ERSTER TEIL Areo-Formung

Es kommt nicht darauf an, eine neue Erde zu machen. Auch nicht ein anderes Alaska oder Tibet, nicht einmal ein Antarktika. Es gilt, etwas Neues und Fremdartiges zu schaffen, etwas, das dem Mars eigentümlich ist.


In gewissem Sinne spielen unsere Absichten keine Rolle. Selbst wenn wir versuchen würden, ein zweites Sibirien oder eine neue Sahara zu machen, würde das nicht gehen. Die Evolution würde es nicht zulassen. Im Grunde ist das ein Entwicklungsprozeß, ein Unterfangen, das unterhalb der Ebene von Absichten liegt, so wie das Leben seinen ersten geheimnisvollen Sprung aus der unbelebten Materie getan hat oder aus dem Meer aufs Land kroch.

Wiederum kämpfen wir im Mutterschoß einer neuen Welt, die diesmal wahrhaft fremdartig ist. Trotz der großen, langen Gletscher, die die gigantischen Überschwemmungen von 2061 hinterlassen haben, ist es eine sehr trockene Welt; und trotz der ersten Anfänge der Erzeugung einer Atmosphäre ist die Luft noch sehr dünn; und trotz der Anwendungen von Wärme liegt die Temperatur immer noch weit unter dem Gefrierpunkt. Alle diese Umstände machen das Überlebenfür organische Wesen äußerst schwierig. Aber das Leben ist zäh und anpassungsfähig. Es ist die grüne Kraft der Viriditas, die in das Weltall vorstößt. In der Dekade nach den Katastrophen von 2061 haben sich die Leute in den zerbrochenen Kuppeln und zerrissenen Zelten abgemüht, haben Dinge geflickt und Auswege gefunden. Und in unseren geheimen Verstecken ist das Werk des Aufbaus einer neuen Gesellschaft weitergegangen. Und draußen auf der kalten Oberfläche breiteten sich neue Pflanzen über die Hänge der Gletscher aus und hinab in die warmen Becken der Tiefe — in einer langsamen, unaufhaltsamen Woge.

Natürlich stammen alle genetischen Schablonen für unsere neuen Lebewesen von der Erde. Die Köpfe, die sie konstruiert haben, sind terrestrisch; aber das Terrain gehört dem Mars an. Und der Boden ist ein mächtiger genetischer Ingenieur, der bestimmt, was gedeiht und was nicht. Er treibt zunehmende Differenzierung voran und damit die Entwicklung einer neuen Spezies. Und im Laufe der Generationen entwickeln sich alle Mitglieder einer Biosphäre gemeinsam. Sie passen sich dem Terrain in einer komplexen kommunalen Reaktion an, in einer schöpferischen selbstkonstruktiven Geschicklichkeit. Dieser Prozeß liegt, gleichgültig, wie sehr wir uns einmischen, im wesentlichen außerhalb unser Kontrolle. Gene mutieren, und Kreaturen entwickeln sich. Es taucht eine neue Biosphäre auf und mit ihr eine neue Noosphäre. Und am Ende sind auch die Köpfe der Konstrukteure zusammen mit allem anderen für immer verändert…

Das ist der Prozeß der Areoformung.


Eines Tages stürzte der Himmel ein. Eisplatten krachten in den Teich und polterten dann auf den Strand. Die Kinder stoben auseinander wie erschrockene Schnepfen. Nirgal lief über die Dünen ins Dorf und platzte in das Gewächshaus mit dem Ruf: »Der Himmel stürzt ein, der Himmel stürzt ein!« Peter sprintete durch die Türen und über die Dünen, schneller, als Nirgal ihm folgen konnte.

Zurück am Strand stießen große Eisschollen in den Sand, und einige Brocken Trockeneis zischten im Wasser des Teiches. Als die Kinder sich alle um ihn gedrängt hatten, stand Peter mit zurückgeworfenem Kopf da und starrte auf die Kuppel hoch über ihnen. »Zurück ins Dorf!« schrie er in seinem absurden Ton. Auf dem Wege dorthin lachte er. Er krächzte: »Der Himmel stürzt ein!« und zauste Nirgals Haar. Nirgal errötete, und Harmakhis und Jackie lachten. Ihr gefrorener Atem schoß in raschen weißen Schwaden heraus.

Peter gehörte zu denen, die an der Seite der Kuppel hochkletterten, um sie zu reparieren. Er, Kasei und Michel krabbelten vor aller Augen über das Dorf, den Strand und dann den Teich, bis sie kleiner aussahen als Kinder, die in Schlingen hingen, die an Eishaken befestigt waren. Sie besprühten das Loch in der Kuppel, bis es zu einer neuen klaren Schicht gefror, die das weiße Trockeneis umhüllte.

Als sie wieder herunterkamen, sprachen sie von sich erwärmender Außenwelt. Hiroko war aus ihrer kleinen Bambushütte am Teich herausgekommen, um zuzusehen; und Nirgal sagte zu ihr: »Werden wir fortgehen müssen?«

»Wir werden immer fortgehen müssen«, erwiderte Hiroko. »Auf dem Mars wird nichts von Dauer sein.«

Aber Nirgal gefiel es unter der Kuppel. Am Morgen erwachte er in seinem runden Bambusraum hoch in Creche Crescent und lief mit Jackie und Rachel und Frantz und den anderen Frühaufstehern über die eisigen Dünen. Er erblickte Hiroko am gegenüberliegenden Ufer, die wie eine Tänzerin über ihrem nassen Spiegelbild schwebte. Er wollte zu ihr gehen; aber es war Zeit für die Schule.

Sie gingen ins Dorf zurück und drängten sich in die Kleiderablage der Schule. Sie hängten ihre Jacken auf und standen, ihre blau gefrorenen Hände über das Heizgitter gestreckt, da und warteten auf den Lehrer des Tages. Das könnte Dr. Robot sein; sie würden sich schrecklich langweilen, und sein Augenzwinkern würden sie wie die Sekunden auf der Uhr zählen. Es könnte die alte, häßliche Gute Hexe sein; und dann würden sie den ganzen Tag wieder im Freien sein und mit Spielsachen herumtollen. Oder es könnte die Böse Hexe sein, alt und schön; und sie würden den ganzen Morgen an ihren Pulten sitzen müssen und versuchen, auf russisch zu denken auf die Gefahr hin, einen Klaps zu bekommen, wenn sie kicherten oder einschliefen. Die Böse Hexe hatte silbernes Haar und eine krumme Nase, mit der sie aussah wie die Fischadler, die auf den Kiefern am Teich lebten. Nirgal fürchtete sich vor ihnen.

Darum verhehlte er wie die anderen seinen Mißmut, als sich die Tür öffnete und die Böse Hexe hereinkam. Aber an diesem Tag wirkte sie müde und ließ sie pünktlich hinaus, obwohl sie in Arithmetik nicht gut gewesen waren. Nirgal folgte Jackie und Harmakhis aus dem Schulgebäude und um die Ecke zu der Gasse zwischen Creche Crescent und der Rückseite der Küche. Harmakhis pinkelte gegen die Wand, und Jackie zog sich die Hosen herunter, um zu zeigen, daß sie das auch konnte. Gerade in diesem Moment kam die Böse Hexe um die Ecke. Sie zog sie alle am Arm aus der Gasse heraus. Nirgal und Jackie hatte sie mit ihren Krallen zusammengepreßt, und draußen auf der Plaza verprügelte sie Jackie und schrie die Jungen wütend an. »Ihr beide haltet euch von ihr fern! Sie ist eure Schwester!« Jackie weinte und krümmte sich, um ihre Hosen hochzuziehen. Sie sah, wie Nirgal sie anschaute, und versuchte, ihn und Maya mit dem gleichen wütenden Hieb zu treffen. Dabei fiel sie mit nacktem Hintern hin und heulte.

Es stimmte nicht, daß Jackie ihre Schwester war. Es gab in Zygote zwölf Sansei oder Kinder der dritten Generation, die sich wie Brüder oder Schwestern kannten, und viele von ihnen waren das auch, aber nicht alle. Das war verwirrend und wurde selten erwähnt. Jackie und Harmakhis waren die ältesten, Nirgal eine Saison jünger, und der Rest insgesamt noch eine Saison später geboren: Rachel, Emily, Reull, Steve, Simud, Nanedi, Tiu, Frantz und Huo Hsing. Hiroko war die Mutter von allen in Zygote, aber nicht in Wirklichkeit — nur von Nirgal und Harmakhis und sechs weiteren Sansei, sowie von etlichen erwachsenen Sansei. Kinder der Muttergöttin.

Aber Jackie war Esthers Tochter. Esther war wegezogen nach einem Streit mit Kasei, der Jackies Vater war. Nicht viele von ihnen wußten, wer ihr Vater war. Nirgal war einmal hinter einer Krabbe über eine Düne gekrochen, als Esther und Kasei darüber auftauchten. Esther weinte, und Kasei brüllte: »Wenn du mich verlassen willst, dann hau doch ab!« Auch er hatte geweint. Er hatte einen rosa Eckzahn. Auch er war ein Kind Hirokos. Mithin war Jackie Hirokos Enkelin. So ging das nun einmal. Jackie hatte langes schwarzes Haar und war die schnellste Läuferin in Zygote außer Peter. Nirgal konnte am längsten rennen und lief manchmal drei oder vier Mal hintereinander um den Teich, nur so. Aber Jackie war schneller im Sprint. Sie lachte die ganze Zeit. Wenn Nirgal einmal mit ihr stritt, pflegte sie zu sagen: »In Ordnung, Onkel Nirgie!« und lachte ihn an. Sie war seine Nichte, obwohl um eine Saison älter. Aber nicht seine Schwester.

Die Schultür wurde aufgerissen, und Cojote, der Lehrer des Tages, war da. Cojote reiste über die ganze Welt und verbrachte nur sehr wenig Zeit in Zygote. Es war ein großer Tag, wenn er sie unterrichtete. Er führte sie im Dorf herum und fand merkwürdige Dinge für sie zu tun; aber während der ganzen Zeit ließ er einen von ihnen laut aus Büchern vorlesen, die unmöglich zu verstehen waren, geschrieben von Philosophen, die schon längst tot waren: Bakunin, Nietzsche, Mao, Bookchin. Die einleuchtenden Gedanken dieser Philosophen lagen wie unerwartete Kiesel auf einem langen Strand von Geschwafel. Die Geschichten, die Cojote ihnen aus der Odyssee oder der Bibel vorgelesen hatte, waren leichter zu verstehen, wenn auch beunruhigend, da die Personen darin einander massenhaft töteten und Hiroko das für falsch erklärte. Cojote lachte über Hiroko und brüllte oft ohne ersichtlichen Grund, wenn sie diese schauerlichen Geschichten lasen, und fragte sie, ob sie wüßten, worüber sie redeten. Das war entmutigend. »Was würdet ihr tun? Warum würdet ihr das tun?« Während der ganzen Zeit lehrte er sie, wie die Treibstoffwiederaufbereitung des Rickover-Reaktors funktionierte, oder er ließ sie die Druckkolbenhydraulik der Wellenmaschine des Teichs durchprüfen, bis ihre Hände sich von Weiß zu Blau verfärbten und ihre Zähne so klapperten, daß sie nicht mehr deutlich sprechen konnten. »Ihr Kleinen werdet wirklich leicht kalt«, sagte er. »Alle außer Nirgal.«

Nirgal kam mit Kälte gut zurecht. Er kannte sie genau in allen ihren Stufen und verabscheute ihr Gefühl nicht. Leute, die Kälte nicht mochten, verstanden nicht, wie man sich ihr anpassen konnte. Daß man mit allen ihren schlechten Wirkungen durch genügend Antrieb von innen heraus fertig werden konnte. Nirgal war auch mit Wärme gut vertraut. Wenn man Wärme stark genug ausstieß, wurde Kälte nur zu einer Art lebhafter schockierender Hülle, in der man sich bewegte. Und so wirkte Kälte letztlich als ein Stimulans, das zum Laufen anregte.

»He, Nirgal, wie ist die Lufttemperatur?«

»Zweihunderteinundsiebzig.«

Cojotes Lachen war schrecklich, ein animalisches Gackern, das alle Geräusche enthielt, die jemand machen konnte. Und auch jedesmal anders. »Hier, laßt uns die Wellenmaschine anhalten und sehen, wie der Teich ausschaut, wenn er flach ist!«

Das Wasser des Teichs war immer flüssig, während das die Unterseite der Kuppel bedeckende Wasser-Eis gefroren bleiben mußte. Dies erklärte sehr viel von ihrem mesokosmischen Wetter, wie Sax es ausdrückte, welches ihre Nebel und plötzlichen Winde sowie Regen und Dunst und gelegentlichen Schnee erzeugte. An diesem Tage stand die Wettermaschine fast still, und der große halbkugelförmige Raum unter der Kuppel war fast windstill. Bei abgestellter Windmaschine beruhigte sich der Teich bald zu einer runden flachen Platte. Die Oberfläche des Wassers nahm die gleiche weiße Farbe an wie die Kuppel; aber der von Grünalgen bedeckte Boden des Gewässers war durch den weißen Schimmer noch zu erkennen. So war der Teich gleichzeitig weiß und dunkelgrün. Am gegenüberliegenden Ufer wurden die Dünen und Krüppelkiefern umgekehrt in diesem zweifarbigen Wasser perfekt gespiegelt. Nirgal starrte benommen dies Bild an. Alles entschwand ihm bis auf diesen pulsierenden grünweißen Anblick. Er sah, daß es zwei Welten gab und nicht eine — zwei Welten an der gleichen Stelle, beide sichtbar, getrennt und verschieden, aber zusammengefallen, so daß man sie nur aus bestimmten Winkeln als zwei sehen konnte.

Man konnte die Hülle des Sehens anstoßen, wie man gegen die Hülle der Kälte stieß. »Stoß zu!« Solche Farben!

»Mars für Nirgal, Mars für Nirgal!«

Sie lachten über ihn. Er täte das immer, sagten sie ihm. Er hatte Anfälle. Seine Freunde mochten ihn, das sah er in ihren Gesichtern. Cojote brach vom Ufer flache Eisstücke los und schleuderte sie flach über den Teich. Sie machten alle dasselbe, bis die sich überschneidenden weißgrünen Wellen die auf dem Kopf stehende Welt zittern und tanzen ließen. »Seht euch das an!« rief Cojote. Zwischen einzelnen Würfen psalmodierte er in seinem mächtigen Englisch, das wie ein ständiger Gesang klang: »Ihr Kleinen erlebt das beste aller Leben in der Geschichte. Die meisten Leute treiben bloß dahin in der großen Weltmaschine; und ihr erlebt die Geburt einer Welt! Unglaublich! Aber ihr solltet wissen, daß das ein reiner Glücksfall ist und euch kein Verdienst daran zukommt, nicht bis ihr etwas damit anfangt. Ihr hättet in einer Villa, einem Kerker, einer schäbigen Vorstadt in Port of Spain geboren sein können; aber ihr seid hier in Zygote, dem heimlichen Herzen des Mars! Freilich seid ihr jetzt hier unten wie Maulwürfe im Loch mit Geiern über euch, die euch alle fressen wollen; aber der Tag kommt, da ihr über diesen Planeten schreitet, frei jeder Fessel. Erinnert euch an das, was ich euch sage! Meine Kinder, das ist eine Prophezeiung! Und inzwischen seht euch an, wie schön dies ist, dieses kleine Eisparadies!« Er warf ein Eisstück direkt auf die Kuppel zu, und sie alle sangen: »Eisparadies! Eisparadies! Eisparadies!«, bis sie vor Lachen nicht mehr weiter konnten.

Aber in dieser Nacht sagte Cojote zu Hiroko, als er glaubte, daß niemand zuhörte: »Roko, du mußt diese Kinder nach draußen bringen und ihnen die Welt zeigen. Auch wenn es nur unter der Dunsthaube ist. Die leben hier unten, um Gottes willen, wie Maulwürfe im Bau.« Danach war er wieder fort, niemand wußte wohin. Fort auf einer seiner geheimnisvollen Reisen in jene andere Welt, die über sie gespannt war.

Einige Tage kam Hiroko ins Dorf, um sie zu unterrichten. Das waren für Nirgal die allerbesten Tage. Sie führte sie immer zum Strand hinunter; und mit Hiroko zu gehen war so, als ob man von einer Gottheit berührt würde. Es war ihre Welt — die grüne Welt innerhalb der weißen —, und sie wußte alles darüber; und wenn sie da war, pulsierten die zarten Perlfarben von Sand und Kuppel in beiden Farben der Welt zugleich, als ob sie sich davon frei machen wollten, was sie festhielt.

Sie saßen auf den Dünen und beobachteten, wie die Vögel am Ufer dicht über die Oberfläche flatterten und piepsten, während sie am Strand auf und ab jagten. Möwen kurvten über den Köpfen, und Hiroko stellte ihnen Fragen, wobei ihre dunklen Augen fröhlich zwinkerten. Sie wohnte am Teich mit einer kleinen Schar ihrer engen Freunde, Iwao, Rya Gene, Evgenia, alle in einem kleinen Bambuskiosk in den Dünen. Und sie verbrachte viel Zeit damit, andere versteckte Zufluchtsstätten rund um den Südpol zu besuchen. Darum mußte sie immer über die Neuigkeiten im Dorf auf dem laufenden sein. Sie war eine schlanke Frau, für eine Issei groß und in Kleidung und Bewegung so sauber wie die Strandvögel. Natürlich war sie alt, unmöglich alt wie alle Issei; aber sie hatte etwas, das sie jünger erscheinen ließ als sogar Peter oder Kasei — wirklich nur ein klein bißchen älter als die Kleinen, als ob alles in der Welt vor ihr neu für sie wäre und sie darauf drängte, es in alle seine Farben zu zerlegen.

»Schaut auf das Muster, das diese Muschel bildet! Die bunte Spirale, die sich bis ins Unendliche einwärts krümmt. Das ist die Gestalt des Universums selbst. Es gibt einen konstanten Druck, der das Muster vorantreibt. Eine der Materie innewohnende Tendenz zur Entwicklung in immer komplexere Formen. Das ist eine Art von Gestaltgravitation, eine heilige grünende Kraft, die wir Viriditas nennen. Das ist die antreibende Kraft im Kosmos. Leben, wie ihr seht. Wie diese Fliegen und Napfschnecken und der Krill — obwohl diese speziellen Krills tot sind und nur den Fliegen nützen. Wie wir alle.«

Sie schwenkte die Hand wie eine Tänzerin. »Und weil wir lebendig sind, muß man sagen, daß auch das Weltall lebt. Wir sind dessen Bewußtsein wie auch unser eigenes. Wir steigen aus dem Kosmos auf und sehen das Geflecht seiner Strukturen; und das berührt uns als schön. Und dieses Gefühl ist das wichtigste im Universum, seine Kulmination, so wie die Farbe der Blume an einem feuchten Morgen. Es ist ein heiliges Gefühl; und unsere Aufgabe in dieser Welt ist, alles zu tun, was uns möglich ist, um es zu hegen. Und ein Weg dazu ist die Verbreitung von Leben überall. Ihm da zur Existenz zu verhelfen, wo es zuvor nicht gewesen ist — wie hier auf dem Mars.«

Dies war für sie der erhabenste Liebesakt; und wenn sie darüber sprach, empfanden die Kinder die Liebe, auch wenn sie nicht alles verstanden. Wieder ein Anstoß, wieder eine gewisse Wärme in der Hülle von Kälte. Hiroko berührte sie beim Sprechen, und sie gruben nach Muscheln, während sie lauschten. »Eine Schlamm-Muschel! Antarktische Napfschnecke. GlasSchwamm. Seid vorsichtig! Er kann euch schneiden.« Nirgal fühlte sich glücklich, wenn er sie bloß anschaute.

Und eines Morgens, als sie von ihrem Wühlen aufstanden, um noch weiter am Strand umherzuschweifen, erwiderte sie seinen Blick, und er verstand ihren Ausdruck. Es war genau der gleiche Ausdruck wie auf seinem Gesicht, wenn er sie anschaute. Das spürte er in seinen Muskeln. Also war auch sie glücklich! Das war berauschend.

Er hielt ihre Hand, als sie am Strand dahingingen. Als sie sich hinknieten, um wieder eine Muschelschale aufzuheben, sagte sie: »Das ist in gewisser Weise einfache Ökologie. Nicht viele Spezies, und die Nahrungsketten sind kurz. Aber so reich, so schön.« Sie prüfte mit der Hand die Wassertemperatur im Teich. »Siehst du den Nebel? Das Wasser muß heute warm sein.«

Inzwischen waren sie und Nirgal allein. Die anderen Kinder liefen um die Dünen herum oder am Ufer auf und ab. Nirgal bückte sich, um eine Welle zu berühren, als sie dicht vor ihren Füßen verlief und eine weiße Schaumkrone hinterließ. »Es hat zweihundertsiebenundfünfzig und etwas darüber.«

»Du bist ganz sicher?«

»Das kann ich immer angeben.«

»Habe ich Fieber?« fragte sie. »Fühl mal.«

Er berührte ihren Hals. »Nein.«

»Das stimmt. Ich habe immer ungefähr ein halbes Grad zu wenig. Vlad und Ursula können nicht herausbekommen, warum.«

»Weil du glücklich bist.«

Hiroko lachte. Sie sah genau wie Jackie aus, vor Freude strahlend. »Nirgal, ich liebe dich.«

Es wurde ihm innerlich warm, als ob da ein Heizgitter steckte. Um mindestens ein halbes Grad. »Und ich liebe dich auch.«

Und sie gingen Hand in Hand den Strand entlang, schweigend den Uferschnepfen folgend.

