Ann Clayborne fuhr den Geneva-Vorsprung hinunter und hielt alle paar scharfen Kehren an, um auszusteigen und Proben der Straßeneinschnitte zu entnehmen. Die Transmarineris-Fernstraße war nach ’61 aufgegeben worden und verschwand jetzt unter dem schmutzigen Strom aus Eis und Steinen, der den Boden von Coprates Plasma bedeckte. Die Straße war ein archäologisches Relikt, eine Sackgasse.
Aber Ann studierte den Geneva-Vorsprung. Er war das letzte Ende eines viel größeren Lavadeichs, dessen größter Teil in dem Plateau im Süden begraben war. Der Deich war einer von mehreren — der nahe gelegenen Melas Dorsa, der Teils Dorsa weiter östlich und der Solis Dorsa weiter westlich — alle rechtwinklig zu den Marineris-Canyons und alle geheimnisvollen Ursprungs. Aber als die Südwand von Melas Chasma zurückgewichen war durch Einsturz und Winderosion, wurde der harte Fels vines Deichs freigelegt. Und dies war der Geneva-Vorsprung, der den Schweizern eine perfekte Rampefür ihre Straße die Canyonwand hinunter geliefert hatte. Jetzt verschaffte sie Ann eine angenehm frei liegende Basis für einen Deich. Es war möglich, daß dieser und alle zugehörigen Deiche durch konzentrische Risse infolge des Aufstiegs von Tharsis entstanden waren. Aber sie könnten auch viel älter sein, Überreste einer Spreizung von Basis und Breite infrühester Vorzeit, als der Planet sich noch aufgrund seiner inneren Wärme ausdehnte. Wenn man den Basalt am Fuß des Deichs datieren könnte, würde das helfen, die Frage in dem einen oder anderen Sinne zu beantworten.
Also fuhr Ann in einem kleinen Felswagen langsam die von Reif bedeckte Straße hinunter. Man würde die Bewegung des Wagens aus dem Weltraum recht gut erkennen können; aber das machte ihr nichts aus. Sie war im vorigen Jahr durch die ganze südliche Hemisphäre gefahren ohne Vorsichtsmaßnahmen, außer wenn sie sich Cojotes versteckten Zufluchtsplätzen zwecks Versorgung näherte. Es war nichts passiert.
Sie erreichte den Boden des Vorsprungs, nur eine kurze Strecke von dem Strom aus Eis und Gestein entfernt, der jetzt den Boden des Canyons blockierte. Sie stieg aus und klopfte mit einem Geologenhammer am Boden des letzten Straßeneinschnittes herum. Sie kehrte dem riesigen Gletscher den Rücken zu und machte sich nichts daraus. Sie war auf den Basalt konzentriert. Der Deich stieg vor ihr in die Sonne auf, eine perfekte Rampe zur Spitze der Klippe, etwa drei Kilometer über ihr und fünfzig Kilometer im Süden. Auf beiden Seiten des Vorsprungs krümmte sich die riesige südliche Klippe von Melas Chasma in großen Einbuchtungen zurück und dann wieder nach außen zu kleineren Vorsprüngen — ein kleiner Punkt auf dem fernen Horizont zur Linken und ein massives Vorgebirge etwa sechzig Kilometer zur Rechten, welches Ann Cape Solis nannte.
Vor langer Zeit hatte Ann vorausgesagt, daß stark beschleunigte Erosion jeder Anreicherung der Atmosphäre mit Wasser folgen würde; und auf beiden Seiten des Vorsprungs ließ die Klippe erkennen, daß sie recht gehabt hatte. Die Einbuchtung zwischen dem Geneva-Sporn und Cape Solis war immer tief gewesen; aber jetzt zeigten einige frische Erdrutsche, daß sie rasch noch tiefer wurde. Aber selbst die jüngsten Narben waren ebenso wie der Rest der Riefen und Schichtung der Klippe mit Reif bestäubt. Die große Wand hatte die Farbe von Zion oder Bryce nach Schneefall — Rot mit Weiß gestreift.
Auf dem Boden des Canyons war ein sehr niedriger schwarzer Grat zu sehen, etwa zwei Kilometer westlich des Geneva-Vorsprungs und parallel zu ihm. Bei näherem Zusehen schien die nicht mehr als brusthohe Erhebung wirklich aus dem gleichen Basalt zu bestehen wie der Vorsprung. Ann nahm ihren Hammer und schlug eine Probe ab.
Eine Bewegungfiel ihr ins Auge; und sie sprang hoch, um zu schauen. Cape Solis fehlte die Nase. Eine rote Wolke blähte sich von seinem Fuß auf.
Ein Erdrutsch! Sofort startete sie die Stoppuhr auf ihrem Armband, zog dann die binokulare Maske über ihre Gesichtsscheibe und hantierte mit der Schärfe, bis das ferne Bergland klar in ihrem Gesichtsfeld stand. Der von dem Abbruch freigelegte Fels war schwärzlich und schien fast vertikal zu sein. Vielleicht eine sich abkühlende Fehlstelle im Deich, falls auch das ein Deich war. Es sah aus wie Basalt. Und es schien, als ob sich der Bruch über die ganze Höhe der Klippe erstreckt hätte, ihre ganzen vier Kilometer.
Die Vorderseite der Klippe verschwand in der aufsteigenden Staubwolke, die sich aufblähte, ah wäre eine riesige Bombe hochgegangen. Einem entfernten, fast subsonischen Knall folgte ein schwaches Dröhnen wie entfernter Donner. Ann sah auf mr Handgelenk: etwas unter vier Minuten. Die Schallgeschwindigkeit betrug auf dem Mars 252 Meter in der Sekunde. Also war die Distanz von sechzig Kilometern bestätigt. Ann hatte fast den ersten Moment des Falls gesehen.
