Asteroiden mit elliptischen Bahnen, die die Marsbahn kreuzen, rechnet man der Amor-Gruppe zu. Kommen sie der Sonne gar näher als die Erde, spricht man von einer ApolloGruppe. Im Jahre 2088 kreuzte der als 2034 B bekannte Asteroid die Marsbahn etwa achtzehn Millionen Kilometer hinter dem Planeten; und bald danach dockte eine Gruppe robotischer Landevehikel vom Erdmond Luna kommend auf ihm an. 2034 B war eine rohe Kugel von etwa fünf Kilometern Durchmesser mit einer Masse von ungefähr fünfzehn Milliarden Tonnen. Als die Raketen dort landeten, wurde er New Clarke genannt.
Schnell wurde eine Veränderung deutlich. Einige Vehikel senkten sich auf die staubige Oberfläche des Asteroiden und fingen an zu bohren, auszuheben, zu stampfen, zu sortieren und zu befördern. Ein Kernkraftwerk kam hinzu, Brennstäbe wurden in Stellung gebracht. An einer anderen Stelle wurden Öfen angeheizt und robotische Heizer zum Schaufeln eingeschaltet. Auf anderen Landern öffneten sich Frachtbuchten, aus denen Roboter auf die Oberfläche stelzten und sich an den unregelmäßigen Steinflächen verankerten. Tunnelbohrer drangen ein. Staub flog um den Asteroiden herum in den Weltraum, fiel zurück oder entwich für immer. Lander steckten Rohre zusammen. Das Gestein des Asteroiden war kohlenstoffhaltiger Chondrit, mit einem guten Anteil an Wasser-Eis in Adern und Blasen durchsetzt. Bald begann die kombinierte Kette von Fabriken in den Landern mannigfache Materialien auf Kohlenstoffbasis und etliche Verbindungen zu produzieren. Schweres Wasser, das zu einem Sechstausendstel im Wasser-Eis des Asteroiden enthalten war, wurde ausgesondert. Aus ihm wurde Deuterium hergestellt. Aus den Karbonverbindungen wurden Teile angefertigt; und andere Teile, die mit einem anderen Frachter herbeigeschafft worden waren, wurden mit den neu in den Fabriken hergestellten zusammengefügt. Es erschienen neue Roboter, die größtenteils aus dem Material von Clarke angefertigt worden waren. Und so wuchs die Anzahl der Maschinen, während Computer in den Landern die Schaffung eines ganzen Industriekomplexes leiteten.
Danach war der Prozeß viele Jahre lang recht einfach. Die Hauptfabrik auf New Clarke stellte ein Kabel aus Karbonfilamenten von Nanorohren her. Diese Nanorohre bestanden aus Kohlenstoffatomen, die zu Ketten verbunden waren, so daß die sie zusammenhaltenden Kräfte so stark waren, wie Menschen sie überhaupt herstellen konnten. Die Filamente waren nur einige Dutzend Meter lang, aber mit überlappenden Enden gebündelt. Dann wurden diese Bündel ihrerseits gebündelt, bis das Kabel einen Durchmesser von neun Metern hatte. Die Fabriken stellten die Filamente her und bündelten sie mit Geschwindigkeiten, die gestatteten, das Kabel mit ungefähr hundert Metern in der Stunde herauszuziehen, zehn Kilometern am Tag, Tagfür Tag, Jahr um Jahr.
Während sich dieser dünne Strang aus gebündeltem Kohlenstoffin den Raum hinzog, bauten Roboter auf einer anderen Fläche des Asteroiden einen Massentreiber, eine Maschine, die das Deuterium aus dem Wasser am Ort benutzte, um zermalmtes Gestein des Asteroiden mit einer Geschwindigkeit von zweihundert Kilometern in der Sekunde fortzuschleudern. Rings um den Asteroiden wurden auch kleinere Maschinen und konventionelle Raketen gebaut und mit Treibstoffversehen. Sie warteten auf die Zeit, daß sie gezündet wurden und die Funktion von Steuerdüsen übernehmen konnten. Andere Fabriken bauten lange Räderfahrzeuge, die an dem wachsenden Kabel hin und her laufen konnten. Und als das Kabel aus dem Asteroiden hinauszuragen begann, wurden kleine Raketen und andere Maschinen daran befestigt.
Der Massentreiber feuerte. Der Asteroid fing an, sich in eine neue Bahn zu bewegen.
Es vergingen Jahre. Die neue Bahn des Asteroiden schnitt die Bahn des Mars so, daß er sich ihm bis auf zehntausend Kilometer näherte. Und die Sammlung von Raketen auf dem Asteroiden feuerte so, daß die Schiverkraft des Mars ihn in eine zunächst stark elliptische Bahn einfing. Die Düsen feuerten ab und zu weiter und regelten den Orbit. Das Kabel trat immer weiter heraus. Es vergingen weitere Jahre.
Etwas über ein Jahrzehnt, nachdem die ersten Lander den Boden berührt hatten, war das Kabel ungefähr dreißigtausend Kilometer lang. Die Masse des Asteroiden betrug etwa acht Milliarden Tonnen, und die Kabelmasse lag bei sieben Milliarden. Der Asteroid befand sich in einer elliptischen Bahn mit einer Periapsis von rund fünfzigtausend Kilometern. Aber jetzt fingen alle Raketen und Massentreiber sowohl auf New Clarke wie auf dem Kabel selbst an zu feuern — manche ständig, aber die meisten stoßweise. Einer der stärksten je hergestellten Computer saß in einer Frachtbucht und koordinierte die Daten von Sensoren und bestimmte, welche Raketen wann zu feuern hatten. Das Kabel, das um diese Zeit vom Mars weg zeigte, fing an, auf ihn zuzuschwingen wie im Zapfenwerk einer kunstvollen Uhr. Der Orbit des Asteroiden wurde kleiner und regelmäßiger.
Auf New Clarke landeten zum ersten Mal seit jenem ersten Kontakt weitere Raketen, und Roboter darin begannen mit dem Bau eines Raumhafens. Die Spitze des Kabels fing an, sich auf den Mars hinabzusenken. Hier stieg die Komplexität des Computers zu einer fast metaphysischen Höhe an; und der gravitative Tanz von Asteroid und Kabel mit dem Planeten wurde immer exakter und bewegte sich zu einer Musik, die ständig langsamer wurde, so daß auch die Bewegungen des großen Kabels, je näher es seiner richtigen Position kam, immer langsamer wurden. Wenn jemand imstande gewesen wäre, dieses Schauspiel im vollen Umfang zu beobachten, dann hätte es ausgesehen wie eine eindrucksvolle Demonstration von Zenons Paradoxon, in welchem der Läufer sich der Ziellinie in immer halbierten Distanzen nähert… Aber niemand hat je das volle Schauspiel gesehen, denn kein Zeuge verfügte über die erforderlichen Sinne. Im Verhältnis gesehen war das Kabel viel dünner als ein Haar. Wäre es auf den Durchmesser eines Haares verkleinert worden, hätte es immer noch eine Länge von Hunderten von Kilometern gehabt. Und so war es nur auf kurze Strecken seiner vollen Länge sichtbar. Man könnte vielleicht sagen, daß der Computer, der es dirigierte, den vollsten Eindruck von ihm hatte. Für Beobachter unten auf der Oberfläche des Mars in der Stadt Sheffield auf dem Vulkan Pavonis Mons, dem ›Pfauenberg‹, erschien das Kabel erstmals wie eine sehr kleine Rakete, die mit einer sehr dünnen, daran befestigten Halteleine herunterkam. So etwas wie ein heller Köder und eine feine Angelschnur, die von irgendwelchen Göttern im nächsten Universum gehalten wurde. Aus dieser Perspektive eines Meeresbodens folgte das Kabel seiner Leitlinie nach unten in den massiven Betonbunker östlich von Sheffield mit quälender Langsamkeit, bis die meisten Leute einfach aufhörten, den vertikalen schwarzen Strich in der oberen Atmosphäre zu beachten.
Aber es kam der Tag, da das untere Ende des Kabels Düsen zündete, um in den Böen seine Position zu halten, sich in das Loch im Dach des Betonbunkers senkte und in seinem Haltering festmachte. Jetzt wurde das Kabel unterhalb des areosynchronen Punktes durch die Gravitation des Mars nach unten gezogen, während der oberhalb davon gelegene Teil bestrebt war, New Clarke in zentrifugalem Flug vom Planeten zu folgen. Und die Karbonfasern des Kabels hielten die Zugkraft aus, und der ganze Apparat rotierte mit der gleichen Geschwindigkeit wie der Planet. Er stand über Pavonis Mons in einer oszillierenden Vibration, durch die er Deimos ausweichen konnte. Das Ganze wurde noch von dem Computer auf New Clarke kontrolliert und die lange Reihe der auf der Karbonsträhne angebrachten Raketen.
Der Aufzug war wieder da. Auf der einen Seite des Kabels wurden Wagen von Pavonis hochgezogen und andere von New Clarke heruntergelassen. Sie bildeten ein Gegengewicht, so daß diefür beide Operationen erforderliche Energie erheblich gemindert wurde. Raumschiffe legten am Raumhafen von New Clarke an, und wenn sie ihn verließen, wurde ein Schleudermanöver ausgeführt. Die Gravitationssenke des Mars wurde dadurch wesentlich verringert und sein ganzer Verkehr mit der Erde und dem übrigen Sonnensystem weniger kostspielig. Es war, als ob eine Nabelschnur wieder angebracht worden wäre.
Er stand in der Mitte eines vollkommen geregelten Lebens, als man ihn einzog und zum Mars schickte.
Die Anweisung kam in Form eines Fax, das aus seinem Telefon erschien in dem Apartment, das Art Randolph erst im Monat zuvor gemietet hatte, nachdem er und seine Frau sich für eine Trennung auf Probe entschieden hatten. Das Fax war kurz:
»Lieber Arthur Randolph: William Fort lädt Sie zu einem privaten Seminar ein. Ein Flugzeug wird San Francisco Airport um 09.00 verlassen am 22. Februar 2201.«
Art starrte das Papier erstaunt an. William Fort war der Gründer von Praxis, der Transnationalen, die seine Gesellschaft einige Jahre zuvor erworben hatte. Fort war sehr alt, und seine Stellung in der Transnationalen war, wie man sagte, so etwas wie die eines halb pensionierten Emeritus. Aber er hielt immer noch private Seminare ab, die allgemein bekannt waren, obwohl es nur sehr wenig konkrete Information über sie gab. Es hieß, daß er Leute aus allen Tochtergesellschaften der Transnat einlüde, daß sie sich in San Francisco trafen und mit einem Privatjet zu einem geheimen Ort geflogen wurden. Niemand wußte, was dort geschah. Leute, die teilnahmen, wurden gewöhnlich danach versetzt, und falls nicht, hielten sie den Mund in einer Weise, die einen zögern ließ. Es war also ein Geheimnis.
Art war über die Einladung überrascht, beunruhigt, aber doch im Grunde erfreut. Vor seiner Einstellung war er Mitbegründer und technischer Direktor einer kleinen Firma namens Dumpmines gewesen, die das wertvolle Material barg, das man in einer verschwenderischeren Zeit weggeworfen hatte. Es war eine Überraschung gewesen, daß Praxis sie aufgekauft hatte, eine sehr angenehme Überraschung, da ein jeder in Dumpmines von der Beschäftigung bei einer kleinen Firma zur Volontärmitgliedschaft in einer der reichsten Organisationen in der Welt überging. Er wurde mit ihren Aktien bezahlt, stimmte bei ihrer Politik mit und war frei, alle ihre Hilfsmittel in Anspruch zu nehmen.
Art war gewiß erfreut gewesen, und auch seine Frau, obwohl diese auch gejammert hatte. Sie selbst war von der Leitung Mitsubishis angestellt; und die großen Transnationalen waren, wie sie sagte, wie getrennte Welten. Da sie beide für verschiedene arbeite — ten, drifteten sie unvermeidlich auseinander, noch mehr, als es schon geschehen war. Keiner von ihnen brauchte noch den anderen zur Erlangung von Langlebigkeitsbehandlungen, welche die Transnats zuverlässiger besorgten als die Regierung. Und so waren sie wie Menschen auf verschiedenen Schiffen, sagte sie, die aus der Bucht von San Francisco in unterschiedliche Richtungen ausliefen. Wirklich wie Schiffe, die sich nachts begegnen.
Art hatte geglaubt, daß sie zwischen Schiffen hätten kommunizieren können, wenn seine Frau sich nicht so sehr für einen anderen ihrer Passagiere interessiert hätte, einen Vizepräsidenten von Mitsubishi, dem die ostpazifische Entwicklung unterstand. Aber Art war schnell in das Schlichtungsprogramm von Praxis aufgenommen worden und reiste häufig umher, um Vorträge zu halten oder in Disputen zwischen verschiedenen kleinen Tochtergesellschaften von Praxis Gutachten zu erstellen, die mit der Bergung von Ressourcen beschäftigt waren. Und wenn er gerade in San Francisco war, war Sharon sehr selten zu Hause. Ihre Schiffe bewegten sich aus Rufdistanz auseinander, hatte sie gesagt; und er war zu zermürbt, um das zu bestreiten, und war auf ihren Vorschlag hin ausgezogen. Man hätte sagen können — hinausgeworfen.
Jetzt rieb er sich ein dunkles unrasiertes Kinn und las das Fax zum vierten Mal. Er war ein großer Mann, kräftig gebaut mit einer Tendenz zur Schlappheit — ›plump‹ hatte ihn seine Frau genannt, während seine Sekretärin bei Dumpmines ihn ›bärenhaft‹ nannte, was ihm lieber war. Er hatte tatsächlich die etwas ungeschlachte und watschelnde Erscheinung eines Bären, aber auch dessen überraschende Schnelligkeit und Kraft. Er hatte an der Universität Washington Schlußmann gespielt, langsam zu Fuß, aber entschlossen in der Richtung und sehr schwer zu fällen. ›Bärenmann‹ hatte man ihn genannt. Wer ihn angreift, tut das auf eigene Gefahr.
Er hatte Ingenieurwissenschaften studiert und danach in den Ölfeldern von Iran und Georgien gearbeitet, wobei er einige Neuerungen entwickelt hatte, um Öl aus sehr magerem Schiefer herauszuholen. Er hatte einen Magistergrad von der Universität Teheran während seiner Tätigkeit erworben, war dann nach Kalifornien gezogen und hatte sich mit einem Freund zusammengetan, der eine Firma gründete, die Tiefseetauchgeräte für Offshore-Ölbohrungen herstellte, ein Unternehmen, das in immer tieferes Wasser vordrang, als zugänglichere Vorräte erschöpft waren. Art hatte eine Anzahl von Verbesserungen an Tauchgerät und Unterwasserbohrern erfunden. Aber einige Jahre, die er in Druckkammern und auf dem Kontinentalsockel verbracht hatte, genügten ihm, und er hatte seine Anteile an seinen Partner verkauft und war wieder umgezogen. In rascher Folge hatte er eine Gesellschaft für den Bau von Habitaten in kaltem Milieu gegründet, für eine Firma mit Sonnenpaddeln gearbeitet und Raketenstartgerüste gebaut. Jeder Job war fein gewesen, aber als die Zeit verging, hatte er herausgefunden, daß nicht die technischen Probleme ihn wirklich interessierten, sondern die menschlichen. Er beschäftigte sich immer mehr mit Projektmanagement und kam dann zur Gutachtertätigkeit. Er liebte es, sich in Argumente zu stürzen und sie zu jedermanns Befriedigung zu lösen. Das war Ingenieurwesen einer anderen Art, anspruchsvoller und ausfüllender als der mechanische Kram und auch schwieriger. Einige Gesellschaften, für die er in jenen Jahren arbeitete, waren Teile von Transnationalen; und er wurde in Gutachten über Grenzgebiete nicht nur zwischen seinen Firmen und anderen in den Transnationalen verwickelt, sondern auch in entlegenere Dispute, die eine Art von Urteil als dritte Partei erforderten. Er nannte das Sozialingenieurarbeit und fand es faszinierend.