Cojote kehrte zurück, und Hiroko sagte zu ihm: »Okay. Bringen wir sie nach draußen!«

Als die Kinder am nächsten Morgen zur Schule zusammenkamen, führten Hiroko und Peter sie durch die Schleusen und den langen weißen Tunnel, der die Kuppel mit der Außenwelt verband. An seinem anderen Ende befanden sich der Hangar und darüber die Klippengalerie. Sie waren schon früher mit Peter durch die Galerie gelaufen und hatten aus den kleinen polarisierten Fenstern auf den eisigen Sand und den rosafarbenen Himmel geschaut und sich bemüht, die große Wand aus Trockeneis zu erkennen, in der sie standen — die Südpolkappe, den Boden der Welt, in der sie lebten, um der Aufmerksamkeit von Leuten zu entgehen, die sie ins Gefängnis stecken würden.

Deshalb waren sie stets innerhalb der Galerie geblieben. Aber an diesem Tag gingen sie in die Schleusen des Hangars und zogen dichte elastische Pullover an. Sie rollten die Ärmel und Beine auf. Dann kamen schwere Stiefel und dichte Handschuhe sowie zuletzt Helme mit stark gewölbten Fenstern an der Vorderseite. Sie wurden jeden Augenblick aufgeregter, bis aus der Erregung fast etwas wie Angst wurde, besonders als Simud zu weinen begann und erklärte, daß sie nicht mitgehen wollte. Hiroko beruhigte sie durch eine lange Berührung und sagte: »Komm schon! Ich werde da bei dir sein.«

Sie drängten sich sprachlos aneinander, als die Erwachsenen sie in die Schleuse führten. Es gab ein zischendes Geräusch, und dann öffnete sich die Außentür. Die Kinder klammerten sich an die Erwachsenen und gingen vorsichtig hinaus, wobei sie im Gehen zusammenstießen.

Es war zu hell, um etwas erkennen zu können. Sie befanden sich in einem wirbelnden weißen Nebel. Der Boden war gefleckt von zarten Eisblumen, die in der Helle glitzerten. Nirgal hielt Hiroko und Cojote an der Hand, und sie drängten ihn nach vorn und ließen seine Hände los. Er taumelte in dem Ansturm der weißen Blendung. Hirokos Stimme sagte ihm durch Interkom ins Ohr: »Das ist die Nebelhaube. Sie dauert den ganzen Winter. Aber jetzt ist es Ls 205 und Frühling, wenn die grüne Kraft am stärksten durch die Welt drängt, genährt vom Licht der Sonne. Seht hin!«

Er konnte nichts sehen außer einem weißen, sich zusammenziehenden Feuerball. Plötzlich stieß das Licht durch ihn hindurch und verwandelte ihn in eine Palette aus Farben, die den eisigen Sand zu poliertem Magnesium machte und die Eisblumen zu glühenden Juwelen. Der Wind drückte ihn von der Seite und zerriß den Nebel. Es erschienen Lücken darin, und das Land öffnete sich in der Ferne. Nirgal schwindelte es. So groß! Alles war so groß. Er ging mit einem Knie auf den Sand nieder und legte die Hände auf das andere Bein, um die Balance zu halten. Die Steine und Eisblumen um seine Stiefel glühten wie unter einem Mikroskop. Die Steine waren gefleckt mit runden Belägen von schwarzen und grünen Flechten.

Draußen am Horizont lag ein niedriger Berg mit flachem Gipfel. Ein Krater. Dort im Kies war eine Roverspur, von Reif fast gefüllt, als ob sie schon seit einer Million Jahre dort wäre. In Licht und Fels pulsierte das Chaos, und grüne Flechten drangen in das Weiß vor …

Alle redeten zugleich. Die anderen Kinder fingen an, übermütig herum zu rennen und vor Wonne zu kreischen, als sich der Nebel verzog und ihnen einen kurzen Blick auf den dunkelrosa getönten Himmel freigab. Cojote lachte. »Sie sind wie Winterkälber, die im Frühjahr herausgelassen werden. Seht, wie sie hüpfen, o ihr armen kleinen lieben Dinger, ah ha ha!« Kichernd hob er Kinder vom Sand hoch und stellte sie wieder auf die Füße.

Nirgal stand auf und machte versuchsweise Sprünge. Er fühlte, daß er wegtreiben könnte, aber zum Glück waren die Stiefel so schwer. Da war eine lange, schulterhohe Erhebung, die sich von der Klippe weg hinzog. Jackie ging auf ihrem Kamm, und er lief los, um mit ihr zusammenzutreffen. Aber an der Böschung stolperte er und fiel auf das Steingewirr am Boden. Dann gelangte er auf den Grat und fiel in seinen Laufrhythmus. Es kam ihm vor, als ob er flöge und immer so laufen könnte.

Er stand an ihrer Seite. Sie blickten zurück auf die Eisklippe und stießen einen ängstlichen Freudenschrei aus. Sie ragte für immer in den Nebel empor. Ein morgendlicher Lichtstrahl ergoß sich über sie wie flüssiges Wasser. Sie drehten sich um, da sie das nicht ertragen konnten. Nirgal sah, wie sein Schatten auf den Nebel fiel, der über die Felsen unter ihnen zog. Der Schatten war umrundet von einem hellen kreisförmigen Band regenbogenfarbenen Lichts. Nirgal stieß einen lauten Schrei aus, und Cojote rannte zu ihnen herauf. In Nirgals Ohr erklang seine Stimme: »Was fehlt? Was ist los?«

Er blieb stehen, als er den Schatten erblickte. »He, das ist eine Gloriole. Man nennt das eine Gloriole. Es ist wie das Brockengespenst. Schwingt eure Arme auf und ab! Achtet auf die Farben! Allmächtiger Gott, seid ihr nicht vom Glück begünstigt?«

Nirgal rückte impulsiv an Jackies Seite, und ihre Gloriolen verschmolzen. Sie wurden ein einziger Nimbus leuchtender Regenbogenfarben, die ihren blauen doppelten Schatten umgaben. Jackie lachte entzückt und ging fort, um es mit Peter zu probieren.

Ungefähr ein Jahr später begann Sax die Kinder zu unterrichten. Er stand an der Wandtafel und klang wie eine unpersönliche Künstliche Intelligenz. Hinter seinem Rücken pflegten sie mit den Augen zu rollen und Grimassen zu schneiden, während er sich monoton über Partialdrücke oder infrarote Strahlen ausließ. Dann bemerkte einer von ihnen eine Lücke und fing mit dem Spiel an. Dagegen war er hilflos. Er sagte so etwas wie: »Bei nicht zitternder Thermogenese erzeugt der Körper Wärme durch Verwendung unwesentlicher Zyklen.« Darauf hob einer die Hand und fragte: »Aber warum denn, Sax?« Und alle starrten fest auf ihr Pult, ohne sich gegenseitig anzuschauen, während Sax die Stirn runzelte, als ob das noch nie passiert wäre, und sagte: »Nun, er erzeugt Wärme, ohne so viel Energie zu verbrauchen, wie das Zittern erfordert. Die Muskelproteine kontrahieren; aber anstatt zuzupacken, gleiten sie nur übereinander, und das erzeugt die Wärme.«

Jackie fragte so treuherzig, daß es fast der ganzen Klasse entging: »Aber wie denn?«

Jetzt fing Sax an zu zwinkern, so schnell, daß sie fast platzten, als sie ihn anschauten. »Nun, die Aminosäuren in den Proteinen haben zerbrochene kovalente Bindungen, und die Bruchstellen lassen das frei, was man als Energie der Dissoziation von Bindungen bezeichnet.«

»Aber wie denn?«

Er zwinkerte noch stärker. »Nun, das ist eben eine Sache der Physik.« Er zeichnete heftig Diagramme an die Tafel. »Kovalente Bindungen entstehen, wenn zwei atomare Orbitale sich verschmelzen, um ein einziges Bindungsorbital zu bilden, das mit Elektronen aus beiden Atomen besetzt ist. Die Trennung der Bindung setzt dreißig bis einhundert Kilokalorien gespeicherter Energie frei.«

Jetzt fragten mehrere von ihnen im Chor: »Aber warum?«

Das brachte ihn zur subatomaren Physik, wo die Kette von warum und weil noch eine halbe Stunde weitergehen konnte, ohne daß er jemals etwas sagte, das sie verstehen konnten. Schließlich merkten sie, wenn sich das Spiel dem Ende näherte.

»Aber warum?«

»Nun«, sagte er und verdrehte die Augen, um sich zurückzuziehen, »Atome wollen ihre stabile Elektronenanzahl bekommen und teilen sich Elektronen, wenn das nötig ist.«

»Aber warum?«

Jetzt saß er sichtlich in der Falle. »So ist es nun einmal, wenn sich Atome verbinden. Eine der Möglichkeiten.«

»Aber WARUM?«

Ein Achselzucken. »So funktioniert die atomare Kraft. So sind die Dinge zustande gekommen … «

Und alle brüllten los: »… im Urknall.«

Sie jubelten fröhlich auf; und Sax machte ein finsteres Gesicht, als er merkte, daß sie ihn wieder einmal gefoppt hatten. Er seufzte und kam darauf zurück, wo er stehengeblieben war, als das Spiel anfing. Aber sie fingen immer wieder damit an, und er schien sich nie zu erinnern, solange das erste Warum plausibel genug war. Und selbst dann, wenn er merkte, was geschah, schien er hilflos zu sein, ihm Einhalt zu gebieten. Seine einzige Verteidigung war, daß er mit leicht gerunzelter Stirn sagte: »Warum was?« Das hemmte das Spiel für eine Weile; aber dann wurden Nirgal und Jackie immer geübter in der Entscheidung, was bei irgendeiner Äußerung am meisten ein Warum verdiente. Und solange sie das tun konnten, fühlte Sax sich verpflichtet weiter zu antworten, bis hin zum Urknall oder ab und zu einem gemurmelten »Wir wissen es nicht«.

»Wir wissen es nicht!« pflegte die Klasse in geheucheltem Mißmut zu rufen. »Warum denn nicht?«

Dann erklärte er mürrisch: »Es konnte noch nicht erklärt werden. Noch nicht.«

Und so vergingen die guten Vormittage mit Sax. Sowohl er wie die Kinder schienen sich einig zu sein, daß sie besser wären als die schlechten Vormittage, wenn er ohne Unterbrechungen dahinleierte und vorwurfsvoll rief: »Dies ist wirklich wichtig«, wenn er sich von der Tafel abwandte und sah, wie viele Köpfe schnarchend auf den Pulten lagen.

Eines Morgens blieb Nirgal, der sich Gedanken machte über Saxens mürrisches Gesicht, in der Schule zurück, bis nur noch er und Sax übrig waren. Dann fragte er: »Warum mögen Sie es nicht, wenn Sie nicht sagen können, warum?«

Sax runzelte die Stirn. Nach langem Schweigen sagte er langsam: »Ich versuche zu verstehen. Schau, ich achte sehr genau auf die Dinge. So genau ich nur kann. Ich konzentriere mich auf die Besonderheit jedes Augenblicks. Und ich möchte verstehen, warum es so geschieht, wie es ist. Ich bin neugierig. Und ich denke, daß alles, was geschieht, einen Grund hat. Alles. Also sollten wir fähig sein, diese Ursachen herauszufinden. Wenn wir das nicht können — na schön. Das gefällt mir nicht. Es ärgert mich. Manchmal nenne ich es … « — er warf Nirgal einen scheuen Blick zu, und Nirgal erkannte, daß er das noch nie jemandem gesagt hatte —, »ich nenne es das große Unerklärbare.«

Es war die weiße Welt, merkte Nirgal plötzlich. Die weiße Welt innerhalb der grünen, das Gegenteil von Hirokos grüner Welt innerhalb der weißen. Und ihre diesbezüglichen Gefühle waren gegensätzlich. Wenn Hiroko mit etwas Geheimnisvollem konfrontiert war, sah sie es von der grünen Seite, liebte es, und es machte sie glücklich. Es war Viriditas, eine heilige Kraft. Von der weißen Seite gesehen, wenn Sax auf etwas Mysteriöses traf, war es das Große Unerklärliche, gefährlich und furchtbar. Er war am Wahren interessiert, Hiroko dagegen am Realen. Oder vielleicht war es gerade umgekehrt. Diese Wörter sind so tückisch. Besser war es zu sagen, daß sie die grüne Welt liebte und er die weiße.

»Aber ja!« sagte Michel, als Nirgal ihm diese Beobachtung mitteilte. »Sehr gut, Nirgal. Deine Sehweise ist so klug. In archetypischen Terminologien könnten wir mit Grün und Weiß den Mystiker und den Wissenschaftler bezeichnen. Beide sind höchst mächtige Figuren, wie du siehst. Aber was wir brauchen, ist, wenn du mich fragst, eine Kombination dieser zwei, die wir den Alchemisten nennen.«

Das Grüne und das Weiße.


Am Nachmittag waren die Kinder frei zu tun, was sie wollten; und manchmal blieben sie mit dem Lehrer des Tages zusammen, aber noch öfter liefen sie zum Strand oder spielten im Dorf, das in eine Gruppe niedriger Hügel eingebettet war, halbwegs zwischen dem Teich und dem Tunneleingang. Sie stiegen die Wendeltreppen der großen Bambusbaumhäuser hinauf und spielten Verstecken zwischen den übereinanderliegenden Räumen und den Seitenästen und Hängebrücken dazwischen. Die Bambusschlafstätten bildeten eine Sichel, innerhalb derer sich der größte Teil des Dorfs befand. Jeder große Sproß war fünf oder sieben Segmente hoch, von denen ein jedes ein Zimmer bildete, das mit der Höhe immer kleiner war. Die Kinder hatten jeder einen eigenen Raum in den obersten Abschnitten der Stämme — vertikale Zylinder mit Fenstern, die vier oder fünf Fuß breit waren, wie die Türme der Schlösser in ihren Geschichten. Unter ihnen hatten in den mittleren Segmenten die Erwachsenen ihre Zimmer, meistens allein, aber manchmal auch paarweise. Und die Segmente am Boden waren Wohnund Aufenthaltsräume. Aus den Fenstern der obersten Zimmer blickte man auf die Dächer des Dorfes, die im Kreis von Hügeln, Bambus und Gewächshäusern wie Miesmuscheln in den Untiefen des Teichs zusammengedrängt waren.

Am Strand suchten sie nach Muscheln oder spielten Ball oder schössen zwischen den Dünen auf Schaumflocken. Gewöhnlich suchten Jackie und Harmakhis die Spiele aus und führten die Mannschaften an, wenn es Teams gab. Nirgal und die Jüngeren folgten ihnen und machten die Runde durch ihre verschiedenen Freundschaften und Hierarchien, die in dem täglichen Spiel endlos abgeschliffen wurden. So wie der kleine Frantz es einmal Nadia grob erklärte: »Harmakhis haut Nirgal; Nirgal haut mich; ich haue die Mädchen.« Oft wurde Nirgal dieses Spiels überdrüssig, das Harmakhis immer gewann, und pflegte zwecks besseren Vergnügens rund um den Teich zu laufen, langsam und gleichmäßig. Dabei fiel er in einen Rhythmus, der alles auf der Welt in sich einschloß. Es war eine Freude, eine Erheiterung, einfach so zu laufen und zu laufen …

Unter der Kuppel war es immer kalt, aber das Licht änderte sich ständig. Im Sommer leuchtete die Kuppel die ganze Zeit bläulich weiß, und unter den Oberlichtöffnungen standen helle Strahlenbüschel. Im Winter war es dunkel, und die Kuppel glänzte in reflektiertem Lampenschein wie das Innere einer Muschelschale. Im Frühling und Herbst wurde das Licht am Nachmittag zu Grau gedämpft, und es wurde gespenstisch finster. Die Farben waren nur noch durch die vielen Schattierungen von Grau angedeutet, und die Bambusblätter und Kiefernnadeln waren tiefschwarze Striche vor dem blassen Weiß der Kuppel. In solchen Stunden wirkten die Gewächshäuser wie große Lampions auf den Hügeln, und die Kinder gingen im Zickzackkurs heim wie Möwen und strebten zum Badehaus. Dort in dem langen Gebäude neben der Küche zogen sie sich aus und rannten in den dampfigen Ansturm des Hauptbades, rutschten auf den Bodenkacheln umher und fühlten, wie die Hitze in ihre Hände, Füße und Gesichter drang, während sie munter um die sich einweichenden älteren Leute planschten mit ihren schildkrötenartigen Gesichtern und verschrumpelten haarigen Körpern.

Nach dieser warmen feuchten Stunde zogen sie sich wieder an und reihten sich feucht und rosa in die Schlange ein, füllten ihre Teller und setzten sich an die langen Tische zwischen die Erwachsenen. Es waren 124 ständige Einwohner; aber gewöhnlich gab es dort zu jeder Zeit ungefähr 200 Personen. Wenn alle Platz genommen hatten, nahmen sie die Wasserkrüge und schenkten dem Nachbarn ein. Dann stürzten sie sich mit Genuß auf die warme Speise, verschlangen Kartoffeln, Maiskuchen, Pasta, Tabouli, Brot, hunderterlei Gemüse und gelegentlich Fisch oder Geflügel. Nach der Mahlzeit pflegten die Erwachsenen über Ernten oder ihren Rickover-Generator zu plaudern, einen alten integralen Schnellen Brüter, den sie sehr liebten, oder über die Erde, während die Kleinen aufräumten und dann eine Stunde lang Musik spielten und sonstige Spiele betrieben, bis alle allmählich einschlummerten.

Eines Tages kam von der Polkappe her eine Gruppe von zweiundzwanzig Personen an. Ihre kleine Kuppel hatte ihr Ökosystem eingebüßt durch etwas, das Hiroko spiraliges komplexes Ungleichgewicht nannte; und ihre Reserven waren zu Ende gegangen. Sie brauchten eine Zuflucht.

Hiroko legte sie in drei der kürzlich reif gewordenen Baumhäuser. Sie stiegen die um die dicken runden Schößlinge laufenden Wendeltreppen hoch und jammerten über die zylindrischen Segmente mit den hineingeschnittenen Türen und Fenstern. Hiroko ließ sie die Arbeiten an den neuen Räumen beenden und am Rande des Dorfes ein neues Gewächshaus errichten. Es war allen klar, daß Zygote nicht so viel Nahrung wachsen ließ, wie sie jetzt benötigten. Die Kinder aßen so mäßig, wie sie konnten, indem sie die Erwachsenen nachahmten. »Man hätte den Ort Gamete nennen sollen«, sagte Cojote zu Hiroko, als er wieder vorbeikam, und lachte rauh.

Sie winkte bloß ab. Aber vielleicht war Sorge an Hirokos distanzierterem Verhalten schuld. Sie verbrachte alle Tage mit Arbeit in den Gewächshäusern und unterrichtete die Kinder nur noch selten, wenn überhaupt. Wenn sie es tat, folgten ihr die Kleinen überall hin und arbeiteten für sie, indem sie Ernte einbrachten oder Kompost umwendeten oder jäteten. »Sie kümmert sich gar nicht um uns«, sagte Harmakhis ärgerlich eines Nachmittags, als sie am Strand entlanggingen. »Sie ist überhaupt gar nicht mehr unsere Mutter.« Er führte sie alle zu den Labors am Gewächshaus neben dem Tunnelhügel und scheuchte sie, wie er es so gut konnte.

Drinnen zeigte er auf eine Reihe flacher Aluminiumtanks, eine Art Kühlgeräte. »Das sind unsere Mütter. Darin sind wir gewachsen. Kasei hat es mir gesagt, und ich habe Hiroko gefragt, und es ist wahr. Wir sind Ektogene. Wir wurden nicht geboren, sondern dekantiert.« Er blickte triumphierend auf seine erschrockene und faszinierte kleine Schar. Dann schlug er Nirgal mit der Faust voll auf die Brust, stieß ihn quer durch das Labor und ging fluchend hinaus. »Wir haben keine Eltern.«

Zusätzliche Besucher waren jetzt eine Belastung. Aber dennoch gab es eine Menge Aufregung, wenn sie kamen; und viele Leute blieben am ersten Besuchstag bis weit in die Nacht auf und plauderten, um alle Neuigkeiten zu erfahren, die sie aus den anderen Zufluchtsstätten bekommen konnten. Davon gab es im Südpolgebiet ein ganzes Netz. Nirgal hatte in seinem Pult eine Karte mit roten Punkten, die alle vierunddreißig zeigten. Und Nadia und Hiroko schätzten, daß es noch mehr waren, in anderen Netzen im Norden oder in völliger Isolierung. Aber sie alle hielten Funkstille. Man konnte also nicht sicher sein. Darum waren Nachrichten hoch geschätzt. Gewöhnlich waren sie das Kostbarste, was Besucher zu bieten hatten, selbst wenn sie, wie gewöhnlich, mit Geschenken kamen und alles gaben, was sie nur hatten herstellen oder bekommen können und das ihre Gastgeber nützlich finden könnten.

Während dieser Besuche lauschte Nirgal genau auf die langen lebhaften Gespräche in den Nächten, wobei er auf dem Boden saß oder herumging und die Teetassen der Leute nachschenkte. Es war ihm völlig bewußt, daß er die Regeln der Welt nicht kannte. Ihm war unerklärlich, warum Leute so handelten, wie sie es taten. Natürlich verstand er nicht die Grundtatsache der Lage — daß es zwei Seiten gab, die in einem Wettbewerb um die Herrschaft über den Mars steckten — daß Zygote Anführer der richtigen Seite war — und daß schließlich die Areophanie siegen würde. Es war ein ungeheures Gefühl, in diesem Kampf beteiligt zu sein, ein entscheidender Teil der Geschichte zu sein. Es machte ihn oft schlaflos, wenn er sich ins Bett schleppte, während sein Geist bis zum frühen Morgen durch Visionen tanzte von allem, was er zu diesem großen Drama beitragen und Jackie und alle anderen in Zygote in Erstaunen setzen würde.