Tief in der Einbuchtung gab auch-ein kleineres Stück der Klippe nach, ohne Zweifel ausgelöst durch Stoßwellen. Aber im Vergleich mit dem zusammengebrochenen großen Eandstück, das Millionen Kubikmeter Gestein umfaßt hatte, sah es aus wie ein ganz gewöhnlicher Steinschlag. Es war phantastisch, wirklich einen dar ganz großen Erdrutsche zu sehen. Die meisten Areologen und Geologen hatten sich auf Explosionen oder Computersimulationen verlassen müssen. Einige in Volles Marineris verbrachte Wochen würden für sie das Problem lösen.
Und da kam es nun. Es rollte über den Boden wie die Front einer Staubwolke, wie ein Zeitlupenfilm eines sich nähernden Gewitters mit akustischen Effekten und allem. Es war wirklich eine recht weite Strecke vom Cape. Ann erkannte sofort, daß sie Zeugin eines weit ausgedehnten Erdrutsches war. Das war ein seltsames Phänomen, eines der ungelösten Rätsel der Geologie. Die große Mehrheit der Erdrutsche bewegt sich horizontal um weniger als die zweite Distanz ihres Falls. Aber einige wenige sehr große scheinen den Gesetzen der Reibung zu trotzen und laufen horizontal zehnmal so weit, wie sie vertikal abstürzen; und niemand weiß, warum das geschieht. Cape Solis war jetzt vier Kilometer gefallen und hätte also nicht mehr als acht laufen sollen. Aber hier war es, ganz über den Boden von Melas, und lief den Canyon hinab auf Ann zu. Wenn es nur vierzehnmal seine vertikale Fallstrecke zurücklegen würde, müßte es direkt über sie hinwegrollen und in die Geneva-Fortsetzung prallen.
Sie fokussierte ihren Feldstecher auf die Frontseite des Rutsches, die eben gerade als eine dunkle brodelnde Masse unter der wirbelnden Staubwolke zu erkennen war. Sie spürte, wie ihre Hand gegen den Helm zitterte, fühlte sonst aber nichts. Keine Furcht, kein Bedauern — wirklich nichts außer einer gewissen Erleichterung. Sie hatte immer gesagt, daß das Terraformen sie töten würde. Sie lachte kurz auf und kniff dann die Augen zu, um die Frontseite des Erdrutsches besser zu erkennen. Die älteste Standardhypothese zur Erklärung des weiten Laufens war, daß das Gestein über einer Luftschicht schwebte, die unter der Stelle des Falls zusammengepreßt gefangen war. Später hatten alte Fälle von weitem Laufen, die auf dem Mars und Erdmond entdeckt wurden, diese Idee in Zweifel gezogen, und Ann stimmte jenen zu, die argumentierten, daß jede unter dem Gestein eingefangene Luft rasch nach oben wegdiffundieren würde. Es mußte aber irgendein Schmiermittel geben. Unter anderem waren vorgeschlagen worden: eine Schicht aus infolge der Reibung geschmolzenem Gestein, akustische Wellen, die durch den Lärm des Falls verursacht wurden, oder auch nur das energetische Hüpfen der am Boden des Erdrutsches eingefangenen Partikel. Aber keine dieser Hypothesen war befriedigend; und niemand war sich sicher. Ann war mit einem geheimnisvollen Phänomen konfrontiert.
Nichts hinsichtlich der hier unter der Staubwolke auf sie zukommenden Masse wies auf die eine oder andere Theorie hin. Sicher glühte sie nicht wie geschmolzene Lava; und obwohl sie laut war, konnte man keinesfalls beurteilen, ob sie so laut war, daß sie auf ihrem sonischen Dröhnen reiten könnte. Auf jeden Fall kam sie näher, ganz gleich, durch welchen Mechanismus. Es sah ganz so aus, als ob, obwohl Ann eine Chance zu persönlicher Beobachtung hatte, ihr letzter Beitrag zur Geologie im Moment der Entdeckung verlorengehen würde.
Sie blickte auf ihre Uhr und war überrascht zu sehen, daß schon zwanzig Minuten vergangen waren. Man wußte, daß weite Eäufe schnell sein würden. Man schätzte, daß der Erdrutsch von Blackside in der Mojave-Wüste mit einhundertzwanzig Kilometern in der Stunde gelaufen war, wobei er eine Neigung von nur ein paar Grad nach unten glitt. Melas war im allgemeinen etwas steiler. Und tatsächlich kam die Front rasch näher. Der Lärm wurde stärker, wie direkt über einem grollender Donner. Die Staubwolke stieg höher und blockierte die nachmittägliche Sonne.
Ann wandte sich um und schaute auf den großen Marineris-Gletscher hinaus. Sie war von ihm einmalfast getötet worden, als der Ausbruch eines Wasserlagers die großen Canyons hinabströmte. Und Frank Chalmers war wirklich von ihm getötet und irgendwo weit stromabwärts im Eis begraben worden. Sein Tod war durch ihren Fehler verursacht worden, worüber die Gewissensbisse sie nie verlassen hatten. Es war nur ein Moment der Unaufmerksamkeit gewesen, aber eben doch ein Fehler. Und manche Fehler kann man nie wieder gutmachen.
