ACHTER TEIL Soziale Ingenieurkunst

Wo bist du geboren?

Denver.

Wo bist du aufgewachsen ?

Rock. Boulder.

Wie warst du als Kind?

Ich weiß nicht.

Schildere mir deine Eindrücke!

Ich wollte wissen, warum.

Du warst neugierig?

Sehr neugierig.

Hast du mit naturwissenschaftlichen Baukästen gespielt?

Mit allen.

Und deine Freunde?

Ich erinnere mich nicht.

Überleg doch einmall

Ich glaube nicht, daß ich viele Freunde hatte.

Warst du als Kind beidhändig?

Ich erinnere mich nicht.

Denke an deine Experimente1. Hast du dazu beide Hände benutzt?

Ich glaube, das war oft nötig.

Hast du mit der rechten Hand geschrieben ?

Ich weiß nicht. Ja doch. Als Kind.

Und hast du etwas mit der linken Hand gemacht? Die Zähne geputzt, das Haar gekämmt, auf Dinge gezeigt, Bälle geworfen?

Das habe ich alles mit der rechten Hand getan. Würde es etwas ausmachen, wenn es anders gewesen wäre?

Nun, siehst du, in Fällen von Aphasie fügen sich die starken Rechtshänder recht gut in ein bestimmtes Profil ein. Aktivitäten sind lokalisiert, oder besser gesagt: koordiniert, an bestimmten Stellen im Gehirn. Wenn wir genau die Probleme bestimmen, welche der Aphasiker hat, können wir recht gut sagen, wo die Verletzungen im Gehirn lokalisiert sind. Und umgekehrt. Aber bei Linkshändern und Beidhändern gibt es kein solches Muster. Man könnte sagen, daß jedes links- und beidhändige Gehirn anders organisiert ist.

Du weißt, die meisten ektogenen Kinder Hirokos sind Linkser.

Ja, ich weiß. Ich habe mit ihr darüber gesprochen; aber sie behauptet, nicht zu wissen warum. Sie sagt, es könnte daher kommen, daß sie auf dem Mars geboren sind.

Findest du das plausibel?

Nun, über Händigkeit weiß man auf jeden Fall noch wenig, und die Effekte der geringeren Schwere … die werden wir in Jahrhunderten in Ordnung bringen, oder nicht?

Ich nehme das an.

Gefällt dir etwa diese Idee nicht?

Antworten wären mir lieber.

Wie, wenn alle deine Fragen beantwortet würden? Wärest du dann zufrieden?

Ich finde es schwer, mir einen solchen — Zustand vorzustellen. Nur ein sehr kleiner Prozentsatz meiner Fragen würde Antworten haben.

Aber das ist doch wundervoll. Meinst du nicht auch?

Nein. Dem zuzustimmen wäre nicht wissenschaftlich.

Verstehst du unter Wissenschaft nicht mehr als Antworten auf Fragen?

Ich sehe darin ein System, Antworten zu erzeugen.

Und was ist der Zweck davon ?

… Zu wissen.

Und was wirst du mit deinem Wissen anfangen?

… Neues zu finden.

Aber warum?

Ich weiß nicht. So bin ich nun eben.

Sollten nicht einige deiner Fragen in diese Richtung gehen — herauszufinden, warum du so bist, wie du bist?

Ich glaube nicht, daß man befriedigende Antworten finden kann auf Fragen nach — der menschlichen Natur. Man sollte sie sich lieber als eine Black Box vorstellen. Man kann die wissenschaftliche Methode nicht anwenden. Nicht gut genug, um seiner Antworten sicher zu sein.

In der Psychologie glauben wir, wissenschaftlich ein bestimmtes Leiden identifiziert zu haben, bei dem eine Person alles wissen muß, weil sie sich fürchtet, nichts zu wissen. Pappel hat das Monocausotaxophilie genannt, die Liebe zu einzelnen Ursachen, die alles erklären. Das kann zur Angst wegenfehlender Ursachenführen. Weil dieses Fehlen gefährlich sein könnte. Das Suchen nach Wissen wird primär defensiv, insofern es ein Weg ist, Angst zu verneinen, wenn man wirklich Angst hat. Im schlimmsten Fall ist es nicht einmal das Suchen nach Wissen; denn wenn die Antworten eintreffen, hören sie auf, von Interesse zu sein, da sie nicht länger gefährlich sind. So daß die Realität als solche einer solchen Person gleichgültig ist.

Ein jeder sucht Gefahr zu meiden. Aber Motivationen sind immer vielfach. Und von Person zu Person verschieden. Und unterschiedlich von Aktion zu Aktion. Von einer Zeit zur anderen. Jegliche Schemata sind eine Sache der Spekulation des Beobachters.

Psychologie ist eine Wissenschaft, bei der der Beobachter eng in das Subjekt der Beobachtung einbezogen wird.

Das ist einer der Gründe, weshalb ich sie nicht für eine Wissenschaft halte.

Doch, sie ist sicher eine Wissenschaft. Einer ihrer Grundsätze lautet: Wenn du mehr wissen willst, mußt du dich mehr bemühen, jeder Astronom liebt die Sterne. Warum sollte er sie sonst so intensiv studieren?

Weil sie Geheimnisse sind.

Woran ist dir gelegen?

Mir liegt an Wahrheit.

Die Wahrheit ist kein sehr guter Liebhaber.

Ich bin nicht auf Liebe aus.

Bist du sicher?

Nicht sicherer als jeder andere, der über Motivationen nachdenkt.

Du gibst zu, daß wir Motivationen haben?

Ja. Aber die Wissenschaft kann sie nicht erklären.

Sie sind also Teil deines großen Unerklärlichen?

ja.

Und so richtest du deine Aufmerksamkeit auf andere Dinge?

Ja.

Aber die Motivationen sind immer noch da?

Oja.

Was hast du gelesen, als du jung warst?

Alles mögliche.

Was waren einige deiner Lieblingsbücher?

Sherlock Holmes. Die Denkmaschine. Dr. Thorndyke.

Haben deine Eltern dich bestraft, wenn du aufgebracht warst?

Ich glaube nicht. Sie mochten es nicht, wenn ich Unruhe und Lärm machte. Aber ich denke, daß sie in dieser Hinsicht ganz normal waren.

Hast du sie jemals aufgeregt gesehen?

Ich kann mich nicht erinnern.

Hast du je erlebt, daß sie gebrüllt oder geweint haben?

Ich habe sie nie brüllen gehört. Ich denke, daß meine Mutter manchmal geweint hat.

Wußtest du, weshalb?

Nein.

Hast du dich gefragt, weshalb?

Ich erinnere mich nicht. Würde das etwas ausmachen, wenn es so gewesen wäre?

Was meinst du?

Ich meine, wenn ich eine Art von Vergangenheit gehabt hätte, hätte ich mich immer noch in eine beliebige Person verwandeln können. In Abhängigkeit von meiner Reaktion auf die — Ereignisse. Und wenn ich eine andersartige Vergangenheit gehabt hätte, wären die gleichen Variationen gefolgt. So daß deine Richtung zu fragen nutzlos ist. Insofern, als sie keine erklärende Strenge besitzt. Sie ist eine Nachahmung der wissenschaftlichen Methode.

Ich finde deinen Begriffvon Wissenschaft ebenso armselig wie deine wissenschaftlichen Aktivitäten. Im Grunde sagst du, wir sollten den menschlichen Geist nicht auf wissenschaftliche Weise studieren, weil er zu komplex ist, das Studium leicht zu machen. Das ist nicht sehr mutig von dir. Das Universum außerhalb von uns ist auch komplex; aber du rätst nicht, es zu vermeiden. Warum dann so mit dem inneren Universum?

Du kannst nicht Faktoren isolieren und Bedingungen wiederholen, du kannst keine kontrollierten Experimente anstellen und keine falsifizierbaren Hypothesen aufstellen. Der Apparat der Wissenschaft steht dir nicht zur Verfügung.

Denke einmal über die ersten Wissenschaftler nach1.

Die Griechen?