Manchmal lauschte er sogar in seinem Verlangen, mehr zu lernen. Er tat das, indem er in der Ecke auf einer Couch lag und in ein Heft schaute, wobei er darin kritzelte oder vorgab zu lesen. Recht oft merkten Leute anderswo in dem Raum nicht, daß er zuhörte, und manchmal sprachen sie sogar über die Kinder von Zygote, besonders dann, wenn er sich gerade draußen in der Halle herumtrieb.

»Hast du gemerkt, daß die meisten von ihnen Linkshänder sind?«

»Ich schwöre, daß Hiroko mit ihren Genen etwas angestellt hat.«

»Sie sagt nein.«

»Die sind schon fast so groß wie ich.«

»Das ist eben die Schwerkraft. Seht euch nur Peter an und die übrigen Nisei! Sie sind natürlich geboren und meistens groß. Aber die Linkshändigkeit muß genetisch bedingt sein.«

»Sie hat mir einmal gesagt, es gäbe eine einfache transgenische Einfügung, die das Corpus Callosum größer werden ließe. Vielleicht hat sie damit herumgespielt und als Nebeneffekt die Linkshändigkeit erzielt.«

»Ich dachte, Linkshändigkeit ginge auf einen Gehirnschaden zurück.«

»Das weiß niemand. Ich denke, daß sogar Hiroko davon überrascht ist.«

»Ich kann nicht glauben, daß sie mit den Chromosomen herumgefummelt hat zwecks Gehirnentwicklung.«

»Bedenke — Ektogene sind leichter zugänglich.«

»Wie ich höre, ist ihre Knochendichte schwach.«

»Das stimmt. Auf der Erde haben sie Schwierigkeiten. Sie sind auf Hilfsgeräte angewiesen.«

»Das ist wieder das Ge. Das macht uns allen wirklich Schwierigkeiten.«

»Erzähl mir davon! Ich habe mir den Unterarm gebrochen, als ich einen Tennisschläger geschwungen habe.«

»Linkshändige große Vogelmenschen, das ist es, was wir hier züchten. Das ist bizarr, wenn du mich fragst. Wenn man sie über die Dünen laufen sieht, könnte man meinen, daß sie gleich abheben und davonfliegen.«

In dieser Nacht hatte Nirgal die übliche Mühe einzuschlafen. Ektogene, transgen … das gab ihm ein komisches Gefühl. Weiß und Grün in ihrer Doppelhelix… Stundenlang warf er sich herum und fragte sich, was das ihn plagende Unbehagen bedeutete und was er fühlen sollte.

Endlich sank er erschöpft in Schlaf. Und dann hatte er einen Traum. Vor dieser Nacht hatte er stets von Zygote geträumt, jetzt aber träumte er, in der Luft über die Oberfläche des Mars zu fliegen. Große rote Schluchten durchschnitten das Land, und Vulkane ragten in der Nähe zu unvorstellbarer Höhe auf. Aber hinter ihm war etwas, das größer und schneller war als er, mit Flügeln, die laut schlugen, als die Kreatur aus der Sonne kam, große Krallen nach ihm ausgestreckt. Er zeigte auf dieses fliegende Wesen, und aus seinen Fingerspitzen schössen Garben von Blitzen, die das Wesen abdrehen ließen. Es stieg zu einem neuen Angriff auf, als er sich wach rüttelte. Seine Finger pulsierten, und sein Herz klopfte wie die Wellenmaschine, ka-thunk ka-thunk, ka-thunk.

Gleich am nächsten Nachmittag erzeugte die Maschine zu große Wellen, wie es Jackie ausdrückte. Sie spielten am Strand und dachten, sie hätten die großen Brecher gemessen; aber dann erhob sich eine wirklich große Woge über das Eisfiligran, warf Nirgal auf die Knie und riß ihn mit unwiderstehlichem Sog das Ufer hinunter. Er strampelte und schnappte nach Luft, als er in das schrecklich kalte Wasser fiel, konnte aber nicht entkommen und wurde hinabgezogen. Dann rollte er hart im Ansturm der nächsten hereinkommenden Welle. Jackie packte ihn am Arm und Haar und zog ihn wieder ans Ufer. Harmakhis half beiden wieder auf die Füße und rief: »Seid ihr okay?« Wenn man naß wurde, galt die Regel, so schnell ins Dorf zu laufen, wie man konnte. Darum machten sich Nirgal und Jackie auf und rannten über die Dünen und den Weg zum Dorf. Der Rest der Kinder trödelte weit hinterher. Der Wind schnitt ins Mark. Sie liefen direkt zum Badehaus, platzten durch die Türen und streiften mit klammen Händen ihre Kleider ab. Dabei halfen ihnen Nadia und Sax und Michel, die darin beim Baden gewesen waren.

Als sie in die seichten Stellen des großen kommunalen Bades gescheucht wurden, erinnerte Nirgal sich an seinen Traum und sagte: »Wartet, wartet!«

Die anderen blieben verwirrt stehen. Er schloß die Augen und hielt den Atem an. Dann ergriff er Jackies kalten Unterarm. Er sah sich wieder in dem Traum und fühlte, wie er durch den Himmel schwamm. Wärme von den Fingerspitzen. Die weiße Welt in der grünen.

Er suchte nach der Stelle in der Mitte, die immer warm war, selbst jetzt, wo er so fror. Sie würde immer da sein, so lange er lebte. Er fand sie und trieb sie mit jedem Atemzug durch sein Fleisch nach außen. Das war hart, aber er fühlte, wie es funktionierte, die Wärme aus seinen Rippen wie ein Feuer ausströmte, seine Arme hinunter, seine Beine hinunter, in seine Hände und Füße. Seine linke Hand streckte er nach Jackie aus. Er betrachtete ihren nackten Körper mit der Gänsehaut und konzentrierte sich darauf, die Wärme in sie hinein zu schicken. Er zitterte jetzt leicht, aber nicht von der Kälte.

»Du bist warm«, rief Jackie.

»Fühle es!« sagte er zu ihr; und sie lehnte sich einige Momente an seinen Griff. Dann riß sie sich mit erschrockenem Gesicht los und ging in das Bad hinunter. Nirgal blieb am Rande stehen, bis sein Beben aufhörte.

»Weißt du, wie du das machst?« fragte ihn Sax. Er, Nadia und Michel sahen Nirgal mit einer merkwürdigen Miene an, der er nicht begegnen wollte.

Nirgal schüttelte den Kopf. Er setzte sich völlig erschöpft auf die Betoneinfassung des Bades und steckte die Füße ins Wasser, das sich wie flüssiges Feuer anfühlte. Fisch im Wasser, sich frei schwappend, draußen in der Luft, das Feuer im Innern, Weiß im Grün, Alchemie, hochsteigend mit Adlern… Blitze aus seinen Fingerspitzen!

Die Leute sahen ihn an. Sogar die Zygoten warfen ihm von der Seite Blicke zu, wenn er lachte oder etwas Ungewöhnliches sagte, und sie dachten, daß er das nicht sehen würde. Am einfachsten war es, so zu tun, als ob er es nicht bemerkte. Aber das war schwierig bei den gelegentlichen Besuchern, die direkter waren. »Oh, du bist Nirgal«, sagte eine kleine rothaarige Frau. »Ich habe gehört, daß du ein aufgeweckter Junge bist.« Nirgal, der ständig an die Grenzen seines Verstehens stieß, errötete und schüttelte den Kopf, während ihn diese Frau ruhig ansah. Sie bildete sich ein Urteil, lächelte und schüttelte ihm die Hand. »Ich freue mich, dich kennenzulernen.«

Eines Tages, als sie zu fünft waren, brachte Jackie ein altes Notizbuch mit zur Schule, an einem Tag, da Maya unterrichtete. Sie ignorierte Mayas scharfen Blick und zeigte es den anderen. »Das ist aus dem Intelligenten Computer meines Großvaters. Darin steckt eine Menge von dem, was er gesagt hat. Kasei hat es mir gegeben.« Kasei war dabei, Zygote zu verlassen, um einen der anderen Zufluchtsorte aufzusuchen. Aber nicht jenen, wo Esther lebte.

Jackie stellte das Gerät an. »Pauline, spiel uns etwas von dem noch einmal vor, das mein Großvater gesagt hat!«

»Nun, da sind wir«, sagte eine männliche Stimme.

»Nein, etwas anderes. Wiederhole etwas, das er über die verborgene Kolonie gesagt hat!«

Die männliche Stimme sagte: »Die verborgene Kolonie muß noch Kontakte zu Siedlungen an der Oberfläche haben. Es gibt zu viele Dinge, die sie nicht im Versteck herstellen können. Ich denke zum Beispiel an Reaktorbrennstäbe. Die werden sehr gut kontrolliert; und es könnte sein, daß Aufzeichnungen uns verraten, wohin sie verschwunden sind.«

Die Stimme hielt an. Maya wies Jackie an, das Gerät weg zu tun, und fing mit einer weiteren Geschichtslektion an, worin so kurz und rauh auf russisch über das neunzehnte Jahrhundert gesprochen wurde, daß ihre Stimme zitterte. Und dann weiter Algebra. Maya legte großen Wert darauf, daß sie sehr gut ihre Mathematik lernten. Mit finsterem Kopfschütteln pflegte sie zu sagen: »Ihr bekommt eine fürchterliche Erziehung. Aber wenn ihr eure Mathematik lernt, könnt ihr später aufholen.« Dann sah sie sie scharf an und verlangte die nächste Antwort.

Nirgal starrte sie an und erinnerte sich daran, als sie seine Böse Hexe gewesen war. Es wäre seltsam, hier zu sein, manchmal so grimmig und manchmal so fröhlich. Wie bei den meisten Leuten in Zygote konnte er sie ansehen und fühlen, wie es wäre, wenn er sie wäre. Er konnte es in ihren Gesichtern sehen, genau so wie er die zweite Farbe innerhalb der ersten sehen konnte. Das war eine Begabung, ähnlich seinem überscharfen Temperaturempfinden. Aber er verstand Maya nicht.

Im Winter machten sie Beutezüge auf die Oberfläche zu dem nahe gelegenen Krater, wo Nadia eine Unterkunft baute, und zu den mit Eis übersäten Dünen dahinter. Aber wenn sich die Nebeldecke hob, mußten sie unter der Kuppel bleiben oder durften höchstens bis zur Fenstergalerie gehen. Man durfte sie nicht von oben sehen. Niemand war sicher, ob nicht etwa die Polizei aus dem Weltraum aufpaßte, aber am besten ging man auf Nummer Sicher. So etwa sprachen die Issei. Peter war fort, und seine Reisen hatten ihn zu der Ansicht gebracht, daß die Jagd nach verborgenen Kolonien vorbei sein müßte. Und daß diese Jagd auf jeden Fall aussichtslos wäre. »Es gibt Widerstandssiedlungen, die sich überhaupt nicht verstecken«, sagte er. »Sie könnten nie alle Signale überprüfen, die sie auffangen.«

Aber Sax erwiderte nur: »Algorithmische Suchprogramme sind sehr effektiv.« Und Maya bestand darauf, außer Sicht zu bleiben und ihre Elektronik zu sichern und alle überschüssige Wärme tief ins Herz der Polkappe zu schicken. Hiroko stimmte mit Maya darin überein; und so fügten sich alle. »Mit uns ist es anders«, sagte Maya zu Peter mit gequälter Miene.

Wie Sax ihnen eines Morgens in der Schule sagte, gab es etwa zweihundert Kilometer im Nordwesten ein Mohole. Die Wolke, die sie manchmal in dieser Richtung sahen, war seine Rauchfahne — an manchen Tagen groß und ruhig und an anderen in dünnen Fetzen nach Osten wehend. Als Cojote das nächste Mal vorbeikam, fragten sie ihn beim Essen, ob er dort gewesen sei; und er bejahte das und sagte, daß der große Schacht des Moholes bis dicht an das Zentrum des Mars reiche und sein Boden nichts als blubbernde flüssige feurige Lava sei.

»Das stimmt nicht«, widersprach Maya. »Die Schächte reichen nur zehn oder fünfzehn Kilometer in die Tiefe, und ihre Böden sind hartes Gestein.«

»Aber heißes Gestein«, erklärte Hiroko. »Und jetzt sind es, wie ich höre, zwanzig Kilometer.«

»Und so arbeiten sie für uns«, beklagte sich Maya bei Hiroko. »Meinst du nicht, daß wir auf den Oberflächensiedlungen Parasiten sind? Deine Viriditas würde es ohne deren Ingenieurkunst nicht weit bringen.«

»Es wird sich als eine Symbiose erweisen«, erwiderte Hiroko ruhig. Sie starrte Maya an, bis diese aufstand und wegging. Hiroko war in Zygote die einzige, welche Maya mit Blicken fertig machen konnte.

Hiroko war, wie Nirgal dachte, als er nach diesem Meinungsaustausch seine Mutter ansah, sehr seltsam. Sie redete mit ihm und allen anderen wie auf gleicher Stufe; und tatsächlich waren für sie alle wirklich irgendwie gleich, aber keiner war es in spezieller Weise. Er erinnerte sich sehr genau, wie das anders gewesen war, als sie beide wie zwei Teile eines Ganzen gewesen waren. Aber jetzt zeigte sie an ihm nicht mehr Interesse als an jedem andern. Sie verhielt sich unpersönlich und distanziert. Er glaubte, sie würde die gleiche bleiben, ganz gleich, was mit ihm geschähe. Nadia oder sogar Maya kümmerten sich mehr um ihn. Und dennoch war Hiroko ihrer aller Mutter. Und Nirgal ging wie die meisten regulären Bewohner von Zygote immer noch zu ihrer kleinen Bambushütte, wenn er etwas brauchte, das er bei gewöhnlichen Leuten nicht finden konnte — etwas Trost oder Rat…

Aber recht oft fand er, wenn er das tat, sie und ihre innere Gruppe ›in Stille‹ vor und mußte aufhören zu reden, wenn er bleiben wollte. Manchmal dauerte das tagelang hintereinander, und er kam nicht mehr vorbei. Dann wieder konnte er während der Areophanie aufkreuzen und von dem ekstatischen Rezitieren der Namen des Mars hingerissen werden als ein integraler Teil dieser engen kleinen Schar, mitten im Herzen der Welt, mit Hiroko an seiner Seite, die ihren Arm um ihn gelegt hatte und ihn fest drückte.

Das war wirklich Liebe, und er genoß sie. Aber es war nicht so, wie es in den alten Tagen gewesen war, als sie zusammen am Strand gegangen waren.

Eines Morgens kam er in die Schule und traf in der Garderobe auf Jackie und Harmakhis. Sie sprangen auf, als er eintrat, und bis er seinen Mantel ausgezogen hatte und in das Klassenzimmer gegangen war, hatte er gemerkt, daß sie sich geküßt hatten.

Nach der Schule ging er um den Teich im blauweißen Licht eines Sommernachmittags und sah zu, wie die Wellenmaschine sich hob und senkte wie die beklemmenden Gefühle in seiner Brust. Schmerz durchzog ihn wie die über das Wasser laufenden Schwellungen des Wassers. Er konnte sich nicht dagegen wehren, obwohl es lächerlich war und er das wußte. In diesen Tagen kam es zu vielen Kußszenen im Bad, wenn sie planschten und sich zogen und stießen und kitzelten. Die Mädchen küßten sich gegenseitig und nannten das ein ›Übungsküssen‹, das nicht zählte. Und manchmal wandten sie sich mit diesen Übungen auch an die Jungen. Nirgal war oft von Rachel geküßt worden und auch von Emily, Tiu und Nanedi; und einmal hatten diese beiden ihn festgehalten und seine Ohren geküßt in einem Versuch, ihn durch eine Erektion im öffentlichen Bad in Verlegenheit zu bringen. Und einmal hatte Jackie sie von ihm weggezogen und ihn in den Unterleib gestoßen und beim Ringen in die Schulter gebissen. Und das waren nur die bemerkenswertesten von Hunderten glitschiger, feuchtwarmer, nackter Kontakte, die das Baden zu einem solchen Höhepunkt des Tages machten.

Aber außerhalb des Bades waren sie, als ob sie sich bemühten, solch flüchtige Kräfte im Zaum zu halten, äußerst formell zueinander. Die Jungen und Mädchen hatten Rotten gebildet, die meistens getrennt spielten. Also stellte das Küssen in der Garderobe etwas Neues und Ernsthaftes dar. Und der Ausdruck, den Nirgal auf den Gesichtern von Jackie und Harmakhis gesehen hatte, war so überlegen, als ob sie etwas wüßten, das er nicht kannte. Und so war es auch. Und dies war es, was ihn verletzte, diese Absonderung und dies Wissen. Zumal er ja keineswegs so unwissend war. Er war sich ziemlich sicher, daß sie beieinander lagen und sich gegenseitig einen runterholten. Sie waren ein Liebespaar. Das verriet ihr Blick. Seine lachende schöne Jackie war nicht mehr die Seine. Und war es eigentlich auch nie gewesen.

In den folgenden Nächten schlief er schlecht. Jackies Zimmer war in dem Bambusstamm neben dem seinen, und das von Harmakhis lag in der entgegengesetzten Richtung zwei weiter; und jedes Knarren der Hängebrücken klang wie Schritte; und bisweilen leuchtete ihr gebogenes Fenster in flackerndem orangefarbenem Licht. Anstatt in seinem Zimmer zu bleiben und sich zu quälen, blieb er nun jede Nacht in den Gemeinschaftsräumen lange auf und las und belauschte die Erwachsenen.

Dort hörte er auch, als sie anfingen, über Simons Krankheit zu sprechen. Simon war Peters Vater, ein ruhiger Mann, der gewöhnlich fort war, auf Expeditionen mit Peters Mutter. Es schien, daß er etwas hatte, das man resistente Leukämie nannte. Vlad und Ursula bemerkten, daß Nirgal lauschte, und suchten ihn zu beruhigen; aber Nirgal merkte, daß sie ihm nicht alles sagten. Später stieg er in sein hoch gelegenes Zimmer, ging zu Bett und stellte sein Notizgerät an. Er sah nach unter ›Leukämie‹ und las die Zuammenfassung am Anfang des Artikels. Eine potentiell tödliche Krankheit, die jetzt gewöhnlich behandelt werden konnte. Potentiell tödliche Krankheit — eine erschütternde Vorstellung. Er wälzte sich in dieser Nacht unruhig herum, geplagt von Träumen bis in die graue Dämmerung, wo die Vögel anfangen zu piepsen. Pflanzen starben, Tiere starben, aber nicht Menschen. Aber sie waren doch Tiere.

Am nächsten Abend blieb er wieder mit den Erwachsenen auf. Er fühlte sich erschöpft und seltsam. Vlad und Ursula setzten sich neben ihm auf den Boden. Sie sagten, daß man Simon durch eine Knochenmarktransplantation helfen würde und daß Simon und Nirgal eine seltene Blutgruppe hätten. Weder Ann noch Peter hatten sie, noch sonst irgend jemand von Nirgals Brüdern, Schwestern oder Halbgeschwistern. Er hatte sie durch seinen Vater bekommen; aber eigentlich hatte sein Vater sie auch nicht. Nur er und Simon in allen Refugien. Es gab in allen Zufluchtstätten insgesamt nur fünftausend Personen; und die Blutgruppe von Simon und Nirgal war eine in einer Million. Sie fragten, ob er etwas von seinem Knochenmark spenden würde.

Hiroko war im Gemeinschaftsraum und beobachtete ihn. Sie verbrachte selten Abende im Dorf, und er brauchte sie nicht anzuschauen, um zu wissen, was sie dachte. Sie waren dazu da, um zu geben, hatte sie immer gesagt, und dies würde die höchste Gabe sein. Ein Akt reiner Viriditas. »Natürlich«, sagte er und freute sich über die Gelegenheit.

Das Krankenhaus war dicht bei dem Bad und der Schule. Es war kleiner als die Schule und hatte fünf Betten. Sie legten Simon in eines und Nirgal in ein anderes.

Der alte Mann lächelte ihm zu. Er sah nicht krank aus, sondern nur alt. So wie ja auch die übrigen alten Leute. Er hatte selten viel gesprochen und sagte jetzt bloß: »Danke, Nirgal!«

Nirgal nickte. Dann fuhr Simon zu seiner Überraschung fort: »Ich schätze sehr, daß du dies tust. Die Entnahme wird eine oder zwei Wochen danach schmerzen, direkt im Knochen. Es ist schon ein Ding, das für einen anderen zu tun.«

»Aber nicht, wenn der es wirklich nötig hat«, sagte Nirgal.

»Nun, es ist ein Geschenk, das ich natürlich versuchen werde zurückzuzahlen.«

Vlad und Ursula betäubten Nirgals Arm mit einer Spritze. »Es ist nicht wirklich nötig, jetzt beide Operationen zu machen, aber es ist eine gute Idee, euch beide dafür beisammen zu haben. Es wird der Heilung helfen, wenn ihr Freunde seid.«

Also wurden sie Freunde. Nach der Schule ging Nirgal zum Krankenhaus, und Simon trat langsam aus der Tür. Sie gingen dann auf dem Weg über die Dünen zum Strand. Dort sahen sie zu, wie die Wellen die weiße Fläche kräuselten und dann am Ufer aufstiegen und schrumpften. Simon war viel weniger gesprächig als jeder, mit dem Nirgal bisher die Zeit verbracht hatte. Es war, als ob man mit Hirokos Gruppe schwiege. Aber es endete nie. Das war Nirgal zuerst unbehaglich. Aber nach einer Weile fand er, daß es ihm Zeit ließ, die Dinge wirklich zu betrachten. Die unter der Kuppel kreisenden Möwen, die Blasen der Sandkrabben im Sand, die Kreise, die im Sand jeden Büschel Dünengras umgaben. Peter war jetzt wieder oft in Zygote und kam an vielen Tagen mit ihnen. Gelegentlich unterbrach sogar Ann ihre ständigen Reisen, besuchte Zygote und kam mit ihnen zusammen. Peter und Nirgal rannten umher und spielten Fangen oder Verstecken und Suchen, während Ann und Simon Arm in Arm über den Strand spazierten.