Und dann war auch Simon gestorben, überwältigt von einem Schwall seiner weißen Blutzellen. Jetzt war sie an der Reihe. Die Erleichterung war so heftig, daß es geradezu schmerzte.
Sie hatte das Geschiebe vor sich. Der am Boden sichtbare Stein schien zu hüpfen, rollte aber nicht auf sie zu. Offenbar glitt er wirklich auf irgendeiner schmierenden Schicht. Geologen hatten fast intakte Wiesen im oberen Teil von Erdrutschen gefunden, die viele Kilometer zurückgelegt hatten. Also war das die Bestätigung von etwas Bekanntem. Es sah aber dennoch eigenartig aus, fast irreal. Ein niedriger Wall, der Über das Land vorrückte, ohne sich zu überschlagen — wie durch einen Zaubertrick. Der Boden unter den Füßen bebte; und Ann merkte, daß sie die Hände zu Fäusten geballt hatte. Sie dachte an Simon, der in seinen letzten Stunden mit dem Tode gekämpft hatte, undfauchte. Es erschien ihr nicht richtig, da zu stehen und das Ende so fröhlich zu begrüßen. Sie wußte, daß er es nicht billigen würde. Wie in einer seinem Geist geweihten Geste ging sie von dem niedrigen Lavadeich weg und ließ sich dahinter auf ein Knie nieder. Das grobe Korn des Basalts sah in dem braunen Licht stumpf aus. Sie fühlte die Vibrationen und sah zum Himmel auf. Sie hatte getan, was sie konnte; und niemand konnte ihr einen Vorwurf machen. Jedenfalls war es töricht, so zu denken. Niemand würde je erfahren, was sie hier machte, nicht einmal Simon. Und der Simon in ihrem Innern würde nie aufhören, sie zu plagen, ganz gleich, was sie täte. Also war es Zeit auszuruhen und dankbar zu sein. Die Staubwolke rollte über den niedrigen Deich, es erhob sich ein Wind…
Bum! Sie wurde durch den Anprall des Lärms flach hingestreckt. Dann rappelte sie sich auf und schleppte sich über den Boden des Canyons, von Steinen überschüttet. Sie steckte in einer dunklen Wolke und kroch auf Händen und Knien. Überall um sie herum war Staub, das Gebrüll knirschender Felsen erfüllte alles, und der Boden unter ihr schüttelte sich wie ein wildes Tier …
Das Kumpeln ließ nach. Ann war immer noch auf allen vieren und fühlte den kalten Stein durch ihre Handschuhe und Knieschützer. Windstöße reinigten die Luft. Sie war von Staub und Gesteinssplittern bedeckt.
Wackelig stand sie auf. Ihre Hände und Knie schmerzten, und eine Kniescheibe war vor Kälte taub. Ihr linkes Handgelenk war verstaucht. Sie ging zu dem niedrigen Deich und schaute hinüber. Der Erdrutsch war ungefähr dreißig Meter davor zum Halten gekommen. Der Boden davor war mit Geröll bedeckt, aber der Rand des eigentlichen Geschiebes war eine schwarze Wand aus pulverisiertem Basalt mit einem Neigungswinkel von etwa fünfundvierzig Grad und zwanzig oder fünfundzwanzig Meter hoch. Wenn sie auf dem Deich stehengeblieben wäre, hätte der Anprall der Luft sie umgeworfen und getötet. »Verdammt!« sagte sie zu Simon.
Die nördliche Grenze des Erdrutsches war bis zum MelasGletscher vorgedrungen, hatte das Eis geschmolzen und sich mit ihm zu einem dampfenden Trog von Felsblöcken und Schlamm vermischt. Die Staubwolke machte es schwer, viel davon zu sehen. Ann überquerte den Deich und ging zum Fuß des Geschiebes. Die Steine auf dem Boden waren noch heiß. Sie schienen stärker zertrümmert zu sein als die weiter oben. Ann starrte die neue schwarze Wand an. Ihr klangen die Ohren. Nicht fair, dachte sie. Nicht fair.
Sie ging zum Geneva-Vorsprung zurück. Sie fühlte sich unwohl und benommen. Der Felsenwagen stand noch auf der Sackgasse, staubig, aber offenbar unbeschädigt. Lange Zeit brachte sie es nicht über sich, ihn zu berühren. Sie blickte zurück über die lange, rauchende Masse des Geschiebes — ein schwarzer Gletscher, dicht bei einem weißen. Endlich öffnete sie die Schleuse und bückte sich hinein. Es gab keine andere Wahl.
Ann fuhr jeden Tag ein kleines Stück. Dann stieg sie aus und ging über den Planeten. Sie verrichtete ihre Arbeit verbissen wie ein Automat.
Zu beiden Seiten der Tharsishöhe gab es eine Depression. Auf der Westseite war Amazonis Planitia, eine tiefliegende Ebene, die weit in die Gebirge des Südens reichte. Im Osten lag der Chryse-Trog, eine Senke, die vom Argyrebecken durch den Margaritifer Sinus und Chryse Planitia verlief, den tiefsten Punkt der Senke. Der Trog lag durchschnittlich zwei Kilometer tiefer als seine Umgebung; und alles chaotische Gelände auf dem Mars sowie die alten Ausbruchkanäle befanden sich darin.