Darum hatte er, als Dumpmines startete, die technische Leitung übernommen und einige gute Arbeit geleistet an ihren Super-Rathjes, den gigantischen Robotervehikeln, die die Extraktion und Sortierung vor Ort besorgten. Aber mehr denn je beteiligte er sich an Labordiskussionen und dergleichen. Dieser Trend in seiner Karriere hatte sich nach der Einstellung durch Praxis beschleunigt. Und an Tagen, da eine solche Arbeit gut verlief, kam er immer nach Hause in der Erkenntnis, daß er Richter oder Diplomat hätte werden sollen. Ja — im Herzen war er Diplomat.
Das verwirrte ihn insofern, als es ihm nicht gelungen war, mit seiner Ehe zurechtzukommen. Und ohne Zweifel war das Zerwürfnis Fort bekannt, oder wer immer zu dessen Seminar eingeladen hatte. Es war sogar möglich, daß man sein altes Apartment verwanzt und die unerfreulichen Zustände zwischen ihm und Sharon mitgehört hatte, die für keinen von beiden schmeichelhaft gewesen sein dürften. Er fuhr bei diesem Gedanken zusammen, rieb sich immer noch sein unrasiertes Kinn, ging ins Bad und stellte den tragbaren Wassererhitzer an. Das Gesicht im Spiegel wirkte etwas niedergeschlagen. Unrasiert, fünfzig, getrennt, den größten Teil seines Lebens in falscher Tätigkeit, gerade erst mit seiner wahren Berufung beginnend — das war nicht die Person, von der er annahm, die von William Fort Faxe erwarten durfte, sagte er sich.
Seine Frau oder Exfrau rief an und war ebenso erstaunt. »Das muß ein Irrtum sein«, erklärte sie rundheraus, als Art ihr davon erzählte.
Sie hatte angerufen wegen einer ihrer Kameralinsen, die jetzt fehlte. Sie vermutete, daß Art sie mitgenommen hätte, als er auszog. Art sagte: »Ich werde mich danach umsehen.« Er ging zum Schrank und schaute in seine beiden noch nicht ausgepackten Koffer. Er wußte, daß die Linse nicht drin war, wühlte aber geräuschvoll beide durch. Sharon würde merken, wenn er versuchen sollte, das vorzutäuschen. Während er suchte, sprach sie im Telefon weiter. Ihre Stimme erklang schwach durch das leere Apartment. »Das zeigt bloß, wie drollig dieser Fort ist. Du sollst zu einem Shangri-La kommen, und er wird Kleenex-Schachteln für die Schuhe benutzen und Japanisch sprechen; und du wirst seinen Krempel sortieren und lernen, in der Luft zu schweben, und ich werde dich nie wiedersehen. Hast du die Linse gefunden?«
»Nein. Sie ist nicht hier.« Als sie sich getrennt hatten, hatten sie ihren gemeinsamen Besitz geteilt. Sharon hatte ihr Apartment bekommen, das Unterhaltungszentrum, die Desktopanlage, die Kameras, die Pflanzen, das Bett und alle übrigen Möbel. Art hatte die TeflonBratpfanne erhalten. Keine seiner besten Entscheidungen. Aber es bedeutete, daß er jetzt nur sehr wenige Stellen hatte, wo er nach der Linse suchen konnte.
Sharon konnte einen einzigen Seufzer zu einem gedrängten Vorwurf machen. »Sie werden dir Japanisch beibringen, und wir werden dich nie wiedersehen. Was könnte William Fort von dir wollen?«
»Vielleicht Eheberatung?« sagte Art.
Viele Gerüchte über Forts Seminare erwiesen sich als zutreffend, was Art erstaunlich fand. Auf dem Internationalen Flughafen von San Francisco stieg er in einen großen starken Privatjet mit sechs weiteren Männern und Frauen, und nach dem Start wurden die Fenster, die offenbar doppelt polarisiert waren, schwarz und die Tür zum Cockpit geschlossen. Zwei Mitpassagiere Arts spielten Orientierung; und nachdem das Flugzeug mehrmals leicht nach links und rechts gekippt war, waren sie übereinstimmend der Ansicht, daß sie in irgendeiner Richtung zwischen Südwest und Nord flogen. Alle sieben tauschten Information aus. Sie waren alle technische Manager oder Gutachter aus dem großen Netz von Praxisgesellschaften. Sie waren aus der ganzen Welt nach San Francisco eingeflogen worden. Manche schienen darüber aufgeregt zu sein, daß man sie eingeladen hatte, den exklusiven Gründer der Transnationalen zu treffen. Andere waren besorgt.
Der Flug währte sechs Stunden; und die um Orientierung bemühten Passagiere schätzten während des Absteigens die äußerste Grenze ihres Ortes ab. Das war ein Kreis, der Juneau, Hawaii, Mexico City und Detroit umfaßte, obwohl er auch noch größer sein konnte, wie Art bemerkte, falls sie sich in einem der neuen Luft-Weltraum-Jets befänden. Dann könnte es die halbe Erde sein. Als der Jet landete und hielt, wurden sie durch eine kleine Passage zu einem großen Lieferwagen mit verdunkelten Scheiben geführt. Zwischen ihnen und dem Fahrersitz war eine fensterlose Schranke. Ihre Türen wurden von außen verschlossen.
Die Fahrt dauerte eine halbe Stunde. Dann hielt der Wagen, und sie wurden vom Fahrer hinausgelassen, einem älteren Mann in Shorts und einem T-Shirt mit Bali-Reklame.
Sie blinzelten ins Sonnenlicht. Sie waren nicht auf Bali. Sie standen auf einem kleinen asphaltierten Parkplatz, umgeben von Eukalyptusbäumen, auf dem Boden eines kleinen Tals an der Küste. Ein Ozean oder sehr großer See lag ungefähr eine Meile entfernt im Westen. Es war nur ein kleiner Streifen davon zu sehen. Ein Bach lief durch das Tal und zu einer Lagune hinter einem Strand. Die Seitenwände des Tals waren auf der Südseite von trockenem Gras bedeckt und Kakteen im Norden. Die Bergkämme darüber waren kahler brauner Fels. »Baja?« vermutete einer der Orientierungsleute. »Ecuador? Australien?«
»San Luis Obisco?« sagte Art.
Ihr Fahrer führte sie zu Fuß über eine schmale Straße zu einem kleinen umzäunten Grundstück, auf dem sieben zweistöckige Holzhäuser zwischen Küstenpinien auf dem Talboden beieinander standen. Zwei Gebäude am Bach waren Wohnhäuser; und nachdem sie ihr Gepäck in zugewiesenen Zimmern darin abgelegt hatten, führte der Fahrer sie zu einem Speisesaal in einem anderen Gebäude, wo ein halbes Dutzend Küchenangestellte, alle recht betagt, ihnen ein schlichtes Mahl aus Salat und Eintopf vorsetzten. Danach wurden sie wieder in die Wohnhäuser gebracht und sich selbst überlassen.
Sie versammelten sich in einem zentralen Raum um einen Holzofen. Draußen war es warm, und in dem Ofen brannte kein Feuer.
Der Orientierungsmensch namens Sam sagte: »Fort ist hundertzwölf. Und die Behandlungen haben sein Gehirn nicht beeinflußt.«
»Das tun sie nie«, sagte Max, der andere Orientierungsmensch.
Sie diskutierten einige Zeit über Fort. Sie alle hatten Dinge gehört; denn William Fort war eine der großen Erfolgsgeschichten in der Geschichte der Medizin, der Pasteur ihres Jahrhunderts. Der Mann, der den Krebs besiegte, wie die medizinischen Packungen etwas inkorrekt verkündeten. Der Mann, der den ordinären Schnupfen bezwang. Er hatte im Alter von vierundzwanzig Jahren Praxis gegründet, um einige bahnbrechende Neuerungen gegen Viren zu vermarkten, und war mit siebenundzwanzig Multimilliardär. Danach hatte er seine Zeit damit verbracht, Praxis zu einer der größten Transnationalen der Welt zu machen. Achtzig Jahre ständiger Metastasen, wie Sam es formulierte. Während er persönlich sich in eine Art von Ultra-Howard-Hughes verwandelte, so sagte man, und immer noch mächtiger wurde, bis er wie ein Schwarzes Loch völlig in dem Ereignishorizont seiner Macht verschwand. Max sagte: »Ich hoffe nur, daß er nicht zu geisterhaft wird.«
Die anderen Teilnehmer — Sally, Amy, Elizabeth und George — waren optimistischer. Aber sie alle waren gespannt auf ihre persönliche Begrüßung oder das Fehlen einer solchen. Und als im ganzen weiteren Verlauf des Abends niemand kam, um sie aufzusuchen, zogen sie sich besorgt in ihre Zimmer zurück.
Art schlief wie immer gut und wachte am Morgen bei dem leisen Ruf einer Eule auf. Der Bach gurgelte unter seinem Fenster. Es war noch graue Dämmerung und die Luft erfüllt von dem Nebel, der die Küstenpinien nährte. Von irgendwo her aus dem Grundstück kam ein klopfendes Geräusch.
Er zog sich an und ging hinaus. Alles war triefend naß. Unten auf schmalen flachen Terrassen wuchsen Reihen von Kopfsalat und Spalieräpfeln, die so fest an Gestelle gebunden waren, daß sie nur ausgefächerte Büsche bildeten.
Als Art zum unteren Ende der kleinen Farm jenseits der kleinen Lagune kam, bekamen die Dinge allmählich Farbe. Dort war ein Rasen wie ein Teppich unter einer großen alten Eiche ausgebreitet. Art fühlte sich von dem Baum angezogen und ging zu ihm hinüber. Er berührte seine rauhe, rissige Borke. Dann hörte er Stimmen. Auf einem Weg an der Lagune kam eine Reihe von Leuten entlang, die schwarze Wasserschutzanzüge und Surfbretter oder lange, zusammengefaltete Schwingen trugen. Als sie vorbeikamen, erkannte er die Gesichter der Küchenmannschaft vom vorigen Abend und auch ihren Fahrer. Dieser winkte und ging weiter. Art ging zur Lagune hinunter. Das leise Geräusch von Wellen murmelte in der salzigen Luft, und Vögel schwammen im Schilf.
Nach einer Weile ging Art wieder den Pfad hoch und traf im Speisesaal der Siedlung die ältlichen Arbeiter wieder in der Küche an, wie sie Pfannkuchen schwenkten. Nachdem Art und die übrigen Gäste gespeist hatten, führte sie der Fahrer die Treppe hinauf in einen großen Versammlungsraum. Sie nahmen auf Couchen Platz, die in einem Quadrat angeordnet waren. Große Aussichtsfenster in allen vier Wänden ließen viel von dem grauen Licht des Morgens ein. Der Fahrer saß zwischen zwei Couchen auf einem Stuhl. Er sagte: »Ich bin William Fort. Ich freue mich, daß Sie alle hier sind.«
Er war bei näherer Betrachtung ein seltsam aussehender alter Mann. Sein Gesicht war runzlig wie von hundert Jahren der Angst, aber die Miene, die es laufend zeigte, war heiter und gelöst. Wie ein Schimpanse mit Laborerfahrung, der jetzt Zen studiert, dachte Art. Oder bloß ein sehr alter Surfer oder Gleitflieger, verwittert, kahl und stupsnäsig. Jetzt musterte er sie einem nach dem andern. Sam und Max, die ihn als Fahrer und Koch nicht beachtet hatten, sahen unbehaglich aus; aber er schien davon keine Notiz zu nehmen. Er sagte: »Ein Anzeichen dafür, wie voll die Welt von Menschen und deren Aktivitäten ist, ist die prozentuale Verwendung des Nettoprodukts der bodenständigen Photosynthese.«
Sam und Max nickten, als ob das die übliche Art wäre, eine Versammlung zu eröffnen.
»Darf ich mir Notizen machen?« fragte Art.
»Bitte«, sagte Fort. Er zeigte auf den Kaffeetisch in der Mitte des Quadrats aus Couchen, der von Papieren und Textgeräten bedeckt war. »Ich möchte später einige Spiele veranstalten, darum sind hier Textgeräte und Notizblöcke, ganz wie Sie mögen.«
Die meisten hatten ihre eigenen Lesegeräte mit; und es gab ein kurzes stilles Durcheinander und Gelaufe, als sie sie holten. Inzwischen stand Fort auf und ging hinter ihren Couchen im Kreis herum, wobei er bei jeder Runde ein paar Sätze sprach.
Er sagte: »Wir nutzen jetzt ungefähr achtzig Prozent des Nettoprimärprodukts bodengebundener Photosynthese. Hundert Prozent sind wahrscheinlich unmöglich zu erreichen. Und unsere Kapazität auf weite Sicht wurde auf dreißig Prozent geschätzt, so daß wir massiv übers Ziel hinausschießen, wie man sagt. Wir haben unser natürliches Kapital liquidiert, als ob es ein verfügbares Einkommen wäre, und nähern uns der Erschöpfung gewisser Grundvorräte wie Öl, Holz, Boden, Metalle, Süßwasser, Fisch und Vieh. Das macht eine kontinuierliche ökonomische Expansion schwierig.«
Schwierig! schrieb Art. Kontinuierlich?
»Wir müssen fortfahren«, sagte Fort und warf Art einen scharfen Blick zu, der sein Notizgerät unauffällig mit dem Arm abdeckte. »Kontinuierliche Expansion ist ein fundamentaler Satz der Ökonomie. Und deshalb ein fundamentaler Grundsatz des Universums selbst. Denn alles ist Ökonomie. Physik ist kosmische Ökonomie; Biologie ist zellulare Ökonomie, die Geisteswissenschaften sind soziale Ökonomie, Psychologie ist mentale Ökonomie und so weiter.«
Seine Hörer lauschten mißmutig.
»Also expandiert alles. Aber das kann nicht geschehen im Widerspruch zum Gesetz der Erhaltung von Materie und Energie. Ganz gleich, wie wirksam Ihr Output ist, Sie können ihn nicht größer machen als den Input.«
Art notierte: Output nicht größer als Input — alles ist Ökonomie — natürliches Kapital — massiv überzogen.
»Als Reaktion auf diese Situation hat eine Gruppe hier bei Praxis an etwas gearbeitet, das wir volle Weltökonomie nennen.«
»Sollte das eine überfüllte Welt sein?« fragte Art.
Fort schien ihn nicht zu hören. »Nun sind, wie Daly sagte, von Menschen erzeugtes Kapital und natürliches Kapital nicht austauschbar. Das liegt auf der Hand; aber da die meisten Ökonomen es immer noch für austauschbar erklären, muß man das betonen. Wenn Sie ein Haus bauen, können Sie mit der Anzahl von Motorsägen und Zimmerleuten jonglieren, was bedeutet, daß sie austauschbar sind; aber Sie können es nicht mit der halben Menge an Bauholz erbauen, ganz gleich, wie viele Sägen oder Zimmerleute Sie haben. Versuchen Sie es, und Sie haben ein Luftschloß. Und in einem solchen leben wir jetzt.«
Art schüttelte den Kopf und blickte auf seine Notizseite, die er wieder gefüllt hatte. Ressourcen und Kapital nicht austauschbar — Motorsägen/Zimmerleute — Luftschloß.
»Verzeihung!« sagte Sam. »Sagten Sie natürliches Kapital?«
Fort drehte sich schroff um und sah Sam an. »Ja?«
»Ich dachte, Kapital wäre definitionsgemäß von Menschen gemacht. Die erzeugten Produktionsmittel, wie wir es zu definieren gelernt haben.«
»Ja. Aber in einer kapitalistischen Welt hat das Wort Kapital immer mehr verschiedene Anwendungen bekommen. Zum Beispiel sprechen die Leute von menschlichem Kapital, welches Arbeit durch Bildung und Werkserfahrung ansammelt. Menschliches Kapital unterscheidet sich von der klassischen Art dadurch, daß man es nicht erben kann; und es kann nur gemietet, nicht aber geoder verkauft werden.«
»Wenn man nicht Sklaverei mitrechnet«, sagte Art.
Fort runzelte die Stirn. »Dieser Begriff von natürlichem Kapital ähnelt tatsächlich der traditionellen Definition mehr als menschliches Kapital. Es kann besessen und vererbt werden und in erneuerbares und nicht erneuerbares, vermarktetes und nicht vermarktetes unterteilt werden.«
»Wenn aber alles Kapital der einen oder anderen Art ist«, sagte Amy, »kann man verstehen, warum Leute denken, daß die eine Art mit der anderen austauschbar wäre. Wenn man sein von Menschen gewonnenes Kapital benutzt, um weniger natürliches Kapital zu nutzen, ist das keine Substitution?«
Fort schüttelte den Kopf. »Das ist Wirkungsgrad. Kapital ist eine Größe des Inputs, und Wirkungsgrad ist das Verhältnis von Output zu Input. Ganz gleich, wie leistungsfähig Kapital ist, es kann nicht etwas aus nichts machen.«
»Neue Energiequellen …«, warf Max ein.