Aber Simon war noch schwach und wurde immer schwächer. Es war schwer, darin kein moralisches Versagen zu sehen. Nirgal war nie krank gewesen und fand diesen Gedanken widerlich. Es konnte nur den Alten passieren. Und selbst von denen konnte man erwarten, daß sie durch geriatrische Behandlung gerettet werden könnten, wie sie ein jeder im Alter erhielt, so daß er niemals starb. Nur Pflanzen und Tiere starben. Aber Menschen waren auch Tiere. Sie hatten aber die Behandlung erfunden. Eines Abends, als er sich über diese Widersprüche wunderte, las Nirgal den ganzen Beitrag seines Nachschlagewerks über Leukämie, obwohl er so lang war wie ein Buch. Blutkrebs. Weiße Zellen vermehrten sich aus dem Knochenmark, überschwemmten den Organismus und griffen gesunde Systeme an. Man gab Simon Chemikalien und Bestrahlung und Pseudoviren, um die weißen Blutzellen zu töten, und versuchte, das kranke Mark in ihm durch das frische Mark von Nirgal zu ersetzen. Sie hatten ihm jetzt auch schon dreimal die Altersbehandlung gegeben. Auch darüber las Nirgal etwas nach. Das war ein Verfahren, bei dem man genetische Fehler suchte, gebrochene Chromosomen fand und reparierte, so daß Zellteilungsfehler nicht mehr vorkamen. Aber es war schwierig, in Knochen mit Gruppen eingeführter Selbstheilungszellen einzudringen, und anscheinend waren in Simons Fall jedesmal kleine Bereiche von krebsbefallenem Mark zurückgeblieben. Kinder hatten bessere Genesungsaussichten als Erwachsene, wie der Leukämieartikel besagte. Aber mit den Altersbehandlungen und den Knochenmarktransfusionen war es sicher, daß es gutgehen würde. Es war einfach eine Sache der Zeit und des Spendens. Die Behandlung kurierte letztlich alles.

»Wir brauchen einen Bioreaktor«, sagte Ursula zu Vlad. Sie arbeiteten daran, einen Ektogentank in einen solchen umzubauen. Sie füllten ihn mit schwammigem tierischem Kollagen und impften ihn mit Zellen aus Nirgals Mark in der Hoffnung, eine Anzahl von Lymphozyten, Makrophagen und Granulozyten zu schaffen. Aber das Zirkulationssystem funktionierte nicht richtig. Oder vielleicht war es die Matrix. Sie waren sich nicht sicher. Nirgal blieb ihr lebender Bioreaktor.

Sax unterrichtete sie in Bodenchemie, wenn er vormittags der Lehrer war. Und er führte sie gelegentlich sogar aus dem Schulzimmer hinaus, damit sie in den Bodenlabors arbeiteten. Er fügte dem Sand Biomasse zu und fuhr ihn dann mit der Schubkarre zum Gewächshaus oder zum Strand. Diese Arbeit machte Spaß, ging aber an Nirgal vorbei wie im Schlaf. Er bekam flüchtig mit, wie Simon draußen hartnäckig spazierenging, und vergaß dabei alles, was sie machten.

Trotz den Behandlungen waren Simons Schritte langsam und steif. Er ging krumm und schwang die Beine ziemlich steif nach vorn. Einmal holte Nirgal ihn ein und stand neben ihm auf der letzten Düne vor dem Ufer. Schnepfen liefen an dem nassen Strand vor und zurück, gejagt von weißen Schaumflocken. Simon deutete auf die Herde schwarzer Schafe, die zwischen Dünen Gras zupften. Sein Arm hob sich wie eine Bambuslatte. Der gefrorene Atem der Schafe strömte auf das Gras.

Simon sagte zu Nirgal etwas, das er nicht mitbekam. Seine Lippen waren steif, und manche Worte konnte er nur mit Mühe aussprechen. Vielleicht war es dies, was ihn noch stiller machte als zuvor. Jetzt versuchte er es wieder und immer wieder; aber sosehr er sich auch bemühte, konnte Nirgal nicht raten, was er meinte. Schließlich gab Simon es auf und zuckte die Achseln. Danach sahen sie einander nur stumm und hilflos an.

Wenn Nirgal mit den anderen Kindern spielte, so ließen sie ihn teilnehmen, hielten aber Distanz, so daß er sich in einer Art von Kreis bewegte. Sax machte ihm leichte Vorwürfe wegen seiner Geistesabwesenheit in der Klasse. »Konzentriere dich auf den Augenblick!« pflegte er zu sagen und zwang ihn, die Ringe des Stickstoffzyklus aufzusagen oder die Hände tief in den feuchten schwarzen Boden zu stecken, wenn sie da arbeiteten. Er wies ihn an, ihn zu kneten, die langen Stränge von Diatomeenflor aufzubrechen und die Pilze, Flechten und Algen und all die unsichtbaren Mikrobakterien, die sie gezüchtet hatten, und sie zwischen die rostigen Klumpen von Sand und Kies zu verteilen.

»Verteilt sie so gleichmäßig wie möglich und paßt auf! Es kommt nur auf dies hier an. Dies hat eine sehr wichtige Eigenschaft. Schaut auf die Strukturen auf dem Schirm des Mikroskops! Das klare Ding hier wie ein Reiskorn ist ein Chemolithotroph, Thiobacillus denitrificans. Und das ist ein Klumpen von Sulfiden. Was wird nun passieren, wenn der erste den zweiten frißt?«

»Es oxidiert den Schwefel.«

»Und?«

»Und denitrifiziert.«

»Das ist?«

»Nitrate werden zu Stickstoff. Aus dem Boden in die Luft.«

»Sehr gut. Das ist eine sehr nützliche Mikrobe.«

So zwang Sax ihn, auf den Augenblick zu achten, aber der Preis war hoch. Nirgal war mittags erschöpft, wenn die Schule aus war. Es war schwer, am Nachmittag etwas zu tun. Dann baten sie ihn, noch mehr Mark für Simon zu spenden, der stumm und verlegen im Krankenhaus lag und mit den Augen Nirgal um Entschuldigung bat, der sich zwang zu lächeln und die Finger um Simons bambusartigen Unterarm zu legen. »Es ist alles in Ordnung«, sagte er heiter und legte sich hin. Fast sicher machte Simon etwas falsch. Er war schwach oder schlapp und wollte irgendwie krank sein. Anders konnte man das nicht erklären. Sie steckten Nirgal die Nadel in den Arm, und der wurde taub. Sie stießen die intravenöse Nadel in seinen Handrücken, und nach einer Weile wurde auch der taub. Er lag auf dem Rücken als ein Teil der Struktur des Krankenhauses und versuchte sich so taub zu verhalten, wie er konnte. Ein Teil von ihm konnte die große Marknadel spüren, die gegen seinen Oberarmknochen stieß. Keine Schmerzen, überhaupt kein Gefühl in seinem Fleisch, nur ein Druck auf dem Knochen. Dann ließ es nach; und er wußte, daß die Nadel in das weiche Innere seines Knochens eingedrungen war.

Diesmal half der Prozeß überhaupt nicht. Simon war nutzlos und blieb ständig im Krankenhaus. Nirgal besuchte ihn dort von Zeit zu Zeit, und sie machten auf Simons Schirm ein Wetterspiel, drückten auf Knöpfe, um Würfel rollen zu lassen, und stießen Rufe aus, wenn der Wurf eins oder zwölf sie jäh auf einen anderen Quadranten des Mars versetzte, einen mit völlig neuem Klima. Simons Lachen, das nie mehr als ein Kichern gewesen war, war inzwischen zu einem leichten Lächeln dahingeschwunden.

Nirgals Arm tat weh, und er schlief schlecht, warf sich nachts hin und her und erwachte heiß und verschwitzt und grundlos erschrocken. Dann weckte Hiroko ihn eines Nachts aus tiefem Schlaf und führte ihn die Wendeltreppe hinunter zum Krankenhaus. Nirgal lehnte sich benommen bei ihr an, nicht imstande, voll wach zu werden. Hiroko war ungerührt wie immer, hatte aber den Arm um seine Schultern gelegt und hielt ihn mit erstaunlicher Kraft. Als sie an Ann vorbeikamen, die im Vorraum des Hospitals saß, veranlaßte etwas an deren hängenden Schultern Nirgal, sich zu fragen, warum Hiroko hier bei Nacht im Dorf war; und er bemühte sich, von Furcht gepackt, ganz wach zu werden.

Das Bettenzimmer des Krankenhauses war übermäßig hell von scharfen Lampen, die flackerten, als ob überall Glanzlichter hervorbrechen würden. Simon lag mit dem Kopf auf einem weißen Kissen. Seine Haut war blaß und wächsern. Er sah tausend Jahre alt aus.

Er wandte den Kopf und sah Nirgal. Seine dunklen Augen suchten sein Gesicht mit einem hungrigen Blick, als ob er einen Weg in sein Inneres zu finden suchte — einen Weg, zu ihm hinüberzuspringen. Nirgal schauerte es, und er parierte den starren dunklen Blick und dachte: Okay. Komm in mich herein! Tu, was du willst! Mach nur!

Aber es gab keinen Weg hinüber. Das erkannten beide und entspannten sich. Über Simons Gesicht huschte ein leichtes Lächeln, und er langte mit Mühe hin und faßte Nirgals Hand. Jetzt ruckten seine Augen hin und her. Sie suchten Nirgals Gesicht mit einer völlig anderen Miene, als ob er nach Worten suchte, die Nirgal in den kommenden Jahren helfen würden, wenn sich etwas ereignen würde, das Simon erfahren hatte.

Aber auch das war unmöglich. Wieder sahen beide das ein. Simon würde Nirgal seinem Schicksal überlassen müssen, wie es auch sein möge. Da konnte man nicht helfen. »Sei gut!« flüsterte er endlich; und Hiroko führte Nirgal aus dem Zimmer. Sie brachte ihn durch die Dunkelheit wieder in seinen Raum hinauf; und er sank in tiefen Schlaf.

Simon starb irgendwann in der Nacht.

Es war das erste Begräbnis in Zygote und für alle Kinder überhaupt das erste. Aber die Erwachsenen wußten, was zu tun war. Sie kamen in einem Gewächshaus zusammen und setzten sich zwischen den Arbeitsbänken im Kreis um den großen Kasten, der Simons Körper enthielt. Sie reichten eine Flasche Reisschnaps herum, und jeder schenkte seinem Nachbarn ein. Sie tranken das feurige Zeug aus. Dann faßten sich die Alten bei den Händen um den Sarg und setzten sich dicht gedrängt um Ann und Peter wieder hin. Maya saß bei Ann und hatte die Arme um ihre Schultern gelegt. Ann wirkte betroffen und Peter untröstlich. Jürgen und Maya erzählten Geschichten über Simons legendäre Schweigsamkeit. »Einmal«, sagte Maya, »waren wir in einem Rover, und da platzte ein Sauerstoffkanister und schlug ein Loch ins Kabinendach. Wir rannten alle schreiend herum. Simon, der draußen gewesen war, nahm einen Stein von genau der richtigen Größe, sprang hoch und preßte ihn in das Loch, wo er ihn feststopfte. Danach redeten wir alle wie verrückt durcheinander und arbeiteten an einem richtigen Stopfen. Da merkten wir plötzlich, daß Simon immer noch keinen Ton gesagt hatte. Wir hörten alle mit der Arbeit auf und sahen ihn an. ›Das war knapp‹, sagte er.«

Sie lachten. Vlad sagte: »Oder denkt an die Zeit, da wir in Underhill Ulkpreise ausgaben und Simon einen für das beste Video bekam. Er ging hin, um ihn entgegenzunehmen, sagte ›Danke!‹ und machte sich daran, wieder zu seinem Platz zu gehen. Aber dann blieb er stehen, als ob ihm noch etwas eingefallen wäre, das er sagen wollte. So ging er wieder zum Podium, was natürlich unsere Aufmerksamkeit weckte. Er räusperte sich und sagte: ›Vielen Dank!‹«

Ann lachte beinahe darüber, stand dann auf und führte sie in die frische Luft hinaus. Die Alten trugen die Kiste zum Strand hinunter, und alle anderen folgten ihnen. Es war bewölkt und schneite, als sie seine Leiche herausnahmen und tief im Sand vergruben, knapp über der Hochwassermarke. Dann nahmen sie den langen Sargdeckel und brannten mit Nadias Lötkolben seinen Namen hinein. Dann steckten sie das Brett in die erste Düne. Jetzt würde Simon ein Teil des Kohlenstoffzyklus sein als Nahrung für Bakterien und Krabben und dann Schnepfen und Möwen und damit in die Biomasse unter der Kuppel eingehen. So war es, wenn jemand beerdigt wurde. Und das war gewiß auch etwas tröstlich: sich in seiner Welt ausbreiten und sich in ihr zu verteilen. Aber als Persönlichkeit zu enden und wegzugehen …

Nachdem sie Simon im Sand begraben hatten, gingen sie alle unter der trüben Kuppel dahin und versuchten so zu tun, als ob die Realität nicht jäh zerrissen wäre und einen der ihren weggerissen hätte. Nirgal konnte es nicht glauben. Sie marschierten ins Dorf zurück, pusteten auf ihre kalten Hände und redeten mit gedämpfter Stimme. Nirgal näherte sich Vlad und Ursula in der Hoffnung auf etwas Trost. Ursula war traurig, und Vlad bestrebt, sie aufzuheitern. »Er hat mehr als hundert Jahre gelebt. Wir können seinen Tod nicht für verfrüht halten. Sonst wäre das eine Kränkung für alle jene armen Leute, die mit fünfzig, zwanzig oder einem Jahr gestorben sind.«

»Aber es war doch vorzeitig«, sagte Ursula hartnäckig. »Bei den Behandlungen — wer weiß? Er hätte tausend Jahre leben können.«

»Ich bin mir da nicht so sicher. Mir scheint, daß die Behandlungen nicht ganz zu jedem Teil unserer Körper vordringen. Und bei all der Strahlung, die wir aufgenommen haben, könnten wir mehr Schwierigkeiten haben, als wir zuerst dachten.«

»Vielleicht. Aber wenn wir in Acheron gewesen wären mit dem ganzen Team, einem Bioreaktor und sämtlichen Hilfsmitteln, so wette ich, daß wir ihn hätten retten können. Und man kann auch nicht sagen, wie viele Lebensjahre er noch hätte haben können. Das nenne ich vorzeitig.«

Ann ging fort, um allein zu sein.

In dieser Nacht konnte Nirgal überhaupt nicht schlafen. Er fühlte ständig noch die Transfusion, sah jeden Moment davon und stellte sich vor, daß es in dem Körper eine Nachwirkung gegeben haben könnte, so daß er mit der Krankheit infiziert worden wäre. Oder nur durch Berührung kontaminiert, warum nicht? Oder bloß durch den letzten Ausdruck in Simons Augen! So daß er die Krankheit erwischt hatte, die sie nicht aufhalten konnten, und er sterben würde. Steif werden, verstummen, anhalten und fortgehen. Das war Tod. Sein Herz pochte, und Schweiß drang ihm aus der Haut. Er schrie vor Angst. Man konnte ihm nicht entkommen, und es war schrecklich. Schrecklich, ganz gleich, wann es geschah. Schrecklich, daß der Zyklus einen solchen Verlauf nahm; daß er immer wieder seine Runden machte, während sie nur einmal lebten und für immer starben. Warum überhaupt leben? Es war zu fremdartig und zu schrecklich. Und so bebte er während der ganzen Nacht. Sein Geist drehte sich wie ein Zyklon in Todesangst.

Danach fand er es äußerst schwer, sich zu konzentrieren. Er hatte ein Gefühl, als ob er von den Dingen distanziert wäre, als ob er aus der weißen Welt hinausgeschlüpft wäre und die grüne nicht berühren könnte.

Hiroko erkannte dieses Problem und schlug ihm vor, Cojote auf einer seiner Fahrten nach draußen zu begleiten. Nirgal war von dieser Idee entsetzt, da er nie weiter als einen Spaziergang von Zygote entfernt gewesen war. Aber Hiroko beharrte darauf. Sie sagte, er wäre jetzt sieben Jahre alt und dabei, ein Mann zu werden. Es sei an der Zeit, etwas von der Oberflächenwelt zu sehen.

Ein paar Wochen später kam Cojote vorbei. Und als er wieder wegfuhr, war Nirgal bei ihm. Er saß auf dem Copilotenplatz in dem Felsenwagen und starrte durch die niedrige Windschutzscheibe auf den Purpurbogen des Abendhimmels. Cojote fuhr eine Runde, um ihm einen Blick auf die große leuchtende rötliche Wand der Polkappe zu geben, die den Horizont wie ein riesiger aufgehender Mond überwölbte.

»Es ist schwer zu glauben, daß etwas so Großes jemals schmelzen könnte«, sagte Nirgal.

»Es wird eine Weile dauern.«

Sie fuhren in mäßigem Tempo nach Norden. Der Felsenwagen war getarnt und mit einer ausgehöhlten Steinplatte bedeckt, die thermisch so reguliert war, daß sie die gleiche Temperatur wie die Umgebung behielt; und an der Vorderachse war ein Bodensensor, der das Terrain prüfte und die Information an die Hinterachse weitergab, wo Kratz- und Formgeräte ihre Radspuren tilgten und Sand und Steine in den Zustand vor ihrer Passage versetzten. Darum konnten sie nicht so schnell fahren.

Sie fuhren längere Zeit schweigend, obwohl Cojotes Schweigen anders war, als das von Simon gewesen war. Er summte und murmelte vor sich hin, redete mit leiser Singstimme zu seinem Computer in einer Sprache, die wie Englisch klang, aber völlig unverständlich war. Nirgal versuchte, sich auf die beschränkte Sicht durch das Fenster zu konzentrieren, und fühlte sich unbehaglich und schüchtern. Die Gegend um die Südpolkappe war eine Reihe breiter, flacher Terrassen; und sie fuhren von einer zur anderen hinab auf Routen, die dem Wagen einprogrammiert zu sein schienen. Eine Terrasse folgte der anderen, bis es schien, als ob die Polkappe auf einem hohen Piedestal ruhte. Nirgal starrte ins Dunkel, beeindruckt durch die Größe der Dinge, aber froh, daß es nicht so absolut überwältigend war wie bei seinem ersten Gang nach draußen. Das war schon lange her; aber er konnte sich noch immer genau an das umwerfende Erstaunen erinnern.

Dies hier war nicht so. »Es scheint nicht so groß zu sein, wie ich erwartet hatte«, sagte er. »Ich nehme an, das liegt an der Krümmung des Landes. Es ist ein so kleiner Planet, und überhaupt… «

Wie das Lesegerät sagte: »Der Horizont ist nicht weiter entfernt als eine Seite Zygotes von der anderen.«

»Oho!« sagte Cojote und warf ihm einen Blick zu. »Laß lieber nicht den Großen Mann so etwas hören! Er würde dir dafür einen Tritt in den Hintern geben.« Und dann: »Wer ist dein Vater, Junge?«

»Ich weiß es nicht. Hiroko ist meine Mutter.«

»Hiroko treibt das Matriarchat zu weit, wenn du mich fragst«, knurrte Cojote.

»Hast du ihr das gesagt?«

»Darauf kannst du dich verlassen. Aber Hiroko hört mir nur zu, wenn ich Dinge sage, die ihr genehm sind.« Er kicherte. »So geht es jedem, nicht wahr?«

Nirgal nickte, und ein Grinsen beendete seinen Versuch gleichgültig zu sein.

»Willst du herausfinden, wer dein Vater ist?«

»Sicher.« Eigentlich war er sich nicht sicher. Der Begriff ›Vater‹ bedeutete ihm wenig; und er fürchtete, es könnte sich herausstellen, daß es Simon wäre. Peter war ihm schließlich wie ein älterer Bruder.

»In Vishniac haben sie die Geräte dafür. Wir können es versuchen, wenn du möchtest.« Cojote schüttelte den Kopf. »Hiroko ist eigenartig. Als ich sie kennenlernte, hättest du nie erwartet, daß es so weit kommen würde. Natürlich waren wir damals jung — fast so jung, wie du jetzt bist, obwohl du dir das wohl schwer vorstellen kannst.«

Was auch stimmte.