Noch früher. Die Vorgeschichte war nicht bloß ein formloser und zeitloser Zyklus der Jahreszeiten, mußt du wissen. Wir tendieren dazu, uns jene Leute so vorzustellen, als ähnelten sie unserem unbewußten Verstand. Aber so waren sie nicht. Seit mindestens hunderttausend Jahren sind wir schon so intellektuell wie jetzt. Wahrscheinlich sogar eher seit einer halben Million Jahren. Und jedes Zeitalter hatte seine großen Wissenschaftler, und die alle mußten im Kontext ihrer Zeiten arbeiten wie wir auch. Für diefrühen Menschen gab es kaum eine Erklärung für irgend etwas. Die Natur war so ganz und komplex und geheimnisvoll wie unser Geist für uns jetzt. Aber was konnten sie machen? Sie mußten doch irgendwo anfangen. Daran mußt du immer denken. Und es erforderte Tausende von Jahren, um die Pflanzen, die Tiere, den Gebrauch von Feuer, Steine, Äxte, Bogen, Pfeile, Unterkunft, Kleidung kennenzulernen. Danach Töpferei, Ernten, Metallurgie. Alles so langsam und mit so großer Anstrengung. Und das alles wurde durch Worte mündlich weitergegeben von einem Gelehrten zum nächsten. Und ohne Zweifel haben während der ganzen Zeit Menschen gesagt: Das ist zu komplex, um irgend etwas sicher sein zu können. Warum sollten wir das alles versuchen? Galilei hat gesagt: »Die Alten hatten guten Grund, sichfür die ersten Wissenschaftler unter den Göttern zu halten, da sie sahen, daß gewöhnliche Geister so wenig Neugier haben. Die kleinen Hinweise, mit denen die großen Erfindungen begannen, gehörten nicht einem trivialen, sondern einem übermenschlichen Geist.« Übermenschlich! Oder nur den besten Teilen unserer selbst, den kühnen Geistern jeder Generation. Den Wissenschaftlern. Und im Verlauf der Jahrhunderte haben wir ein Weltmodell zusammengestückelt, ein Paradigma, das doch recht genau und mächtig ist?

Aber haben wir nicht in all diesen Jahren ebenso hart — mit wenig Erfolg — versucht, uns selbst zu verstehen?

Mag sein. Vielleicht dauert das länger. Aber schau, wir haben auch ein gutes Stück Fortschritt erzielt. Und nicht erst in jüngster Zeit. Allein durch Beobachtung entdeckten die Griechen die vier Temperamente; und erst kürzlich haben wir genug über das Gehirn gelernt, um sagen zu können, was die neurologische Basis dieses Phänomens ist.

Glaubst du an die vier Temperamente?

O ja. Sie lassen sich, wenn man will, durchs Experiment bestätigen. Wie so viele, viele Dinge über den menschlichen Geist. Vielleicht ist das keine Physik, vielleicht wird es nie Physik sein. Es könnte sein, daß wir bloß komplexer und unvorhersehbarer sind als das Weltall.

Das ist wohl wenig wahrscheinlich. Schließlich bestehen wir doch aus Atomen.

Aber aus lebendigen! Angetrieben durch die grüne Kraft, lebendig mit Geist, dem großen Unerklärlichen!

Chemische Reaktionen …

Aber warum Leben? Das ist mehr als Reaktionen. Es gibt einen Zug zur Komplizierung, der dem physikalischen Gesetz der Entropie direkt entgegengesetzt ist. Warum sollte das sein?

Ich weiß nicht.

Warum mißfällt es dir, wenn du nicht sagen kannst, warum?

Ich weiß nicht.

Das Mysterium des Lebens ist eine heilige Sache. Es ist unsere Freiheit. Wir sind aus der physikalischen Realität herausgeschossen und existieren jetzt in einer Art gottähnlicher Freiheit; und das Mysterium ist ein integraler Teil davon.

Nein. Wir sind immer noch physische Realität. Atome mit ihren Umlaufbahnen. In den meisten Maßstäben determiniert, in einigen anderen zufallsbedingt.

Ah so. Wir sind verschiedener Ansicht. Aber in beiden Fällen ist es der Beruf des Gelehrten, alles zu erforschen. Ungeachtet der Schwierigkeiten! Offen zu bleiben, Mehrdeutigkeit zu akzeptieren. Zu versuchen, mit dem Objekt der Forschung zu verschmelzen. Zuzugeben, daß es Werte gibt, die das ganze Vorhaben durchziehen. Es zu lieben. Darauf hinzuarbeiten, die Werte zu entdecken, durch die wir leben sollten. Bestrebt zu sein, diese Werte in der Welt zur Geltung zu bringen. Zu erforschen — und mehr als das — zu erschaffen!

Darüber muß ich nachdenken.


Beobachtung ist nie genug. Außerdem war es ohnehin nicht ihr Experiment. Desmond kam nach Dorsa Brevia, und Sax ging, ihn aufzusuchen. »Fliegt Peter immer noch?«

»Nun ja. Er verbringt einen guten Teil seiner Zeit im Raum, wenn du das meinst.«

»Kannst du mich mit ihm in Verbindung bringen?«

»Sicher kann ich das.« Desmonds ruiniertes Gesicht zeigte einen seltsamen Ausdruck. »Dein Sprechen wird immer besser. Was haben sie mit dir gemacht?«

»Gerontologische Behandlungen. Auch Wachstumshormon, L-Dopa, Serotonin und andere Chemikalien. Irgendein Zeug von Seesternen.«

»Haben dir ein neues Gehirn wachsen lassen, he?«

»Ja. Jedenfalls Teile, Synergische synaptische Stimulation. Auch viele Gespräche mit Michel.«

»Oha!«

»Ich bin es aber immer noch.«

Desmond stieß ein tierisches Gelächter aus. »Das sehe ich. Hör zu! Ich werde in ein paar Tagen wieder fort sein und dich zu Peters Flughafen bringen.«


Haben ein neues Gehirn wachsen lassen. Nicht ganz der richtige Ausdruck dafür. Die Verletzung hatte im hinteren Drittel der unteren frontalen Hirnwindung stattgefunden. Infolge von gezielter Ultraschallerinnerungs- und -Sprachstimulierung war Gewebe abgestorben. Ein Gehirnschlag. Brocasche Aphasie. Schwierigkeit mit dem motorischen Sprachapparat, wenig Satzmelodie, Schwierigkeit beim Ansatz zu Äußerungen, Reduktion auf Telegrammstil, meistens Hauptwörter und einfachste Formen von Verben. Eine Reihe von Tests ergab, daß die meisten anderen kognitiven Funktionen nicht beeinträchtigt waren. Er war sich nicht allzu sicher. Er hatte es verstanden, wenn Leute zu ihm sprachen; sein Denkvermögen war, soweit er sah, ziemlich gleich geblieben, und er hatte keine Mühe mit den räumlichen und anderen nichtlinguistischen Tests gehabt. Aber wenn er zu sprechen versuchte, gab es plötzlich Versagen — im Mund und im Verstand. Dinge verloren ihre Namen.

Seltsamerweise blieben sie auch ohne Namen noch Dinge. Er konnte sie sehen und über sie nachdenken in Form von Gestalten oder Zahlen. Formale Beschreibung. Mannigfache Kombinationen von Kegelschnitten und den sechs achsensymmetrischen Rotationsflächen, Ebene, Kugel, Zylinder, Katenoid, Unduloid und Nodoid: Gestalten ohne Namen, die aber selbst Namen waren. Eine geometrisch-räumliche Sprache.

Aber es zeigte sich, daß es schwer war, sich ohne Wörter zu erinnern. Man hatte anfangs eine Methode entlehnen müssen — die räumlich orientierte Methode des Gedächtnispalastes. Eine Stelle im Gehirn wurde so eingerichtet, daß sie dem Innern der Labors von Echus Overlook ähnelte, an das er sich so gut erinnerte, daß er im Geist darin umhergehen konnte, auch ohne Namen. Und an jedem Ort ein Objekt, oder ein anderer Ort oder ein Zählwerk. Die ganzen Acheronlabors. Ganz oben der Kühlschrank von Boulder, Colorado. So erinnerte er sich an alle Gestalten in seinem Kopf durch ihren Platz in dem mentalen Labor.