»Aber wir können keinen Boden aus Elektrizität gewinnen. Fusionsenergie und sich selbst reproduzierende Maschinen haben uns enorme Mengen an Energie gebracht; aber wir müssen -Grundvorräte haben, um diese Energie anzuwenden. Und so rennen wir zu einer Schranke, wo keine Substitutionen mehr möglich sind.«
Fort starrte sie alle an und zeigte immer noch jene urtümliche Ruhe, die Art zu Anfang aufgefallen war. Art blickte auf seine Notizen. Natürliches Kapital — menschliches Kapital — Energie gegen Materie — Elektrischer Boden — Bitte keine Substitutionen. Er grinste und schaltete auf eine neue Seite.
»Leider arbeiten die meisten Ökonomen noch mit dem Leere-Welt-Modell der Ökonomie«, erklärte Fort.
»Das Volle-Welt-Modell scheint offenkundig«, erwiderte Sally. »Das ist einfach gesunder Menschenverstand. Warum sollten irgendwelche Ökonomen es ignorieren?«
Fort zuckte die Achseln und machte eine neue schweigende Runde durch das Zimmer. Arts Hals wurde allmählich müde.
»Wir verstehen die Welt durch Paradigmen. Der Übergang von einer Ökonomie der leeren Welt zu einer der vollen ist ein bedeutender Paradigmenwechsel. Max Planck hat einmal gesagt, daß ein neues Paradigma nicht siegt, indem es seine Gegner überzeugt, sondern dadurch, daß seine Gegner schließlich aussterben.«
»Und jetzt sterben sie nicht aus«, sagte Art.
Fort nickte. »Die Behandlungen halten die Menschen im Gang. Und viele von ihnen haben Dauerposten.«
Sally machte ein mißbilligendes Gesicht. »Dann müssen sie eben lernen, ihre Denkweise zu ändern.«
Fort sah sie an. »Das wollen wir eben jetzt versuchen. Zumindest theoretisch. Ich möchte, daß Sie Strategien einer Ökonomie der vollen Welt erfinden. Das ist ein Spiel von mir. Wenn Sie Ihre Lesegeräte in den Tisch einstöpseln, kann ich Ihnen die Ausgangsdaten liefern.«
Alle beugten sich vor und stöpselten sich in den Tisch ein.
Das erste Spiel, das Fort machen wollte, handelte davon, maximal versorgbare menschliche Bevölkerungen zu schätzen. Sam fragte: »Hängt das nicht von Annahmen über den Lebensstil ab?«
»Wir werden eine ganze Reihe von Annahmen machen.«
Er scherzte nicht. Sie gingen von Szenarien, in denen jedes für Ackerbau geeignete Stück Land der Erde mit maximalem Wirkungsgrad bewirtschaftet wurde, über zu Szenarien, bei denen auch Jagen und Sammeln eine Rolle spielten. Von allgemeinem erheblichem Konsum zu allgemeinen Diäten, um das Leben zu fristen. Ihre Textgeräte stellten die Anfangsbedingungen ein; und dann klapperten sie los. Sie sahen gelangweilt, nervös oder ungeduldig und vertieft aus, benutzten Formeln, die der Tisch lieferte, oder auch eigene.
Damit waren sie bis zum Mittagessen und dann den ganzen Nachmittag beschäftigt. Art liebte Spiele, und er und Amy waren immer vor den anderen fertig. Ihre Resultate für eine maximal versorgbare Bevölkerung reichte von hundert Millionen (dem Modell des ›unsterblichen Tigers‹, wie Fort es nannte) bis zu dreißig Milliarden (dem ›Ameisenhaufen‹-Modell).
»Das ist ein großer Spielraum«, bemerkte Sam.
Fort nickte und sah sie alle geduldig an.
»Aber wenn man Modelle mit den realistischsten Bedingungen betrachtet«, sagte Art, »kommt man gewöhnlich auf zwischen drei und acht Milliarden.«
»Und die gegenwärtige Bevölkerung beträgt ungefähr zwölf Milliarden«, erwiderte Fort. »Also sind wir über das Ziel hinausgeschossen. Was tun wir jetzt daran? Immerhin gibt es Handelsgesellschaften, die arbeiten. Das Geschäftsleben wird nicht aufhören, weil es zu viele Menschen gibt. Ökonomie der vollen Welt ist nicht das Ende der Ökonomie, sondern nur das Ende von ›business as usual‹. Ich will, daß Praxis da zuerst die Kurve kriegt. So! Es herrscht Ebbe, und ich ziehe mich nach draußen zurück. Sie können gern mitkommen. Morgen werden wir ein Spiel spielen, das heißt ›Übervoll‹.«
Damit verließ er das Zimmer, und sie waren sich selbst überlassen. Sie gingen wieder in ihre Zimmer und dann, als es Zeit zum Abendessen war, in den Speisesaal. Fort war nicht da, aber einige seiner ältlichen Gefährten vom vorigen Abend. Und zu ihnen gesellte sich jetzt eine Schar junger Männer und Frauen, alle sauber, mit fröhlichen Mienen und gesund aussehend. Sie sahen aus wie ein Wanderclub oder ein Schwimmverein, und mehr als die Hälfte waren weiblich. Sam und Max zogen die Augenbrauen hoch und herunter in einem einfachen Morsecode, der besagte: »Aha! Aha!« Die jungen Leute ignorierten das und servierten ihnen Dinner. Dann gingen sie wieder in die Küche. Art aß rasch und fragte sich, ob Sam und Max mit ihren Vermutungen recht hatten. Dann brachte er seinen Teller in die Küche und fing an, beim Abwaschen zu helfen. Zu einer jungen Frau sagte er: »Was bringt Sie hierher?«
»Das ist eine Art Ausbildungsprogramm«, erklärte sie. Sie hieß Joyce. »Wir sind alle Lehrlinge, die im letzten Jahr zu Praxis gestoßen sind und ausgewählt wurden, zur Ausbildung hierherzukommen.«
»Haben Sie zufällig heute über Ökonomie der vollen Welt gearbeitet?«
»Nein, Volleyball.«
Art ging wieder nach draußen und wünschte, er wäre für ihr Programm ausgewählt worden anstatt für seines. Er fragte sich, ob es hier eine Warmbadeanlage gäbe, da unten mit Blick auf den Ozean. Das erschien nicht unmöglich; denn das Meer war kühl, und wenn alles Ökonomie war, dann konnte man darin eine Investition sehen. Sozusagen zur Aufrechterhaltung der menschlichen Infrastruktur.
Wieder im Wohnbereich, sprachen seine Mitgäste über den Tag. »Ich mag dieses Zeug nicht«, erklärte Sam.
»Wir stecken alle drin«, sagte Max finster. »Es gilt, bei einem Kult mitzumachen oder den Job zu verlieren.«
Die anderen waren nicht so pessimistisch. Amy meinte: »Vielleicht ist er bloß einsam.«
Sam und Max rollten die Augen und schauten zur Küche.
»Vielleicht wollte er immer Lehrer werden«, meinte Sally.
»Vielleicht will er, daß Praxis jedes Jahr um zehn Prozent wächst«, erklärte George, »volle Welt oder nicht.«
Sam und Max nickten dazu, und Elizabeth machte ein ärgerliches Gesicht. »Vielleicht will er die Welt retten«, sagte sie grinsend.
»Stimmt!« erwiderte Sam, und Max und George kicherten.
»Vielleicht hat er diesen Raum verwanzt«, mutmaßte Art grinsend. Damit wurde die Unterhaltung wie durch eine Guillotine abgeschnitten.
Die folgenden Tage waren dem ersten sehr ähnlich. Sie saßen im Konferenzraum, und Fort ging um sie herum und redete den ganzen Morgen, manchmal zusammenhängend und manchmal nicht. Eines Morgens verbrachte er drei Stunden mit Auslassungen über den Feudalismus. Wie er der klarste politische Ausdruck der Dynamik von Dominanz bei Primaten wäre; wie er niemals wirklich aufgehört hätte; wie transnationaler Kapitalismus Feudalismus mit Großbuchstaben wäre; wie die Aristokratie der Welt sich darüber klar werden müsse; wie man kapitalistisches Wachstum in die Theorie vom Dauerzustand des Feudalmodells integrieren könnte. An einem anderen Morgen sprach er über eine kalorische Wertetheorie, genannt Öko-Ökonomik, die wohl zuerst von frühen Siedlern auf dem Mars entwickelt worden war. Sam und Max rollten bei dieser Kunde die Augen, während Fort weiter tönte über Gleichungen von Taneev und Tokareva und unleserlich auf einem Zeichenbrett in der Ecke kritzelte.
Aber dieses Schema dauerte nicht an; denn ein paar Tage nach ihrer Ankunft kam aus dem Süden eine große Flut. Fort stellte ihre Zusammenkünfte ein und verbrachte seine ganze Zeit mit Surfen oder Gleiten über das Wasser in einem Vogelkostüm, welches ein leichter, eng anliegender Schwimmanzug mit breiten Flügeln war, ein flexibler Hanggleiter, der die Muskelbewegungen des Fliegers in die passenden halbstarren Konfigurationen für erfolgreichen Flug umsetzte. Die meisten jungen Stipendiaten erhoben sich mit ihm in die Luft und flatterten umher wie Ikarusse, um danach tiefer zu gehen und rasch über die Luftkissen zu gleiten, die jede brechende Welle hochstieß. Luftsurfen wie die Pelikane selbst, die diesen Sport erfunden hatten.
Art ging hinaus und flitzte umher auf einem Wellenbrett. Er genoß das Wasser, das kühl war, aber nicht so sehr, daß er unbedingt einen Schutzanzug gebraucht hätte. Er fuhr nahe an die Welle heran, auf der Joyce ritt, und schwatzte mit ihr zwischen den Läufen. Dabei stellte er fest, daß die anderen alten Küchenarbeiter gute Freunde Forts waren, Veteranen der ersten Jahre des Aufstiegs von Praxis zu Bedeutung. Die jungen Forscher sprachen von ihnen als den Achtzehn Unsterblichen. Von denen waren einige im Lager stationiert, während andere zu einer Art von Treffen erschienen, bei dem sie über Probleme konferierten, die aktuelle Führungsschicht von Praxis über Politik berieten, Seminare und Kurse abhielten und in den Wellen spielten. Diejenigen, die sich nicht für Wasser interessierten, arbeiteten in den Gärten.
Art musterte die Gärtner genau, als er wieder auf das Grundstück hinaufstieg. Sie arbeiteten in etwas, das wie Zeitlupentempo aussah, und redeten die ganze Zeit miteinander. Derzeit schien ihre Hauptarbeit das Abernten der Spalieräpfel zu sein.
Die Flut aus dem Süden hielt an, und Fort ließ Arts Gruppe wieder zusammenkommen. Eines Tages ging es um Möglichkeiten für Geschäfte in einer vollen Welt; und Art begann zu verstehen, weshalb er und seine sechs Kollegen zur Teilnahme ausgesucht sein könnten. Amy und George arbeiteten über Empfängnisverhütung, Sam und Max in industriellem Design, Sally und Elizabeth in Ackerbautechnik, und er selbst über Wiedergewinnung von Ressourcen. Sie arbeiteten alle schon in geschäftlichen Fragen der vollen Welt und erwiesen sich bei den nachmittäglichen Spielen recht gut im Entwerfen neuer Verfahren.
An einem anderen Tage schlug Fort ein Spiel vor, in dem sie das Problem der vollen Welt durch Rückkehr zu einer leeren Welt zu lösen hatten. Sie sollten davon ausgehen, daß ein Pestüberträger frei würde, der jeden in der Welt tötete, der nicht die gerontologische Behandlung bekommen hatte. Wie würden die Pros und Contras einer solchen Aktion sein?
Die Gruppe starrte verlegen auf die Textgeräte. Elizabeth erklärte, daß sie bei einem Spiel auf solch monströser Grundlage nicht mitmachen würde.
Fort gab zu: »Es ist eine monströse Idee. Aber das macht sie nicht unmöglich. Sehen Sie, ich höre so manche Sachen. Zum Beispiel gibt es unter der Führerschaft der großen Transnationalen Diskussionen und Argumente. Man hört, wie Ideen aller Art ganz ernsthaft dargelegt werden, darunter auch solche wie diese. Jedermann jammert darüber, und das Thema wechselt. Aber niemand erklärt, daß sie technisch unmöglich sind. Und manche scheinen zu denken, daß dadurch gewisse Probleme gelöst würden, die anders nicht zu bewältigen sind.«
Die Gruppe erwog diesen Gedanken mißmutig. Art schlug vor, daß landwirtschaftliche Arbeiter knapp sein würden.
Fort blickte auf den Ozean hinaus und sagte nachdenklich: »Das ist das Grundproblem bei einem Zusammenbruch. Wenn man einmal einen startet, ist es schwer, einen Punkt zu bestimmen, an dem man zuversichtlich sagen kann, daß er aufhört. Machen wir weiter!«
Und das taten sie, recht niedergeschlagen. Sie spielten Reduktion der Bevölkerung. Und nach der gerade erwogenen Alternative gingen sie ziemlich intensiv vor. Jede(r) war abwechselnd Beherrscher der Welt, wie Fort es ausdrückte, und legte seinen (oder ihren) Plan in einigem Detail dar.
Als Art an der Reihe war, sagte er: »Ich würde jeder lebenden Person ein Geburtsrecht geben, das sie ermächtigt, Elternteil von drei Vierteln eines Kindes zu sein.«
Alle lachten, einschließlich Fort. Aber Art war hartnäckig. Er erklärte, daß auf diese Weise jedes Elternpaar das Recht bekäme, anderthalb Kinder in die Welt zu setzen. Wenn sie dann eins hätten, könnten sie das Recht auf das nächste halbe entweder verkaufen oder von einem anderen Paar das Recht auf ein weiteres halbes erwerben und so dann ein zweites Kind haben. Die Preise für halbe Kinder würden nach dem klassischen Prinzip von Angebot und Nachfrage schwanken. Die sozialen Konsequenzen wären positiv. Leute, die sich Extrakinder wünschten, müßten dafür Opfer bringen; und die, welche das nicht wollten, hätten eine Einkommensquelle, um die anderen zu unterstützen. Wenn die Bevölkerung weit genug gesunken wäre, könnte der Herrscher der Welt erwägen, das Geburtsrecht auf ein Kind je Person zu senken, was einem demokratischen Gleichgewichtszustand nahe käme. Aber in Anbetracht der Langlebigkeitsbehandlung dürfte die Schranke von drei Vierteln lange in Kraft bleiben.
Als Art seinen Vorschlag fertig dargelegt hatte, blickte er von Notizen auf seinem Gerät auf. Alle starrten ihn an.
»Drei Viertel eines Kindes«, wiederholte Fort grinsend, und alle lachten wieder. »Das gefällt mir.« Das Gelächter hörte auf. »Ich würde auf dem offenen Markt einen Geldwert für ein Menschenleben festsetzen. Bisher ist das, was auf diesem Gebiet geleistet wurde, bestenfalls schlampig. Einkommen und Ausgaben auf Lebenszeit und dergleichen.« Er seufzte und schüttelte den Kopf. »Die Wahrheit ist, daß die Ökonomen die meisten Zahlen im Hinterzimmer ausbrüten. Wert ist eigentlich keine ökonomische Kalkulation. So nicht. Sehen wir zu, ob wir abschätzen können, wie hoch der Preis für ein halbes Kind sein würde. Ich bin sicher, es würde Spekulation, Mittelspersonen und einen ganzen Marktapparat geben.«
Also beschäftigten sie sich für den Rest des Nachmittags mit dem Dreiviertelspiel. Sie gerieten tief in die Marktverhältnisse und die Entwürfe für Seifenopern hinein. Als sie fertig waren, lud Fort sie zu einer Grillparty am Strand ein.
