unfall auf Shuttleflug Omicron Five One«, rief ein Wachhabender.

Geary war noch immer auf sein Display konzentriert, als Desjani erschrocken rief: »Das ist der Vogel mit Casia und Yin an Bord.«

Ein ungutes Gefühl überkam ihn. »Das war der Vogel«, murmelte er, als er sah, was Bild und Text ihm anzeigten — das Shuttle war explodiert.

»Er ist weg?« Desjani tippte auf ihre Kontrollen. »Shuttle-Unfälle sind ungewöhnlich, aber nicht unmöglich. Aber ein solcher Unfall… Unsere Systeme zeigen an, dass die Brennstoffzelle des Shuttles leckgeschlagen sein muss. Was zum Teufel soll denn so etwas verursacht haben?«

»Der Zerstörer Rapier ist der Unfallstelle am nächsten«, meldete der Ablauf-Wachhabende. »Sie bitten um Erlaubnis, das Gebiet nach Überlebenden abzusuchen und Beweismaterial einzusammeln.«

Eigendich hätte Geary längst auf die Idee kommen sollen, ein Schiff hinzuschicken, aber er konnte noch immer nicht so ganz begreifen, was sich da gerade abgespielt hatte. »Sagen Sie der Rapier, sie hat die Erlaubnis.«

Desjani schüttelte vor Wut den Kopf. »Die Überlebenschan-cen sind gleich null, aber vielleicht findet die Rapierya. etwas im Wrack, das eine Erklärung dafür liefert, was an Bord passiert ist.«

Die Rapier war noch auf dem Weg zum Trümmerfeld, da kam Rione auf die Brücke geeilt, beugte sich zu Geary vor und llüsterte ihm ins Ohr: »Ein sehr ungewöhnlicher Unfall, und jetzt sind zwei Offiziere tot, die Namen hätten nennen können.«

Er sah sie verdutzt an. »Sie meinen…?«

»Casia hätte noch eine letzte Aussage machen können, wenn er vor dem Erschießungskommando stand, und Yin wäre bei einem Verhör vermutlich zusammengebrochen und hätte etwas Brauchbares verraten können. Was meinen Sie

Er wollte diesen Gedanken eigentlich nicht in Erwägung ziehen, aber dass ausgerechnet das Shuttle mit den beiden Gefangenen an Bord in die Luft ging, machte es schwer, Riones Andeutung zu ignorieren. Jemand hatte seine Bemühungen, gegen Geary vorzugehen, auf eine neue, tödliche Stufe angehoben. Ihm war Riones Warnung vor seinen Widersachern zuvor als völlig überzogen vorgekommen, doch jetzt regten sich erste Zweifel. Wer immer dahintersteckte war bereit, Allianz-Personal kaltblütig zu ermorden, weil er Geary das Kommando über die Flotte streitig machen wollte. Aber wenn stimmte, was Commander Yin während der Konferenz gesagt hatte, dann wollten sie auch verhindern, dass er sich zum Diktator aufschwingen konnte, sobald sie nach Hause zurückgekehrt waren. So wie Rione waren sie bereit, zu diesem Zweck zu töten. Anders als Rione hatten sie jedoch nicht nur mit solchen Maßnahmen gedroht, sondern sie auch ergriffen.

Und anders als sie hatte ihr Attentat nicht Geary, sondern anderen Offizieren der Flotte gegolten.

Was auch bedeutete, dass sie bereit und in der Lage waren, weitere Attentate zu verüben. Die Frage war nur, wann sie wo und wie wieder zuschlagen würden.

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