Und dann kam manchmal der Name. Aber wenn er ihn kannte und auszusprechen versuchte, war es leicht möglich, daß der falsche aus seinem Mund kam. Er hatte immer in diese Richtung tendiert. Nach manchen Sitzungen mit bestem Denken, wenn für ihn alles ganz klar gewesen war, war es gelegentlich schwierig gewesen, seine Gedanken auf den Ort der Sprache zu übertragen, der nicht recht zu der Art des Denkens paßte, das er vollzogen hatte. Dadurch hatte das Sprechen Arbeit erfordert. Aber ganz anders war sein stockendes, erratisches, unzuverlässiges Tasten, das gewöhnlich entweder versagte oder in die Irre führte. Schmerzlich. Dennoch sicher Wernickes Aphasie vorzuziehen, bei der man geläufig plapperte, ohne zu merken, daß das überhaupt keinen Sinn ergab. Gerade so, wie er eine prämorbide Tendenz gehabt hatte, die Wörter für Dinge zu verlieren, gab es Leute, die zu Wernickes Aphasie neigten ohne die Entschuldigung einer Verletzung des Gehirns. Wie Art festgestellt hatte, war Sax sein Problem lieber.


Ursula und Vlad waren zu ihm gekommen. Ursula sagte: »Aphasie ist bei jeder Person anders. Es gibt Muster und Gruppen von Symptomen, die gewöhnlich mit bestimmten Verletzungsformen bei rechtshändigen Erwachsenen einhergehen. Aber bei außergewöhnlichen Gehirnen gibt es eine Menge Ausnahmen. Wir sehen schon, daß die kognitiven Funktionen sehr groß geblieben sind für jemanden mit deinem Maß an Sprechschwierigkeiten. Wahrscheinlich hat sich ein großer Teil deines mathematischen und physikalischen Denkens ohne Verwendung von Sprache abgespielt.«

»Das stimmt.«

»Und wahrscheinlich war es geometrisches Denken anstatt analytisches, das in der rechten Hemisphäre des Gehirns stattfand und nicht in der linken. Deine rechte Hemisphäre war ausgespart.«

Sax nickte. Er getraute sich nicht zu sprechen.

»Auch die Aussichten für Genesung variieren weitgehend. Eine Besserung gibt es fast immer. Besonders Kinder sind sehr anpassungsfähig. Wenn sie Kopfverletzungen haben, kann selbst eine begrenzte Verletzung ernste Probleme bereiten, aber es kommt fast immer zur Heilung. Man kann einem Kind eine ganze Hirnhälfte entfernen, wenn es notwendig ist. Dann werden alle Funktionen von der restlichen Hälfte wieder erlernt. Das geschieht wegen des unglaublichen Wachstums im kindlichen Gehirn. Bei Erwachsenen ist es anders. Da ist bereits eine Spezialisierung eingetreten, so daß definierte Verletzungen einen spezifischen begrenzten Schaden bewirken. Wenn aber erst einmal eine bestimmte Fertigkeit in einem reifen Gehirn zerstört ist, gibt es oft keine merkliche Verbesserung.«

»Die Hand — die Behandlung.«

»Genau. Aber schau, das Gehirn ist eben eine der Stellen, wo die gerontologische Behandlung die größte Schwierigkeit hat, nachhaltig zu wirken. Wir haben aber daran gearbeitet. Wir haben ein Stimulationsprogramm entwickelt, das in Abstimmung mit der Behandlung eingesetzt wird, wenn man mit Fällen von Hirnschaden konfrontiert ist. Es könnte ein regulärer Teil der Therapie werden, wenn die Versuche weiterhin gute Ergebnisse zeitigen. Wir haben es noch nicht bei sehr vielen Versuchen mit Menschen eingesetzt. Die Injektion erhöht die Plastizität des Gehirns durch Anregung des Wuchses von Axonen und Dendriten in der Wirbelsäule und der Sensitivität von Hebb-Synapsen. Das Corpus callosum wird besonders beeinflußt und die der verletzten Hemisphäre gegenüberliegende Seite. Durch Lernen können dort ganze neue Netzwerke aufgebaut werden.«

»Macht das!« sagte Sax.


Vernichtung ist Erschaffung. Wie ein kleines Kind werden. Sprache als Raum, als eine Art mathematischer Notation. Geometrische Lokalisierungen im Labor des Gedächtnisses. Lesen. Karten, Codes, Substitutionen, die geheimen Namen der Dinge. Das triumphale Anstürmen eines Wortes. Die Freude am Plaudern. Die Wellenlänge jeder Farbe nach Zahl. Dieser Sand ist orangefarben, braun, blond, siena, umbra, gebrannte siena, ocker. Der Himmel ist zartblau, lavendel, malve, violett, preußischblau, indigo, mitternachtsblau. Man schaue nur auf beschriftete Farbtafeln, die reiche Intensität von Farben, den Klang der Wörter! Er wollte mehr. Ein Name für jede Wellenlänge des Spektrums. Warum nicht? Warum so knickerig? Die Wellenlänge von 0,59 Mikron ist so viel mehr blau als die von 0,6. Und 0,61 ist so viel roter … Sie brauchten mehr Wörter für Purpurtöne, so wie die Eskimos mehr Wörter für Schnee brauchten. Die Leute haben immer dieses Beispiel benutzt; und die Eskimos hatten ungefähr zwanzig Wörter für Schnee. Aber Forscher hatten mehr als dreihundert Wörter für Schnee. Und wer hat je gewürdigt, daß die Wissenschaftler ihrer Welt Aufmerksamkeit geschenkt haben? Keine zwei Schneeflocken sind gleich. Die Stelle, wo sich mein Arm beugt, ist mein Ellbogen! Mars sieht aus wie ein Kürbis! Die Luft ist kalt. Und vergiftet von Kohlendioxid.

Es gab Teile seiner inneren Sprache, die völlig aus alten Klischees bestanden. Sie kamen ohne Zweifel daher, was Michel als ›übererlernte‹ Aktivitäten in seiner Vergangenheit bezeichnete, die seinen Geist so durchsetzt hatten, daß sie den Schaden überlebten. Wenn man dann durch diese bequemen Formulierungen hindurchschnitt, als ob sie von einer völlig getrennten Sprache stammten, gab es die neuen Vorstellungen und die neuen Phrasen, die danach tasteten, sie auszudrücken. Synaptische Energien. Aktuelle Sprache aus beiden Bereichen war stets erwünscht. Die Heiterkeit der Normalität. Wie sehr hatte er sie für garantiert gehalten! Michel kam jeden Tag vorbei, um zu reden, und half ihm, sein neues Gehirn aufzubauen. Michel hegte einige sehr alarmierende Ansichten für einen Mann der Wissenschaft. Die vier Elemente, die vier Temperamente, alchemistische Formulierungen aller Art, philosophische Standpunkte, die als Wissenschaft glänzten…

»Hast du mich nicht einmal gefragt, ob ich Blei in Gold verwandeln könnte?«

»Ich glaube nicht.«

»Warum verbringst du so viel Zeit darauf, mit mir zu sprechen, Michel?«

»Ich spreche gern mit dir, Sax. Du sagst jeden Tag etwas Neues.«

»Ich werfe Dinge gern mit meiner linken Hand.«

»Das habe ich gesehen. Vielleicht wird aus dir einmal ein Linkser. Oder ein Beidhänder; denn dein linkes Gehirn ist so stark. Ich kann mir nicht vorstellen, daß es viel zurückbleiben wird, ungeachtet der Verletzung.«

»Der Mars sieht aus wie eine Kugel alter Planetesimale mit einem Eisenkern.«


Desmond flog Sax zu dem Sanktuarium der Roten im Wallace-Krater, wo Peter sich oft aufhielt. Und da war er auch. Peter, Sohn des Mars, groß, schnell und kräftig, freundlich, wenn auch unpersönlich, distanziert, von seiner Arbeit und seinem Leben absorbiert. Ähnlich wie Simon. Sax sagte ihm, was er tun wollte und weshalb. Er stolperte immer noch gelegentlich beim Sprechen. Aber es war so viel besser als zuvor, daß es ihn kaum störte, wenn es vorkam. Immer vorwärts! Wie das Reden in einer fremden Sprache. Für ihn waren jetzt alle Sprachen fremd. Außer sein eigenes Idiom von Formen. Aber das war keine Erschwerung. Im Gegenteil ein Trost, daß es so gut ging. Daß sich der Nebel vor den Namen lichtete, daß Verbindungen zwischen Geist und Mund wiederhergestellt waren. Selbst auf eine neue und riskante Art. Eine Chance zu lernen. Manchmal gefiel ihm der neue Weg. Die Realität eines Menschen konnte in der Tat von seinem wissenschaftlichen Paradigma abhängen; aber am meisten hing sie von der Struktur seines Gehirns ab. Wenn man die veränderte, konnten die Paradigmen auch folgen. Man kann Fortschritt nicht bekämpfen, auch nicht progressive Differenzierung. »Verstehst du?«

»O ja, ich verstehe«, sagte Peter mit breitem Grinsen.