Sie gingen wieder auf ihre Zimmer, zogen Windjacken an und gingen den Weg ins Tal hinunter im Licht des Sonnenuntergangs. Am Strand brannte an einer Düne ein großes offenes Feuer, das von einigen jungen Studenten versorgt wurde. Als sie herangekommen waren und sich auf Decken um das Feuer hingesetzt hatten, landeten etwa ein Dutzend der Achtzehn Unsterblichen aus der Luft, liefen über den Sand und brachten ihre Flügel langsam herunter. Dann öffneten sie die Reißverschlüsse ihrer Anzüge, wischten sich nasses Haar aus den Augen und unterhielten sich miteinander über den Wind. Sie halfen sich gegenseitig aus den langen Flügeln und standen in ihren Badeanzügen mit Gänsehaut zitternd da. Hundertjährige Flieger mit dürren zum Feuer ausgestreckten Armen. Die Frauen waren ebenso muskulös wie die Männer und ihre wie von einer Million Jahren gezeichneten Gesichter blinzelten in die Sonne und lachten rings um das Feuer.
Art sah, wie Fort mit seinen alten Freunden scherzte und wie lässig sie einander abtrockneten. Geheimes Leben der Reichen und Berühmten! Sie aßen Hot Dogs und tranken Bier. Die Flieger gingen hinter eine Düne und kamen zurück in Hosen und Trainingsblusen, erfreut, etwas länger am Feuer zu stehen und ihr feuchtes Haar auszukämmen. Es war tiefe Dämmerung, und die zur Küste wehende Brise war salzig und kühl. Die große orangefarbene Flamme tanzte im Wind, und Licht und Schatten flackerten über Forts affenähnliches Gesicht. Wie Sam früher gesagt hatte — er sah keinen Tag älter aus als achtzig.
Jetzt saß er zwischen seinen sieben Gästen, die sich zusammendrängten. Er starrte in die Glut und fing wieder an zu reden. Die Leute auf der anderen Seite des Feuers fuhren in ihren Gesprächen fort, aber Forts Gäste beugten sich vor, um ihn über dem Wind, den Wellen und dem knisternden Feuer zu hören. Ohne ihre Lesegeräte im Schoß wirkten sie etwas hilflos.
»Sie können Menschen nicht dazu bringen, daß sie etwas tun«, sagte Fort. »Es kommt darauf an, sich selbst zu ändern. In der Ökologie gibt es ein sogenanntes Gründerprinzip. Die Bevölkerung einer Insel beginnt mit einer kleinen Anzahl von Siedlern, die nur einen kleinen Bruchteil der Gene der Elternbevölkerung besitzt. Das ist der erste Schritt zur Aussonderung. Ich denke, wir brauchen jetzt eine neue Spezies — natürlich ökonomisch gesprochen. Und Praxis selbst ist die Insel. Die Art, wie wir sie strukturieren, ist eine Art von technischer Manipulation der Gene, mit der wir zu ihr gekommen sind. Wir sind nicht verpflichtet, bei den Regeln zu bleiben, wie sie jetzt bestehen. Wir können eine neue Spezies machen. Nicht feudal. Wir haben den kollektiven Besitz, können gemeinsam Entscheidungen treffen und konstruktiv handeln. Wir arbeiten auf einen körperschaftlichen Zustand hin, ähnlich dem, den die Bürger in Bologna gemacht haben. Das ist eine Art von demokratisch kommunistischer Insel, die tüchtiger ist als der sie umgebende Kapitalismus und einen neuen Lebensstil schafft. Glauben Sie, daß eine solche Art von Demokratie möglich ist? Wir werden sie an einem dieser Nachmittage durchspielen.«
»Was immer Sie sagen«, bemerkte Sam. Das trug ihm einen scharfen Blick von Fort ein.
Der nächste Morgen war sonnig und warm. Fort entschied, daß das Wetter zu gut wäre, um drinnen zu bleiben. Also gingen sie wieder an den Strand und etablierten sich unter einer großen Markise nahe der Feuergrube zwischen Kühlschränken und Hängematten, die zwischen den Stangen der Markise aufgespannt waren. Der Ozean war leuchtend hellblau, die Wellen klein, aber gekräuselt. Sie wurden oft von Surfern in Schutzanzügen besetzt. Fort saß in einer Hängematte und dozierte über Selbstsucht und Altruismus mit Beispielen aus Ökonomie, Soziobiologie und Bioethik.
Er kam zu dem Ergebnis, daß es so etwas wie Altruismus überhaupt nicht gebe. Auf lange Sicht schaffte es nur Selbstsucht, wenn man die realen Kosten des Verhaltens berücksichtigte und sich vergewisserte, daß diese ordentlich bezahlt würden und sich nicht zu langfristigen Schulden anhäuften. In der Tat eine sehr gesunde ökonomische Praxis, wenn sie richtig gelenkt und angewendet wurde. Das suchte er mittels der Spiele über selbstsüchtigen Altruismus zu beweisen, die sie dann machten — wie das Dilemma des Gefangenen oder die Tragödie der Gemeinden.
Am nächsten Tage trafen sie sich wieder im Surfcamp, und nach einem hin und her gehenden Gespräch über freiwillige Einfachheit machten sie ein Spiel, das Fort ›Marcus Aurelius‹ nannte. Art genoß das Spiel wie auch alle anderen und spielte es gut. Aber jeden Tag wurden seine Notizen kürzer. An diesem Tag lauteten sie insgesamt: Konsum — Appetit — künstliche Bedürfnisse — reale Bedürfnisse — Strohlager] Umwelteinfluß = Bevölkerung x Appetit x Wirkungsgrad — in den Tropen Kühlgeräte kein Luxus — Kühlhäuser — Sir Thomas More.
An diesem Abend speisten die Konferenzteilnehmer allein, und ihre Diskussion beim Essen war schlapp. Art bemerkte: »Ich denke, dieser Ort ist eine Stätte freiwilliger Schlichtheit.«
»Würde das auch für die jungen Studenten gelten?« fragte Max.
»Ich sehe nicht, daß die Unsterblichen viel mit ihnen anfangen.«
»Sie sehen nur gern zu«, erwiderte Sam. »Wenn Sie so alt sind … «
»Ich frage mich, wie lange er uns hier zu behalten gedenkt«, sagte Max. »Wir sind erst eine Woche hier, und es ist schon langweilig.«
»Ich mag es irgendwie«, stellte Elizabeth fest. »Es ist erholsam.«
Art fand, daß er mit ihr übereinstimmte. Er pflegte früh aufzustehen. Einer der Studenten verkündete jede Morgendämmerung, indem er mit einem großen Holzhammer auf einen großen Holzblock schlug in einem abnehmenden Intervall, das Art jedesmal aus dem Schlaf riß … tock … .tock…. lock… lock.. tock, toc toctoc toc-to- to-t-ttttt. Danach ging Art hinaus in den grauen feuchten Morgen voller Vogelstimmen. Der Klang der Wellen war ständig zu hören, als ob man ihm unsichtbare Muscheln an die Ohren hielte. Wenn er auf dem Pfad durch die Farm ging, fand er immer einige der Achtzehn Unsterblichen dort vor, die schwatzten, während sie mit Hacken oder Heckenscheren arbeiteten oder unter der starken Eiche saßen und auf den Ozean hinausblickten. Fort war oft unter ihnen. Art konnte während der Stunde vor dem Frühstück umherwandern in dem Bewußtsein, daß er den Rest des Tages in einem warmen Raum oder an einem warmen Strand mit Gesprächen oder Spielen verbringen würde. War das wirklich so einfach? Er war sich nicht sicher. Es war entschieden erholsam. Er hatte nie eine solche Zeit verbracht.
Aber natürlich war mehr daran. Es war, wie Sam und Max ihn ständig erinnerten, eine Art Test. Sie wurden beurteilt. Der alte Mann beobachtete sie, und vielleicht auch die Achtzehn Unsterblichen und sogar die jungen Studenten, die ›Lehrlinge‹, die Art allmählich echt stark vorkamen, junge Draufgänger, die einen großen Teil der täglichen Arbeiten auf dem Grundstück erledigten und vielleicht auch für Praxis, selbst auf höchstem Niveau — in Absprache mit den Achtzehn oder vielleicht auch nicht. Er konnte sich vorstellen, nachdem er Forts weitschweifige Ergüsse angehört hatte, wie man geneigt sein könnte, ihn zu übergehen, wenn es zu praktischen Dingen kam. Und die Gespräche beim Geschirrspüler hatten manchmal den Ton von Geschwistern, die darüber diskutierten, wie man mit unfähigen Eltern umging …
Auf jeden Fall ein Test. Als Art eines Abends in die Küche ging, um sich ein Glas Wasser vor dem Schlafengehen zu holen, kam er an einem kleinen Zimmer neben dem Speisesaal vorbei, wo eine Anzahl Leute, alt und jung, ein Videoband von der Morgensitzung mit Fort ansahen. Art ging sehr nachdenklich in sein Zimmer zurück.
Am folgenden Morgen ging Fort auf seine gewohnte Art im Kreis durch das Zimmer. »Die neuen Gelegenheiten für Wachstum nehmen nicht mehr zu.«
Sam und Max sahen einander kurz an.
»Das ist alles, worauf dieses Volle-Welt-Denken hinausläuft. Also müssen wir die" neuen Wachstumsmärkte identifizieren, die nicht zunehmen, und in sie einsteigen. Nun bedenken Sie, daß natürliches Kapital in vermarktbares und nichtvermarktbares unterteilt werden kann. Nichtvermarktbares natürliches Kapital ist das Substrat, aus dem alles vermarktbare Kapital herkommt. In Anbetracht seiner Knappheit und des Vorteils, den es bringt, wäre es nach der Standardtheorie von Lieferung und Nachfrage sinnvoll, seinen Preis unendlich hoch anzusetzen. Mich interessiert alles, was einen theoretisch unendlich hohen Preis hat. Das ist eine offenkundige Investition. Im Grunde ist es infrastrukturelle Investition, aber auf dem fundamentalsten biophyskalischen Niveau. Sozusagen Infra-Infrastruktur oder Bioinfrastruktur. Und das ist, was ich will, das Praxis anfangen soll. Wir erhalten und erbauen neu jegliche Bioinfrastruktur, die durch Liquidation entleert wurde. Das ist eine Investition auf lange Sicht, aber die Erträge werden phantastisch sein.«
»Ist nicht die meiste Infrastruktur in öffentlicher Hand?« fragte Art.
»Ja. Dies bedeutet, daß enge Zusammenarbeit mit den Regierungen erforderlich ist. Das jährliche Bruttoprodukt von Praxis ist viel größer als das der meisten Länder. Worauf es ankommt, ist, Länder mit kleinen jährlichen Bruttoprodukten und schlechten LZIs zu finden.«
»LZI?« fragte Art.
»Landeszukunftsindex. Das ist eine Alternative zum Bruttonationalprodukt. Es berücksichtigt Verschuldung, politische Stabilität, Umweltgesundheit und dergleichen. Eine nützliche Probe auf das BNP, die hilft, Länder zu markieren, die unsere Hilfe brauchen könnten. Wir identifizieren sie, gehen zu ihnen und bieten ihnen eine massive Kapitalinvestition an plus politischen Rat, Sicherheit und was immer sie benötigen. Als Gegengabe erhalten wir Zugriff zu ihrer Infrastruktur. Wir haben also Zugang zu ihrer Arbeitskraft. Das ist eine klare Partnerschaft. Ich denke, daß ihr die Zukunft gehört.«
»Wie fügen wir uns da ein?« fragte Sam und zeigte auf die Gruppe.
Fort sah alle nacheinander an. »Ich werde jedem von Ihnen einen anderen Auftrag erteilen. Ich will, daß Sie dies vertraulich behandeln. Sie werden in jedem Fall einzeln von hier fortgehen und zu verschiedenen Orten. Sie alle werden diplomatische Arbeit leisten als eine Verbindung zu Praxis wie auch spezifische Aufgaben haben, bei denen es auch um Investitionen von Bioinfrastruktur geht. Ich werden Ihnen die Details privatim mitteilen. Jetzt lassen Sie uns einen frühen Lunch einnehmen; und danach werde ich Sie jeweils einzeln treffen.«
Diplomatische Arbeit! notierte sich Art.
Er verbrachte den Nachmittag mit Spaziergängen im Garten und sah sich die Spalierapfelbüsche an. Offenbar stand er nicht oben auf der Liste persönlicher Termine mit Fort. Darüber zuckte er die Achseln. Es war ein wolkiger Tag, und die Blumen im Garten waren feucht und sprühten vor Leben. Es würde schwer sein, wieder in sein Apartment in San Jose zu ziehen. Er fragte sich, was Sharon wohl machte, ob sie je an ihn dachte. Ohne Zweifel trieb sie sich mit ihrem Vizedirektor herum.
Es war fast kurz vor Sonnenuntergang, und er wollte gerade wieder in sein Zimmer gehen und sich fürs Dinner fertigmachen, als Fort auf dem Mittelweg erschien und sagte: »Ah, da sind Sie. Lassen Sie uns zur Eiche gehen!«
Sie setzten sich am Stamm des großen Baumes hin. Die Sonnenstrahlen drangen unter die niedrigen Wolken, und alles nahm die Farbe der Rosen an. »Sie leben an einem schönen Ort«, sagte Art.
Fort schien ihn nicht zu hören. Er schaute zu den von unten beleuchteten Wolken auf, die sich über ihnen zusammenballten.
Nach einigen Minuten der Kontemplation sagte er: »Wir wollen, daß Sie den Mars gewinnen.«
»Den Mars gewinnen?« wiederholte Art.
»Ja. In dem Sinne, worüber ich heute morgen gesprochen habe. Diesen national-transnationalen Partnerschaften gehört die Zukunft. Daran besteht kein Zweifel. Die alten Beziehungen der Gefälligkeitsflaggen waren attraktiv; aber sie müssen weitergetrieben werden, so daß wir mehr Kontrolle über unser Investment haben. Das haben wir mit Sri Lanka gemacht und hatten dort in unserem Abkommen so viel Erfolg, daß alle anderen großen Transnationalen uns nachahmen und aktiv Länder rekrutieren, die in Schwierigkeiten stecken.«
»Aber der Mars ist kein Land.«
»Nein. Aber er steckt in Schwierigkeiten. Als der erste Aufzug herunterstürzte, war die Ökonomie in Scherben. Jetzt ist der neue Aufzug an Ort und Stelle, und es wird allerhand passieren. Ich will, daß Praxis die Kurve zuerst nimmt. Natürlich sind alle anderen großen Investitoren auch da und rennen um die Wette nach Positionen. Und das wird nur noch heftiger werden jetzt, da der neue Aufzug oben ist.«
»Wer betreibt den Aufzug?«
»Ein Konsortium unter Leitung von Subarashii.«
»Ist das nicht ein Problem?«
»Nun, es gibt den Dingen eine gewisse Schärfe. Aber die verstehen den Mars nicht. Sie sehen in ihm nur eine neue Quelle von Metallen. Sie sehen nicht die Möglichkeiten.«
»Die Möglichkeiten für… «
»Für Entwicklung! Der Mars ist nicht bloß eine leere Welt, Randolph, in ökonomischer Hinsicht ist er fast eine nicht existierende Welt. Seine Bioinfrastruktur muß konstruiert werden, sehen Sie. Ich meine, man könnte bloß die Metalle herausholen und dann weiterziehen, was Subarashii und die anderen vorzuhaben scheinen. Aber so behandelt man ihn nicht anders als einen großen Asteroiden. Das ist töricht; denn sein Wert als Operationsbasis, als ein richtiger Planet, übersteigt bei weitem den Wert seiner Metalle. Alle seine Metalle zusammen machen ungefähr zwanzig Billionen Dollar aus. Aber der Wert eines terraformten Mars liegt eher bei zweihundert Billionen Dollar. Das ist ungefähr ein Drittel des derzeitigen Bruttowertes der Welt; und das berücksichtigt noch nicht gebührend den Wert seiner Seltenheit, meine ich. Nein, der Mars ist eine Bioinfrastrukturinvestition, genau wie die, über welche ich gesprochen habe. Genau das, wonach Praxis Ausschau hält.«
»Aber der Erwerb …«, sagte Art. »Ich meine, worüber reden wir eigentlich? Von was …?«
»Nicht was, sondern wen.«
»Wen?«
»Den Untergrund.«
»Den Untergrund?«
Fort ließ ihm Zeit, darüber nachzudenken. Das Fernsehen, die Boulevardzeitungen und die Netze waren voll von Geschichten über die, welche 2061 überlebt hatten, indem sie in unterirdischen Verstecken in der wilden Südhemisphäre lebten, angeführt von John Boone und Hiroko Ai, die überall Tunnels bauten, in Kontakt mit Fremdwesen, toten Berühmtheiten und derzeitigen Weltführern… Art starrte Fort an, einen aufrichtigen derzeitigen Weltführer, schockiert durch die plötzliche Vorstellung, daß an diesen durchsichtigen Phantasien etwas Wahres sein könnte. »Gibt es das wirklich?«
Fort nickte. »O ja. Ich stehe damit nicht in vollem Kontakt, verstehen Sie, und weiß nicht, wie umfangreich es ist. Aber ich bin sicher, daß manche der Ersten Hundert noch am Leben sind. Sie kennen die Theorien über Taneev-Tokareva, über die ich bei Ihrer Ankunft gesprochen habe? Nun, auch diese zwei und Ursula Kohl und das ganze biomedizinische Team lebten alle in dem Acheron-Vorsprung, nördlich von Olympus Mons. Während des Krieges wurde die Anlage zerstört. Aber es gab keine Leichen an der Stelle. Also habe ich vor etwa sechs Jahren ein Team von Praxis hineingehen und die Anlage wieder aufbauen lassen. Als das getan war, nannten wir sie das Acheron-Institut und ließen es leer zurück. Alles ist eingerichtet und startfertig; aber nichts geschieht dort außer einer kleinen alljährlichen Konferenz über seine Ökonomie. Und letztes Jahr, als die Konferenz vorbei war, fand jemand von der Reinigungsgruppe ein paar Seiten in einem Faxbehälter. Auf einem Papier waren Bemerkungen. Keine Unterschrift, keine Quelle. Aber da war eine Arbeit, von der ich überzeugt bin, daß sie von Taneev oder Tokareva geschrieben wurde oder jemandem, der mit ihrer Arbeit sehr vertraut war. Und ich halte das für ein kleines Signal.«
Ein sehr kleines Signal, dachte Art. Aber Fort schien seine Gedanken zu lesen.