Ann fuhr nach Osten längs des Südrandes von Marineris, bis sie sich zwischen Nirgal und Aureum Chaos befand. Sie hielt an, um sich bei dem Refugium namens Dolmenhügel wieder zu versorgen, wo Michel und Kasei sie am Ende ihres Rückzugs aus Marineris 2061 aufgenommen hatten. Es machte ihr nichts aus, das kleine Refugium wiederzusehen. Sie erinnerte sich kaum daran. Alle ihre Erinnerungen waren dahin, was sie als tröstlich empfand. Sie arbeitete tatsächlich daran und konzentrierte sich mit solcher Intensität auf den Moment, daß selbst dieser entschwand. Jeder Augenblick war ein Lichtblitz in einem Nebel, als ob in ihrem Kopf etwas zerbräche.
Gewiß datierte der Trog aus der Zeit vor dem Chaos und den Ausbruchskanälen, die ohne Zweifel wegen des Trogs dort lagen. Der Tharsis-Buckel war eine mächtige Quelle von Ausgasung aus dem heißen Zentrum des Planeten gewesen, alle die radialen und konzentrischen Frakturen darum entließen flüchtige Substanzen aus dem tiefen Innern des Mars. Im Regolith war Wasser nach unten geflossen in die Depressionen zu beiden Seiten des Buckels. Es könnte sein, daß die Senken das direkte Resultat des Buckels wären, einfach indem die Lithosphäre auf den Außengebieten, von wo sie hochgedrückt worden war, nach unten gebogen wurde. Es könnte aber auch sein, daß der Mantel sich unter den Depressionen gesenkt hätte, so wie er unter dem Buckel aufgestiegen war. Standardmodelle der Konvektion würden einen solchen Gedanken unterstützen — das Emporquellen mußte schließlich irgendwo wieder nach unten führen, durch Hinabrollen an den Seiten und dem Hinterherziehen der Lithosphäre in der Umgebung.
Und dann war oben im Regolith Wasser wie gewöhnlich nach unten gelaufen und hatte sich in den Trögen gesammelt, bis die Reservoire aufbrachen und die Oberfläche darüber zusammenbrach. Daher die Ausbruchkanäle und das Chaos. Das war ein gutes Arbeitsmodell, plausibel und stark, welches eine Menge von Merkmalen erklärte.
Also fuhr Ann jeden Tag und ging umher auf der Suche nach Bestätigung der Erklärung des Chrysetrogs durch Konvektion im Mantel. Sie wanderte über die Oberfläche des Planeten, kontrollierte alte Seismographen und schlug Gesteinsproben ab. Es war jetzt schwierig, im Trog nach Norden vorzustoßen. Die Ausbrüche der Wasserlager von 2061 hatten den Weg fast blockiert und nur einen schmalen Spalt zwischen dem Ostende des großen Marineris-Gletschers und der Westseite eines kleineren Gletschers gelassen, der die ganze Länge von Ares Vallis ausfüllte. Dieser Spalt war östlich von Noctis Labyrinthus die erste Gelegenheit, den Äquator zu überschreiten, ohne über Eis zu geraten; und Noctis war sechstausend Kilometer entfernt. Darum hatte man in dem Spalt eine Piste und eine Straße gebaut und eine recht große Kuppelstadt auf dem Rand des Galileikraters errichtet. Südlich von Galilei war der engste Teil des Spaltes nur vierzig Kilometer breit, eine befahrbare ebene Zone zwischen dem östlichen Arm des Hydaspis Chaos und des westlichen Teils von Aram Chaos. Es war schwer, durch diese Zone zu fahren und sich dabei unter dem Horizont zu halten; und Ann fuhr hart am Rande von Aram Chaos mit Blick auf das zertrümmerte Gelände.
Nördlich von Galilei war es leichter. Und dann war sie aus dem Spalt heraus und auf Chryse Planitia. Dies war das Herzsstück des Trogs mit einem Gravitationspotential von -0,65; der leichteste Fleck auf dem Planeten, sogar noch leichter als Hellas und Isidis.
Aber eines Tages fuhr sie auf den Gipfel eines einsamen Berges und sah, daß sich mitten in Chryse ein EisSee befand. Ein langer Gletscher war von Simud Vallis heruntergeflossen und hatte in dem tiefen Punkt von Chryse einen Teich gebildet, der sich ausgedehnt hatte, bis er zu einem See aus Eis wurde, der das Land bis über den Horizont im Norden, Nordosten und Nordwesten bedeckte. Ann fuhr langsam um sein westliches und dann sein nördliches Ufer herum. Der See hatte einen Durchmesser von zweihundert Kilometern.
Nahe dem Ende eines Tages hielt sie ihren Wagen auf dem Rand eines Geisterkraters an und schaute über die weite Fläche von zerbrochenem Eis. Es hatte ’61 so viele Ausbrüche gegeben. Es war klar, daß einige gute Areologen in jenen Tagen für die Rebellen gearbeitet hatten. Sie hatten Wasserreservoire gefunden und Explosionen von Reaktorschmelzen ausgelöst genau dort, wo die hydrostatischen Drücke am höchsten waren. Ann hatte den Eindruck, daß sie viele ihrer Entdeckungen benutzt hatten.
Aber das war Vergangenheit und jetzt abgetan. All das war dahin. Hier und jetzt gab es nur diesen Eissee. Die alten Seismographen, die sie aufgefunden hatte, wiesen Aufzeichnungen auf, die Störungen durch neuere Beben aus dem Norden vermeldeten, wo es nur geringe Aktivität hätte geben sollen. Vielleicht bewirkte das Abschmelzen der nördlichen Polkappe, daß die Lithosphäre dort wieder nach oben drängte und viele kleine Marsbeben auslöste. Aber die von den Seismographen aufgezeichneten Erschütterungen waren einzelne kurzperiodische Stöße, eher wie Explosionen als wie Marsbeben. Ann hatte ihr Computerarchiv viele lange Abende hindurch studiert und war verwirrt.