»Ich halte das für eine sehr gute Idee. Sehr wichtig. Ich werde ein paar Tage brauchen, um das Flugzeug herzurichten.«

Ann kam in der Zufluchtsstätte an. Sie sah erschöpft und alt aus. Sie begrüßte Sax kurz. Ihre Abneigung war so stark wie je. Sax wußte nicht, was er ihr sagen sollte. War das ein neues Problem?

Er beschloß zu warten, bis Peter mit ihr gesprochen hätte, und zu sehen, ob das einen Unterschied machte. Er wartete. Inzwischen belästigte ihn niemand, wenn er nicht sprach. Überall Vorteile.

Ann kam von einem Gespräch mit Peter zurück, um mit den anderen Roten an ihrer kleinen Tafel zu speisen, und sah ihn tatsächlich neugierig an. Sie schaute über die Köpfe der anderen zu ihm her, als ob sie eine neue Klippe auf der Landschaft des Mars beobachtete, unverwandt und sachlich. Beurteilend. Eine Zustandsänderung in einem dynamischen System ist ein Datenpunkt, der für eine Theorie spricht. Unterstützend oder verwirrend. Was bist du? Warum tust du dies?

Er begegnete ihrem Blick ruhig und versuchte, ihn zu erwidern und zurückzugeben. Ja, ich bin immer noch Sax. Ich habe mich verändert. Warum hast du dich nicht verändert? Warum schaust du mich so an? Ich habe eine Verletzung erlitten. Das todgeweihte Individuum gibt es nicht mehr, nicht ganz. Ich habe eine experimentelle Behandlung erfahren, ich fühle mich wohl, ich bin nicht der Mann, den du gekannt hast. Und warum hast du dich nicht verändert?

Wenn genügend Daten die Theorie stören, könnte die Theorie falsch sein. Wenn die Theorie fundamental ist, müßte man das Paradigma wechseln.

Sie setzte sich hin, um zu essen. Es war zweifelhaft, ob sie seinen Geist in solchem Detail gelesen hatte. Es war aber dennoch ein großes Vergnügen, ihrem Auge standhalten zu können!

Sax stieg mit Peter in das kleine Cockpit, und gleich nach dem Zeitschlupf polterten sie die Rollbahn aus Urgestein entlang, beschleunigten stark und richteten sich dem schwarzen Himmel entgegen. Das große stromlinige Flugzeug vibrierte unter ihnen.

Sax lehnte sich in seinem Sitz zurück und wartete darauf, daß das Flugzeug über den Berg an seiner höchsten Stelle kurvte. Es wurde bei dem steilen Anstieg langsamer, bis es in einem sanften Aufwind durch die hohe Stratosphäre war und den Übergang vom Flugzeug zur Rakete vollzog, als die Atmosphäre in hundert Kilometern Höhe extrem dünn wurde, wo die Gase des Russell-Cocktails täglich durch auftreffende UV-Strahlen vernichtet wurden. Die Haut der Maschine glühte vor Hitze. Durch das Filterglas des Cockpits hatte die Sonne eine Farbe wie beim Untergehen. Ohne Zweifel beeinflußte das ihr Sehvermögen bei Nacht. Auf dem Planeten unter ihnen war alles dunkel bis auf wenige Flecke von durch Sterne erhellten Gletschern im Hellasbecken. Sie stiegen immer noch. Eine sich erweiternde Kreisbewegung. Sterne erfüllten die Finsternis mit etwas, das wie eine enorme schwarze Halbkugel aussah, die auf einer riesigen schwarzen Ebene stand. Nächtlicher Himmel, nächtlicher Mars. Sie stiegen weiter auf. Die Rakete leuchtete durchscheinend gelb, täuschend hell und glatt. Sie war das Neueste in Vishniac, zum Teil von Spencer konstruiert, und bestand aus einer intermetallischen Verbindung, hauptsächlich Gamma-Titan und Aluminium, das superplastisch gemacht war zur Anfertigung hitzebeständiger Maschinenteile wie auch der Außenhaut, die etwas dunkler wurde, als sie noch höher stiegen und abkühlte. Sax konnte sich das schöne Gitterwerk der Legierung vorstellen im Schema eines Geflechts aus Nodoiden und Katenoiden wie Haken und Ösen, das in der Hitze wild vibrierte. Solche Sachen baute man in diesen Tagen. Flugzeuge vom Boden bis in den Weltraum. Man könnte in seinen Hinterhof gehen und in einer Aluminiumdose zum Mars fliegen.

Sax sagte, was er danach als nächstes zu tun gedachte.

»Denkst du, daß Vishniac das machen kann?«

»O ja.«

»Es gibt da einige Konstruktionsprobleme.«

»Ich weiß, ich weiß. Aber die werden sie lösen. Ich meine, man muß kein Raketenwissenschaftler sein, um einer zu werden.«

»Das ist sehr wahr.«

Peter sang, um die Stunden herumzubringen. Sax fiel ein, wenn er den Text kannte, wie bei ›Sixteen Tons‹, einem befriedigenden Lied. Peter erzählte die Geschichte, wie er dem fallenden Aufzug entkommen war. Wie es gewesen war, in einem Anzug für Außenbordarbeiten zwei Tage lang allein zu schweben. »Es hat mich irgendwie auf den Geschmack gebracht, das ist alles. Ich weiß, daß das merkwürdig klingt.«

»Ich verstehe es.« Die Formen hier draußen waren so groß und rein. Die Farbe der Dinge.

»Wie war es, wieder zu lernen?«

»Ich muß mich darauf konzentrieren und scharf nachdenken. Mich überraschen ständig manche Dinge. Dinge, die ich früher wußte und vergessen habe. Dinge, die ich nie gewußt habe. Dinge, die ich erst kurz vor der Verletzung gelernt habe. Diese Periode liegt gewöhnlich für immer im Dunkel. Aber sie war so wichtig. Als ich am Gletscher arbeitete. Ich muß mit deiner Mutter darüber reden. Es ist nicht so, wie sie denkt. Weißt du, das Land… Die neuen Pflanzen da draußen. Die gelbe Schmetterlingssonne. Das muß nicht…«

»Du solltest mit ihr sprechen.«

»Sie mag mich nicht.«

»Rede mit ihr, wenn wir zurückkommen!«

Das Höhenmesser zeigte 250 Kilometer über der Oberfläche an. Das Flugzeug stieg der Cassiopeia entgegen. Jeder Stern hatte eine unterschiedliche Farbe. Oder es waren mindestens fünfzig verschiedene. Unter ihnen am Ostende der schwarzen Scheibe erschien der Terminator, zebraartig gestreift in Ocker und Schattenschwarz. Die schmale Sichel des von der Sonne erhellten Mars erweckte die klare Vorstellung der Scheibe als eines großen Sphäroids. Eine Kugel, die durch die Galaxis von Sternen rotiert. Der große kontinentale Berg von Elysium wölbte sich über den Horizont. Seine Gestalt war durch die horizontalen Schatten deutlich abgezeichnet. Sie schauten die ganze Länge seines eingesattelten Rückens entlang. Hecates Tholus war hinter dem Kegel von Elysium Mons fast versteckt. Albor Tholus lag seitlich entfernt.

»Da ist es«, sagte Peter und zeigte durch das transparente Cockpit nach oben. Über ihnen im Osten erschien der östliche Rand der Luftlinse silbrig im Frühlicht. Der Rest davon lag noch im Schatten des Planeten.

»Sind wir nahe genug?« fragte Sax.

»Beinahe.«

Sax schaute wieder auf die zunehmend dicker werdende Sichel des Morgens hinunter. Dort, auf dem dunklen rauhen Bergland von Hesperia, blähte sich eine Rauchwolke direkt hinter dem Terminator ins Morgenlicht. Selbst auf ihrer Höhe befanden sie sich noch in dieser Wolke, in dem Teil, der nicht mehr zu sehen war. Die Linse selbst glitt auf dieser unsichtbaren Thermik und benutzte deren Auftrieb und den Lichtdruck der Sonne, um ihre Position über der Brandzone zu halten.