»Ich habe gerade ein noch größeres Signal erhalten. Ich weiß nicht, von wem. Die sind sehr vorsichtig. Aber es gibt sie da draußen.«
Art schluckte. Das war eine große Nachricht, wenn sie stimmte. »Und so wünschen Sie, daß ich …«
»Ich wünsche, daß Sie zum Mars gehen. Wir haben dort ein Projekt, das Ihre Tarngeschichte sein wird. Es handelt sich um die Bergung eines Stücks vom heruntergefallenen Aufzugkabel. Aber während Sie das tun, werde ich Arrangements treffen, daß Sie mit dieser Person zusammentreffen, die an mich herangetreten ist. Sie selbst brauchen nichts einzuleiten. Die werden den ersten Zug tun und Sie einweihen. Aber Achtung! Ich will nicht, daß Sie sie zu Beginn genau wissen lassen, was Sie vorhaben. Ich möchte, daß Sie sich mit ihnen beschäftigen. Herausfinden, wer sie sind und wie umfangreich ihre Tätigkeit ist und was sie wollen. Und wie wir mit ihnen umgehen könnten.«
»Ich wäre also eine Art von … «
»Eine Art von Diplomat.«
»Ich wollte sagen — eine Art von Spion.«
Fort zuckte die Achseln. »Das kommt darauf an, mit wem Sie zusammen sind. Dies Projekt muß geheim bleiben. Ich habe mit vielen anderen transnationalen Führern zu tun; und das sind ängstliche Leute. Erkannte Bedrohungen der bestehenden Ordnung werden oft sehr brutal angegriffen. Und manche von denen halten Praxis schon für eine Bedrohung. So gibt es derzeit dort einen verborgenen Arm zu Praxis; und diese Marserkundung muß ein Teil davon sein. Glauben Sie, daß Sie es machen können?«
»Ich weiß nicht.«
Fort lachte. »Darum habe ich Sie für diesen Auftrag ausgesucht, Randolph. Sie wirken simpel.«
Ich bin auch simpel, sagte Art beinahe und biß sich auf die Zunge. Statt dessen sagte er: »Warum mich?«
Fort sah ihn an. »Wenn wir eine neue Gesellschaft erwerben, durchmustern wir ihr Personal. Ich habe Ihre Akten gelesen. Ich dachte, Sie könnten das Zeug zum Diplomaten haben.«
»Oder zum Spion.«
»Das sind oft nur verschiedene Aspekte des gleichen Jobs.«
Art runzelte die Stirn. »Haben Sie mein Apartment verwanzt? Meine alte Wohnung?«
»Nein.« Fort lachte wieder. »Das machen wir nicht. Die Akten der Leute genügen uns.«
Art erinnerte daran, wie spät nachts eine ihrer Sitzungen angeschaut wurde.
»Das und eine Sitzung hier unten«, ergänzte Fort. »Um Sie kennenzulernen.«
Art dachte darüber nach. Keiner der Achtzehn wollte diesen Job. Vielleicht auch nicht die Studenten. Natürlich ginge es fort zum Mars und dann in eine unsichtbare Welt hinein, über die niemand etwas wußte, vielleicht für immer. Manche Leute könnten das nicht attraktiv finden. Aber für jemanden, der nicht wußte, was er tun sollte, und sich vielleicht nach einer neuen Beschäftigung umsah, vielleicht mit einem Potential für Diplomatie …
Also hatte sich alles dies als eine Art Interviewprozeß herausgestellt. Für einen Job, von dessen bloßer Existenz er nicht einmal etwas geahnt hatte. Mars-Erwerber, Chef der Erwerbung des Mars. Mars-Maulwurf. Ein Spion im Hause des Ares. Gesandter zum Mars-Untergrund. Oje, gerade ich! So dachte er.
»Was sagen Sie also?«
»Ich werde es machen«, sagte Art.
William Fort machte keine großen Umstände. In dem Moment, da Art zusagte, den Marsauftrag anzunehmen, beschleunigte sich sein Leben wie ein Video im Schnellvorlauf. Noch in dieser Nacht war er wieder in dem verschlossenen Wagen und dann im verschlossenen Jet. Diesmal ganz allein. Und als er über die Rollbahn marschierte, war in San Francisco Morgendämmerung.
Er ging zum Büro von Dumpmines und machte dort die Runde bei Freunden und Bekannten. Ja, sagte er immer wieder, ich habe einen Job auf dem Mars angenommen. Ein Stück von dem alten Aufzugskabel zu bergen. Nur vorübergehend. Die Bezahlung ist gut. Ich werde zurückkommen.
An diesem Nachmittag ging er nach Hause und packte. Das dauerte zehn Minuten. Da stand auf dem Herd die Bratpfanne, das einzige Zeichen seines früheren Lebens. Er nahm sie zu seinen Koffern und dachte, er könnte sie hineinbringen und mitnehmen. Die Koffer waren schon voll und verschlossen. Er ging zurück und setzte sich auf den einzigen Stuhl. Die Bratpfanne baumelte an seiner Hand.
Nach einer Weile rief er Sharon an. Er hoffte ein bißchen, daß er nur ihren Anrufbeantworter erreichen würde. Aber sie war zu Hause. Er krächzte: »Ich gehe zum Mars.« Sie wollte es nicht glauben. Als sie es dann doch glaubte, wurde sie wütend. Das war schlicht und einfach Desertion. Er entfloh ihr. Aber du hast mich dpch schon hinausgeworfen, versuchte Art zu sagen, aber sie hatte aufgelegt. Er ließ die Bratpfanne auf dem Tisch und schleppte seine Koffer zum Bürgersteig. Gegenüber war ein öffentliches Hospital, das die Langlebigkeitsbehandlung durchführte, von der üblichen Menge umgeben, Leuten, die vermutlich bald an die Reihe kommen würden und draußen auf dem Parkplatz kampierten, um sicher zu sein, daß nichts schiefginge. Die Behandlungen waren allen US-Bürgern gesetzlich garantiert; aber die Wartelisten für die öffentlichen Einrichtungen waren so lang, daß es fraglich war, ob man lange genug leben würde, bis man an der Reihe wäre. Art schüttelte bei diesem Anblick den Kopf und winkte einem Taxi.
Er verbrachte seine letzte Woche auf der Erde in einem Motel in Cape Canaveral. Das war ein kläglicher Abschied, da Canaveral Sperrgebiet war, hauptsächlich von Militärpolizei bewohnt und Servicepersonal, das sich gegenüber den »als dahingeschieden Beklagten«, wie man die auf Abreise Wartenden nannte, äußerst schlecht benahm. Die tägliche Posse des Starts machte einen jeden danach entweder besorgt oder ärgerlich und in allen Fällen ziemlich taub. Die Leute gingen nachmittags herum mit klingenden Ohren und wiederholten: Was? Was? Was? Um dem Problem entgegenzuwirken, trugen die meisten Ortsansässigen Ohrpfropfen. Sie ließen Teller auf dem Tisch eines Restaurants fallen, während sie mit Leuten in der Küche sprachen. Dann schauten sie plötzlich auf die Uhr, nahmen die Stöpsel aus der Tasche und steckten sie sich in die Ohren, und — bum — die nächste Nova-Energia-Rakete ging los mit zwei daran befestigten Shuttles. Die ganze Welt zitterte wie Gelee. Die ›Dahingeschiedenen‹ rannten auf die Straße mit den Händen auf den Ohren. Sie bekamen eine neue Vorschau auf ihr Schicksal, starrten voller Panik auf die biblische Rauchsäule und den Feuerpunkt, der über den Atlantik einschwenkte. Die Ansässigen blieben, wo sie waren, kauten Gummi und warteten, bis die Unterbrechung vorbei war. Nur einmal zeigten sie Interesse, als eines Morgens Flut herrschte und die Meldung kam, daß eine Gruppe von Partylöwen zu dem Zaun geschwommen waren, der die Stadt umgab, und sich einen Weg nach innen geschnitten hatten, wo die Sicherheitsbeamten sie in das Gebiet gescheucht hatten, wo an diesem Tage der Start erfolgen sollte. Man sagte, einige Leute wären dabei verkohlt; und das genügte, um einige Einheimische hinauszulocken, um zu sehen, ob die Rauchsäule und die Flamme etwas anders aussehen würden.
Dann war an einem Sonntagmorgen Art an der Reihe. Er wachte auf und zog sich den schlecht passenden Pullover an, der ihm geliefert worden war. Er fühlte sich wie im Traum. Er stieg in den Wagen mit einem anderen Mann, der genau so benommen aussah, wie er sich fühlte; und sie wurden zum Startgelände gefahren und nach Netzhaut, Fingerabdrücken, Stimme und äußerem Aussehen identifiziert. Dann wurde er, ohne überhaupt ernsthaft darüber nachgedacht zu haben, was das alles zu bedeuten hätte, in einen Aufzug geführt und durch einen kurzen Tunnel in einen winzigen Raum, wo acht Sessel nach Art von Zahnarztstühlen standen, in denen alle Leute mit aufgerissenen Augen saßen. Dort nahm er Platz und wurde angeschnallt. Die Tür wurde geschlossen, unter ihm ertönte ein vibrierendes Gebrüll, er wurde angepreßt und wog danach nichts mehr. Er befand sich im Orbit.
Nach einer Weile schnallte sich der Pilot los. Die Passagiere taten das auch und gingen zu den zwei kleinen Fenstern, um hinauszuschauen. Schwarzer Weltraum, blauer Planet — genau wie die Bilder, aber mit der erregenden Schärfe der Realität. Art blickte hinab auf Westafrika, und eine große Welle von Übelkeit überkam ihn.
Er bekam gerade den leichtesten Anflug von Appetit wieder nach einem zeitlosen Intervall von Raumkrankheit, der in der realen Welt fünf Tage hätte dauern können, als sich eines der ständig verkehrenden Shuttles näherte, nachdem es um die Venus herumgekurvt war und in einer Bahn an der Erde vorbei zum Mond gerade so weit aerodynamisch abgebremst hatte, daß die kleinen Fähren es einholen konnten. Irgendwann während seiner Raumkrankheit waren Art und die anderen Passagiere in eine dieser Fähren überführt worden, die dann zum rechten Zeitpunkt hinter einem der Linienshuttles herzischte. Die Beschleunigung war noch härter als beim Start von Canaveral; und danach war Art wieder schwindlig und unwohl. Noch mehr Schwerelosigkeit hätte ihn getötet. Er stöhnte schon bei dem bloßen Gedanken. Aber zum Glück gab es in dem Linienshuttle einen Ring, der mit einem Tempo rotierte, das einigen Räumen eine sogenannte Marsschwere verlieh. Art bekam ein Bett im Revier, das einen davon einnahm, und blieb dort. Er konnte in dem besonders geringen Ge des Mars nicht richtig gehen. Er hopste und stolperte herum, fühlte sich immer noch im Innern angeschlagen und schwindlig. Aber er blieb noch auf der rechten Seite der Übelkeit, wofür er dankbar war, obwohl das an sich kein besonders angenehmer Zustand war.
Das Shuttle für den interplanetaren Verkehr hatte eine merkwürdige Gestalt. Wegen des häufigen aerodynamischen Bremsens in den Atmosphären von Erde, Venus und Mars hatte es ungefähr die Figur eines Hammerhais. Der Ring rotierender Räume befand sich nahe dem Heck, direkt vor dem Antriebszentrum und den Schleusen für die Zulieferfähren. Der Ring drehte sich, und man ging mit dem Kopf zur Mittellinie des Schiffs. Die Füße zeigten nach unten auf die Sterne unter dem Fußboden.
Nach etwa einer Woche unterwegs beschloß Art, es noch einmal mit Schwerelosigkeit zu versuchen, da der rotierende Ring keine Fenster hatte. Er ging zu einer Übergangskammer, um in den sich nicht drehenden Teil des Schiffs zu gelangen. Die Kabinen befanden sich auf einem schmalen Ring, der sich mit dem GeRing bewegte, konnten aber verlangsamt werden, um sich dem Rest des Schiffs anzugleichen. Sie sahen aus wie Lastenfahrstühle mit Türen auf beiden Seiten. Wenn man in eine einstieg und den richtigen Knopf drückte, bremste er während einiger Umdrehungen zum Halt; und die gegenüberliegende Tür öffnete sich auf den Rest des Schiffs.
Also versuchte Art das. Als die Kabine langsamer wurde, begann er, Gewicht zu verlieren, und sein Schlund hob sich dementsprechend an. Als sich dann die andere Tür öffnete, schwitzte er und hatte sich irgendwie an die Decke hochgestoßen, wo er sein Handgelenk verletzte, um sich abzufangen, ehe er mit dem Kopf anstieß. Schmerz kämpfte mit der Übelkeit, aber die Übelkeit siegte. Es dauerte einige Karambolagen, bis er das Kontrollpaneel traf und auf den Knopf drückte, der ihn wieder in den Gravitationsring zurückbrachte. Als die Tür aufging, ließ er sich sanft auf dem Boden nieder. Nach einer Minute kehrte die Marsschwere zurück, und die Tür, durch die er hereingekommen war, öffnete sich wieder. Er hüpfte dankbar hinaus und litt nur noch an dem Schmerz eines verrenkten Handgelenkes. Übelkeit war viel schlimmer als der Schmerz, dachte er — wenigstens gewisse Stufen von Schmerz. Er würde seinen Blick nach draußen durch die Fernseher bekommen.
Er blieb nicht allein. Die meisten Passagiere und die gesamte Besatzung verbrachten den größeren Teil ihrer Zeit in dem Gravitationsring, der deshalb recht besetzt war, wie ein volles Hotel, in dem die meisten Gäste ihre Zeit hauptsächlich im Restaurant und an der Bar verbrachten. Art hatte Berichte über die Streckenshuttles gesehen und gelesen, die diese wie fliegende Monte Carlos darstellten, mit ständigen Bewohnern aus der Zahl der Reichen und Gelangweilten. Eine populäre Fernsehserie hatte gerade einen solchen Schauplatz.
Arts Schiff, die Ganesh, war nicht so. Es war klar, daß sie schon längere Zeit durch das innere Sonnensystem fuhr, und immer voll ausgelastet. Die Innenräume wurden schäbig und schienen sehr klein zu sein, wenn man auf den Ring beschränkt war, viel kleiner, als man nach jenen Schiffen urteilte, die historische Shows über die Ares vermuten ließen. Aber die Ersten Hundert hatten in ungefähr fünfmal so viel Raum gelebt als der Ring der Ganesh, die fünfhundert Passagiere beförderte.