Jeden Tag fuhr sie und ging dann zu Fuß. Sie verließ den Eissee und wandte sich weiter nach Norden auf Acidalia zu.
Die großen Ebenen der Nordhemisphäre galten im allgemeinen als flach; und das waren sie gewiß im Vergleich mit der Chaosregion oder den Gebirgen des Südens. Aber immerhin waren sie nicht so eben wie ein Spielplatz oder eine Tischfläche, nicht einmal annähernd. Überall gab es Wellen, ein ständiges Auf und Ab von Buckeln und Löchern, Grate brechenden Urgesteins, Senken voll feiner Flugstoffe, große zerklüftete Felder mit Felsblöcken, isolierte Hügel und kleine Sinklöcher… Es war anders als auf der Erde. Auf der Erde hätte Boden die Höhlungen gefüllt, und Wind und Wasser und pflanzliches Leben hätten die Berggipfel zernagt und abgetragen, und dann wäre das Ganze überflutet worden oder fortgeschafft oder von Eisplatten flachgedrückt oder durch tektonische Einwirkung angehoben. Alles wurde weggerissen und Dutzende Male im Verlauf der Äonen wieder aufgebaut und immer wieder durch Wetter, Fauna und Flora abgeflacht. Aber diese gewellten Ebenen, deren Löcher durch Metoritenaufprall geschlagen worden waren, hatten sich seit Milliarden von Jahren nicht verändert. Und dabei gehörten sie zu den jüngsten Oberflächen auf dem Mars.
Es war mühsam, durch solch klumpiges Gelände zu fahren, und man konnte sich sehr leicht verirren beim Gehen, besonders dann, wenn der Wagen genau so wie alle anderen Felsblöcke aussah, die da verstreut lagen. Das galt vor allem, wenn man abgelenkt wurde. Mehr als einmal mußte Ann ihr Fahrzeug durch Funksignal finden anstatt nach Sicht. Manchmal kam sie dicht heran, ohne es zu erkennen. Und dann wachte sie auf oder kam zu sich mit zitternden Händen im nachträglichen Schock einer selbstvergessenen Träumerei.
Die besten Fahrrouten liefen entlang der niedrigen Grate und Deiche aus freiliegendem Urgestein. Wenn diese hohen Basaltwege miteinander in Verbindung gestanden hätten, wäre es leicht gewesen. Aber meistens waren sie durch Querfalten unterbrochen, die zunächst nur leichte Rillen waren, aber dann immer tiefer und breiter wurden, wenn man vorrückte — in Folgen wie auseinanderkippende Brotscheiben, bis die Spalten aufrissen und mit Geröll und Grus gefüllt wurden und der Deich nur wieder Teil eines Felsblocks wurde.
Sie fuhr weiter nach Norden auf Vastitas Borealis zu. Acidalia, Borealis — die alten Namen waren so eigenartig. Ann tat ihr Bestes, nicht mehr nachzudenken, aber während der langen Stunden im Wagen war es weniger gefährlich zu lesen, als zu versuchen, achtsam zu bleiben. Also las sie aufs Geratewohl in der Bibliothek ihres Computers. Oft landete sie da beim Anstarren areologischer Karten; und eines Abends bei Sonnenuntergang las sie nach einer solchen Sitzung etwas über Marsnamen nach.
Es zeigte sich, daß die meisten von Giovanni Schiaparelli stammten. Er hatte auf seinen teleskopischen Karten mehr als hundert Albedoobjekte benannt, deren meiste ebenso illusorisch waren wie die canali. Aber als die Astronomen der 1950er Jahre eine revidierte Karte von Albedoobjekten angefertigt hatten, die fotografiert werden konnten und die allgemeine Zustimmung fanden, wurden viele Namen Schiaparellis beibehalten.
Das war ein Tribut an seine besondere Stärke der Namengebung, die er besessen hatte. Er war ein angesehener klassischer Philologe und ein Erforscher biblischer Astronomie; und unter seinem Namen gab es lateinische, griechische, biblische und homerische Bezüge in bunter Mischung. Er hatte aber auch wohl ein gutes Auge. Ein Beweis seines Talents war der Kontrast zwischen seinen Karten und den konkurrierenden Karten des neunzehnten Jahrhunderts. Zum Beispiel beruhte die Karte eines Engländers namens Proctor auf den Zeichnungen eines Reverend William Dawes. Darum gab es auf Proctors Karten, die nicht einmal zu den anerkannten Albedomerkmalen erkennbare Beziehungen hatten, einen Dawes-Kontinent, einen Dawes-Ozean, eine Dawes-Meerenge, ein Dawes-Meer und eine gegabelte Dawes-Bucht. Ebenso ein Airy-Meer, einen de la Rue-Ozean und ein Beer-Meer. Allerdings war das letztere ein Tribut für einen Deutschen namens Beer, der eine Marskarte gezeichnet hatte, die noch schlechter war als die von Proctor. Aber im Vergleich mit diesen war Schiaparelli ein Genie gewesen.