Jetzt war die ganze Linse im Sonnenlicht. Sie sah aus wie ein riesiger Fallschirm mit nichts darunter. Ihr Silber war auch violett himmelsfarben. Die Glocke war ein Kugelabschnitt von tausend Kilometern Durchmesser mit dem Zentrum etwa fünfzig Kilometer über dem Rand. Sie rotierte wie eine Frisbeescheibe. Oben war ein Loch, durch welches das Sonnenlicht direkt durchtrat. Überall anderswo reflektierten die runden Spiegelstreifen, die die Glocke bildeten, das Licht von der Sonne und der Soletta einwärts und nach unten auf einen sich auf der Oberfläche bewegenden Punkt, der so viel Licht abstrahlte, daß er Basalt anzündete. Die Spiegel der Linse erhitzten auf fast 900 K, und der verflüssigte Fels da unten erreichte 5000 K und gaste flüchtige Stoffe aus.

Sax kam, als er das große über ihnen fliegende Objekt betrachtete, das Bild eines Vergrößerungsglases in den Sinn, das man über trockenes Gras und einen Espenzweig hält: Rauch, Flamme, Feuer. Die konzentrierten Strahlen der Sonne. »Sind wir noch nicht nahe genug? Es scheint direkt über uns zu sein.«

»Nein, wir befinden uns noch nicht unter der Kante. Ich würde mich nicht unter dies Ding begeben, obwohl ich annehme, daß die Strahlung uns nicht gerade braten würde, solange wir dem Brennpunkt fernbleiben. Es bewegt sich immerhin mit fast tausend Kilometern in der Stunde über die Brennzone.«

»Wie Düsenflugzeuge in meiner Jugend.«

»Oh!« Auf einer Konsole blinkte grünes Licht. »Okay, los geht’s!«

Er zog den Knüppel an, und das Flugzeug stand auf dem Schwanz und stieg direkt zur Linse auf, die noch hundert Kilometer über ihnen war und ziemlich weit westlich von ihnen. Peter drückte auf der Konsole einen Knopf. Die Maschine machte einen Ruck, als eine Salve fliegender Geschosse unter ihren Stummelflügeln erschien, mit ihnen aufstieg, dann wie Magnesiumblitze zündete und nach oben wegschoß auf die Linse zu. An dem riesigen silbrigen UFO erschienen gelbe Flammen wie Nadelstiche, die schließlich außer Sicht kamen. Sax wartete mit zusammengepreßten Lippen ab und versuchte, sein Zwinkern zu unterdrücken.

Die Vorderseite der Linse begann sich aufzulösen. Sie war ein zartes Gebilde, nichts als eine große rotierende Glocke aus Bändern von Sonnensegeln. Sie zerfiel mit erstaunlicher Geschwindigkeit. Ihre Vorderkante rollte unter sie, bis sie auf und ab taumelte und lange Bänder in Schleifen nach sich zog, die wie die verhedderten Schwänze einiger zerbrochener Flugdrachen aussahen, die alle gleichzeitig herunterfielen. Immerhin anderthalb Milliarden Kilogramm von Sonnensegelmaterial, die sich auflösten, während sie auf langer Flugbahn in die Tiefe flatterten. Es sah langsam aus, weil es so groß war, obwohl sich die große Masse des Materials wahrscheinlich noch mit mehr als der Endgeschwindigkeit bewegte. Eine guter Teil davon würde verbrennen, ehe er die Oberfläche traf. Siliciumregen.

Peter flog eine Kehre und folgte dem Abstieg, wobei er sich östlich davon hielt. So konnte er noch am violetten Morgenhimmel unter sich sehen, wie sich die Hauptmasse zu einem grellen Licht erhitzte und Feuer fing wie ein großer Komet mit einem behaarten verfilzten Silberschweif, der auf den braunen Planeten stürzte. Alles fiel herunter.

»Ein guter Schuß«, bemerkte Sax.


Zurück in Wallace Krater wurden sie als Helden begrüßt. Peter wehrte alle Glückwünsche ab. »Es war Saxens Idee. Der Flug selbst war keine große Sache, nur ein weiterer Erkundungsflug bis auf das Schießen. Ich weiß nicht, warum wir nicht früher daran gedacht haben.«

»Sie werden bloß eine neue in Stellung bringen«, sagte Ann am Rande der Menge und sah Sax mit eigenartiger Miene an.

»Aber sie sind so verwundbar«, sagte Peter.

»Geschosse von der Oberfläche in den Weltraum«, sagte Sax, der sich etwas nervös fühlte. »Kann man alle im Orbit befindlichen Objekte erlassen — erfassen.«

»Das haben wir schon getan«, erwiderte Peter. »Einige von ihnen haben wir nicht identifiziert, aber die meisten sind klar.«

»Ich möchte gern die Liste sehen.«

»Ich möchte mit dir sprechen«, sagte Ann finster zu ihm.

Und die anderen verließen schnell den Raum und sahen einander mit hochgezogenen Brauen an wie eine Schar von Art Randolphs.

Sax nahm in einem Bambussessel Platz. Es war ein kleiner fensterloser Raum. Es hätte eines der Tonnenzimmer ganz zu Beginn in Unterhill sein können. Die Gestalt stimmte. Auch die Anordnung. Backstein war ein so stabiles Material. Ann zog einen Sessel herüber, setzte sich ihm gegenüber und beugte sich vor, um ihm ins Gesicht zu blicken. Sie wirkte älter. Die vielgepriesene Anführerin der Roten, prahlerisch, unheimlich, gespenstisch. Er lächelte. Sein Mund sagte zu beider Überraschung: »Bist du etwa für eine gerontologische Behandlung fällig?«

Ann überging die Frage als eine Frechheit. Sie sagte mit bohrendem Blick: »Warum wolltest du die Linse herunterholen?«

»Sie gefiel mir nicht.«

»Das weiß ich. Aber warum?«

»Sie war nicht notwendig. Es wird ohnehin schnell genug wärmer. Es gibt keinen Grund zur Beeilung. Wir brauchen nicht einmal viel mehr Wärme. Und sie hat große Mengen von Kohlendioxid freigesetzt. Das wird schwer auszuräumen sein. Und es hat sehr hübsch festgesessen. Es ist schwierig, CO2 aus Karbonaten zu gewinnen. Solange man das Gestein nicht schmilzt, bleibt es drin.« Er schüttelte den Kopf. »Das war dumm. Sie haben es bloß gemacht, weil sie es konnten. Kanäle! Ich glaube nicht an Kanäle.«

»Es war für dich also nicht die richtige Art von Terraformung.«

»Das stimmt.« Er erwiderte ruhig ihren Blick. »Ich glaube an die Terraformung, wie sie in Dorsa Brevia entworfen wurde. Für Menschen verträglich bis zu einer bestimmten Höhe. Darüber ist die Luft zu dünn und zu kalt. Langsam machen. Ökogestaltung. Ich mag keine der großen neuen Methoden der Schwerindustrie. Vielleicht etwas Stickstoff von Titan. Aber nichts von dem übrigen.«

»Was ist mit den Ozeanen?«

»Ich weiß nicht. Abwarten, was ohne Pumpen geschieht?«

»Was ist mit der Soletta?«

»Ich weiß nicht. Die zusätzliche Sonneneinstrahlung macht vielleicht weniger Erwärmung durch industrielle Gaserzeugung notwendig. Oder andere Verfahren. Aber — wir kämen ohne das aus. Ich dachte, die Dämmerungsspiegel wären genug.«

»Aber das liegt nicht mehr in deinen Händen.«

»Allerdings nicht.«

Sie saßen eine Weile schweigend da. Ann schien nachzudenken. Sax beobachtete ihr verwittertes Gesicht und fragte sich, wann sie die letzte Behandlung gehabt hatte. Ursula empfahl, sie mindestens alle vierzig Jahre zu wiederholen.