Aber die Reise dauerte nur drei Monate. Also setzte Art sich hin und schaute TV, wobei er sich auf Dokumentarfilme vom Mars konzentrierte. Er aß im Speiseraum, der so ausgestattet war, daß er wie der eines großen Ozeandampfers der 1920er Jahre aussah. Er spielte etwas im Casino, das wie eines der in Las Vegas der 1970er dekoriert war. Aber meistens schlief er und sah fern. Diese beiden Aktivitäten gingen ineinander über, so daß er sehr deutlich vom Mars träumte, während die Filme eine sehr surreale Logik gewannen. Er sah die berühmten Videobänder der Russell-Clayborn- Debatte und träumte in dieser Nacht, daß er erfolglos mit Ann Clayborn diskutierte, die genau wie in den Videos wie die Farmersfau in American Gothic aussah, nur hagerer und strenger. Auch ein anderer Film, der von einer fliegenden Sonde aufgenommen war, beeindruckte ihn stark. Die Sonde war von der Seite einer der großen Klippen von Marineris abgestiegen und fast eine Minute lang gefallen, ehe sie sich abfing und tief über das Gewirr von Fels und Eis auf dem Boden der Schlucht raste. In den folgenden Wochen träumte Art, daß er selbst diesen Sturz machte, und wachte erst beim Aufprall auf. Es schien, daß Teile seines Unterbewußtseins fühlten, seine Entscheidung, zum Mars zu gehen, sei ein Fehler gewesen. Er zuckte darüber die Achseln, aß seine Mahlzeiten und praktizierte sein Gehen. Er wartete seine Zeit ab. Irrtum oder nicht, er hatte sich verpflichtet.
Fort hatte ihm ein Chiffriersystem gegeben und ihn angewiesen, sich regelmäßig zu melden und zu berichten. Aber bei der Überfahrt fand er sehr wenig zu sagen. Er schickte pflichtbewußt monatlich einen Bericht, immer dasselbe: Wir sind unterwegs. Alles sieht gut aus. Es kam nie eine Antwort.
Und dann schwoll der Mars auf den Bildschirmen an wie eine geschleuderte Orange, und bald danach wurden sie in ihre Gravitationsliegen durch eine äußerst heftige Luftbremsung gepreßt und danach wieder in die Sitze ihrer Landefähren. Aber Art überstand diese einen platt machenden negativen Beschleunigungen wie ein Veteran. Nach einer Woche im Orbit, immer noch rotierend, dockten sie bei New Clarke an. Der hatte nur eine äußerst geringe Schwerkraft, die die Leute kaum auf dem Boden hielt und den Eindruck erweckte, Mars wäre über den Köpfen. Arts Raumkrankheit kam wieder. Und er mußte zwei Tage warten, ehe seine Reservierung für eine Fahrt im Aufzug kam.
Die Wagen des Lifts erwiesen sich als schmale hohe Hotels. Sie brachten ihre dicht gedrängte menschliche Fracht binnen fünf Tagen zum Mars. Dabei herrschte keine nennenswerte Schwerkraft bis auf die letzten paar Tage, wenn sie immer stärker wurde, bis der Aufzugswagen bremste und sich sanft in die Aufnahmevorrichtung senkte, die man die ›Steckdose‹ nannte, gleich westlich von Sheffield auf Pavonis Mons. Dann wurde die Schwerkraft so ähnlich wie im Ring der Ganesh. Aber eine Woche Raumkrankheit hatte Art völlig fertiggemacht. Als sich der Aufzugswagen öffnete und sie in etwas hinausgeleitet wurden, das einem Flughafenterminal sehr ähnlich sah, fand er sich kaum imstande zu gehen und staunte, wie sehr Übelkeit den Lebenswillen schwächte. Es waren vier Monate vergangen, seit er das Fax von William Fort bekommen hatte.
Die Fahrt von der Steckdose nach Sheffield selbst erfolgte mit der U-Bahn, aber Art hatte sich zu elend gefühlt, als daß er hinausgeschaut hätte, selbst wo das möglich gewesen wäre. Erschöpft und unsicher wackelte er auf Zehenspitzen durch eine hohe Halle hinter jemandem von Praxis hinterher und sank dankbar in einem kleinen Zimmer auf ein Bett. Die Marsschwere fühlte sich angenehm solide an, als er dalag. Nach einer Weile schlief er ein.
Als er aufwachte, konnte er sich nicht erinnern, wo er war. Er schaute sich in dem kleinen Raum um und fragte sich, ob Sharon weggegangen sei und warum ihr Schlafzimmer so klein geworden war. Dann fiel es ihm wieder ein. Er war auf dem Mars.
Er stöhnte und setzte sich auf. Er fühlte sich heiß und dennoch von seinem Körper getrennt. Alles pulsierte leicht, obwohl das Licht im Raum normal zu funktionieren schien. An der Wand gegenüber der Tür waren Vorhänge. Er stand auf, ging hinüber und öffnete sie mit einem einzigen Zug.
»He!« rief er und sprang zurück. Er hatte das Gefühl, ein zweites Mal zu erwachen.
Es war wie der Blick aus dem Fenster eines Flugzeugs. Endloser freier Raum, ein fahl gefleckter Himmel, die Sonne wie ein Klumpen Lava. Und da weit unten zog sich eine steinige Ebene hin, flach und rund, als läge sie am Boden einer riesigen kreisförmigen Klippe — für ein natürliches Gebilde wirklich extrem rund. Es war schwer zu schätzen, wie weit die gegenüberliegende Seite der Klippe entfernt war. Einzelheiten der Klippe waren vollkommen deutlich, aber Strukturen auf dem entgegengesetzten Rand waren sehr klein. Was wie ein Observatorium aussah, hätte auf eine Nadelspitze gepaßt.
Dies, so folgerte er, war die Caldera von Pavonis Mons. Sie waren bei Sheffield gelandet, also konnte es da keinen Zweifel geben. Darum waren es etwa sechzig Kilometer quer durch den Kreis zu jenem Observatorium, wie sich Art nach den Dokumentarvideos erinnerte, und fünf Kilometer bis zum Boden. Und all das völlig leer, steinig, unberührt, urtümlich. Der vulkanische Fels sah so kahl aus, als ob er erst vor einer Woche abgekühlt wäre. Keine Spur von Menschen darin. Keine Anzeichen von Terraformung. Das mußte vor einem halben Jahrhundert für John Boone genau so ausgesehen haben. Und so … fremdartig. Und groß. Art hatte in die Calderas von Ätna und Vesuv geblickt, als er von Teheran aus Urlaub gemacht hatte; und das waren für irdische Begriffe große Krater gewesen. Aber man hätte tausend von ihnen in diesem… diesem Ding… diesem Loch unterbringen können …
Er schloß die Vorhänge und zog sich langsam an. Sein Mund ahmte die Form der unirdischen Caldera nach.
Eine freundliche Führerin von Praxis namens Adrienne, groß genug, um auf dem Mars geboren zu sein, aber mit starkem australischem Akzent, holte ihn ab und unternahm mit ihm und einem halben Dutzend anderer Neuankömmlinge eine Tour durch die Stadt. Es stellte sich heraus, daß ihre Zimmer auf dem tiefsten Niveau der Stadt lagen, obwohl es nicht lange das tiefste bleiben würde. Sheffield war in diesen Tagen dabei, sich nach unten zu bohren, um möglichst vielen Räumen den Blick auf die Caldera zu bescheren, der Art so außer Fassung gebracht hatte.
Ein Lift brachte sie fast fünfzig Stockwerke höher und entließ sie in die Lobby eines funkelnagelneuen Geschäftsgebäudes. Sie traten durch die großen Drehtüren und kamen heraus auf einem breiten begrünten Boulevard. Den gingen sie hinunter an flachen Gebäuden mit Fronten aus polierten Steinen und großen Fenstern vorbei, die von mit Gras bewachsenen Nebenstraßen getrennt waren und einer großen Anzahl von Bauplätzen, da viele Gebäude noch in verschiedenen Stadien der Fertigstellung waren. Es würde eine hübsche Stadt werden, die Häuser meist drei und vier Stockwerke hoch. Sie wurden höher, als sie nach Süden kamen, weg vom Rand der Caldera. Die grünen Straßen waren voller Menschen wie auch die gelegentlich auf schmalen, ins Gras eingelassenen Schienen fahrende Straßenbahn. Es herrschte eine allgemeine Atmosphäre von Geschäftigkeit und Aufregung, ohne Zweifel verursacht durch den neuen Aufzug. Eine aufstrebende Stadt.
Der erste Ort, zu dem Adrienne sie brachte, lag gegenüber einem Boulevard zum Rande der Caldera. Sie führte die sieben Neuangekommenen hinaus in einen schmalen, sich windenden Park zu dem fast unsichtbaren Zeltdach, das die Stadt umschloß. Die transparenten Stoffe wurden von gleichfalls durchsichtigen geodätischen Stützen gehalten, die in einer brusthohen Umfassungsmauer verankert waren. Adrienne erklärte ihnen: »Das Zeltdach muß hier stärker sein als sonst auf Pavonis üblich, weil die Atmosphäre draußen äußerst dünn ist. Sie wird immer dünner sein als im Tiefland — um einen Faktor zehn.«
Sie führte sie hinaus in eine Ausguckblase in der Zeltwand; und wenn sie zwischen ihren Füßen nach unten schauten, konnten sie durch den transparenten Boden der Blase direkt auf den Boden der Caldera mehr als fünftausend Meter unter ihnen blicken. Die Leute schrien angstvoll entzückt auf, und Art stampfte unbehaglich auf den klaren Fußboden. Für ihn gewann die Weite der Caldera jetzt Perspektive. Der Nordrand war ungefähr so weit entfernt wie Mount Tamalpais und die Napa-Berge, wenn man zum Flughafen von San Jose hinabstieg. Das war keine außergewöhnliche Distanz. Aber die Tiefe da unten, die Tiefe! Über fünf Kilometer oder etwa zwanzigtausend Fuß. »Ein ganz beachtliches Loch«, sagte Adrienne.
Fernrohre auf Stativen und Schautafeln mit Karten ermöglichten ihnen, die frühe Version von Sheffield zu betrachten, die sich jetzt auf dem Boden der Caldera befand. Art hatte unrecht gehabt hinsichtlich der urtümlichen Natur der Caldera. Ein unauffälliger Haufen aus Geröll am Boden der Klippe mit einigen hellen Punkten darin waren tatsächlich die Ruinen der ursprünglichen Stadt.
Adrienne schilderte mit großem Genuß die Zerstörung der Stadt im Jahre 2061. Das herunterfallende Aufzugskabel hatte natürlich in den ersten Momenten des Falls die Vororte östlich seiner Steckdose zermalmt. Aber danach hatte sich das Kabel rund um den ganzen Planeten gewickelt und der Südseite der Stadt einen massiven zweiten Schlag versetzt, der eine unentdeckte Störstelle in dem Basaltrand losgerissen hatte. Etwa ein Drittel der Stadt hatte auf der falschen Seite dieses Bruchs gelegen und war fünf Kilometer hinab auf den Boden der Caldera gestürzt. Die restlichen zwei Drittel der Stadt waren flachgedrückt worden. Glücklicherweise waren die Bewohner größtenteils in den vier Stunden zwischen der Loslösung von Clarke und dem zweiten Ankommen des Kabels evakuiert worden, so daß Verluste an Menschenleben minimal waren. Aber Sheffield war völlig zerstört worden.
Während langer Jahre danach, erzählte ihnen Adrienne, hatte die Stätte verlassen dagelegen, ein Wrack wie so viele andere Städte nach dem Aufruhr von ’61. Die meisten dieser anderen Städte hatte man als Ruinen belassen; aber die Lage Sheffields blieb der ideale Platz zur Befestigung eines Weltraumaufzugs. Und als Subarashii in den späten 2080ern anfing, den Bau eines neuen im Raum zu organisieren, folgten die Bauarbeiten am Boden rasch nach. Eine genaue areologische Untersuchung hatte keine anderen Fehlstellen im Südrand ergeben, so daß man zuversichtlich direkt auf der Kante an der gleichen Stelle wie zuvor wieder bauen konnte. Räumfahrzeuge hatten die Trümmer der alten Stadt beseitigt, das meiste davon einfach über den Rand geschoben und nur den östlichsten Teil der Stadt um die alte Steckdose herum übrig gelassen als eine Art Denkmal der Katastrophe — und auch als Zentrum einer kleinen Touristenindustrie, die durchaus einen bedeutenden Anteil des Einkommens der Stadt in den mageren Jahren erbracht hatte, ehe wieder ein Aufzug installiert worden war.
Adriennes nächster Punkt bei der Tour führte sie hinaus, um dieses erhaltene Stück Geschichte zu besichtigen. Sie nahmen eine Straßenbahn zu einem Tor in der Ostwand des Zeltes und gingen durch eine klare Röhre in ein kleineres Zelt, das die Ruinen bedeckte sowie die Betonmasse der alten Kabelanlage und das untere Ende des herabgestürzten Kabels. Sie gingen auf einem eingezäunten Weg, der von Trümmern freigemacht war, und starrten neugierig auf die Fundamente und verdrehten Rohre.-Es sah aus wie das Ergebnis einer totalen Bombardierung.
Sie blieben unter dem stumpfen Ende des Kabels stehen, und Art betrachtete es mit professionellem Interesse. Der große Zylinder aus schwarzen Karbonfilamenten sah nach dem Fall fast unbeschädigt aus. Adrienne sagte, das Ende wäre in den großen Betonbunker der Steckdose hineingerammt und dann einige Kilometer weit gezerrt worden, als das Kabel am Osthang von Pavonis herunterfiel. Das war keine besondere Beanspruchung für ein Material, das dafür konstruiert war, der Zugkraft eines Asteroiden zu widerstehen, der über den areosynchronen Punkt hinausschwang.
Und so lag es nun da, als ob es darauf wartete, wieder hochgezogen und an Ort und Stelle gebracht zu werden. Zylindrisch, zwei Stockwerke hoch, die schwarze Masse besetzt mit Stahlschienen, Halteringen und dergleichen. Das Zelt bedeckte nur etwa hundert Meter von ihm. Danach lief es im Freien weiter nach Osten über das weite rundliche Plateau des Randes, bis es über dessen Südkante verschwand, die ihren Horizont bildete. Von dem Planeten unten konnten sie nichts sehen. Aber draußen, fern der Stadt, konnten sie besser denn je erkennen, daß Pavonis riesig groß war. Allein der Rand hatte eine immense Ausdehnung. Er stellte ein rundes Gebilde flachen Landes von vielleicht dreißig Kilometern Breite dar — von dem steilen inneren Rand der Caldera bis zu dem etwas sanfteren Abfall der Flanken des Vulkans. Von ihrem Ausguck aus konnten sie nichts vom übrigen Teil des Mars sehen. Daher schien es, als stünden sie auf einer hohen zirkulären Ringwelt unter einem dunklen lavendelfarbenen Himmel.
Gerade im Süden von ihnen hockte die neue Steckdose wie ein titanischer Betonbunker, aus dem das neue Aufzugskabel emporstieg wie eben ein solches. Aber es stand frei wie in einer Version des indischen Seiltricks, dünn, schwarz und gerade wie eine Lotschnur, die vom Himmel herunterfiel, höchstens nur bis zur Höhe einiger großer Wolkenkratzer sichtbar und in Anbetracht der Ruinen, in denen sie standen, und der enormen Größe des kahlen Vulkangipfels so zerbrechlich wirkend, als wäre es ein einziges Filament aus Karbon-Nanorohr und nicht ein Bündel aus Milliarden davon und die stärkste je hergestellte Struktur. »Das ist unheimlich«, sagte Art. Er fühlte sich leer und unsicher.