»Als ich sie kennenlernte, war sie gerade eine junge Studentin der Öko-Ingenieurwissenschaften, so geschmeidig wie eine Gerte und scharf wie eine Katze. Nichts von dem Zeug von Muttergöttin der Welt. Aber allmählich fing sie an, Bücher zu lesen, die nicht ihre technischen Lehrtexte waren; und das ging immer weiter, und als sie zum Mars kam, war sie schon verrückt. Sogar schon davor. Das war für mich ein Glücksfall, denn darum bin ich hier. Aber Hiroko — oje! Sie war überzeugt, daß die ganze menschliche Geschichte von Anfang an schiefgelaufen wäre. In der Morgenröte der Zivilisation gab es, wie sie mir ganz ernsthaft sagte, nur Kreta und Sumer. Und Kreta besaß eine friedliche Handelskultur, die von Frauen betrieben wurde und voller Kunst und Schönheit war — wirklich eine Utopie, wo die Männer Akrobaten waren, die den ganzen Tag auf den Stieren turnten und nachts auf den Frauen. Sie schwängerten die Frauen und verehrten sie, und alle waren glücklich. Das heißt mit Ausnahme der Stiere. Indessen wurde Sumer andererseits von Männern regiert, die den Krieg erfanden, alles eroberten, was in Sicht war, und alle die Sklavenreiche gründeten, die danach gekommen sind. Und niemand wußte, wie Hiroko sagte, was geschehen wäre, wenn die beiden Reiche eine Gelegenheit gehabt hätten, um die Weltherrschaft zu ringen; denn ein Vulkan zerstörte das aufkommende Königreich Kretas, und die Welt ging in die Händfe Sumers über und ist dort bis auf den heutigen Tag geblieben. Wenn dieser Vulkan nur in Sumer gewesen wäre, pflegte sie mir zu erzählen, dann wäre alles anders gekommen. Und vielleicht ist das wahr. Denn die Geschichte konnte kaum finsterer verlaufen, als es geschah.«

Nirgal war durch diese Darstellung überrascht und wandte ein: »Aber jetzt machen wir einen Neuanfang.«

»Das ist richtig, Junge! Wir sind die Primitiven einer unbekannten Zivilisation. Wir leben in unserer eigenen techno-minoischen Matriarchie. Ha! Ich persönlich finde das prima. Mir scheint bereits, daß die Macht, die unsere Frauen übernommen haben, nie so interessant gewesen ist. Macht ist nur die Hälfte des Jochs. Erinnerst du dich daran aus dem Zeug, das ich euch Kinder habe lesen lassen? Herr und Sklave tragen das Joch gemeinsam. Anarchie ist die einzige wahre Freiheit. Aber was auch immer die Frauen tun, scheint sich gegen sie zu richten. Wenn sie Kühe der Männer sind, arbeiten sie bis zum Umfallen. Wenn sie aber unsere Königinnen und Göttinnen sind, dann arbeiten sie nur um so härter, weil sie immer noch die Arbeit der Kühe verrichten müssen und dann auch noch den Papierkram. Da gibt es keinen anderen Weg. Sei nur dankbar, daß du ein Mann bist und so frei wie der Himmel!«

Es war Ls 4, 22. Zweitmärz im Marsjahr 32, und die Tage im Süden wurden kürzer. Cojote fuhr die ganze Nacht angestrengt dahin, über schwierige und unsichtbare Wege durch ein Gelände, das immer rauher wurde, je weiter sie sich von der Polkappe entfernten. Sie hielten an, um bei Tag zu ruhen, und fuhren die ganze übrige Zeit. Nirgal bemühte sich, wach zu bleiben, verschlief aber unweigerlich jedesmal einen Teil der Fahrt und auch noch einen Teil des Aufenthaltes am Tage, bis er mit Zeit und Raum völlig durcheinander war.

Aber wenn er wach war, schaute er fast immer aus dem Fenster auf die sich ständig verändernde Oberfläche des Mars. Er konnte nicht genug davon bekommen. In dem geschichteten Terrain gab es unendliche Strukturen. Die abgeflachten Sandhügel wurden vom Wind verweht, bis jede Düne wie ein Vogelfügel eingeschnitten war. Wenn das Gelände schließlich auf freies Urgestein auslief, wurden die geschichteten Dünen zu einzelnen Sandinseln, verstreut über ein wirres Gebiet von freiliegendem Regolith und Steinhaufen. Wohin er auch blickte, gab es rotes Gestein in der Größe von Kieseln bis zu immensen Felsblöcken, die wie Gebäude auf dem Sand standen. Die Sandinseln waren in dieser steinigen Gegend in jede Senke und Höhlung geduckt und drängten sich auch um die Füße großer Blöcke und an die Leeseiten niedriger Grate und in das Innere von Kratern.

Und Krater gab es überall. Sie erschienen erst wie zwei Buckel am Horizont, die sich schnell als zusammenhängende Punkte einer niedrigen Leiste herausstellen. Sie kamen an Dutzenden dieser Hügel mit flachem Gipfel vorbei — manche steil und scharf, andere niedrig und fast begraben, noch andere mit Rändern, die durch kleinere spätere Einstürze zerbrochen waren, so daß man direkt den Flugsand sehen konnte, der sie ausfüllte.

Eines Nachts kurz vor dem Morgengrauen hielt Cojote an.

»Fehlt etwas?«

»Nein. Wir haben Ray’s Lookout erreicht, und ich möchte, daß du ihn siehst. In einer Stunde wird die Sonne da sein.«

So saßen sie in den Fahrersesseln und erwarteten die Dämmerung.

»Junge, wie alt bist du?«

»Sieben.«

»Was heißt das? Dreizehn Erdenjahre? Vierzehn?«

»So nehme ich an.«

»Oho! Du bist schon größer als ich.«

»Na und?« Nirgal verzichtete darauf hinzuweisen, daß das keine besondere Größe bedeutete. »Und wie alt bist du?«

»Einhundertundneun. Ah ah ha! Mach lieber die Augen zu, sonst fallen sie dir aus dem Kopf! Sieh mich nicht so an! Ich war alt am Tage meiner Geburt und werde jung sein, wenn ich sterbe.«

Sie dösten dahin, während der Himmel am östlichen Horizont allmählich eine tief purpurblaue Farbe annahm. Cojote summte ein Liedchen vor sich hin, als ob er eine Tablette Omegendorph eingenommen hätte, wie er es oft abends in Zygote tat. Allmählich wurde klar, daß der Horizont weit entfernt war und sich um sie zu runden schien, eine schwarze krumme Wand, die unendlich weit entfernt war auf einer schwarzen steinigen Ebene. »He, Cojote!« rief Nirgal. »Was ist das?«

»Ha!« sagte Cojote, und er klang tief befriedigt.


Der Himmel wurde hell, und die Sonne brach plötzlich über die Oberkante der fernen Wand und blendete Nirgal für einige Zeit. Aber als die Sonne höher stieg, wichen die Schatten auf der riesigen halbkreisförmigen Klippe Keilen von Licht, die scharf gezackte Einschnitte zeigten, welche die große Krümmung der Wand überzogen, die so groß war, daß Nirgal nach Luft schnappte, die Nase dicht an die Windschutzscheibe gepreßt. Es war fast erschreckend, so groß! »Cojote, was ist das?«

Cojote stieß eines seiner alarmierenden Gelächter aus. Das animalische Gackern erfüllte den Wagen. »Du siehst, Junge, die Welt ist doch nicht so klein. Dies ist der Boden des Prometheus-Beckens. Das ist ein Ein-Sturzbecken, eines der größten auf dem Mars, fast so groß wie Argyre. Aber es ist nahe dem Südpol aufgetroffen, so daß etwa die Hälfte seines Randes inzwischen unter der Polkappe und dem terrassierten Gelände begraben wurde. Die andere Hälfte ist diese gekrümmte Böschung hier.« Er machte eine weite Handbewegung. »Eine Art von übergroßer Caldera, aber hier nur halb, so daß man direkt hineinfahren kann. Diese kleine Anhöhe ist der beste Platz, um sie zu sehen, den ich kenne.« Er rief eine Karte der Gegend auf und zeigte: »Wir befinden uns auf dem Ausläufer dieses kleinen Kraters hier, Vt, und blicken nach Nordwesten. Die Klippe dort sind die Promethei Rupes. Sie ist ungefähr ein Kilometer hoch. Natürlich ist die Echusklippe drei Kilometer hoch, und die vom Olympus Mons ist sechs Kilometer hoch. Hörst du das, Mister Kleinplanet?«

Die Sonne stieg noch höher und beleuchtete die große Kurve der Klippe von oben. Die war tief zerschnitten durch Schluchten und kleinere Krater. Cojote sagte: »Das Prometheus-Versteck befindet sich in der Seite jenes großen Einschnittes.« Er wies auf die linke Seite der Kurve. »Krater Wj.«

Während sie den ganzen langen Tag über warteten, schaute Nirgal fast ständig auf die gigantische Klippe. Die sah jedesmal anders aus, wenn die Schatten kürzer wurden und wanderten, neue Merkmale zeigten und andere verdunkelten. Es hätte Jahre erfordert, alles anzusehen; und er konnte sich nicht des Gefühls erwehren, daß die Wand unnatürlich oder sogar unmöglich hoch war. Cojote hatte recht — die engen Horizonte hatten ihn genarrt. Er hatte sich nicht vorgestellt, daß die Welt so groß sein könnte.

In der Nacht fuhren sie in den Krater Wj, eine der größten Böschungen in der riesigen Wand. Und dann erreichten sie die gekrümmte Klippe von Promethei Rupes. Sie ragte über ihnen auf wie die vertikale Seite des Universums selbst. Die Polkappe war nichts im Vergleich mit dieser Felsenmasse. Das bedeutete, die Klippe von Olympus Mons müßte… Er wußte nicht, wie er sich das vorstellen konnte.

Unten am Fuß der Klippe, an einer Stelle, wo ungebrochener Fels fast senkrecht in flachen Sand abfiel, befand sich in einer Nische eine Schleusentür. Drinnen war die Zufluchtsstätte namens Prometheus, eine Anzahl weiter Räume, die wie die Zimmer eines Bambushauses übereinander lagen mit gebogenen Fenstern mit Filtern, die auf den Krater Wj und das große Becken dahinter schauten. Die Bewohner des Asyls sprachen Französisch, und Cojote auch, wenn er sich mit ihnen unterhielt. Sie waren nicht so alt wie Cojote und die anderen Issei, aber doch ziemlich betagt und von irdischer Größe, was bedeutete, daß sie zu Nirgal meistens aufschauen mußten, während sie in fließendem, aber nicht akzentfreiem Englisch freundlich mit ihm redeten. »Du bist also Nirgal! Enchante! Wir haben von dir gehört und freuen uns, dich kennenzulernen.«

Eine Gruppe von ihnen führte ihn herum, während Cojote andere Dinge erledigte. Ihr Asyl war ganz anders als Zygote. Es bestand, kurz gesagt, nur aus Zimmern. Es gab einige große, die sich an der Wand auftürmten, und kleine dahinter. Drei Fenster waren Gewächshäuser, und alle Räume im ganzen Quartier wurden sehr warm gehalten und waren voller Pflanzen, Wandbehängen, Plastiken und Springbrunnen. Darum fand Nirgal es eingeschränkt, viel zu heiß, aber höchst faszinierend.

Aber sie verweilten nur einen Tag und fuhren dann mit Cojotes Wagen in einen großen Aufzug, in dem sie eine Stunde lang saßen. Als Cojote aus der gegenüberliegenden Tür fuhr, waren sie auf der Höhe des unebenen Plateaus, hinter Promethei Rupes. Und hier bekam Nirgal einen neuen Schock. Als sie unten bei Ray’s Lookout gewesen waren, hatte die große Klippe eine Grenze gebildet für das, was sie sehen konnten, und er war imstande gewesen, das zu verstehen. Aber oben auf der Klippe waren, wenn man zurückblickte, die Distanzen so groß, daß Nirgal nicht erfassen konnte, was er sah. Es war nur eine unscharfe, schwindelerregende Masse von Buckeln und Farbflecken — weiß, braun, rostrot und wieder weiß. Das war ihm unangenehm.

Cojote sagte: »Ein Sturm zieht auf«, und Nirgal erkannte plötzlich, daß die Farben über ihnen eine Flotte hoher fester Wolken waren, die über einen violetten Himmel fuhren mit der Sonne im Westen. Die Wolken waren oben weißlich und ganz wie Lappen, aber unten dunkelgrau. Diese Wolkenunterseiten waren ihren Köpfen näher als der Boden des Beckens, und sie waren flach ausgerichtet, als ob sie auf einem transparenten Boden glitten. Die Welt da unten war keineswegs so gleichmäßig, sondern bräunlich gefleckt. Ah, das waren die Schatten der Wolken, die sich sichtlich bewegten. Und die weiße Sichel da draußen in der Mitte war die Polkappe! Sie konnten die ganze Strecke bis nach Hause sehen. Daß er das Eis erkannte, gab ihm das letzte bißchen an Perspektive, die er brauchte, um die Dinge zu verstehen. Und die Farbflecken stabilisierten sich zu einer buckligen, unebenen Ringlandschaft, die von ziehenden Wolkenschatten gefleckt war.

Für diese verwirrende Erkenntnis hatte Nirgal nur wenige Sekunden gebraucht, aber als er damit fertig war, sah er, daß Cojote ihn mit einem breiten Grinsen beobachtete.

»Wie weit können wir sehen, Cojote? Wie viele Kilometer?«

Cojote kicherte nur. »Junge, frag den Großen Mann! Oder rechne es dir selbst aus! Was, dreihundert Kilometer? So ungefähr. Für den Großen nur ein Sprung. Tausend Reiche für die Kleinen.«

»Ich möchte die laufen.«

»Das tust du sicher. Oh, schau nur! Dort — von den Wolken über der Kappe. Ein Blitz, siehst du ihn? Dieses leichte Flimmern — das sind Blitze.«

Aber es gab auch große Lichtfäden, die lautlos auftauchten und verschwanden, einer oder zwei alle paar Sekunden. Sie verbanden schwarze Wolken mit weißem Boden. Endlich sah Nirgal Blitze mit eigenen Augen. Die weiße Welt funkelte in die grüne und schüttelte sie. »Es geht nichts über einen großen Sturm«, versicherte Cojote. »Oh, draußen im Wind zu sein! Wir haben diesen Sturm gemacht, Junge. Obwohl ich denke, daß ich sogar einen noch größeren machen könnte.«

Aber einen größeren konnte Nirgal sich überhaupt nicht vorstellen. Was unter ihnen lag, war kosmisch weit — elektrisch mit Farbe durchsetzt, winderfüllt in seiner Weiträumigkeit. Er war wirklich etwas erleichtert, als Cojote ihren Wagen wendete und losfuhr. Der unscharfe Anblick verschwand, und der Rand der Klippe hinter ihnen wurde zu einem neuen Horizont.

»Was ist eigentlich ein Blitz?«

»Nun, Blitz … Mist! Ich muß gestehen, daß der Blitz eines jener Phänomene in dieser Welt ist, deren Erklärung ich nicht im Kopf behalten kann. Man hat es mir gesagt, aber es entfällt mir immer wieder. Natürlich Elektrizität, etwas mit Elektronen oder Ionen, positiv und negativ, Ladungen, die sich in Gewitterköpfen aufbauen, zum Boden hin entladen oder auch zugleich nach oben und unten springen, so glaube ich mich zu erinnern. Wer weiß? Kra-wumm! Das ist ein Blitz, he?«

Die weiße Welt und die grüne, die sich aneinander reiben und dann zuschnappen. Natürlich.

Auf dem Plateau nördlich der Promethei Rupes waren mehrere Zufluchtsstätten, einige davon in Wänden von Böschungen und Kraterrändern versteckt, andere einfach in Kratern unter klaren Zeltkuppeln gelegen, wo sie von keiner Polizei gesehen werden konnten. Als Cojote zum ersten Mal den Rand eines solchen hinauffuhr und sie durch das klare Zeltdach auf ein Dorf unter den Sternen schauten, war Nirgal wieder einmal erstaunt, wenn auch weniger als vorhin, über die Landschaft. Gebäude wie die Schule, das Badehaus und die Küche, Bäume, Gewächshäuser — das war alles im Grunde vertraut. Aber wie konnte man damit zurechtkommen draußen im Freien wie hier? Das war verwirrend.

Und so voller Menschen, von Fremden. Nirgal hatte theoretisch gewußt, daß in den südlichen Zufluchtsstätten viele Leute lebten, fünftausend, wie man sagte, alles besiegte Rebellen aus dem Krieg von 2061. Aber es war etwas anderes, so schnell so viele von ihnen anzutreffen und zu sehen, daß das wirklich so war. Und der Aufenthalt in den nicht versteckten Siedlungen machte ihn äußerst nervös. Er fragte Cojote: »Warum machen sie das? Warum werden sie nicht verhaftet und weggeschafft?«

»Du hast es erfaßt, Junge. Das könnte wohl sein. Aber es ist noch nicht passiert, und darum glauben sie, daß es nicht der Mühe wert ist, sich zu verstecken. Du weißt, das erfordert eine riesige Anstrengung. Man muß die ganzen Einrichtungen für Wärmeabfuhr schaffen und für elektronische Tarnung, und man muß die ganze Zeit außer Sicht bleiben. Das ist eine fürchterliche Schinderei. Und manche Leute hier unten wollen das gar nicht. Sie nennen sich die Demimonde, die Halbwelt. Sie haben Pläne dafür, wenn man sie aufspürt oder besetzt. Die meisten haben Fluchtturmeis wie den unsrigen, und manche haben sogar einige Waffen versteckt. Aber sie denken, wenn sie draußen an der Oberfläche sind, gibt es keinen Grund, sie an erster Stelle zu kontrollieren. Die Leute in Christianopolis haben der UN rundheraus erklärt, daß sie hierher gekommen sind, um das Netz loszuwerden. Aber … In diesem Punkt bin ich mit Hiroko einig. Daß einige von uns vorsichtiger sein müssen als sie. Die UN ist darauf aus, die Ersten Hundert zu erwischen, wenn du mich fragst. Und auch deren Familien, was für euch Kinder schlecht ist. Jedenfalls umfaßt die Widerstandsbewegung den Untergrund und die Demimonde. Und es ist für die verborgenen Zufluchtsstätten eine große Hilfe, die offenen Städte zu haben. Darum freue ich mich, hier zu sein. In dieser Hinsicht sind wir von ihnen abhängig.«

Cojote wurde in dieser Stadt überschwenglich begrüßt wie überall, ob es eine verborgene oder offene Siedlung war. Er ließ sich in der Ecke einer großen Garage am Kraterrand nieder und führte einen flotten Tausch von Waren durch, einschließlich Saatgut, Software, Glühlampen, Ersatzteile und kleine Maschinen. Diese gab er nach langen Beratungen mit ihren Gastgebern aus in Handelssitzungen, die Nirgal nicht verstehen konnte. Und dann, nach einem kurzen Ausflug auf den Kraterboden, wo das Dorf überraschend Zygote unter einer strahlenden Purpurkuppel ähnelte, waren sie wieder fort.

Während der Fahrten zwischen den Asylen erklärte Cojote seine Handelsbesprechungen nicht sehr ausführlich. »Ich bewahre diese Leute vor ihrem lächerlichen Begriff von Ökonomie, das ist es! Eine Wirtschaft auf der Grundlage von Geschenken ist schön und gut; sie ist aber für unsere Situation nicht hinreichend organisiert. Es gibt kritische Dinge, die ein jeder haben muß. Darum müssen die Menschen geben, was ein Widerspruch ist, nicht wahr? Darum versuche ich, ein rationales System zu entwickeln. Tatsächlich tun das Vlad und Marina, und ich versuche, es in die Tat umzusetzen, was bedeutet, daß ich den ganzen Ärger bekomme.«

»Und dieses System…«

»Nun, es ist eine zweispurige Angelegenheit, wo sie noch alles geben können, was sie wollen. Aber die Notwendigkeiten sind gegebene und korrekt verteilte Werte. Und, mein Gott! Du würdest nicht glauben, in was für Diskussionen ich da verwickelt werde. Die Menschen können solche Narren sein. Ich versuche es hinzukriegen, daß das Ganze zu einer stabilen Ökologie führt wie eines von Hirokos Systemen, worin jeder Zufluchtsort seine Nische füllt und seine Spezialität beisteuert. Und was bekomme ich dafür? Schmähungen! Radikale Schmähungen. Ich höre auf, mit der Wurst nach dem Schinken zu werfen, und sie nennen mich einen Räuberhauptmann. Ich versuche, das Hamstern zu unterbinden, und sie nennen mich einen Faschisten. Diese Toren! Was sollten sie anfangen, wenn keiner von ihnen autark ist und die Hälfte paranoid?« Er stieß einen theatralischen Seufzer aus. »Auf jeden Fall machen wir Fortschritte. Christianopolis stellt Glühlampen her, und Mauss Hyde züchtet neue Pflanzenarten, wie du gesehen hast, und Bogdanov Vishniac macht alles, was groß und schwierig ist, wie Reaktorstäbe und Tarnfahrzeuge und die meisten großen Roboter; und dein Zygote fertigt wissenschaftliche Instrumente und so weiter. Und ich verteile sie allenthalben.«

»Bist du der einzige, der das macht?«

»Beinahe. Die Leute sind eigentlich meistens selbstzufrieden, bis auf diese paar Kritiker. Sie alle bekommen Programme und Sämereien. Das sind die elementaren Erfordernisse. Und außerdem ist es wichtig, daß nicht zu viele Menschen wissen, wo sich alle die verborgenen Zufluchtsstätten befinden.«

Nirgal verdaute, was das alles zu bedeuten hatte, während sie durch die Nacht fuhren. Cojote fuhr fort über den Standard von Wasserstoffperoxid, ein neues System von Vlad und Marina. Nirgal tat sein Bestes, um zu folgen, fand es aber mühsam, entweder weil die Begriffe schwierig waren oder weil Cojote bei den meisten seiner Erklärungen über die Schwierigkeiten schwadronierte, die er in bestimmten Asylen antraf. Nirgal beschloß, Sax oder Nadia danach zu fragen, wenn er nach Hause käme, und hörte nicht mehr zu.