»Ich hatte unrecht«, sagte sein Mund. Als sie ihn ansah, versuchte er, den Gedanken zu verfolgen. Es war eine Sache von Formen, Geometrien und mathematischer Eleganz. Ein in Stufen rekombinierendes Chaos. Schönheit ist das Werk eines seltsamen Schöpfers. »Wir hätten warten sollen, ehe wir anfingen. Ein paar Jahrzehnte Studium des ursprünglichen Zustands. Das hätte uns gesagt, wie wir vorgehen müßten. Ich dachte nicht, daß sich die Dinge so rasch ändern würden. Meine Ausgangsidee war mehr wie eine Art von Ökogestaltung.«

Sie zog den Mund zusammen. »Aber jetzt ist es zu spät.«

»Ja. Es tut mir leid.« Er hob die Hand und drehte sie um. Alle Linien waren da dieselben wie immer. »Du solltest die Behandlung bekommen.«

»Ich werde sie nicht mehr nehmen.«

»O Ann, sag das nicht! Weiß Peter davon? Wir brauchen euch. Ich meine — wir brauchen dich.«

Sie stand auf und ging aus dem Zimmer.


Sein nächstes Projekt war komplizierter. Obwohl Peter vertrauenswürdig war, waren die Leute von Vishniac unsicher. Sax erklärte, so gut er konnte. Peter half ihm. Die Einwände betrafen praktische Fragen. Zu groß? Mehr Bogdanovisten verpflichten. Unmöglich zu verheimlichen? Das Überwachungsnetz unterbrechen. Er sagte ihnen, Wissenschaft sei schöpferisch. Peter entgegnete, das wäre keine Wissenschaft. Es wäre Technik. Mikhail stimmte zu. Dieser Teil des Projektes gefiel ihm. Zerfleddern war ein Teil ökologischen Ingenieurwesens. Aber sehr schwierig zu arrangieren. Sax riet ihnen, die Schweizer zu verpflichten. Oder sie mindestens in Kenntnis zu setzen. Die mögen sowieso keine Überwachung. Praxis unterrichten.

Die Dinge fingen an, Gestalt anzunehmen. Aber es dauerte lange, bis Sax und Peter wieder in einem Raumflugzeug starteten. Diesmal begaben sie sich mit Raketenkraft völlig aus der Stratosphäre und weit darüber hinaus. Zwanzigtausend Kilometer über ihr, bis sie sich Deimos näherten und mit ihm ein Rendezvous machten.

Die Schwere auf dem kleinen Mond war so gering, daß es mehr ein Andocken war als eine Landung. Jackie Boone, die bei dem Projekt geholfen hatte, meist dicht bei Peter (das war ein klarer Fall), lenkte das Flugzeug hinein. Sax hatte durch das Cockpitfenster eine vorzügliche Sicht. Die schwarze Oberfläche von Deimos schien mit einer dicken Schicht von Regolith bedeckt zu sein. Alle Krater waren fast darin begraben und ihre Ränder sanfte runde Grübchen in der Staubdecke. Der kleine längliche Mond hatte keine regelmäßige Gestalt, sondern war vielmehr aus einigen rundlichen Facetten zusammengesetzt. Fast ein dreiachsiges Ellipsoid. Ein altes Robotlandegerät hockte nahe der Mitte des Kraters Voltaire. Die kupfernen gelenkigen Verstrebungen und Kästen waren blind durch feinen dunklen Staub.

Sie hatten ihren Landeplatz auf einer Bodenwelle zwischen Flächen gewählt, wo helleres kahles Gestein aus der Staubschicht herausragte. Die Erhebungen waren alte Splitternarben, wo in früherer Zeit Einschläge von dem kleinen Mond Stücke abgeschlagen hatten. Jackie brachte sie sanft auf einer Erhebung westlich der Krater Swift und Voltaire herunter. Deimos hatte wie früher auch Phobos gebundene Rotation, was ihrem Vorhaben günstig war. Der dem Mars stets gegenüberliegende Punkt diente als Ausgang der Zählung von Länge und Breite, ein sehr sinnvoller Gedanke. Die Höhe, auf der sie herunter gekommen waren, lag nahe dem Äquator auf 90° Länge. Ungefähr zehn Kilometer zu gehen vom Gegenpunkt zum Mars.

Als sie sich der Bodenwelle näherten, verschwand der Rand von Voltaire unter dem schwarzen gerundeten Horizont. Staub wurde weggeblasen, als das Raketentriebwerk darüber war. Nur wenige Zentimeter Staub bedeckten das Muttergestein. Kohliger Chondrit, fünf Milliarden Jahre alt. Sie dockten mit einem harten Stoß an, hüpften weg und drifteten wieder langsam herunter. Sax konnte den Zug der Schwerkraft in Richtung des Flugzeugbodens spüren, aber er war sehr schwach. Wahrscheinlich wog er nicht mehr als einige Kilogramm.

Weitere Raketen landeten auf der Anhöhe beiderseits von ihnen. Sie warfen Staub ins Vakuum, wo sie langsam herunterschwebten. Alle Vehikel hüpften beim Auftreffen und senkten sich dann sanft durch ihre Staubwolken herab. Binnen einer halben Stunde waren acht Flugzeuge auf der Bodenwelle aufgereiht in beiden Richtungen bis nahe an den Horizont. Zusammen boten sie ein eigenartiges Bild. Die intermetallischen Verbindungen ihrer runden Oberflächen schimmerten wie Chitin unter dem chirurgischen Glanz ungefilterten Sonnenlichts. Die Klarheit des Vakuums ließ alle Kanten überscharf erscheinen. Traumhaft.

Jedes Flugzeug trug eine Komponente des Systems. Robotische Bohrer, Tunnelbauer und Pressen. Rohre zum Sammeln von Wasser, die hier waren, um die Adern von Eis in Deimos zu schmelzen. Eine Fabrik zum Separieren von schwerem Wasser, etwa ein Teil auf sechstausend im gewöhnlichen Wasser enthalten. Eine weitere Anlage sollte aus dem schweren Wasser Deuterium gewinnen. Ein kleiner Tokamak, der durch eine Fusionsreaktion von Deuterium mit Deuterium Energie lieferte. Zuletzt waren da noch Steuerungsdüsen, obwohl die meisten davon sich an Bord von Flugzeugen befanden, die auf anderen Seiten des Mondes gelandet waren.

Die bogdanovistischen Techniker, die mit dem Gerät heraufgekommen waren, besorgten den größten Teil der Installation. Sax legte einen der an Bord sperrigen befindlichen Druckanzüge an, ging durch die Schleuse auf die Oberfläche, um nachzusehen, ob das Flugzeug mit den Steuerdüsen für das Voltaire-Gebiet gelandet war.

Die großen geheizten Stiefel waren beschwert, und er war darüber froh. Die Entweichgeschwindigkeit betrug nicht mehr als fünfundzwanzig Kilometer in der Stunde. Das hieß, mit einem Anlauf würde man direkt von dem Mond wegspringen können. Es war recht schwierig, das Gleichgewicht zu halten. Millionen ganz kleiner Bewegungen brachten einen voran. Jeder Schritt warf eine kräftige Wolke schwarzen Staubes auf, der langsam zu Boden sank. Oben auf dem Staub gab es verstreute Steine, gewöhnlich in kleinen Nischen, die sie bei der Landung gebildet hatten. Auswurfsmaterial, das den kleinen Mond ohne Zweifel oftmals umrundet hatte, ehe es wieder herunterfiel. Er hob einen Stein auf wie einen schwarzen Baseball. Er schleuderte ihn mit der richtigen Geschwindigkeit, drehte sich um und wartete, bis er um die Welt geflogen war, um ihn dann in Brusthöhe aufzufangen. Ausgezählt beim ersten Mal. Ein neuer Sport: Satellitenwerfen, Orbitalsquash.

Der Horizont war nur ein paar hundert Meter entfernt und änderte sich merklich mit jedem Schritt — Kraterränder, Splitter grate und Felsblöcke schauten über die staubige Kante, während er sich mühsam darauf zu bewegte. Leute hinten auf der Kante und zwischen den Fliegern standen immer anders aufrecht als er und waren von ihm weg geneigt. Die Klarheit war erstaunlich. Seine Fußabdrücke hinterließen eine tiefe Spur im Staub. Die darüber hängenden Staubwolken senkten sich, je weiter entfernt sie waren, bis sie sich vier oder fünf Schritte dahinter ablagerten.