Aber nicht folgerichtig. Die Objekte auf dem Merkur wurden alle nach großen Künstlern benannt und die auf der Venus nach berühmten Frauen. Wenn man eines Tages über deren Landschaften fahren oder fliegen würde, könnte man das Gefühl haben, in kohärenten Welten zu leben. Nur auf dem Mars bewegte man sich in einem schrecklichen Mischmasch aus Träumen der Vergangenheit, die dem Kenner sagten, welch katastrophale Mißverständnisse des wahren Geländes sie verrieten: der See der Sonne, die Goldebene, das Rote Meer, Pfauenberg, Phönix-See, Kimmerien, Arkadien, der Golf der Perlen, der Gordische Knoten, Styx, Hades, Utopia …
Auf den dunklen Dünen von Vastitas Borealis wurden Ann allmählich die Vorräte knapp. Ihre Seismographen zeigten im Osten tägliche Beben an, und sie fuhr dorthin. Bei ihren Spaziergängen im Freien studierte sie die granatroten Sanddünen und deren Schichten, welche das frühere Klima wie Jahresringe im Holz anzeigten. Aber Schnee und starke Winde rissen die Kämme der Dünen fort. Die Westwinde konnten äußerst heftig sein, genug, um Schichten grobkörnigen Sandes zu packen und gegen ihren Wagen zu schleudern. Der Sand lagerte sich immer in Form von Dünen ab. Das war eine einfache Sache der Physik; aber die Dünen würden ihren langsamen Marsch um die Welt aufnehmen, und ihr in früheren Zeiten aufgestellter Rekord würde hinfällig sein.
Ann verdrängte diesen Gedanken und studierte das Phänomen, als ob es nicht durch neue künstliche Kräfte gestört würde. Sie konzentrierte sich auf ihre Arbeit, packte ihren Geologenhammer und schlug damit Steinproben ab. Die Vergangenheit war Stück für Stück zerbröckelt. Zurückgelassen. Sie weigerte sich, daran zu denken. Aber immer wieder fuhr sie aus dem Schlaf hoch mit der Vorstellung, daß das schnell laufende Geschiebe auf sie zukäme. Und wenn sie endgültig wach war, schwitzte und zitterte sie vor der hellen Morgendämmerung und der wie brennender Schwefel flammenden Sonne.
Cojote hatte ihr eine Karte seiner Verstecke im Norden gegeben; und jetzt kam sie zu einem, das in einem Haufen haushoher Felsblöcke versteckt war. Sie versorgte sich wieder und ließ eine kurze Notiz des Dankes zurück. Nach dem letzten Reiseplan, den Cojote ihr gegeben hatte, wollte er bald in diese Gegend kommen. Aber es gab kein Zeichen von ihm, und Warten hatte keinen Sinn. Also fuhr sie weiter.
Sie fuhr und sie ging. Aber sie konnte sich nicht helfen. Die Erinnerung an den Erdrutsch verfolgte sie. Was ihr Kummer machte, war nicht, daß sie knapp dem Tod entronnen war. Das war ohne Zweifel schon öfters passiert, meist so, daß sie es nicht bemerkt hatte. Nein, es war einfach, wie zufällig es gewesen war. Das hatte nichts mit Wert oder Fitness zu tun. Es war reine Kontingenz. Ein betontes Gleichgewicht — ohne das Gleichgewicht. Wirkungen folgten nicht aus Ursachen; und man bekam nicht bloß einfach den Nachtisch serviert. Schließlich hatte sie zu viel Zeit im Freien verbracht und zu viel Strahlung abbekommem. Aber Simon war es, der gestorben war. Und sie war als einzige am Lenkrad eingeschlafen. Aber Frank war es, der gestorben war. Es war einfach eine Sache des Zufalls, ob man überlebte oder ausgelöscht wurde.
Es war schwer zu glauben, daß natürliche Zuchtwahl überhaupt ein solches Universum geschaffen hätte. Da unter ihren Füßen in den Vertiefungen zwischen den Dünen wuchsen Archaebakterien auf Sandkörnern. Aber die Atmosphäre gewann rasch Sauerstoff, und alle Archaebakterien würden aussterben mit Ausnahme jener, die sich zufällig unter der Oberfläche befanden, isoliert von dem Sauerstoff, der für sie so giftig war. Natürliche Auswahl oder Zufall? Man stand da, atmete Gase ein, während der Tod auf einen zuraste — und wurde von Steinen bedeckt und starb, oder aber von Staub bedeckt und überlebte. Und nichts, was man tat, spielte in diesem großen Entweder-Oder eine Rolle.
Eines Nachmittags, als sie aufs Geratewohl im Computer schmökerte, um sich zwischen ihrer Rückkehr zum Wagen und dem Abendessen abzulenken, lernte sie, daß die zaristische Polizei Dostojewski zur Exekution herausgeführt und erst nach mehreren Stunden des Wartens zurückgeholt hatte. Ann las den Bericht über diesen Vorfall zu Ende und saß dann auf dem Fahrersitz mit den Füßen auf dem Armaturenbrett da und starrte blind auf den Bildschirm. Über sie ergoß sich wieder ein strahlender Sonnenuntergang. Das Tagesgestirn stand seltsam groß und hell in der dichter werdenden Atmosphäre. Dostojewski war für sein ganzes Leben verändert worden, erklärte der Autor in der umfassenden Biographie. Ein Epileptiker, der zu Gewalttätigkeit und Verzweiflung neigte. Es war ihm nicht gelungen, das Erlebnis zu integrieren. Für immer wütend, ängstlich, besessen.
Ann schüttelte den Kopf und lachte. Sie ärgerte sich über den idiotischen Schreiber, der einfach nicht verstand. Natürlich integrierte man das Erlebnis nicht. Das war sinnlos. Und unmöglich.