Nach ihrer Besichtigung der Ruinen führte Adrienne sie wieder zu einem Cafe auf einem Platz in der Mitte der Stadt, wo sie Lunch hatten. Hier hätten sie im Kern eines mondänen Viertels einer beliebigen Stadt irgendwo sein können. Es hätte Houston oder Tbilisi oder Ottawa sein können in einer Umgebung, wo ein geräuschvoller Baubetrieb frischen Aufschwung markierte. Als sie wieder in ihre Zimmer gingen, war das U-Bahnsystem ihrem Auge ebenso vertraut. Und wenn sie hinausgingen, waren die Hallen der Praxis-Erdgeschosse wie die eines feinen Hotels. Alles höchst vertraut, so sehr, daß es für ihn wieder ein Schock war, als er in sein Zimmer kam und den eindrucksvollen Anblick der Caldera hatte — das kahle Gesicht des Mars, immens und steinig, das ihn wie ein Vakuum durchs Fenster zu saugen schien. Und tatsächlich würde ihn, wenn die Fensterscheibe zerbräche, der Dekompressionsdruck sofort in diesen Raum saugen. Eine unwahrscheinliche Eventualität; aber die Vorstellung verursachte ihm eine unangenehme Erregung. Er schloß die Vorhänge.
Und danach hielt er die Vorhänge geschlossen und neigte dazu, sich auf der vom Fenster entfernten Seite des Zimmers aufzuhalten. Morgens zog er sich an und verließ den Raum rasch. Er nahm an Einführungstreffen von Adrienne teil, an denen sich etwa ein Dutzend Neuankömmlinge beteiligten. Nachdem er mit einigen von ihnen gefrühstückt hatte, machte er nachmittags Spaziergänge durch die Stadt und arbeitete ernstlich an seiner Geschicklichkeit zu gehen. Eines Abends schickte er Fort einen codierten Bericht: Auf dem Mars, mache Orientierung durch. Sheffield ist eine hübsche Stadt. Mein Zimmer hat eine Aussicht. Mehr war nicht zu vermelden.
Adriennes Einführung brachte sie zu einer Anzahl von Gebäuden der Praxis, sowohl in Sheffield wie oben am Ostrand, um Leute in den Marsunternehmungen der Transnationalen zu treffen. Praxis war auf dem Mars viel stärker präsent als in Amerika. Auf seinen Nachmittagsspaziergängen versuchte Art, die relative Stärke der Transnationalen abzuschätzen, nur nach den kleinen Schildern an den Seiten der Gebäude. Alle die größten Transnationalen waren da: Armscor, Subarashii, Oroco, Mitsubishi, die sieben Schweden, Shellalco, Gentine und so weiter. Jede nahm einen Gebäudekomplex ein oder ganze Areale in Nähe der Stadt. Offensichtlich waren alle da wegen des neuen Aufzugs, der Sheffield wieder zur wichtigsten Stadt des Planeten gemacht hatte. Sie ließen immer mehr Geld in die Stadt fließen, gründeten Unterabteilungen und sogar ganze Zeltvorstädte. In jedem Bau war der krasse Reichtum der Transnationalen deutlich — und auch, wie Art dachte, in der Weise, wie sich die Menschen bewegten. Zahllose Leute hopsten in den Straßen genau so ungeschickt herum wie er. Neu eingetroffene Geschäftsleute oder Bergbauingenieure und dergleichen, die sich mit gerunzelter Stirn auf den Akt des Gehens konzentrierten. Es war keine Kunst, die großen jungen Eingeborenen dazwischen zu erkennen mit ihrer katzenhaften Körperbeherrschung. Aber sie bildeten in Sheffield eine ausgesprochene Minderheit; und Art fragte sich, ob das auf dem Mars überall so wäre.
Was die Architektur anging, so war Raum unter dem Zelt hochbegehrt; und darum waren die fertigen Gebäude voluminös, oft kubisch, und beanspruchten ihr Areal bis hin zur Straße und bis hinauf zum Zelt. Wenn alle Bauarbeiten fertig waren, würde es nur ein Netz mit zehn dreieckigen Plazas geben und die breiten Boulevards und den Park, der sich gekrümmt längs des Randes hinzog, um zu verhindern, daß die Stadt eine durchgehende Masse gedrungener Wolkenkratzer würde mit Fronten aus polierten Steinen in verschiedenen Schattierungen von Rot. Es war eine City fürs Geschäft.
Und für Art sah es so aus, daß Praxis einen guten Anteil von diesem Geschäft bekommen würde. Subarashii war der Generalunternehmer für den Aufzug, aber Praxis lieferte die Software, wie sie sie für den ersten Aufzug gehabt hatten, und auch einige Wagen und einen Teil des Sicherheitssystems. Alle diese Zu-Weisungen waren, wie er erfuhr, von einem Komitee gemacht worden, das die ›Übergangsbehörde der UN‹ hieß, vermutlich einen Teil der UN bildete, aber von den Transnationalen kontrolliert wurde. Und Praxis war in diesem Komitee ebenso angriffslustig gewesen wie alle anderen. William Fort hätte sich vielleicht für Bioinfrastruktur interessiert; aber auch die gewöhnlichen Aktivitäten lagen offensichtlich nicht außerhalb der Betätigungen von Praxis. Es gab Arbeitsgruppen für den Bau von Wasserversorgungsanlagen, Bahnstrecken, Canyonstädten, Windkraftgeneratoren und areothermalen Kraftwerken. Die beiden letzteren galten weithin als Vorhaben im Grenzbereich, da die neuen orbitalen Sammler von Sonnenenergie und ein Fusionskraftwerk in Xanthe sich so gut machten, nicht zu erwähnen die ältere Generation integraler Schneller Reaktoren. Aber lokale Energiequellen waren die Spezialität des Tochterunternehmens von Praxis › Energie von Unten‹. Und das taten sie auch und arbeiteten schwer im Hinterland.
Das Tochterunternehmen von Praxis für Bergung, auf dem Mars das Gegenstück zu Dumpmines, hieß Ouroboros und war wie Energie von Unten ziemlich klein. In der Tat gab es, wie die Leute von Ouroboros Art schnell erzählten, als sie eines Morgens zusammenkamen, nicht viel Müllaufkommen auf dem Mars. Fast alles wurde wiederverwertet oder zur Schaffung von Ackerboden benutzt, so daß der Abfallplatz jeder Siedlung mehr zur Aufbewahrung diverser Materialien diente, die auf ihre besondere neue Verwendung warteten. Ouroboros machte es sich deshalb zur Aufgabe, alles an Abfall oder Abwässern zu sammeln, das etwas widerspenstig war — giftig, ausgefallen oder einfach unpassend —, und dann Wege für dessen Verwendung zu finden.
Das Ouroboros-Team in Sheffield nahm ein Stockwerk im Wolkenkratzer von Praxis in der Innenstadt ein. Die Gesellschaft hatte zunächst damit angefangen, die alte Stadt auszugraben, ehe die Ruinen so formlos über die Kante geschoben wurden. Ein Mann namens Zafir leitete das Projekt zur Bergung des heruntergefallenen Kabels; und er und Adrienne begleiteten Art zum Bahnhof, wo sie einen Lokalzug bestiegen und eine kurze Fahrt zum Ostrand unternahmen zu einer Reihe von Vorstadtzelten. Eines davon war das Vorratslager von Ouroboros, und gleich daneben befand sich neben vielen anderen Fahrzeugen eine wahrhaft gigantische mobile Verarbeitungsanlage, genannt ›Das Biest‹. Es sah aus wie ein überdimensionales Kompaktauto und war fast völlig robotisch. Ein anderes Biest war gerade auswärts, um das Kabel in West-Tharsis zu verarbeiten; und für Art war geplant, daß er eine Besichtigung vor Ort durchführen sollte. Also führten Zafir und eine Schar Techniker Art herum in dem Trainingsvehikel, das in einem geräumigen Gelaß auf der höchsten Etage endete, wo es Wohnmöglichkeiten gab für alle etwaigen Besucher.
Zafir war darüber begeistert, was Das Biest draußen in West-Tharsis gefunden hatte. Er sagte: »Natürlich gibt uns schon die Bergung des Karbonfilamentes und der Schraubenwindungen aus Diamant-Gel einen grundlegenden Zustrom an Einkommen. Und wir haben Erfolg mit einigen exotischen Stoffen, die in Brekzien in der letzten Hemisphäre des Falls umgewandelt wurden. Was Sie aber interessieren wird, sind die Buckiekugeln.« Zafir war ein Experte für diese kleinen geodätischen Kugeln namens Buckminsterfullerene und wurde enthusiastisch: »Temperaturen und Drücke in der West-Tharsis-Zone des Falls erwiesen sich als ähnlich denen, die bei dem Bogenreaktorverfahren zur Herstellung von Fullerenen angewandt wurden; und da gibt es einen hundert Kilometer langen Streifen, wo der Kohlenstoff auf der Bodenseite des Kabels fast völlig aus Buckiekugeln besteht.« Und einige Superbuckies hatten bei ihrer Bildung Atome anderer Elemente in ihren Karbonkäfigen eingefangen. Diese ›vollen Fullerene‹ waren nützlich bei der Herstellung von Verbindungen, aber im Labor sehr kostspielig herzustellen wegen der enormen benötigten Energiemengen. Darum war dies ein hübscher Fund. »Das Biest sortiert die verschiedenen Superbuckies aus, wo Ihre Ionenchromatographie ins Spiel kommt.«
»Ich verstehe«, sagte Art. Er hatte bei Analysen in Georgien mit Ionenchromatographie gearbeitet; und dies war der offensichtliche Grund dafür, daß er ins Hinterland geschickt wurde. Also trainierten in den nächsten Tagen Zafir und einige darin bewanderte Techniker Art in der Bedienung des Biestes. Danach hatten sie ein gemeinsames Dinner in einem kleinen Restaurant in dem Vorortzelt auf dem Ostrand. Nach Sonnenuntergang hatten sie einen großartigen Blick auf Sheffield, das etwa dreißig Kilometer um die Krümmung des Randes in der Dämmerung leuchtete wie eine Lampe auf dem schwarzen Abgrund.
Während sie so aßen und tranken, wandte sich die Konversation selten dem Thema von Arts Projekt zu. Art dachte darüber nach und kam zu dem Schluß, daß das wahrscheinlich eine absichtliche Höflichkeit der Kollegen ihm gegenüber war. Das Biest arbeitete vollkommen selbständig; und obwohl es einige Probleme bei der Aussortierung der kürzlich entdeckten vollen Fullerene gab, müßte es vor Ort Ionenchromatographen geben, die die Arbeit hätten tun können. Es gab also keinen offensichtlichen Grund, weshalb Praxis Art von der Erde dafür hätte heraufschicken sollen. Es mußte also mehr an seiner Geschichte dran sein. Und so vermied die Gruppe dies Thema und ersparte Art die Peinlichkeit zu lügen oder verlegenen Achselzuckens oder einer ausführlichen Aufforderung zur Vertraulichkeit.
Art wären alle diese Tricks unangenehm gewesen, darum schätzte er ihr Taktgefühl. Aber es brachte eine gewisse Distanz in ihre Gespräche. Und er sah die anderen Neulinge von Praxis nur selten außer bei Einführungstreffen; und er kannte niemanden sonst in der Stadt oder anderswo auf dem Planeten. Darum war er etwas einsam, und die Tage vergingen mit einem zunehmenden Gefühl des Unbehagens und sogar von Niedergeschlagenheit. Er hielt die Vorhänge vor der Aussicht von seinem Fenster aus geschlossen und speiste in Restaurants, die entfernt vom Rand lagen. Es kam ihm fast zu sehr so vor wie in den Wochen auf der Ganesh, die für ihn jetzt eine miserable Erinnerung bildeten. Manchmal mußte er sich des Gefühls erwehren, daß es ein Fehler gewesen war zu kommen.
Und so trank er nach ihrer letzten Orientierungslektion bei einem Empfangsessen im Praxisgebäude mehr als gewohnt und tat einige Atemzüge aus einem großen Kanister mit Lachgas. Das Inhalieren von Erholungsdrogen war ortsüblich und bei Bauarbeitern auf dem Mars recht verbreitet, wie man ihm gesagt hatte. Und es gab sogar kleine Kanister mit verschiedenen Gasen in Automaten mancher öffentlicher Herrentoiletten. Sicher verlieh die Salpetersäure dem Champagner eine besondere Spritzigkeit. Das war eine hübsche Kombination wie Erdnüsse und Bier oder Eiskrem und Apfeltorte.
Danach ging Art mit wirren Sprüngen durch die Straßen von Sheffield. Er empfand die Salpetersäure als eine Art von Antischwerkraftwirkung, die zusammen mit dem Grundeffekt auf dem Mars ihm ein fast allzu großes Gefühl von Leichtigkeit vermittelte. Technisch wog er etwa vierzig Kilo; aber beim Gehen fühlte er sie mehr wie fünf. Sehr seltsam, sogar unangenehm. Als ob man auf mit Butter beschmiertem Glas gehen würde.
Er stieß fast mit einem jungen Mann zusammen, der sichtlich größer war als er, so schlank wie ein Vogel und ebenso graziös, der schnell vor ihm abbog und ihn dann mit einer Hand auf der Schulter beruhigte, alles in einer glatten, fließenden Bewegung.
Der junge Mann sah ihm ins Gesicht. »Sind Sie Arthur Randolph?«
»Ja«, sagte Art überrascht, »der bin ich. Und wer sind Sie?«
»Ich bin derjenige, der sich mit William Fort in Verbindung gesetzt hat.«
Art blieb abrupt stehen und schwankte, um wieder auf die Füße zu kommen. Der junge Mann hielt ihn mit leichtem Druck senkrecht. Seine Hand lag fest auf Arts Oberarm. Er sah Art direkt an mit freundlichem Lächeln. Vielleicht zwanzig Jahre alt, schätzte Art, vielleicht jünger — ein hübscher Bursche mit brauner Haut und dichten schwarzen Augenbrauen und Augen, die leicht asiatisch waren und über vorstehenden Backenknochen saßen. Ein intelligenter Blick, voller Wißbegier und einer Art magnetischen Qualität, die schwer festzulegen war.
Art war er sofort sympathisch, ohne einen Grund, den er hätte angeben können. Es war bloß ein Gefühl. »Nennen Sie mich Art!« sagte er.
»Ich bin Nirgal«, sagte der Jüngling. »Lassen Sie uns zum Overlook Park hinuntergehen.«
Also ging Art mit ihm über den mit Gras bewachsenen Boulevard zu dem Park am Rand. Dort schlenderten sie über den Weg neben der Mauerkrone. Nirgal half Art bei seinen betrunkenen Wendungen, indem er freimütig seinen Oberarm packte und ihn steuerte. Sein Griff hatte eine durchdringende elektrische Eigenschaft und war sehr warm, als ob der Junge Fieber hätte. Aber in seinen dunklen Augen war kein Anzeichen davon.
»Warum sind Sie hier?« fragte Nirgal. Und seine Stimme und der Blick in seinen Augen machten die Frage zu etwas anderem als einer oberflächlichen Erkundigung. Art dachte über seine Antwort nach.
»Um zu helfen«, sagte er.
»Also wirst du zu uns stoßen?«
Wieder machte der junge Mann irgendwie klar, daß er etwas anderes, Fundamentales meinte.
»Ja, zu jeder Zeit, die ihr wollt«, versicherte Art.
Nirgal zeigte ein rasches, entzücktes Lächeln, das er nur zum Teil überwand, ehe er sagte: »Gut. Sehr gut. Aber schau, ich tue dies aus eigener Initiative. Verstehst du? Es gibt Leute, die es nicht billigen würden. Darum muß ich dich bei uns einschmuggeln, als ob es ein Unfall wäre. Ist das deinerseits okay?«
»Das ist fein.« Art schüttelte etwas verwirrt den Kopf. »So hatte ich es ohnehin vor.«
Nirgal machte bei der Ausguckblase halt, ergriff Arts Hand und hielt sie fest. Sein Blick, so offen und nicht blinzelnd, war ein Kontakt anderer Art. »Gut. Danke! Jetzt mach nur weiter, was du tust. Geh zu eurem Bergungsprojekt, und man wird dich dort aufgreifen. Wir werden uns danach wieder begegnen.«
Und weg war er. Er ging durch den Park in Richtung auf den Bahnhof und bewegte sich mit den langen anmutigen Schritten, die für alle jungen Einheimischen typisch zu sein schienen. Art schaute ihm nach und bemühte sich, alles über die Begegnung im Gedächtnis zu behalten und seinen Finger auf das zu legen, das sie so inhaltsreich gemacht hatte. Er stellte fest, daß es einfach der Blick in dem Gesicht des jungen Mannes gewesen war, aber noch mehr, irgendeine heitere Kraft. Art entsann sich des plötzlich ausgebrochenen Grinsens, als Art gesagt (versprochen) hatte, mit ihnen zusammenzukommen. Art mußte selbst grinsen.