Peter kam aus der Schleuse heraus und ging in seine Richtung. Jackie folgte. Peter war einzige Mann, den er je gesehen hatte, zu dem Jackie sich hingezogen fühlte in jener hilflosen Weise des orbitalen Objekts, des in Liebe verlorenen, das sich nach orbitalem Zerfall sehnte. Peter war auch der einzige Mann, den Sax je gesehen hatte, welcher in keiner Weise auf Jackies verliebte Aufmerksamkeiten reagierte. Die Perversität des Herzens. Wie in seiner Zuneigung zu Phyllis, einer Frau, die er nicht gemocht hatte. Einer Frau mit verrückten Ansichten. Aber vielleicht lag darin etwas Rationales. Wenn jemand über einem umherirrt, muß man sich über dessen Urteilsvermögen wundern. Etwas dieser Art.

Jetzt blieb Jackie Peter auf den Fersen wie ein Hund; und obwohl ihre Gesichtsscheiben kupfern getönt waren, konnte Sax an Jackies Bewegungen erkennen, daß sie zu ihm sprach und ihn irgendwie umschmeichelte. Sax schaltete auf die allgemeine Frequenz und mischte sich in ihr Gespräch.

»Warum wurden die Swift und Voltaire genannt?« fragte Jackie.

»Die haben beide die Existenz der Marsmonde vorausgesagt«, erwiderte Peter. »Sie haben das in Büchern ein Jahrhundert früher beschrieben, ehe die Monde entdeckt wurden. In Gullivers Reisen gibt Swift sogar ihre Distanzen und Umlaufzeiten an und lag nicht weit daneben.«

»Du machst Witze.«

»Nein.«

»Wie, in aller Welt, hat er das gemacht?«

»Ich weiß nicht. Blinder Zufall, vermute ich.«

Sax räusperte sich. »Sequenz.«

»Was?« fragten sie.

»Die Venus hat keinen Mond, die Erde einen, Jupiter vier. Der Mars müßte also zwei haben. Da man sie nicht sehen konnte, waren sie vermutlich klein. Und nahe. Deshalb schnell.«

Peter lachte. »Swift muß ein kluger Mensch gewesen sein.«

»Oder seine Quelle. Aber es war dennoch blindes Glück. Die Sequenz war ein Zufall.«


Sie blieben bei einer anderen Absprengungskante stehen, von der aus sie den Rand des Kraters Swift sehen konnten als einen fast eingegrabenen Kamm am nächsten Horizont. Ein kleines graues Raketenflugzeug stand wie eine Fata Morgana auf dem schwarzen Staub. Der Mars nahm fast den ganzen Himmel ein, eine riesige orangefarbene Welt. Die Nacht senkte sich auf die östliche Sichel. Iisidis war direkt über ihnen; und obwohl sie Burroughs nicht ausmachen konnten, wiesen die Ebenen im Norden große weiße Flecken auf. Gletscher, die schmolzen, um Eis-Seen zu werden und der Anfang eines Eismeeres. Oceanus Borealis. Eine gewellte Wolkenschicht lag direkt auf das Land geheftet und erinnerte plötzlich daran, wie die Erde von der Ares sich dargeboten hatte. Das war eine Kaltfront, die von Syrtis Major kam. Das weiße Wolkenmuster war genau so, wie es auf der Erde gewesen wäre. Zyklische Wellen aus Kondensationspartikeln.

Sax verließ den Kamm und ging zu den Flugzeugen zurück. Die hohen steifen Stiefel waren das einzige, das ihn aufrecht hielt, und seine Fußknöchel schmerzten. Als ob man auf dem Meeresboden ginge, nur mit weniger Widerstand. Weltallozean.

Er griff hinunter und grub im Staub. Zehn Zentimeter kein Naturgestein, dann zwanzig. Es hätte fünf oder zehn Meter tief sein können oder sogar noch mehr. Die von ihm aufgewühlten Staubwolken fielen in ungefähr fünfzehn Sekunden auf die Oberfläche zurück. Der Staub war so fein, daß er sich bei jeder Art von Atmosphäre unendlich lange hätte schwebend halten können. Aber in dem Vakuum fiel er wie alles andere herunter. Ausgeworfene Brocken. Es gab nicht viel, das sie zurückgezogen hätte. Man würde Staub in den Weltraum stoßen können. Sax überquerte eine niedrige Bodenwelle und konnte plötzlich über die abfallende Ebene der nächsten Facette sehen. Es war ganz klar, daß der kleine Mond durch irgendein altsteinzeitliches Werkzeug geformt war, mit Facetten, die vor Urzeiten durch Hiebe abgetrennt worden waren. Ein dreiachsiges Ellipsoid. Merkwürdig, daß er eine so kreisförmige Umlaufbahn hatte, eine der kreisförmigsten im ganzen Sonnensystem. Das würde man nicht erwarten bei einem eingefangenen Asteroiden noch bei vom Mars bei einem der großen Aufschläge ausgeworfenen Stücken. Was blieb da noch? Einfang vor sehr langer Zeit. Mit anderen Körpern in Umlaufbahn, um diese regelmäßig zu gestalten. Zack, zack. Splitter. Spallation. Die Sprache war so schön. Felsen schlagen auf Felsen im Ozean des Raums. Schlagen Stücke ab und fliegen fort. Bis sie alle entweder in den Planeten krachen oder weggeschleudert werden. Alle bis auf zwei. Mondbombe. Schießstand. Rotieren gerade schneller als der Mars selbst da oben, so daß jeder Punkt auf der Marsoberfläche ihn jedesmal sechzig Stunden lang am Himmel hat. Recht passend. Das Bekannte war gefährlicher als das Unbekannte, ganz gleich, was Michel sagte. Bum bum, auf den jungfräulichen Fels eines jungfräulichen Mondes mit einem jungfräulichen Geist. Der Kleine Prinz. Die über den Horizont ragenden Flugzeuge sahen absurd aus, wie Insekten aus einem Traum. Aus Chitin, mit Gelenken, bunt, winzig in dem gestirnten Schwarz auf dem von einer Staubdecke verhüllten Gestein.

Sax kletterte wieder in die Schleuse.


Es war Monate später, und er war allein in Echus Chasma, als die Roboter auf Deimos ihre Bauarbeiten beendeten und das Deuterium den Antriebsmotor zündete. Eintausend Tonnen zermalmten Gesteins wurden in jeder Sekunde ausgestoßen bei einer Geschwindigkeit von zweihundert Kilometern in der Sekunde. Alles flog in der Bahnebene und tangential zur Flugbahn hinaus. In vier Monaten, wenn etwa ein halbes Prozent der Masse des Mondes ausgestoßen wäre, würde der Motor ausgeschaltet werden. Deimos wäre dann 614 287 Kilometer vom Mars entfernt und nach den Berechnungen von Sax unterwegs völlig aus dem Einfluß des Mars heraus, um wieder ein freier Asteroid zu werden.

Jetzt flog er am Nachthimmel, eine unregelmäßige graue Kartoffel, weniger hell als Venus oder die Erde, bis auf einen neuen Kometen, der aus seiner Seite herausloderte. Ein toller Anblick. Meldungen in beiden Welten. Skandal! Sogar im Widerstand umstritten, wo die Leute für und wider diskutierten. Lauter Gezänk. Hiroko wurde dessen langsam überdrüssig und verduftete schnell aus der Gegend. Sie konnte seine Gestalt fühlen. Ja, nein. Was, wo? Wer hat das getan? Warum?

Ann meldete sich auf dem Handgelenkapparat, um mit wütendem Gesicht dieselben Fragen zu stellen.

»Er war eine perfekte Waffenplattform, wenn sie ihn wie Phobos zu einer Militärbasis gemacht hätten«, sagte Sax. »Wir wären darunter hilflos gewesen.«

»Du hast das also auf die vage Chance hin getan, er könnte zu einem Militärstützpunkt ausgebaut werden?«

»Wenn Arkady und seine Leute Phobos nicht auf diese vage Chance hin fertig gemacht hätten, wären wir damit nicht fertig geworden. Man hätte uns getötet. Jedenfalls haben die Schweizer gehört, daß es geschehen würde.«

Ann schüttelte den Kopf und starrte ihn an, als wäre er von Sinnen. Ein verrückter Saboteur. Er erwiderte entschlossen den Blick. Als sie die Verbindung trennte, zuckte er die Achseln und rief die Bogdanovisten an. »Die Roten haben einen Katalog davon — von allen Objekten im Orbit um den Mars. Dann brauchen wir Systeme, um von der Oberfläche in den Raum zu schießen. Spencer wird helfen. Silos am Äquator. Inaktive Moholes. Versteht ihr?«

Sie bejahten das. Man muß. kein Raketenspezialist sein. Und wenn es je wieder so weit kommen sollte, würde man sie nicht aus dem Weltraum beharken.