Am nächsten Tage erhob sich ein Turm über den Horizont. Sie hielt an und beobachtete ihn durch das Teleskop des Wagens. Dahinter war viel Bodennebel. Die Bebenanzeigen ihres Seismographen waren jetzt sehr stark und schienen etwa aus Norden zu kommen. Sie fühlte sogar selbst eine Erschütterung, die bei den Stoßdämpfern des Wagens wirklich sehr heftig sein mußte. Es konnte möglicherweise mit dem Turm zusammenhängen.
Sie stieg aus. Die Sonne war tief im dunstigen Westen fast untergegangen und der Himmel ein großer Bogen aus violetten Farben. Das Licht würde sich hinter ihr befinden und das Sehen sehr erschweren. Sie schlängelte sich zwischen Dünen durch und begab sich dann vorsichtig auf einen Dünenkamm, kroch die letzten Meter der Strecke und sah sich über den Grat den Turm an, der sich jetzt nur ein Kilometer im Osten befand. Als sie erkannte, wie nahe seine Basis war, drückte sie das Kinn ganz auf den Boden zwischen Trümmerstücke von der Größe ihres Helmes.
Es war eine Art von mobilem Bohrunternehmen, und zwar einem großen. Die massive Basis war flankiert von riesigen Lastwagen auf Raupen, wie man sie benutzt, um die größten Raketen auf einem Raumhafen zu befördern. Der Bohrturm ragte aus diesem Ungetüm mehr als sechzig Meter empor; und die Basis und der untere Teil des Turms enthielten deutlich die Unterkunft der Techniker nebst Ausrüstung und Vorräten.
Hinter diesem Ding, eine kleine Strecke nach Norden abwärts, war ein Meer aus Eis. Unmittelbar nördlich vom Bohrer ragten die Kämme der großen Dünen noch aus dem Eis — erst als ein holpriger Sand und dann in Form Hunderter sichelförmiger Inseln. Aber einige Kilometer weiter draußen verschwanden die Dünenspitzen, und es gab nur noch Eis.
Das Eis war rein, sauber, unter dem Himmel des Sonnenunterganges transparent purpurn — klarer als alles Eis, das sie je auf der Oberfläche des Mars gesehen hatte, und glatt, nicht zerklüftet wie alle Gletscher. Es dampfte schwach. Der Reif wurde vom Wind nach Osten geweht. Und außen darauf liefen Menschen in Schutzanzügen und Helmen Schlittschuh. Sie sahen aus wie Ameisen auf einer Schüssel Gelee.
In dem Moment, da sie das Eis erblickte, wurde es ihr klar. Vor langer Zeit hatte sie selbst die Hypothese erhärtet, welche die Zweiteilung der Hemisphären erklärte. Danach war die tief gelegene glatte nördliche Hemisphäre nur ein riesengroßes Aufprallbecken, das Resultat einer kaum vorstellbaren Kollision in der Vorzeit zwischen Mars und einem fast ebenso großen Planetesimal. Das Gestein des aufschlagenden Körpers war, soweit es nicht verdampfte, zu einem Teil des Mars selbst geworden. Und es gab Argumente in der Literatur, wonach die unregelmäßigen Bewegungen im Mantel, die den Tharsisbuckel verursacht hatten, späte Entwicklungen waren infolge von Störungen, die von dem Aufprall herrührten. Ann fand das nicht wahrscheinlich; aber es war klar, daß der große Zusammenstoß stattgefunden hatte, die Oberfläche der ganzen nördlichen Hemisphäre weggewischt und sie um durchschnittlich vier Kilometer gegenüber dem Süden niedriger gemacht hatte. Ein erstaunlicher Schlag. Aber das war in grauer Vorzeit geschehen. Ein Aufprall gleicher Größenordnung hatte wahrscheinlich die Geburt von Luna aus der Erde heraus bewirkt. Es gab sogar einige hartnäckige Gegner der Aufprallhypothese, die argumentierten, daß der Mars, wenn er ebenso schwer getroffen worden wäre, einen ebenso großen Mond hätte haben müssen.
Aber jetzt, als sie so auf dem Bauch lag und das gigantische Bohrgerüst anschaute, kam sie zu der Ansicht, daß die nördliche Hemisphäre noch tiefer lag, als es zuerst den Anschein gehabt hatte, weil ihr Boden aus gewachsenem Fels erstaunlich tief lag, fast fünf Kilometer unter dem Niveau der Dünen. Der Aufprall hatte so tief gewirkt, und dann hatte sich die Depression größtenteils wieder aufgefüllt mit einer Mischung von Auswurfmaterial aus dem großen Stoß, von durch Wind verwehtem Sand und Grus, späterem Aufprallmaterial, Erosionsstoffen, die von dem Abhang der Großen Böschung herunterglitten, sowie mit Wasser. Jawohl, Wasser, das wie immer den tiefsten Punkt gesucht hatte. Das Wasser in der jährlichen Reifkappe und den alten Ausbrüchen von Reservoirs, und von dem Ausgasen aus dem zertrümmerten Urgestein und den Linsen in der Polkappe — all das war schließlich zu diesem tiefen Gebiet gewandert und hatte sich zu einem wahrhaft enormen Reservoir unter der Oberfläche vereinigt, einem See aus Eis und Flüssigkeit, der sich als Band um den ganzen Planeten herumzog und unter allem nördlich von 60° Breite lag mit Ausnahme ironischerweise einer Insel aus Urgestein, auf der die Polkappe selbst hockte.