Das Land, durch das sie jetzt kamen, war beherrscht von Kraterringen, wobei die jüngeren die älteren überlappten und sogar begruben. »Das nennt man Sättigung mit Kratern. Sehr alter Boden.« Eine Menge der Krater hatte überhaupt keine erhabenen Ränder, sondern nur einfache flache Böden als Löcher im Boden. »Was ist aus den Rändern geworden?«

»Abgetragen.«

»Wodurch?«

»Ann sagt Eis und Wind. Sie sagt, daß im Laufe der Zeit nicht weniger als ein Kilometer von den südlichen Hochländern abgetragen wurde.«

»Das würde alles wegnehmen.«

»Aber dann würde mehr wiederkommen. Dies ist altes Land.«

Zwischen Kratern war das Land mit lockerem Gestein bedeckt, und es war unglaublich uneben. Da gab es Senken, Anstiege, Löcher, Gräben, Hügel und Täler. Nie einen Moment eben, außer an Kraterrändern und gelegentlichen niedrigen Bodenwellen, die Cojote beide als Wege benutzte, wenn er konnte. Aber die Piste, der er über diese bewegte Landschaft folgte, war immer noch gewunden; und Nirgal konnte nicht glauben, daß man sie auswendig wissen konnte. Als er das erwähnte, lachte Cojote: »Was heißt auswendig wissen? Wir haben uns verirrt.«

Aber nicht wirklich oder nicht für lange. Die Rauchfahne eines Moholes erschien über dem Horizont, und Cojote fuhr darauf zu.

Er murmelte: »Das habe ich schon die ganze Zeit gewußt. Das ist das Vishniac-Mohole. Es ist ein vertikaler Schacht von einem Kilometer Durchmesser, direkt ins Urgestein gegraben. In der Linie um den fünfundsiebzigsten Breitengrad hat man vier Moholes angefangen, von denen zwei nicht mehr besetzt sind, nicht einmal von Robotern. Vishniac ist eins davon. Es wurde von einer Gruppe Bogdanovisten übernommen, die auf seinem Grund leben.« Er lachte. »Das ist eine wundervolle Idee; denn sie können bis zum Boden in die Seitenwand graben, und da unten können sie so viel Wärme herausholen, wie sie wollen, und niemand kann sagen, daß das mehr ist als bloß ein ausgasendes Mohole. So können sie alles bauen, was sie mögen, sogar Uran für Reaktorbrennstäbe bearbeiten. Es ist jetzt eine ganze kleine Industriestadt. Auch einer meiner Lieblingsorte, bekannt für seine Parties.«

Er fuhr sie in einen der vielen kleinen Gräben, die das Land durchzogen, bremste und tastete auf seinen Schirm; und ein großer Fels schwenkte aus der Seite des Grabens heraus und gab einen schwarzen Tunnel frei. Cojote führ hinein, und die Felsentür schloß sich hinter ihnen. Nirgal hatte geglaubt, das ihn jetzt nichts mehr überraschen könnte; aber er sah mit runden Augen zu, wie sie durch den Tunnel fuhren, dessen rohe Wände eben außerhalb der Ecken des Wagens waren. Es schien für immer so weiterzugehen. »Sie haben einige Zugangstunnels gegraben, so daß das Mohole völlig unbesucht wirkt. Wir haben ungefähr zwanzig Kilometer zu fahren.«

Schließlich schaltete Cojote die Scheinwerfer aus. Der Wagen rollte in die dunkle Nacht hinaus. Sie befanden sich auf einer steilen Straße, die offenbar in Schraubenlinien an der Wand des Moholes nach unten führte. Die Lichter ihrer Instrumente waren wie kleine Laternen; und Nirgal konnte, wenn er durch sein Spiegelbild schaute, sehen, daß die Straße vier- oder fünfmal so breit war wie der Wagen. Die volle Ausdehnung des Moholes war unmöglich zu erkennen; aber nach der Krümmung der Straße konnte er schätzen, daß sie enorm war. Er fragte ängstlich: »Bist du sicher, daß wir mit der richtigen Geschwindigkeit kurven?«

Cojote sagte ärgerlich: »Ich vertraue dem Autopiloten. Es bringt Unglück, darüber zu diskutieren.«

Der Wagen rollte die Straße hinunter. Nach mehr als einer Stunde Abstieg piepte es am Instrumentenbrett, und der Wagen kurvte in die gekrümmte Felswand zu ihrer Linken. Sie fuhren in eine Garagenröhre, die an ihre äußere Schleusentür stieß.

In der Garage begrüßte sie eine Gruppe von etwa zwanzig Personen und führte sie an einer Reihe hoher Räume vorbei zu einer ausgedehnten Kaverne. Die Räume, die die Bogdanovisten des Moholes ausgegraben hatten, waren groß, viel größer als in Prometheus. Die hinteren Räume waren in der Regel zehn Meter hoch und in manchen Fällen zweihundert Meter tief. Und die Hauptkaverne konnte es selbst mit Zygote aufnehmen mit großen Fenstern, die auf das Loch führten. Als er nach der Seite durch das Fenster blickte, sah Nirgal, daß das Glas von außen wie die Steinfläche aussah. Die filternden Beschichtungen mußten wirklich raffiniert sein; denn als der Morgen anbrach, strömte das Licht sehr hell ein. Der Ausblick aus den Fenstern war durch die gegenüberliegende Wand des Moholes begrenzt und einen rundlichen Fleck des Himmels darüber. Aber die Räume wirkten dadurch wundervoll weit und hell, ein Gefühl unter dem Himmel, das Zygote nicht bieten konnte.

Während des ganzen ersten Tages wurde Nirgal von einem kleinen dunkelhäutigen Mann namens Hilali an der Hand genommen, der ihn durch Räume führte und Leute bei der Arbeit unterbrach, um ihn vorzustellen. Die Menschen waren freundlich. »Du mußt einer von Hirokos Kindern sein, nicht wahr? Oh, du bist Nirgal! Sehr erfreut, dich kennenzulernen. He John, Cojote ist hier. Heute abend gibt es eine Party!« Und sie zeigten ihm, was sie machten, und führten ihn in kleinere Räume hinter dem Mohole, wo unter hellem Licht Farmen waren und Werkstätten, die sich bis weit in den Fels hinzuziehen schienen. Und alle waren sehr warm wie in einem Badehaus, so daß Nirgal ständig schwitzte. Er fragte Hilali: »Wohin habt ihr all das herausgearbeitete Gestein gebracht?« Denn zu den Bequemlichkeiten beim Aushöhlen einer Kuppel unter der Polkappe gehörte, wie Hiroko gesagt hatte, daß das herausgeholte Trockeneis einfach in Gas verwandelt wurde.

Hilali sagte ihm: »Es säumt die Straße nahe dem Boden des Moholes.« Die Frage schien ihn zu erfreuen.

Ihm gefielen alle Fragen, die Nirgal stellte. So ging es auch allen anderen Leuten. Die Menschen in Vishniac schienen im allgemeinen glücklich zu sein, ein roher Haufen, der immer eine Party veranstaltete, um Cojotes Ankunft zu feiern — ein Vorwand neben vielen anderen, wie Nirgal annahm.

Hilali bekam auf seinem Armband einen Anruf von Cojote und führte Nirgal in ein Labor, wo sie ihm von einem Finger ein Stück Haut abnahmen. Dann gingen sie langsam wieder zu der großen Kaverne und kamen mit der Menge zusammen, die sich hinten an den Küchenfenstern aufgereiht hatte.

Nachdem man ein üppiges, würziges Mahl aus Bohnen und Kartoffeln verzehrt hatte, begann die Party in der Kaverne. Eine große undisziplinierte Steelband mit wechselnder Besetzung spielte rhythmische Staccatomelodien; und die Leute tanzten stundenlang danach, mit gelegentlichen Pausen, um einen scharfen Schnaps namens Kavajava zu trinken oder an einer Seite des Raums sich an verschiedenen Spielen zu beteiligen. Nachdem er den Kavajava gekostet und eine Tablette Omegendorph geschluckt hatte, die ihm Cojote gab, ging Nirgal hin und spielte mit der Band eine Baßtrommel. Danach setzte er sich auf einen kleinen Grashügel in der Mitte des Raums. Er fühlte sich so betrunken, daß er nicht mehr stehen konnte. Cojote hatte gleichmäßig getrunken, aber kein solches Problem. Er tanzte wild, hüpfte hoch auf Zehenspitzen und lachte. »Junge, du wirst nie die Freude deines Ge kennenlernen!« rief er Nirgal zu. »Das wirst du nie erfahren.«

Es kamen Leute vorbei und stellten sich vor. Manchmal baten sie Nirgal, seine warme Berührung vorzuführen. Eine Schar von Mädchen seines Alters legte seine Hände auf ihre Wangen, die sie mit ihren Drinks gekühlt hatten; und als er sie erwärmte, lachten sie mit runden Augen und luden ihn ein, noch andere Teile von ihnen zu wärmen. Er stand aber auf und tanzte statt dessen mit ihnen. Er fühlte sich locker und benommen und bewegte sich in kleinen Kreisen, um etwas von seiner inneren Energie loszuwerden. Als er summend wieder zu dem Grasbuckel kam, schlängelte sich Cojote herüber und setzte sich gewichtig neben ihn. »Das Tanzen bei diesem Ge ist so schön, daß ich nie genug davon bekommen kann.« Er sah Nirgal mit schiefgeneigtem Kopf an, und seine grauen Haarzotteln fielen ihm übers Gesicht. Nirgal hatte wieder den Eindruck, daß sein Gesicht irgendwie kaputt war, vielleicht durch einen gebrochenen Kinnbacken, so daß die eine Seite breiter war als die andere. Irgend etwas dieser Art. Nirgal schluckte bei dem Anblick.

Cojote faßte ihn bei der Schulter und schüttelte ihn kräftig. Er rief: »Junge, es scheint, daß ich dein Vater bin!«

»Du machst Witze!« Ein elektrischer Blitz lief Nirgal über den Rücken und das Gesicht, als die beiden sich anstarrten. Er fragte sich, wie die weiße Welt die grüne so gründlich erschüttern könnte wie ein durch das Fleisch zuckender Blitz. Sie nahmen sich fest in die Arme.

Cojote sagte: »Ich scherze nicht!«

Sie schauten sich genau an. »Kein Wunder, daß du so schlau bist.« Er lachte vergnügt. »Ah ha ha ha! Krawumm! Ich hoffe, du bist ganz in Ordnung.«

»Sicher«, sagte Nirgal grinsend, aber unbehaglich. Er kannte Cojote nicht gut; und der Begriff Vater war für ihn noch vager als der von Mutter. Darum war er seiner Gefühle nicht ganz sicher. Genetisches Erbe, gewiß, aber was war das? Sie hatten alle irgendwo ihre Gene; und die Gene von Retortenkindern waren immer transgenisch oder so, sagte man.

Aber Cojote schien erfreut zu sein, obwohl er Hiroko auf hunderterlei Arten verfluchte. »Dieses Biest, dieser Tyrann! Matriarchie ist mir schnuppe! Sie ist verrückt! Ich staune über das, was sie alles macht. Obwohl darin eine gewisse Gerechtigkeit liegt. O ja; denn Hiroko und ich waren in grauer Vorzeit ein Team, als wir noch jung und in England waren. Das ist überhaupt der Grund, weshalb ich hier auf dem Mars bin. Ein blinder Passagier in ihrem Privatraum, mein ganzes verdammtes Leben lang.« Er lachte und klopfte Nirgal wieder auf die Schulter. »Nun, Junge, du wirst später erfahren, wie dir diese Idee gefällt.«

Er ging wieder los zum Tanzen und ließ Nirgal allein, um darüber nachzudenken. Während Nirgal Cojotes Drehungen zusah, konnte er nur den Kopf schütteln. Er wußte nicht, was er denken sollte, und im Moment war das Denken an sich schon äußerst schwierig. Lieber tanzen oder ins Bad gehen.

Aber sie hatten keine öffentlichen Bäder. Er lief auf dem Tanzboden rings umher und machte daraus eine Art Tanz. Später kehrte er zu dem gleichen Buckel zurück. Dann sammelte sich um ihn eine Schar der Einwohner und auch Cojote. »He, gefällt es dir, der Vater des Dalai Lama zu sein? Bekommst du dafür keinen Namen?«

»Zur Hölle mit dir, Mann! Wie ich schon sagte, Ann meint, sie haben das Graben dieser Moholes am fünfundsiebzigsten Breitengrad eingestellt, weil die Lithosphäre hier unten dünner ist.« Cojote nickte geheimnisvoll. »Ich möchte zu einem der aufgegebenen Moholes gehen und dessen Roboter wieder in Gang setzen und sehen, ob sie tief genug graben, um einen Vulkan anzubaggern.«

Alle lachten. Aber eine Frau schüttelte den Kopf. »Wenn du das tust, werden sie hier herunterkommen, um das zu prüfen. Wenn du so etwas vorhast, solltest du nach Norden gehen und eines der Moholes bei sechzig Grad in Angriff nehmen. Auch die sind außer Betrieb.«

»Aber Ann sagt, daß die Lithosphäre dort dicker ist.«

»Gewiß, aber die Moholes sind auch tiefer.«

»Hmmm«, machte Cojote.

Und die Unterhaltung ging zu ernsthafteren Themen über, zumeist die unvermeidlichen Knappheiten und die Entwicklungen im Norden. Aber als sie am Ende der, Woche Vishniac durch einen anderen und noch längeren Tunnel verließen, wandten sie sich nach Norden, und alle früheren Pläne Cojotes waren verflogen. »Das ist die Geschichte meines Lebens, Junge.«

In der fünften Nacht, da sie über die wirren Hochlande des Südens fuhren, verlangsamte Cojote den Rover und umrundete den Rand eines großen alten Kraters, der fast bis zum Niveau der ihn umgebenden Ebene abgetragen war. An einer Fehlstelle in dem alten Rand konnte man sehen, daß der sandige Kraterboden durch ein riesiges rundes schwarzes Loch gekennzeichnet war. So etwas mußte von der Oberfläche aus wohl wie ein Mohole aussehen. Ein Wölkchen aus dünnem Reif stand ein paar hundert Meter über dem Loch, wie durch einen Zaubertrick aus dem Nichts entstanden. Der Rand des Moholes war abgeschrägt, so daß ein Betonband trichterartig unter einem Winkel von etwa fünfundvierzig Grad nach unten führte. Es war schwer zu sagen, wie groß es war, weil es wegen des Moholes nur wie ein schmaler Streifen aussah. An seinem äußeren Rand war ein hoher Drahtzaun. »Hmm«, sagte Cojote und sah aus dem Fenster. Er setzte in dem Hohlweg zurück und parkte. Dann zog er einen Schutzanzug an. »Bald zurück«, sagte er und kletterte in die Schleuse.

Für Nirgal war es eine lange, sorgenvolle Nacht. Er schlief kaum und hatte am nächsten Morgen quälende Angst, als er Cojote vor der Schleuse des Wagens erscheinen sah, kurz vor sieben Uhr, als die Sonne sich gerade anschickte aufzugehen. Er wollte sich schon über die Länge von Cojotes Verschwinden beklagen. Als der aber hereinkam und den Helm abnahm, war deutlich, daß er in schlechter Stimmung war. Während sie den Tag über so da saßen, tastete Cojote in einer intensiven Besprechung auf seinem Computer und fluchte widerlich, offenbar ohne an seinen jungen hungrigen Schutzbefohlenen zu denken. Nirgal machte sich daran, für sie beide Essen aufzuwärmen. Dann döste er unruhig dahin und erwachte, als der Rover einen Sprung nach vorn machte. Cojote sagte: »Ich werde versuchen, durch das Tor zu kommen. Eine tolle Sicherheit haben die hier bei dem Loch. Noch eine Nacht, dann müßte ich dahinter kommen.« Er wendete den Wagen und parkte auf dem gegenüberliegenden Rand. In der Abenddämmerung ging er wieder zu Fuß los.

Wieder blieb er die ganze Nacht fort; und Nirgal konnte wieder kaum schlafen. Er fragte sich, was er wohl machen sollte, wenn Cojote nicht zurückkäme.

Und in der Tat war er bei Tagesanbruch nicht zurück. Der folgende Tag war fraglos der längste in Nirgals Leben, und an dessen Ende hatte er keine Ahnung, was er tun würde. Versuchen, Cojote zu retten? Versuchen, nach Zygote oder Vishniac zurückzufahren? Zum Mohole hinuntergehen und sich selbst dem mysteriösen Sicherheitssystem überantworten, wie es auch sein mochte, das Cojote verschlungen hatte? All das schien unmöglich.

Aber eine Stunde nach Sonnenuntergang klopfte Cojote mit einem tik-tik-tik an den Wagen und war dann mit wütendem Gesicht drinnen. Er trank einen Liter Wasser und noch den größten Teil eines zweiten Liters. Dann blies er ärgerlich die Backen auf und sagte: »Laß uns hier bloß wegkommen!«

Nach einigen Stunden schweigender Fahrt wollte Nirgal das Thema wechseln oder zumindest erweitern und sagte: »Cojote, wie lange denkst du, daß wir versteckt bleiben werden?«

»Nenne mich nicht Cojote! Ich bin nicht Cojote. Cojote ist da draußen hinter den Bergen, atmet schon die Luft und tut, was er will, der Schuft. Ich — mein Name ist Desmond. Du nennst mich Desmond, verstanden?«

»Okay«, sagte Nirgal ängstlich.

»Was das anbetrifft, wie lange wir uns werden verstecken müssen, so denke ich für immer.«

Sie fuhren zurück zum Mohole Rayleigh, wo Cojote (er schien kein Desmond zu sein) zunächst hatte hingehen wollen. Dieses Mohole war wirklich aufgegeben, ein unbeleuchtetes Loch im Bergland, dessen thermische Wolke wie das Gespenst eines Denkmals darüber stand. Sie konnten direkt in den leeren, mit Sand bedeckten Parkplatz und die Garage an seinem Rand fahren, zwischen eine kleine Flotte von Robotfahrzeugen, die von Persenning und Flugsand bedeckt waren. Cojote knurrte: »Das sieht eher so aus. Wir werden einen Blick hineinwerfen. Los, zieh deinen Schutzanzug an!«

Es war eigenartig, draußen im Wind zu sein und auf dem Rand eines so enormen Dings zu stehen. Sie schauten über eine brusthohe Mauer und sahen das abgeschrägte Betonband, welches das Loch umgab und etwa zweihundert Meter nach unten reichte. Um den eigentlichen Schacht zu sehen, mußten sie etwa ein Kilometer auf einer Straße hinuntergehen, die rundum in das Betonband eingeschnitten war. Dort konnten sie endlich über den Rand der Straße in die Finsternis hinabschauen. Cojote stand direkt auf dem Rand, was Nirgal nervös machte. Er kroch auf Händen und Knien hin, um darüber zu blicken. Kein Anzeichen eines Bodens. Sie hätten ebensogut ins Zentrum des Planeten schauen können. »Zwanzig Kilometer«, sagte Cojote über das Interkom. Er hielt eine Hand über den Rand, und Nirgal tat dasselbe. Er konnte den Aufwind spüren. »Okay, sehen wir zu, ob wir die Roboter in Gang bringen können!« Und sie kletteren die Straße wieder hinauf.

Cojote hatte viele ihrer Stunden am Tag mit dem Studium alter Programme auf seinem Computer verbracht. Jetzt schaltete er sich, nachdem sie Wasserstoffperoxid aus ihrem Anhänger in zwei Robot-Behemoths auf dem Parkplatz umgepumpt hatten, in deren Kontrollpaneele ein und machte sich an die Arbeit. Als er damit fertig war, meinte er befriedigt, daß sie auf dem Boden des Mohole wie erforderlich funktionieren würden; und sie beobachteten die zwei Maschinen mit Rädern doppelt so hoch wie Cojotes Wagen, wie sie auf der gewundenen Straße nach unten rollten.

»Okay«, sagte Cojote und wurde wieder fröhlich. »Sie werden die Energie aus ihren Sonnenpaddeln benutzen, um selbst Peroxidsprengstoff herzustellen, und langsam beginnen, bis sie vielleicht auf etwas Heißes treffen. Vielleicht haben wir jetzt gerade einen Vulkanausbruch gestartet.«

»Ist das gut?«

Cojote lachte wild los. »Ich weiß nicht! Aber niemand hat das bisher gemacht, darum muß man es mindestens empfehlen.«

Sie nahmen ihre planmäßige Reise wieder auf zwischen sowohl versteckten wie offenen Zufluchtsstätten, und Cojote sagte überall: »Wir haben das Mohole Rayleigh letzte Woche in Gang gesetzt. Habt ihr schon einen Vulkanausbruch gesehen?«

Niemand hatte einen gesehen. Rayleigh schien sich wie zuvor zu verhalten. Seine Dampfwolke war ungestört. »Nun, vielleicht klappt es nicht«, sagte Cojote. »Vielleicht wird es einige Zeit erfordern. Andererseits — wenn das Mohole jetzt geschmolzene Lava am Boden hätte, wer würde das merken?«

»Wir würden es merken«, sagten die Leute. Und manche fügten hinzu: »Warum würdest du etwas so Blödes machen? Du könntest ebensogut die Transnationale Behörde anrufen und ihnen sagen, sie sollten herunterkommen, um hier nach uns zu schauen.«

Also verzichtete Cojote darauf, das zu erwähnen. Sie rollten von einem Asyl zum anderen: Mauss Hyde, Gramsci, Overhangs, Christianopolis … An jeder Haltestelle wurde Nirgal begrüßt; und oft kannten ihn die Leute schon im voraus durch seinen Ruf. Nirgal war immer wieder überrascht durch die Mannigfalt und Anzahl der Zufluchtsstätten, die zusammen ihre seltsame Welt bildeten, halb geheim und halb freiliegend. Und in dieser Welt befand sich nur ein kleiner Teil der Zivilisation des Mars. Wie müßten die Städte im Norden an der Oberfläche wohl sein? Das lag jenseits seines Fassungsvermögens, obwohl ihm schien, daß, während sich die Wunder der Reise eines nach dem anderen auftaten, sein Verständnis etwas größer wurde. Man konnte schließlich nicht vor Erstaunen explodieren.