Einige Zeit später, er war sich nicht sicher, wie lange, erschien Peter auf dem kleinen Schirm des Felsenwagens, den Sax sich von Desmond geliehen hatte. »Sax, ich bin in Kontakt mit einigen Freunden, die an dem Aufzug arbeiten; und wenn Deimos schneller wird, geraten die Schwingungen des Kabels, die das abwehren sollen, aus dem Zeitplan. Es könnte sein, daß die nächste in seiner Bahn zu einer Kollision mit dem Aufzug führen wird. Aber meine Freunde schaffen es nicht, daß der Computer für die Kabelnavigation auf sie reagiert. Er ist offenbar gegen Input von außen abgeschirmt, um Sabotage zu verhindern — du verstehst. Und die Idee, daß Deimos seine Geschwindigkeit ändert, ist etwas, das sie nicht akzeptieren können. Hast du irgendwelche Vorschläge?«

»Laß es sich selbst um sich kümmern!«

»Was?«

»Speist die Daten über Deimos in die KI ein! Das muß sie irgendwie mitkriegen. Und sie ist darauf programmiert, eine Kollision zu vermeiden. Richtet ihre Aufmerksamkeit auf die Daten! Erklärt, was geschehen ist. Vertraut ihr!«

»Vertrauen?«

»Ja, sprecht zu ihr!«

»Sax, wir versuchen es. Aber die Programmierung gegen Sabotage ist wirklich stark.«

»Sie wacht über die Oszillationen, um Deimos zu vermeiden. Solange der in der Liste der Ziele steht, solltet ihr okay sein. Gib nur die Daten ein!«

»Nun gut, wir werden es versuchen.«

Es war Nacht, und Sax ging nach draußen. Er ging in der Dunkelheit spazieren unter der gewaltigen Klippe der Großen Böschung in dem Gebiet eben nördlich davon, wo Kasei Vallis die Wand durchbrochen hatte. Sei bedeutete auf japanisch Stern und ka Feuer. Also Feuerstern. Im Chinesischen war es dasselbe. Dort war huo die Silbe, welche die Japaner ka aussprachen, und hsing war sei. Huo Hsing: Feuerstern, der am Himmel brennt. Man sagte, die kleinen Roten Männer nannten ihn Ka. Wir leben auf Feuer. Sax verteilt Samen im Sand. Die harten kleinen Nüsse keimten dicht unter der Oberfläche des Sandes, der den Boden von Chasma bildete. Wie Johnny Fireseed. Dort am südlichen Himmel brannte Deimos. Er wurde auf seinem Weg zwischen den Sternen langsamer und rollte mit seinem eigenen Tempo nach Westen. Er wurde jetzt durch den nadelspitzgroßen Kometen an seinem östlichen Ende vorangetrieben. Der sich über Tharsis erhebende Aufzug war nicht zu sehen und der neue Clarke vielleicht einer der schwächeren Sterne am Südwesthimmel. Das ließ sich unmöglich sagen. Sax trat zufällig gegen einen Stein, bückte sich und pflanzte noch einen Samen ein. Nachdem die Samen alle waren, gab es für einen Anfang Päckchen mit einer neuen Flechte zu verteilen. Eine chasmoendolithische Rasse, sehr robust, sehr schnell zu verbreiten und sehr schnell im Ausstoßen von Sauerstoff. Ein sehr großes Verhältnis von Oberfläche zu Volumen. Sehr trocken.

Ein Piepser auf dem Handgelenk. Sax schaltete die Stimme auf das Interkom seines Helms, während er fortfuhr, noch mehr Nüsse aus seiner Schenkeltasche zu fischen und in den Sand zu drücken, wobei er sich hütete, die Wurzeln von Riedgras oder anderen Pflanzen zu beschädigen, die wie pelzige schwarze Steine den Boden bedeckten.

Es war Peter, der mit aufgeregter Stimme anrief. »Sax, Deimos nähert sich ihnen jetzt; und die KI scheint erkannt zu haben, daß er sich nicht an seiner gewöhnlichen Stelle im Orbit befindet. Es ist ein Wirrwarr entstanden, sagen sie. Die Richtungsdüsen sind in diesem ganzen Sektor etwas zu früh gestartet worden; darum hoffen wir, daß das System reagiert.«

»Kannst du nicht die Oszillation berechnen?«

»Doch, aber der Computer ist widerspenstig. Ein sturer Hund. Die Sicherheitsprogramme sind hübsch wasserdicht. Wir können aber aus unabhängigen Berechnungen gerade genug herausfinden, um zu sehen, daß es eine recht knappe Passage werden wird.«

Sax richtete sich auf und stellte auf seinem Armbandgerät selbst Berechnungen an. Die Umlaufperiode von Deimos hatte mit ungefähr 109 077 Sekunden angefangen. Der Antrieb war — er war sich nicht sicher — etwa hundert Millionen Sekunden in Tätigkeit gewesen und hatte den kleinen Mond schon merklich angeschoben, aber auch seinen Bahnradius vergrößert … Sax rechnete in der großen Stille weiter. Wenn Deimos an dem Aufzugskabel vorbeikam, war dieses gewöhnlich im Maximum seiner Oszillation in diesem Sektor, einige fünfzig Kilometer oder mehr entfernt, weit genug, daß die gravitative Störung zu klein war, um bei den Justierungen der Kabeldüsen eine Rolle zu spielen. Diesmal würden die Beschleunigung und Auswärtsbewegung von Deimos den Zeitplan umwerfen. Das Kabel würde sich zu bald wieder der Bahnebene von Deimos nähern. Es kam also darauf an, die Oszillation von Glarke zu verlangsamen und entsprechend auf der ganzen Länge des Kabels Korrekturen anzubringen. Eine komplizierte Geschichte und kein Wunder, daß die KI nicht im Detail angeben konnte, was sie tat. Wahrscheinlich war sie damit beschäftigt, andere Computer hinzuzuschalten, um die erforderliche Rechenkapazität zu bekommen. Die Figuren der Operation — Mars, das Kabel, Clarke, Deimos — gaben ihr ganz schön Stoff zum Nachdenken.

»Okay, hier kommt es heran«, sagte Peter.

Sax ftagte überrascht: »Befinden sich deine Freunde auf Höhe des Orbits?«

»Sie sind einige hundert Kilometer darunter, aber ihr Aufzugswagen ist unterwegs nach oben. Sie haben mich mit ihren Kameras zusammengeschaltet, und — he! — da kommt er … Jawohl! Ka wow, Sax, er muß das Kabel um ungefähr drei Kilometer verfehlt haben! Er ist direkt an ihrer Kamera vorbeigesaust.«

»Eine Meile ist so gut wie hundert Meilen.«

»Wieso?«

»Zumindest im Vakuum ist es so.« Aber jetzt war er mehr als bloß ein vorbeiziehender Stein. »Was ist mit dem Schweif der von dem Antriebsmotor ausgestoßenen Stoffe?«

»Ich werde mich erkundigen … Sie sagen, sie wären vor Deimos abgeschaltet worden.«

»Gut!« Sax schaltete aus. Eine kluge Voraussicht seitens der KI. Noch ein paar Passagen, und Deimos würde sich oberhalb von Clarke befinden, und das Kabel müßte ihm nicht weiter ausweichen. Vorerst würden sie, solange der Navigationscomputer an die Gefahr glaubte, wie er es jetzt offenbar tat, nichts zu fürchten haben.

Sax hatte in dieser Hinsicht eine geteilte Meinung. Desmond sagte, er würde sich freuen, wenn das Kabel wieder herunterkäme. Aber nur wenige stimmten ihm zu. Sax hatte sich dagegen entschieden, in der Sache eine einseitige Aktion zu unternehmen, da er sich nicht sicher war, was er über diese Verbindung mit der Erde fühlte. Am besten einseitige Aktionen auf Dinge beschränken, deren er sich sicher war. Und so bückte er sich wieder und setzte noch einen Samen ein.

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