Als er wieder in sein Zimmer kam, ging er direkt zum Fenster und öffnete die Vorhänge. Er trat zu dem Tisch an seinem Bett, setzte sich hin, stellte seinen Leser an und rief Nirgal auf. Unter diesem Namen war niemand registriert. Es gab ein Nirgal Vallis zwischen dem Argyre-Becken und Valles Marineris. Eines der besten Beispiele für einen von Wasser ausgetieften Kanal auf dem Planeten, wie die Eintragung sagte, lang und gewunden. Das Wort war der babylonische Name für Mars.
Art ging wieder ans Fenster und drückte die Nase gegen das Glas. Er schaute direkt in den Schlund des Dings hinab, in das felsige Herz des Monsters selbst. Horizontale Streifen der gekrümmten Wände, die weite runde Ebene so weit unten, die scharfe Kante, wo sie auf die kreisrunde Wand stieß — die unendlichen Schattierungen von Kastanienbraun, Rostfarben, Schwarz, Bräunlich, Orange, Gelb, Rot… Das sog er ein, zum ersten Mal ohne Angst. Und während er in dieses enorme Loch zum Innern des Planeten blickte, wurde die Furcht in ihm plötzlich durch ein neues Gefühl ersetzt; und er erschauerte und hüpfte auf der Stelle in einem kleinen Tanz. Er konnte mit der Aussicht zurechtkommen. Er konnte mit der Schwerkraft zurechtkommen. Er hatte einen Marsmenschen getroffen, ein Mitglied des Untergrundes, einen Burschen mit fremdartigem Charisma; und er würde mehr von ihm sehen, mehr von ihnen allen… Er war auf dem Mars.
Und ein paar Tage später war er auf dem Westhang von Pavonis Mons und fuhr einen kleinen Rover über eine schmale Straße hinab, die parallel zu einem Band aus gestörtem vulkanischem Geröll verlief, mit etwas, das wie der nach unten führende Schienenstrang einer Zahnradbahn aussah. Er hatte an Fort eine letzte Meldung geschickt und ihm mitgeteilt, daß er aufbräche, und die bis dahin einzige Antwort auf seine Reise erhalten: Ich wünsche gute Reise.
Die erste Stunde seiner Fahrt brachte das, was ihm ein jeder als höchst eindrucksvolle Aussicht versprochen hatte. Er überquerte den Westrand der Caldera und begann, die äußere Böschung des riesigen Vulkans hinunterzufahren. Das geschah etwa sechzig Kilometer westlich von Sheffield. Er fuhr über die Südwestkante des großen Randplateaus und bewegte sich langsam nach unten. Da erschien in der Tiefe und weit entfernt ein weiter Horizont als ein leicht gekrümmter dunstiger weißer Streifen, wie die Erde aus dem Fenster eines Raumschiffs. Das war auch sinnvoll, da der Gipfel von Pavonis etwa fünfundachtzigtausend Fuß über Amazonis Planitia aufragte. Es war also ein gewaltiger Anblick, die stärkste mögliche Erinnerung an die erstaunliche Höhe der Tharsisvulkane. Und er hatte in diesem Moment eine großartige Sicht auf Arsia Mons, der als der südlichste der drei Vulkane auf Tharsis zu seiner Linken wie eine Nachbarwelt über den Horizont aufragte. Und was im Nordwesten über dem fernen Horizont wie eine schwarze Wolke aussah, konnte sehr wahrscheinlich Olympus Mons selbst sein!
So führte die Fahrt am ganzen ersten Tag abwärts, aber Arts Stimmung blieb hoch. »Toto, es gibt keine Chance, daß wir noch in Kansas sind. Wir sind … weg, um den Zauberer zu sehen. Den wunderbaren Zauberer des Mars!«
Die Straße verlief parallel der Fallstrecke des Kabels. Dieses hatte die Westseite von Tharsis mit furchtbarer Wucht getroffen, natürlich nicht so heftig wie beim ersten Herumwickeln, aber ausreichend für die Erzeugung der interessanten Superbuckies, zu deren Erforschung Art ausgeschickt war. Das Biest, das er antreffen sollte, hatte allerdings bereits das Kabel in seiner Nähe geborgen, und das Kabel selbst war fast völlig verschwunden. Was allein übriggeblieben war, waren einige altmodisch wirkende Eisenbahngleise und eine dritte Schiene für Zahnräder in deren Mitte. Das Biest hatte diese Schienen aus Kohlenstoff vom Kabel angefertigt und dann andere Teile des Kabels und Magnesium aus dem Boden benutzt, um kleine, mit eigener Energie versehene Zahnrad-Miniwagen zu bauen, die dann Fracht aus geborgenem Material die Flanke von Pavonis hinauf zu den Ouroboros-Werken in Sheffield beförderten. Sehr geschickt, dachte Art, als er sah, wie ein kleiner Robotwagen in der umgekehrten Richtung an ihm vorbeifuhr, die Gleise hinauf zur Stadt. Der kleine Waggon war schwarz, niedrig und wurde von einem einfachen Motor angetrieben, der in die Zahnspur griff, beladen mit einer Fracht, die ohne Zweifel hauptsächlich aus Filamenten von Karbon-Nanorohren bestand. Oben darauf lag ein großer rechteckiger Diamantblock. Art hatte in Sheffield davon gehört und war deshalb nicht von dem Anblick überrascht. Der Diamant war aus den Doppelspiralen geborgen worden, die das Kabel verstärkten, und die Blöcke waren eigentlich viel weniger wert als die darunter verstauten Karbonfilamente. Sie waren nur eine Art Lukendeckel. Aber sie sahen hübsch aus.
Am zweiten Tag seiner Fahrt erreichte Art den ungeheuren Kegel von Pavonis und kam zum eigentlichen Tharsisbuckel. Hier war der Boden mehr mit lockerem Gestein und Meteoritenkratern bedeckt als die Flanke des Vulkans. Und dort unten war alles mit angewehtem Schnee und Sand bedeckt in einem Gemisch, das nach gleichen Teilen von beidem aussah. Dies war der Firnhang von West-Tharsis, ein Gebiet, in das Stürme aus dem Westen oft Schnee abluden, der nie schmolz, sondern alljährlich zunahm und die darunterliegende Schicht zusammenpreßte. So bestand die Packung aus Firnschnee; aber nach weiteren Jahren würden die untersten Schichten zu Eis geworden sein und die Abhänge zu Gletschern. Jetzt waren die Hänge noch gesprenkelt von großen Felsen, die aus dem Firn herausragten, und kleinen Kraterringen, zumeist weniger als ein Kilometer im Durchmesser, die so frisch aussahen, als ob sie erst gestern entstanden wären, abgesehen davon, daß sie jetzt mit sandigem Schnee gefüllt waren.
Als er noch viele Kilometer entfernt war, bekam Art Das Biest zu sehen, welches das Kabel barg. Sein Oberteil erschien über dem Westhorizont, und im Laufe der nächsten Stunde kam auch der Rest zum Vorschein. Draußen auf dem weiten, leeren Abhang wirkte das Gerät etwas kleiner als sein Zwilling droben in OstSheffield, zumindest, bis Art unter seine Flanke fuhr, wo es ihm wieder klar wurde, daß es so groß wie ein Häuserblock war. Unten an einer Seite war ein quadratisches Loch, das genau wie die Einfahrt zu einer Parkgarage aussah. Art fuhr seinen Rover direkt zu diesem Loch — Das Biest bewegte sich mit drei Kilometern am Tag, darum war es keine Kunst, es zu treffen — und als er drinnen war, fuhr er eine gewundene Rampe empor und folgte einem kurzen Tunnel in eine Schleuse. Dort sprach er per Funk zu dem KI des Biestes; und hinter ihm schlossen sich die Türen. Nach einer Minute konnte er einfach aus seinem Wagen aussteigen, zur Tür eines Aufzugs gehen und einen Lift zum Beobachtungsdeck nehmen.
Es dauerte nicht lange, um zu erkennen, daß das Leben im Innern des Biestes keineswegs aufregend war. Nachdem Art sich beim Büro in Sheffield gemeldet und einen Blick auf den Ionenchromatographen unten im Labor geworfen hatte, begab er sich mit dem Rover wieder nach draußen, um sich dort weiter umzusehen. Zafir versicherte ihm, daß es so zu gehen pflegte, wenn man mit dem Biest arbeitete. Die Rover waren wie Pilotfische, die um einen großen Wal herumschwimmen; und obwohl der Ausblick vom Beobachtungsdeck hübsch und hoch war, verbrachten die meisten Leute schließlich einen guten Teil ihrer Zeit mit Umherfahren.
Also tat Art das auch. Das vor dem Biest heruntergefallene Kabel zeigte deutlich, daß es hier beim Auftreffen nach dem Fall viel härter gewesen war als zu Beginn des Absturzes. Es war hier zu fast einem Drittel seines Durchmessers eingegraben, und der Zylinder war abgeflacht und durch lange Risse entlang seiner Seiten gekennzeichnet, die seine Struktur zeigten, die aus Bündeln von Bündeln aus Karbon-Nanorohrfilament bestand, einer der festesten Substanzen, die die Materialkunde kannte, obwohl anscheinend das Material des Aufzugskabels jetzt noch stärker war.
Das Biest hockte quer über diesem Wrack, etwa viermal so hoch wie das Kabel, dessen angekohlter schwarzer Halbzylinder in einem Loch an der Frontseite des Biestes verschwand, aus dem ein tiefes Brummen ertönte mit fast subsonischer Vibration. Und dann glitt jeden Tag etwa um zwei Uhr nachmittags eine Tür an der Rückseite des Biestes auf, oberhalb der bereits ausgeschiedenen Schienen; und ein Waggon mit Diamantdeckel rollte heraus. Er blitzte im Sonnenlicht und glitt auf Pavonis zu. Die Züge verschwanden über dem hohen Osthorizont etwa zehn Minuten nach ihrem Erscheinen aus dem Roboter in der Vertiefung, die jetzt zwischen ihm und Pavonis lag.
Nachdem er die tägliche Abfahrt beobachtet hatte, pflegte Art eine Fahrt in dem ›Pilotfisch‹-Rover zu unternehmen, um Krater und große isolierte Felsblöcke zu untersuchen — und sich nach Nirgal umzusehen oder wenigstens auf ihn zu warten. Nach ein paar solchen Tagen gewöhnte er es sich auch an, Schutzkleidung anzulegen und jeden Nachmittag einige Stunden spazierenzugehen. Er schlenderte neben dem Kabel oder dem Pilotfisch her oder kletterte in die Umgebung hinaus.
Es war ein merkwürdig aussehendes Gelände, nicht nur wegen der gleichmäßigen Verteilung von Millionen schwarzer Steine, sondern auch, weil die harte Firndecke durch Sandstrahl winde zu phantastischen Figuren gestaltet war: Grate, Pfeiler, tropfenförmige Schwänze hinter jedem freistehenden Felsen usw. Diese Gebilde hießen Sastrugi. Es machte Spaß, zwisehen diesen extravaganten aerodynamischen Extrusionen aus rötlichem Schnee zu wandern.
Das machte er jeden Tag. Das Biest mahlte sich langsam nach Westen voran. Art fand, daß die vom Wind getroffenen kahlen Oberseiten der Felsen oft mit bunten Stellen gefärbt waren, die Schuppen aus schnellen Flechten waren, einer rasch wachsenden Art — jedenfalls rasch für Flechten. Art suchte einige Mustersteine aus, nahm sie mit ins Biest und las neugierig nach über Flechten. Dies waren offenbar künstlich geschaffene kryptoendolithische Flechten, was bedeutete, daß sie im Stein lebten und in dieser Höhe genau am Rande des Möglichen existierten. Der Artikel über sie sagte, daß mehr als achtundneunzig Prozent ihrer Energie nur dafür gebraucht würden, um am Leben zu bleiben. Und das stellte eine große Verbesserung dar gegenüber der irdischen Spezies, auf der sie beruhten.
Es vergingen weitere Tage und dann Wochen, aber was konnte er tun? Er blieb dabei, Flechten zu sammeln. Einer der Kryptoendolithen, die er fand, war nach Aussage des Lesegeräts die erste Spezies, die auf der Marsoberfläche überlebt hatte, und sie war von Mitgliedern der legendären Ersten Hundert entdeckt worden. Er zerbrach einige Steine, um besser sehen zu können, und fand Bänder von Flechten, die in den äußeren Zentimetern des Steins wuchsen. Erst ein gelber Streifen direkt an der Oberfläche, dann ein blauer Streifen darunter und dann ein grüner. Nach dieser Entdeckung machte er oft auf seinen Wanderungen halt, um sich hinzuknien und seine Gesichtsscheibe an farbige Steine zu halten, die aus dem Firn ragten. Er bestaunte die krustigen Schuppen und deren intensive blasse Farben — gelb, oliv, khakigrün, waldgrün, schwarz und grau.
Eines Nachmittags fuhr er mit dem Pilotfisch weit nach Norden vom Biest und stieg aus, um herumzuklettern und Proben zu sammeln. Als er zurückkehrte, stellte er fest, daß sich die Schleusentür an der Seite des Pilotfischs nicht öffnen ließ. »Was, zum Teufel?« rief er laut.
Es war so lange her, daß er vergessen hatte, daß etwas passieren könnte. Das Ereignis hatte offenbar in Form einer elektronischen Panne stattgefunden. Er nahm an, daß es das wäre — und wenn nicht, etwas anderes. Er rief über Interkom und versuchte jeden ihm bekannten Code auf dem Tastenfeld an der Schleusentür, aber nichts hatte Erfolg. Und da er nicht wieder hinein konnte, konnte er auch nicht die Notsysteme einschalten. Und das Interkom seines Helms hatte eine sehr beschränkte Reichweite — praktisch den Horizont —, der hier von Pavonis entfernt auf marsianische Nähe geschrumpft war, nur wenige Kilometer nach allen Richtungen. Das Biest befand sich deutlich über dem Horizont; und obwohl er es wahrscheinlich zu Fuß erreichen konnte, gab es unterwegs eine Strecke, auf der sowohl das Biest wie der Pilotfisch unter dem Horizont sein würden — und er allein in einem Anzug mit beschränktem Luftvorrat…
Plötzlich nahm die Gegend mit ihren schmutzigen Sastrugi sogar im hellen Sonnenschein ein fremdes, unheilvolles Aussehen an. »Zum Teufel!« sagte Art und dachte scharf nach. Schließlich war er ja hier draußen, um vom Untergrund aufgegriffen zu werden. Nirgal hatte gesagt, daß das wie ein Unfall aussehen würde. Natürlich war das nicht unbedingt dieser Unfall; aber, ob er es war oder nicht, Panik würde nicht helfen. Am besten machte er die Arbeitshypothese, daß es ein reales Problem wäre; und er würde von hier weggehen. Er könnte versuchen, zum Biest zurückzukehren, oder er könnte versuchen, in den Pilotfisch-Rover zu gelangen.
Er überlegte noch und tippte auf der Tastatur der Schleusentür herum wie ein Schreibmaschinenchampion, als man ihm kräftig auf die Schulter klopfte. »Aaa!« schrie er und fuhr erschrocken herum.
Zwei Männer in Schutzanzügen und zerkratzten alten Helmen standen neben dem Rover. Durch die Gesichtsscheiben konnte er sie erkennen: eine Frau mit einem Gesicht wie ein Falke, die so aussah, als ob sie nach ihm hacken wollte, und ein kleiner Mann mit schmalem Gesicht und grauen Haarzotteln, die den Rand seiner Visierscheibe bedeckten wie die Bilderrahmen aus Tauen, die man gelegentlich in Matrosenkneipen findet.
Dies war der Mann, der Art auf die Schulter geklopft hatte. Jetzt hob er drei Finger und zeigte auf seine Armbandkonsole. Offenbar das Interkomband, das sie benutzten. Art schaltete es ein und rief: »He!« Er fühlte sich mehr erleichtert, als er eigentlich sollte, in Anbetracht dessen, daß dies wahrscheinlich von Nirgal arrangiert worden war und er sich nie in Gefahr befunden hatte. »He, anscheinend bin ich von meinem Wagen ausgesperrt? Könnt ihr mich mitnehmen?«
Sie starrten ihn an.
Der Mann lachte furchterregend und sagte: »Willkommen auf dem Mars!«