»Gut«, pflegte Cojote zu sagen, während sie fuhren (er hatte das inzwischen Nirgal beigebracht), »vielleicht haben wir einen Vulkanausbruch gestartet, vielleicht auch nicht. Aber es war auf jeden Fall eine neue Idee. Das ist eines der größten Dinge, Junge, an diesem ganzen Marsprojekt: Es ist alles neu.«

Sie wandten sich wieder nach Süden, bis die gespenstische Wand der Polkappe über den Horizont ragte. Bald würden sie wieder daheim sein.

Nirgal dachte an alle Zufluchtsstätten, die sie besucht hatten. »Desmond, glaubst du wirklich, daß wir uns für immer verstecken müssen?«

»Desmond? Desmond? Wer ist dieser Desmond?« Cojote prustete. »O Junge, ich weiß das nicht. Das kann niemand sicher wissen. Die Menschen, die sich hier draußen verstecken, wurden in einer seltsamen Zeit hinausgedrängt, als ihre Lebensgrundlage bedroht war; und ich bin nicht sicher, ob das immer noch der Fall ist in den Städten, die sie im Norden an der Oberfläche bauen. Die Bosse auf der Erde haben vielleicht ihre Lektion gelernt, und die Leute hier oben fühlen sich behaglicher. Oder vielleicht liegt es nur daran, daß der Aufzug noch nicht wieder ersetzt wurde.«

»Es könnte also keine weitere Revolution geben?«

»Das weiß ich nicht.«

»Nicht, ehe nicht ein neuer Weltraumaufzug da ist?«

»Ich weiß es nicht. Aber der Aufzug wird kommen; und sie bauen da draußen einige große neue Spiegel. Man kann sie manchmal bei Nacht leuchten sehen oder direkt bei der Sonne. Es könnte also alles mögliche geschehen, nehme ich an. Aber eine Revolution ist ein seltenes Ereignis. Und viele Revolutionen sind ohnehin reaktionär. Siehst du, Bauern haben ihre Tradition, die Werte und Gebräuche, die ihnen erlauben, zurechtzukommen. Aber sie leben so dicht an der Kante, daß eine schnelle Veränderung sie hinunterstoßen kann. Und in solchen Zeiten geht es nicht um Politik, sondern ums Überleben. Ich habe das selbst erlebt, als ich in deinem Alter war. Nun waren die Menschen, die man hierhergeschickt hat, nicht arm. Sie hatten aber ihre eigene Tradition und waren machtlos wie die Armen. Und als der Einfluß der 2050er Jahre zuschlug, wurde ihre Tradition ausradiert. Also kämpften sie für das, was sie hatten. Und die Wahrheit ist, daß sie verloren. Man kann nicht mehr gegen die vorhandenen Kräfte kämpfen, besonders hier, weil die Waffen zu stark und unsere Asyle zu empfindlich sind. Wir müßten uns sehr gut bewaffnen oder so etwas. Wir verstecken uns; und sie überfluten den Mars mit neuen Volksmassen, mit Leuten, die an wirklich harte Bedingungen auf der Erde gewöhnt waren, so daß die Verhältnisse hier sie nicht so schwer treffen. Sie bekommen die Behandlung und sind zufrieden. Es gibt nicht mehr so viele Leute, die in die Asyle hinauszukommen suchen, wie wir es in den Jahren vor einundsechzig taten. Es gibt einige, aber nicht viele. So lange die Leute ihre Unterhaltungen haben und ihre eigene kleine Tradition, weißt du, rühren die keinen Finger.«

»Aber …«, fing Nirgal an, brach aber ab.

Cojote sah seinen Gesichtsausdruck und lachte. »He, wer weiß? Recht bald werden wir einen neuen Aufzug auf Pavonis Mons haben; und sie werden höchstwahrscheinlich ziemlich bald wieder anfangen, die Dinge völlig zu verdrehen, diese üblen Halunken. Und ihr jungen Leute werdet wohl kaum mögen, daß die Erde hier den großen Reibach macht. Wir werden sehen, wenn die Zeit kommt. Inzwischen haben wir unseren Spaß, nicht wahr? Wir lassen das Feuer nicht erlöschen.«

In dieser Nacht hielt Cojote den Wagen an und ließ Nirgal sich anziehen. Sie gingen hinaus und traten auf den Sand; und Cojote drehte Nirgal um, so daß er nach Norden blickte. »Schau auf den Himmel!«

Nirgal stand da und paßte auf. Er sah, wie ein neuer Stern in Erscheinung trat, da über dem Nordhorizont. Er wuchs in Sekunden zu einem langen Kometen mit weißem Schweif, der von Westen nach Osten flog. Als er etwa halbwegs über den Himmel gekommen war, brach der flammende Kopf des Kometen in Stücke, und helle Fragmente zerstreuten sich nach allen Richtungen und wurden schwarz.

»Einer der Eis-Asteroiden!« rief Nirgal.

Cojote knurrte: »Junge, ich kann dir sagen, das ist keine Überraschung. Nun, ich will dir etwas erzählen, das du nicht gewußt hast. Das war der Eisasteroid 2089 C. Hast du gesehen, wie der am Ende platzte? Das war ein Anfang. Sie taten das mit Absicht. Wenn man sie beim Eintritt in die Atmosphäre explodieren läßt, kann man größere Asteroiden einsetzen, ohne die Oberfläche in Gefahr zu bringen. Und das war meine Idee! Ich sagte ihnen, ich würde das selbst tun. Ich gab dem Computer in Greg’s Place einen anonymen Vorschlag ein, als ich mit ihrem Kommunikationssystem herumspielte; und sie sind darauf angesprungen. Jetzt werden sie es die ganze Zeit so machen. Es wird in jeder Saison einen oder zwei solcher Brocken geben. Dadurch wird die Luft sehr schnell dichter. Schau, wie die Sterne zittern! Auf der Erde haben sie das die ganze Nacht getan. O Junge … Das wird eines Tages auch hier geschehen. Luft, die du atmen kannst wie ein Vogel im Himmel. Vielleicht wird uns das helfen, die Ordnung auf dieser Welt zu ändern. Man kann sich bei so etwas nie sicher sein.«

Nirgal schloß die Augen und sah, wie rote Nachbilder des Eismeteors seine Augenlider trafen. Meteore wie weißes Feuerwerk, die direkt in den Mantel Löcher bohrten, Vulkane … Er drehte sich um und sah Cojote über die Ebene hüpfen. Sein Helm wirkte auf ihm merkwürdig groß, als ob er ein Mutant oder Schamane wäre, der den Kopf eines heiligen Tieres trug und wie ein Wechselbalg über den Sand tanzte. Dies war Cojote, ohne Zweifel sein Vater!


Dann hatten sie die Welt umrundet, wenn auch nur hoch in der Südhemisphäre. Die Polkappe stieg über dem Horizont auf und wuchs, bis sie unter dem Überhang aus Eis waren, der nicht mehr so groß wirkte wie zu Beginn der Reise. Sie fuhren daheim in den Hangar und stiegen aus dem kleinen Felsenwagen aus, den Nirgal in den vorangegangenen zwei Wochen so gut kennengelernt hatte, und gingen steif durch die Schleusen und den langen Tunnel in die Kuppel. Plötzlich waren sie inmitten all der vertrauten Gesichter, wurden gedrückt, getätschelt und ausgefragt. Nirgal schreckte scheu vor der Aufmerksamkeit, die er erregte, zurück, aber Cojote erzählte für ihn alle Geschichten; und er brauchte nur zu lachen und die Verantwortung für das, was sie getan hatten, abzulehnen. Wenn er seine Verwandten anschaute, wurde ihm klar, wie klein diese seine Welt wirklich war. Die Kuppel hatte weniger als fünf Kilometer Durchmesser und erhob sich um zweihundertfünfzig Meter über den Teich. Eine kleine Welt.

Nachdem er wieder daheim war, ging er im frühen Morgenlicht los und fühlte den angenehmen Biß der Luft. Er betrachtete aus der Nähe die Gebäude und Bambusunterkünfte des Dorfes in seinem Nest von Hügeln und Bäumen. Das sah alles so fremd und klein aus. Dann war er draußen auf den Dünen, ging zu Hirokos Platz, während über ihm die Möwen flogen, und machte oft halt, nur um sich alles anzusehen. Er atmete den kühlen Geruch von Tang und Salz des Strandes ein. Die tiefe Vertrautheit des Aromas löste sofort eine Million Erinnerungen aus, und er wußte, daß er wieder daheim war.

Aber seine Heimat hatte sich verändert. Oder er? Zwischen dem Versuch, Simon zu retten, und der Reise mit Cojote war er ein vom Rest abgesonderter Jüngling gewesen. Die ungewöhnlichen Abenteuer, nach denen er sich so gesehnt hatte, waren gekommen, und deren einziges Resultat war, daß er seinen Freunden entfremdet wurde. Jackie und Harmakhis hingen enger als je aneinander und wirkten wie ein Schild zwischen ihm und allen jüngeren Sansei. Nirgal erkannte rasch, daß er es eigentlich gar nicht anders hatte haben wollen. Er wollte nur wieder in die Geschlossenheit seiner kleinen Gruppe eingehen und mit seinen Verwandten eins sein.

Als er sich aber unter sie mischte, verstummten sie, und Harmakhis führte sie weg nach höchst unerfreulichen Begegnungen. So blieb Nirgal nichts anderes übrig, als sich wieder den Erwachsenen zuzuwenden, die ihn nachmittags wie ganz selbstverständlich bei sich aufnahmen. Vielleicht wollten sie ihm etwas von der rauhen Behandlung seiner Meute ersparen. Aber das hatte nur den Effekt, daß er noch mehr abgesondert wurde. Dagegen konnte man nichts machen. Eines Tages, als er mißvergnügt in dem grauen und fahlen Licht eines herbstlichen Nachmittags am Strand ging, erkannte er, daß seine Kindheit vorbei war. Das war sein Empfinden: er war jetzt etwas anderes, weder Erwachsener noch Kind, ein einsames Wesen, ein Fremder im eigenen Lande. Diese melancholische Erkenntnis verursachte ihm ein seltsames Vergnügen.

Eines Tages nach dem Frühstück blieb Jackie mit ihm und Hiroko, die an diesem Tage gekommen war, um zu unterrichten, zurück und bat, an ihrer Nachmittagsstunde teilnehmen zu dürfen. »Warum solltest du ihn unterrichten und nicht mich?«

Hiroko sagte ruhig: »Kein Grund. Bleib, wenn du willst. Hol deinen Leser und ruf auf: Thermische Technik, Seite eins null fünf null. Wir werden als Beispiel die Kuppel von Zygote zum Modell nehmen. Sagt mir, welches der wärmste Punkt unter der Kuppel ist.«

Nirgal und Jackie gingen das Problem an — im Wettstreit und dennoch Seite an Seite. Er war so froh, daß sie da war, daß er sich kaum an das Problem erinnern konnte; und Jackie hob den Finger, ehe er nur seine Gedanken darüber geordnet hatte. Und sie lachte ihn an, etwas spöttisch, aber auch vergnügt. Trotz aller enormen Veränderungen in ihnen beiden behielt Jackie jene Fähigkeit, ansteckend zu lachen, ein Lachen, von dem ausgeschlossen zu sein so schmerzlich war …

Hiroko sagte ihnen: »Hier ist eine Frage für das nächste Mal. Alle Namen für Mars in der Areophanie sind Namen, die ihm von Erdenleuten gegeben wurden. Ungefähr die Hälfte davon bedeuten in den Sprachen, denen sie entstammen, Feuerstern. Aber das ist nur ein äußerlicher Name. Die Frage ist, wie heißt der eigentliche Name des Mars selbst?«

Einige Wochen später kam Cojote wieder vorbei, was Nirgal zugleich glücklich und nervös machte. Cojote unterrichtete die Kinder an einem Morgen, behandelte Nirgal aber zum Glück so wie alle übrigen. »Die Erde ist in einem sehr schlechten Zustand«, sagte er ihnen, als sie an Vakuumpumpen der Tanks für flüssiges Natrium am Rickover arbeiteten, »und es wird nur noch schlimmer werden. Das macht ihre Kontrolle über den Mars für uns nur desto gefährlicher. Wir werden uns verstecken, bis wir uns völlig von ihnen befreien können, und dann sicher abseits stehen, während sie in Wahnsinn und Chaos versinken. Erinnert euch an meine Worte! Dies ist eine ganz sichere Prophezeiung.«

Jackie erklärte: »Das ist nicht das, was John Boone gesagt hat.« Sie verbrachte viele Abendstunden mit der Erforschung von John Boones PC und zog jetzt die Schachtel aus der Hüfttasche. Ohne das geringste Suchen nach einer Stelle sagte die freundliche Stimme aus dem Kasten: »Der Mars wird nie sicher sein, wenn die Erde es nicht auch ist.«

Cojote lachte heiser: »Ja gut, John Boone war so. Aber bedenkt, daß er tot ist, und ich bin noch da.«

»Ein jeder kann sich verstecken«, sagte Jackie scharf. »Aber John Boone ist nach hier herausgekommen und hat geführt. Darum bin ich eine Anhängerin von ihm.«

»Du bist eine Anhängerin und ein Nachkomme von Boone«, rief Cojote und neckte sie. »Und die Boonesche Algebra hat nie gestimmt. Aber schau her, Mädchen, du mußt deinen Großvater noch besser verstehen, als dich bloß eine Anhängerin von ihm zu nennen. Du kannst John Boone nicht zu einer Art Dogma machen und dem treu sein, was er war. Ich sehe, wie hier andere sogenannte Booneleute genau das tun, und es reizt mich zum Lachen, wenn ich davon nicht gerade Schaum vor dem Mund bekomme. Nun, wenn John Boone dich hier kennenlernen und auch nur eine Stunde zu dir sprechen würde, dann würde er danach ein Jackie-ist sein. Und wenn er Harmakhis träfe und zu ihm spräche, würde er ein Harmakhist werden, vielleicht sogar ein Maoist. Genau so war er nun einmal. Und du mußt sehen, daß das gut war; denn was er tat, war, daß er die Verantwortung für das Denken uns wieder auferlegte. Das hat uns gezwungen, einen Beitrag zu leisten, denn sonst könnte Boone nicht handeln. Sein Standpunkt war, daß nicht bloß ein jeder das tun könnte, sondern daß er es auch tun sollte.«

»Einschließlich aller Menschen auf der Erde«, antwortete Jackie.

»Nicht wieder so hastig!« rief Cojote. »O Mädchen, warum verläßt du nicht diese Jungen und heiratest mich auf der Stelle? Ich bekomme einen Kuß wie von dieser Vakuumpumpe, komm her!«, und er schwenkte die Pumpe auf sie zu, und Jackie stieß sie beiseite, schob ihn weg und rannte fort, nur des Spaßes halber. Sie war jetzt die schnellste Läuferin in Zygote von allen. Selbst Nirgal mit all seiner Ausdauer konnte nicht so sprinten wie sie. Und die Kinder lachten über Cojote, als er hinter ihr her hopste. Er war für einen Alten recht schnell, und er raste kreuz und quer hinter ihnen allen her, bis er schrie: »O mein Bein! Das werde ich euch heimzahlen. Ihr Jungen seid bloß eifersüchtig auf mich, weil ich euch euer Mädchen stehlen werde. Halt!«

Diese Art von Hänselei war Nirgal peinlich, und Hiroko mochte sie auch nicht. Sie sagte Cojote, er möge aufhören, aber der lachte sie nur aus. Er sagte: »Du bist diejenige, welche losgezogen ist und sich ein kleines Inzestlager geschaffen hat. Was willst du tun, sie kastrieren?« Er lachte über Hirokos finstere Miene. »Du wirst sie ziemlich bald fortgeben müssen, das ist es. Und ich könnte recht gut auch einige von ihnen gebrauchen.«

Hiroko schickte ihn weg; und bald danach war er wieder unterwegs. Und das nächste Mal, als Hiroko unterrichtete, ging sie mit allen Kindern ins Bad, und sie setzten sich auf die feuchten Kacheln am seichten Ende und ließen sich von dem dampfenden Wasser durchtränken, während Hiroko sprach. Nirgal saß dicht bei Jackies langbeinigem nackten Körper, den er so gut kannte, einschließlich all seiner dramatischen Veränderungen im letzten Jahr. Und er fand, daß er nicht imstande war, sie anzuschauen.

Seine alte nackte Mutter sagte: »Ihr wißt, wie Genetik funktioniert. Ich habe euch das selbst gelehrt. Und ihr wißt, daß viele von euch Halbbrüder und -schwestern sind, Onkel, Nichten und Vettern und so weiter. Ich bin für viele von euch Mutter oder Großmutter. Darum solltet ihr euch nicht paaren und zusammen Kinder haben. So einfach ist das, ein einfaches genetisches Gesetz.« Sie hielt die Hand hoch, wie wenn sie sagen wollte: Dies ist unser gemeinsamer Körper.

»Aber alle lebenden Wesen sind voller Viriditas«, fuhr sie fort, »der grünen Kraft, die nach außen hin gestaltet. Und so ist es normal, daß ihr einander lieben werdet, besonders jetzt, da eure Körper aufblühen. Daran ist nichts Schlechtes, ganz gleich, was Cojote sagt. Er macht auf jeden Fall nur Witze. Aber in einem hat er recht: Ihr werdet bald viele andere Menschen eures Alters kennenlernen, und die werden schließlich Freunde und Partner und mit euch gemeinsam Eltern werden, euch näherstehend als selbst eure Stammesverwandten, die ihr zu gut kennt, um sie je wie jemand anderen zu lieben. Wir sind hier alle Stücke von euch selbst. Und wahre Liebe gilt immer einem anderen.«

Nirgal richtete seine Augen mit leerem Blick fest auf die seiner Mutter. Er wußte noch genau, wann Jackie ihre Beine zusammengepreßt hatte, er hatte die kleine Veränderung der Temperatur im Wasser gespürt, wenn sie zwischen ihnen herumwirbelte. Und ihm schien, daß seine Mutter nicht recht hatte mit einigem von dem, was sie gesagt hatte. Obwohl er Jackies Körper so gut kannte, war sie ihm in vielfacher Hinsicht so fern wie jeder feurige Stern, strahlend und herrschsüchtig am Himmel. Sie war die Königin ihrer kleinen Gruppe und konnte ihn mit einem Blick vernichten, wenn sie wollte. Und das tat sie recht oft, obwohl er ihre Launen sein ganzes Leben lang studiert hatte. Darin lag mehr Fremdheit, als er bewältigen konnte. Und er liebte sie. Das wußte er genau. Aber sie erwiderte diese Liebe nicht, jedenfalls nicht auf die gleiche Art. Ebensowenig liebte sie Harmakhis auf diese Weise, dachte er, zumindest nicht mehr. Das war ein schwacher Trost. Es war Peter, den sie in der Weise beobachtete wie er sie. Aber Peter war die meiste Zeit nicht da. Also liebte sie niemanden in Zygote so, wie Nirgal sie liebte. Vielleicht war es für sie schon so, wie Hiroko gesagt hatte; und Harmakhis und der Rest waren einfach zu gut bekannt. Ihre Brüder und Schwestern, ganz gleich, welche Gene dabei beteiligt waren.

Dann stürzte eines Tages der Himmel wirklich ein. Der ganze höchste Teil der Eisschicht brach von dem CO2 weg, brach durch das Netz in den Teich und über den Strand und die ihn umgebenden Dünen. Zum Glück geschah das am frühen Morgen, als niemand da unten war. Aber die ersten Schläge und Geräusche von Zerreißen waren explosiv laut. Alle rannten an ihre Fenster und sahen den größten Teil des Falls: Die gigantischen weißen Eisbrocken fielen wie Bomben oder wirbelten herab wie hüpfende Teller. Dann explodierte die ganze Fläche des Teichs und schwappte über die Dünen.

Menschen stürmten aus ihren Zimmern; und in dem Lärm und der Panik scheuchten Hiroko und Maya die Kinder in die Schule, die ein eigenes Luftsystem besaß. Als einige Minuten vergangen waren und es schien, als ob die Kuppel halten würde, rannten Peter, Michel und Nadia durch den Schutt los. Sie vermieden und sprangen über weiße Platten um den Teich herum zum Rickover-Reaktor, um sich zu vergewissern, ob noch alles in Ordnung war. Falls nicht, würde es für sie drei ein tödliches Unternehmen sein und Lebensgefahr für jeden anderen. Nirgal konnte das Gegengestade des Teichs erkennen, das von Eisbergen übersät war. In der Luft schwirrten laut kreischende Möwen. Die drei Gestalten zwängten sich durch den schmalen, hohen Weg direkt unter dem Rande der Kuppel und verschwanden im Rickover. Jackie knabberte vor Angst an ihren Knöcheln. Bald gaben sie telefonisch einen Bericht durch. Das Eis über dem Reaktor wurde von einem besonders engmaschigen Rahmen getragen und hatte gehalten.

Also waren sie für den Moment sicher. Aber nach einigen im Dorf in einem unangenehmen Zustand von Spannung und Mißmut verbrachten Nächten offenbarte eine Untersuchung der Ursache des Einsturzes, daß die ganze Masse des Trockeneises über ihnen nur wenig eingesunken war und die von ihm zerbrochene Schicht aus Wasser-Eis durch das Netz hatte fallen lassen. Die Sublimation auf der Oberfläche der Kappe beschleunigte sich offenbar beträchtlich, seit die Luft dichter und die Welt wärmer wurde.

Während der nächsten Wochen schmolzen die Eisberge im Teich langsam; aber Eisschollen über den Dünen schmolzen auch langsam und waren noch da. Den Kindern wurde nicht mehr gestattet, an den Strand zu gehen. Man wußte noch nicht, wie groß die restliche Eisschicht war.

In der zehnten Nacht nach dem Einsturz hielten sie im Speisesaal eine Vollversammlung ab, alle zweihundert Personen. Nirgal sah sich rundum seinen kleinen Stamm an. Die Sansei wirkten erschrocken, die Nisei trotzig und die Issei erstaunt. Die Alten hatten in Zygote seit vierzehn Marsjahren gelebt, und es fiel ihnen schwer, sich an irgendein anderes Leben zu erinnern. Für die Kinder, die nie etwas anderes gekannt hatten, war es einfach unmöglich.

Es brauchte nicht gesagt zu werden, daß sie sich nicht der Oberflächenwelt ergeben würden. Und dennoch wurde die Kuppel unhaltbar, und sie waren eine zu große Gruppe, um sich einem der anderen versteckten Asyle aufzudrängen. Eine Aufteilung würde das Problem lösen. Aber das war kein erfreulicher Ausweg.

Es erforderte eine Stunde an Reden, um all dies klarzulegen. Michel sagte: »Wir könnten es mit Vishniac versuchen. Das ist groß, und die würden uns willkommen heißen.«

Aber es war das Heim der Bogdanovisten und nicht ihres. Das besagten die Gesichter der Alten. Plötzlich schien es Nirgal, daß sie von allen die größte Angst hatten.

»Ihr könntet euch weiter unter das Eis zurückziehen«, sagte er.

Alle sahen ihn an.

»Du meinst, wir sollten eine neue Kuppel schmelzen?« fragte Hiroko.

Nirgal zuckte die Achseln. Nachdem er die Idee ausgesprochen hatte, mißfiel sie ihm.

»Dort ist die Kappe dicker«, erklärte Nadia. »Es wird lange dauern, bis sie so weit sublimiert, daß wir Schwierigkeiten bekommen. Bis dahin wird sich alles geändert haben.«

Es herrschte Schweigen, und dann sagte Hiroko: »Das ist eine gute Idee. Wir können hier ausharren, bis eine neue Kuppel ausgeschmolzen ist, und dann die Sachen hinüberschaffen, soweit Raum verfügbar wird. Es sollte nur ein paar Monate dauern.«

»Shikata ga nai«, sagte Maya zynisch. Es gibt keine andere Wahl. Natürlich gab es andere Möglichkeiten. Aber ein großes neues Projekt schien ihr zu gefallen, ebenso wie Nadia. Und der Rest von ihnen sah erleichtert aus, weil sie eine Chance hatten, beisammen und verborgen zu bleiben. Die Issei hatten, wie Nirgal plötzlich sah, große Angst, exponiert zu sein. Er lehnte sich zurück und wunderte sich darüber. Er dachte an die offenen Städte, die er mit Cojote besucht hatte.

Sie benutzten Dampfschläuche, die vom Rickover Energie erhielten, um einen neuen Tunnel zum Hangar zu schmelzen, und dann einen langen Tunnel unter der Kappe, bis das Eis darüber dreihundert Meter dick war. Dort hinten fingen sie an, eine neue runde Kaverne mit Kuppel zu sublimieren und ein seichtes Bett für einen neuen Teich. Das meiste CC›2-Gas wurde eingefangen, auf Außentemperatur abgekühlt und freigesetzt. Der Rest wurde in Sauerstoff und Kohlenstoff zerlegt und für den Gebrauch aufgehoben.

Während die Aushöhlung lief, gruben sie die flachen Seitenwurzeln der großen Schneebambusse aus, hebelten sie aus dem Boden und schleppten sie auf ihrem größten Lastwagen durch den Tunnel in die neue Höhle, wobei unterwegs Blätter abgerissen wurden. Sie demontierten die Gebäude des Dorfes und bauten sie wieder auf. Die robotischen Bulldozer und Laster waren Tag und Nacht rund um die Uhr in Betrieb. Sie schöpften den abgenutzten Sand von den alten Dünen und fuhren ihn in die neue Höhle. Er enthielt zu viel Biomasse (einschließlich Simon), als daß man ihn zurücklassen könnte. Sie nahmen praktisch alles in der Schale mit. Als sie fertig waren, war die alte Höhle nur noch eine leere Blase auf dem Boden der Polkappe. Sandiges Eis oben, eisiger Sand unten. Die Luft darin war nur die Marsatmosphäre der Umgebung, 170 Millibar von zumeist Kohlendioxidgas bei 240 Kelvin. Ein dünnes Gift.

Eines Tages ging Nirgal mit Peter zurück, um einen Blick auf die alte Stelle zu werfen. Es war schockierend, das einzige Heim, das er jemals hatte, zu einer solchen Hülse reduziert zu sehen. Das ganze Eis oben zerbrochen, der ganze Sand zerwühlt, die kahlen Wurzellöcher des Dorfes wie schlimme Wunden gähnend, der Teichboden sogar von seinen Algen entblößt. Es sah klein und klapperig aus wie der Bau eines verzweifelten Tieres. Maulwürfe in einem Loch, die sich vor den Geiern verstecken, hatte Cojote gesagt. »Laß uns von hier weggehen!« sagte Peter traurig; und sie gingen zusammen durch den langen, kahlen und kaum erleuchteten Tunnel zum neuen Heim. Sie marschierten auf der Betonstraße, die Nadia gebaut hatte, und die jetzt von Fahrspuren zerpflügt war.

Die neue Kuppel wurde nach einem neuen Plan angelegt, wobei sich das Dorf von der Tunnelschleuse entfernt befand, nahe einem Fluchttunnel, der unter dem Eis weit zu einem Ausgang im oberen Chasma Australe führte. Die Gewächshäuser wurden näher bei den Laternen der Peripherie angelegt, die Kämme der Dünen waren höher als zuvor, und die Wasserversorgung befand sich dicht beim Rickover-Generator. Es gab viele kleine Verbesserungen dieser Art, so daß es keine Kopie des alten Heims wurde. Und jeden Tag waren sie so emsig mit Bauarbeiten beschäftigt, daß nicht viel Zeit blieb, viel über die Veränderung nachzudenken. Die Vormittagsstunden in der Schule waren seit dem Einsturz ausgefallen. Jetzt waren die Kinder nur noch eine wechselnde Arbeitsschar, die jedem zugeteilt wurde, der an dem betreffenden Tag am meisten Hilfe brauchte. Manchmal versuchten die Erwachsenen, die sie beaufsichtigten, ihre Arbeit zu einer Lektion zu nutzen. Hiroko und Nadia waren darin besonders gut; aber sie konnten nicht viel Zeit erübrigen und fügten nur einen erläuternden Satz den Anweisungen bei, die zu einfach waren, um überhaupt einer Erklärung zu bedürfen: das Festmachen von Wandbauteilen mit Spezialschlüsseln, das Herumschleppen von Sämaschinen und Algenbottichen in den Gewächshäusern und so weiter. Es war eben Arbeit. Sie waren ein Teil der Belegschaft, die für die Aufgabe auch so noch zu klein war, trotz der vielseitigen Roboter, die wie Rover aussahen, die man ihrer Verkleidung beraubt hatte. Und Nirgal, der umherlief und arbeitete, war meistens glücklich.

Aber einmal, als er aus dem Schulhaus kam und den Speiseraum sah anstatt der großen Stämme von Creche Crescent, haute ihn der Anblick um. Seine alte vertraute Welt war dahin, und zwar für immer. So wirkte nun einmal die Zeit. Sie gab ihm einen Stich, der ihm Tränen in die Augen trieb, und er verbrachte den Rest des Tages irgendwie betroffen und distanziert, als ob er immer einen oder zwei Schritte hinter sich selbst her hinkte. Er beobachtete alles, was geschah, bar jeder Emotion, desinteressiert, wie er es nach Simons Tod gewesen war, in die weiße Welt verbannt um einen Schritt außerhalb der grünen. Es gab kein Anzeichen, daß er je aus einem solch melancholischen Zustand wieder herauskommen würde. Und wie könnte er wissen, ob das einmal wieder so sein würde? Alle Tage seiner Jugend waren entschwunden mit Zygote. Und sie würden nie wiederkehren, und auch dieser Tag würde vorbeigehen und entschwinden. Auch diese Kuppel würde langsam sublimieren und in sich zusammenfallen. Nichts würde dauern. Worauf kam es also an? Diese Frage quälte ihn manchmal stundenlang, entzog allem den Geschmack und die Farbe. Und als Hiroko bemerkte, wie niedergeschlagen er war, und sich erkundigte, was ihm fehle, fragte er sie rundheraus. Das war das Gute an Hiroko. Man konnte sie alles fragen, einschließlich der fundamentalen Fragen: »Hiroko, warum tun wir all dies? Wenn doch auf jeden Fall alles weiß wird?«

Sie sah ihn starr an wie ein Vogel, mit zur Seite geneigtem Kopf. Er glaubte, in dieser Neigung des Kopfes ihre Zuneigung zu ihm zu erkennen, war sich aber nicht sicher. Während er älter wurde, hatte er die Empfindung, daß er sie (wie auch alle anderen) immer weniger verstünde.


»Es ist traurig, daß die alte Kuppel dahin ist, nicht wahr?« sagte sie. »Aber wir müssen uns auf das konzentrieren, was kommt. Auch das ist Viriditas. Sich nicht auf das konzentrieren, was wir geschaffen haben, sondern auf das, was wir schaffen werden. Die Kuppel war wie eine Blüte, die welkt und abfällt. Aber sie enthält den Samen einer neuen Pflanze, die wächst. Und dann gibt es neue Blüten und neuen Samen. Die Vergangenheit ist dahin. Darüber nachzudenken macht dich nur melancholisch. Nun, als kleines Mädchen lebte ich in Japan auf der Insel Hokkaido. Ja, und ich war so jung wie du. Und ich kann dir nicht sagen, wie lange das her ist. Aber wir sind hier, du und ich, umgeben von diesen Pflanzen und diesen Leuten. Und wenn du ihnen deine Aufmerksamkeit zuwendest und sie wachsen und gedeihen lassen kannst, dann gewinnen die Dinge wieder Leben. Du fühlst das kami in allen Dingen; und das ist alles, was du brauchst. Dieser Moment ist an sich alles, worin wir leben.«

»Und die alten Tage?«

Darüber lachte sie. »Du wirst erwachsen. Nun, du mußt dich von Zeit zu Zeit an die alten Tage erinnern. Die waren doch gut, nicht wahr? Du hattest eine glückliche Kindheit. Das ist ein Segen. Aber so werden auch diese Tage gut sein. Ergreif diesen Augenblick genau hier und frage dich selbst! Was fehlt jetzt? Hmmm? — Cojote sagt, daß er dich und Peter auf eine neue Reise mitnehmen möchte. Vielleicht solltest du gehen und wieder unter freien Himmel kommen. Was meinst du?«


Also wurden Vorbereitungen für eine neue Reise mit Cojote getroffen, und sie arbeiteten weiter an dem neuen Zygote, dem man informell wieder den Namen Gamete gegeben hatte. Nachts redeten die Alten in den umgezogenen Speisesälen lange über ihre Lage. Sax, Vlad und Ursula wollten — neben anderen — wieder in die Oberflächenwelt zurück. Sie konnten ihre konkrete Arbeit in den versteckten Asylen nicht richtig leisten. Sie wollten wieder zurück in den vollen Strom medizinischer Wissenschaft, des Terraformens und Bauens. Hiroko sagte: »Wir werden uns nie verstellen können. Niemand kann seine Genome ändern.«

»Es sind nicht unsere Genome, die wir verändern sollten«, sagte Sax, »sondern die Archivdaten. Das ist es, was Spencer getan hat. Er hat seine physischen Merkmale in eine neue aktenkundige Identität verwandelt.«

»Und wir haben sein Gesicht kosmetisch manipuliert«, sagte Vlad.

»Ja, aber nur minimal wegen unseres Alters, nicht wahr? Keiner von uns sieht sich noch gleich. Jedenfalls könnten wir, wenn ihr etwas Ähnliches tätet wie er, neue Identitäten annehmen.«

»Hat Spencer wirklich in alle diese Akten Zugriff bekommen?« fragte Maya.

Sax zuckte die Achseln. »Er wurde in Cairo zurückgelassen und hatte die Möglichkeit, in einige derjenigen einzudringen, die jetzt für Sicherheitszwecke benutzt werden. Das hat genügt. Ich möchte etwas Ähnliches versuchen. Laßt uns sehen, was Cojote dazu sagt. Er steht überhaupt nicht in irgendwelchen Dateien und müßte also wissen, wie er das geschafft hat.«

»Er war von Anfang an versteckt«, sagte Hiroko. »Das ist etwas anderes.«

»Nun ja, aber er könnte einige Ideen haben.«

»Wir könnten uns einfach in die Demimonde begeben«, erklärte Nadia, »und völlig außerhalb der Akten bleiben. Das möchte ich gern versuchen.«

Maya nickte.

Jede Nacht besprachen sie diese Dinge. »Nun, eine kleine Veränderung des Aussehens könnte in Ordnung gehen. Ihr wißt, Phyllis ist wieder da. Daran müssen wir denken.«

»Ich kann immer noch nicht glauben, daß sie überlebt hat. Sie muß neun Leben haben.«

»Auf jeden Fall kommen wir in zu vielen Nachrichtensendungen vor. Wir müssen vorsichtig sein.«


Eines Tages war Gamete ganz fertiggestellt. Aber Nirgal fand es nie richtig, wie sehr er sich auch auf seinen Bau zu konzentrieren bemühte. Es war nicht sein Platz.

Von einem anderen Reisenden kam die Botschaft, daß Cojote bald zurück sein würde. Nirgal fühlte, wie sich sein Puls beschleunigte. Wieder unter dem gestirnten Himmel sein, bei Nacht in Cojotes Felsenwagen von Asyl zu Asyl wandern …

Jackie sah ihn aufmerksam an, als er zu ihr darüber sprach. Und an jenem Nachmittag führte sie ihn, nachdem sie aus dem Tagewerk entlassen waren, zu den neuen hohen Dünen hinunter und küßte ihn. Als er wieder bei Besinnung war, küßte er sie wieder, und dann küßten sie sich leidenschaftlich, schmusten und berauschten sich an ihren Gesichtern. Erst knieten sie bei leichtem Nebel in einer Vertiefung zwischen zwei Dünen, dann lagen sie beieinander in einem Kokon aus ihren Daunenjacken, küßten und berührten sich, zogen sich gegenseitig die Hosen aus und schufen eine kleine Hülle aus ihrer eigenen Wärme. Sie stießen Dampf aus und ließen das Eis unter ihren Jacken knistern. All das geschah ohne Worte. Sie verschmolzen in einen starken, heißen elektrischen Strom, Hiroko und der ganzen Welt zum Trotz. So ein Gefühl war das also, dachte Nirgal berauscht, während er sich in ihr bewegte. Unter den Strähnen von Jackies schwarzem Haar schimmerten Sandkörner wie Juwelen, als ob winzige Eisblumen darin steckten. Pracht in allen Dingen.

Als sie fertig waren, krabbelten sie hoch, um über den Kamm der Düne zu blicken und sich zu vergewissern, daß niemand auf sie zukam. Dann kehrten sie in ihr Nest zurück und zogen sich wieder an wegen der Wärme. Sie kuschelten sich aneinander und küßten sich gierig ohne Eile. Und Jackie stieß ihn mit einem Finger an die Brust und sagte: »Jetzt gehören wir einander.«

Nirgal konnte nur glücklich nicken und küßte ihren Hals, das Gesicht in ihrem schwarzen Haar vergraben. »Jetzt gehörst du mir«, sagte sie.

Er hoffte aufrichtig, daß das wahr wäre. Es war so, wie er es sich gewünscht hatte, so weit er sich zurückerinnern konnte.


Aber an diesem Abend planschte Jackie im Badehaus durch das Becken, holte Harmakhis ein und drückte ihn fest an sich. Dann rückte sie etwas ab und starrte Nirgal mit einer leeren Miene an. Ihre dunklen Augen waren in ihrem Gesicht wie Löcher. Nirgal saß erstarrt im seichten Wasser und führte, wie sich sein Körper versteifte wie in Erwartung eines Schlages. Seine Hoden waren noch wund davon, daß er sich in sie ergossen hatte; und da stand sie an Harmakhis geschmiegt wie seit Monaten nicht und starrte ihn an wie ein Basilisk.

Ihn überkam eine ganz erstaunliche Regung. Er erkannte, daß dies ein Augenblick war, an den er sich sein ganzes Leben lang erinnern würde, ein entscheidender Wendepunkt, direkt hier in dem dampfenden behaglichen Bad unter dem Adlerblick der statuenhaften Maya, gegen welche Jackie einen feinen Haß hegte und die jetzt die drei scharf beobachtete, da sie etwas argwöhnte. So war das nun also. Jackie und Nirgal könnten einander gehören, und er gehörte sicher zu ihr — aber ihr Begriff von Zugehören war nicht der seine. Der Schock davon benahm ihm den Atem. Es war, als ob das Dach seines Verständnisses der Dinge zusammengebrochen wäre. Er sah sie an, verblüfft, verletzt, allmählich wütend. Sie schmuste mit Harmakhis nur um so mehr. Und er begriff. Sie hatte alle beide einkassiert! Ja, das ergab Sinn, es war sicher. Und Reull und Steve und Frantz waren ihr alle gleichermaßen ergeben. Vielleicht war das nur ein Überbleibsel ihrer Herrschaft über die kleine Gruppe, vielleicht auch nicht. Vielleicht hatte sie alle vereinnahmt. Und da Nirgal jetzt für sie ein Außenseiter war, fühlte sie sich mit Harmakhis wohler. Also war er ein Verbannter in seinem eigenen Heim und im Herzen seiner Liebe. Falls sie ein Herz hätte!

Er wußte nicht, ob irgendwelche dieser Eindrücke richtig waren, und wußte nicht, wie er das herausfinden könnte. Er war sich auch nicht sicher, ob er es überhaupt herausfinden wollte. Er stieg aus dem Bad und ging in die Herrentoilette mit dem Gefühl, daß Jackies Blick sich ihm in den Rücken bohrte und der von Maya auch.

In der Toilette erblickte er in einem Spiegel ein unvertrautes Gesicht. Er hielt an und erkannte es als sein eigenes, verzerrt durch Kummer.

Er näherte sich langsam dem Spiegel und empfand wieder die seltsame Erregung, daß sich etwas momentan durch ihn hinzog. Er starrte in das Gesicht im Spiegel und erkannte, daß er nicht das Zentrum des Universums war oder dessen einziges Bewußtsein, sondern eine Person wie alle anderen, die von anderen von außen gesehen werden, so wie er andere sah, wenn er sie anschaute. Und dieser fremdartige Nirgal im Spiegel war ein eindrucksvoller schwarzhaariger Junge mit braunen Augen, stark und unwiderstehlich, fast ein Zwilling von Jackie, mit starken schwarzen Augenbrauen und einem… einem Blick! Er wollte von alledem nichts wissen. Aber er fühlte die Kraft in seinen Fingerspitzen brennen und merkte, wie die Menschen ihn ansahen. Er begriff, daß er für Jackie eine gefährliche Macht der gleichen Art darstellen könnte, wie sie für ihn. Das würde ihre Verbindung mit Harmakhis als einen Versuch erklären, ihn fernzuhalten, ein Gleichgewicht zu wahren, ihre Macht zu bestätigen — zu zeigen, daß sie ein verbundenes Paar waren — und Rivalen. Und ganz plötzlich verließ die Spannung seine Brust, und er erbebte. Dann grinste er schief. Sie gehörten wirklich einander. Aber er war immer noch er selbst.


Als also Cojote aufkreuzte und Nirgal bat, ihn auf einer neuen Fahrt zu begleiten, stimmte er sofort zu, sehr dankbar für diese Gelegenheit. Der Anflug von Ärger auf Jackies Gesicht, als sie die Nachricht hörte, war schmerzlich zu sehen. Aber ein anderer Teil von ihm jubelte über sein Anderssein, über seine Fähigkeit, ihr zu entrinnen oder zumindest einige Distanz zu bekommen. Rivalen oder nicht — er brauchte das.


Ein paar Abende später fuhren er und Cojote mit Peter und Michel von der riesigen Masse der Polkappe fort in das zerwühlte Land, schwarz unter seiner Decke von Sternen.

Nirgal blickte zurück auf die helle weiße Klippe mit einer wilden Mischung aus Gefühlen. Aber Erleichterung dominierte. Da hinten würden sie immer tiefer unter das Eis bohren, bis sie in einer Kuppel unter dem Südpol lebten. Indessen wirbelte die rote Welt wild durch den Kosmos, unter den Sternen. Plötzlich verstand er, daß er nie wieder unter der Kuppel leben würde und nie zurückkehren, außer für kurze Besuche. Das war keine Sache der Wahl, sondern einfach die Art, wie es geschehen würde. Sein Schicksal oder seine Bestimmung. Er fühlte es wie einen roten Stein in der Hand. Von nun an würde er heimatlos sein, sofern nicht eines Tages der ganze Planet sein Heim werden würde. Jeder Krater und jede Schlucht ihm vertraut, jede Pflanze, jeder Stein, jede Person — alles in der grünen Welt und in der weißen. Aber das (eingedenk des Sturms, den er vom Rande der Promethei Rupes gesehen hatte) war ein Unterfangen, das viele Leben beschäftigen würde. Er mußte anfangen zu lernen.

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