Ann hatte selbst vor vielen Jahren dieses unterirdische Meer entdeckt; und nach ihren Schätzungen lagerten dort zwischen sechzig und siebzig Prozent des ganzen Wassers auf dem Mars. Es war wirklich der Oceanus Borealis, von dem manche Terraformer sprachen — aber tief, tief begraben und größtenteils gefroren, vermischt mit Regolith und feinem Grus, ein Ozean der ewigen Gefrornis mit etwas Flüssigem unten auf dem tiefsten Urgestein. Alles war dort für immer eingeschlossen, oder, so hatte sie gemeint, weil der Permafrost-Ozean — ganz gleich, wieviel Wärme die Terraformer auf die Oberfläche des Planeten wirken ließen — nicht viel schneller als um ein Meter pro Jahrtausend auftauen würde. Und selbst wenn er schmelzen sollte, würde er unter der Oberfläche bleiben. Das war einfach eine Folge der Schwerkraft.
Also stand der Bohrturm vor ihr. Sie suchten bergmännisch nach dem Wasser. Sie schlossen die flüssigen Reservoire direkt auf und schmolzen den Permafrost mit Sprengstoffen. Dann gewannen sie die Schmelze und pumpten sie auf die Oberfläche. Das Gewicht des darüberliegenden Regoliths würde helfen, das Wasser durch Rohre nach oben zu drücken. Das Gewicht von Wasser auf der Oberfläche würde noch mehr drücken. Wenn es genügend Bohrtürme wie diesen gäbe, könnten sie eine enorme Menge an die Oberfläche fördern. Schließlich würde man ein seichtes Meer haben. Dies würde wieder gefrieren und für einige Zeit ein Eis-See werden. Aber zwischen Erwärmung der Atmosphäre, Sonnenlicht, Einwirkung von Bakterien und zunehmenden Winden würde der schließlich wieder schmelzen. Und dann gäbe es einen Oceanus Borealis. Und die alte Vastitas Borealis mit ihren die Welt umschließenden schwarzen und granatfarbenen Dünen wäre der Boden eines Meeres. Ertrunken.
Ann ging zu ihrem Wagen zurück in der Dämmerung. Sie bewegte sich unbeholfen. Es war schwierig, die Schleusen zu öffnen und den Helm abzunehmen.
Drinnen setzte sie sich mehr als eine Stunde vor der Mikrowelle hin, ohne sich zu bewegen. Bilder kamen ihr in den Sinn. Ameisen, die unter einem Vergrößerungsglas verbrannten, ein Ameisenhügel, der hinter einem Damm aus Schlamm ertrank… Sie hatte gedacht, daß sie in dieser vor-posthumen Existenz, in der sie lebte, nichts mehr anrühren könnte; aber ihre Hände zitterten, und sie bemerkte nicht, wie der Reis und Lachs in der Mikrowelle kalt wurden. Der Rote Mars war dahin. Ihr Magen war ein kleiner Stein in ihrem Leib. In dem Zufallsstrom universeller Kontingenz spielte nichts eine Rolle. Und dennoch, dennoch …
Sie fuhr weg. Sie wußte nicht, was sie sonst hätte tun können. Die Ebene war glatter als gewöhnlich und der Horizont die üblichen fünf Kilometer entfernt, wie es ihr von Underhill und den ganzen übrigen Tiefländern vertraut war. Eine kleine Welt, vollständig angefüllt mit kleinen schwarzen Steinen wie fossilen Bällen für mancherlei Sportarten, nur alle schwarz und mehr oder weniger facettiert. Das waren Windprodukte.
Sie stieg aus, ging umher und schaute sich um. Die Felsen zogen sie an. Sie marschierte eine weite Strecke nach Westen.
Eine Front niedriger Wolken rollte über den Horizont; und sie spürte, wie sie von Böen getroffen wurde. Im vorzeitigen Dunkel des plötzlich stürmischen Nachmittags nahm das Feld der Steine eine geisterhafte Schönheit an. Sie stand in einer Scheibe aus trüber Luft, die zwischen zwei Flächen klumpiger Schwärze brauste.
Die Felsen waren Basalt, der von den Winden an einer exponierten Fläche poliert war, bis diese Fläche flach abgetragen war. Das mochte eine Million Jahre gedauert haben. Und dann waren die darunterliegenden Tonschichten weggeblasen worden, oder eines der seltenen Marsbeben hatte die Gegend erschüttert; und der Stein war in eine neue Position geschoben worden und hatte eine andere Fläche dargeboten. Und der Prozeß hatte von neuem begonnen. Eine neue Facette wurde langsam von dem endlosen Fegen mikronkleiner Scheuerstoffe flach geschabt, bis sich wieder einmal das Gleichgewicht des Steins änderte oder ein anderer Stein dagegen stieß oder etwas anderes ihn aus seiner Position rückte. Und dann würde es wieder losgehen. So erging es jedem Stein auf diesem Feld. Er verschob sich etwa jede Jahrmillion und lag dann still unter dem Wind — Tag um Tag, Jahr um Jahr. So gab es hier Einkanter mit nur einer Facette und Dreikanter mit drei Facetten, Vierkanter, Fünfkanter — bis hin zu nahezu perfekten Hexaedern, Oktaedern und Dodekaedern. Erzeugnisse des Windes. Ann hob einen nach dem andern hoch und dachte, wie viele Jahre ihre abgeflachten Seiten darstellten, und fragte sich, ob ihr Geist nicht ähnliche Abtragungen aufwiese, große Teile, die von der Zeit abgeflacht wurden.
Es fing an zu schneien. Erst wirbelnde Flocken, dann große weiche Stücke, die der Wind herunterrieseln ließ. Es war draußen relativ warm, und der Schnee war matschig, dann graupelig und danach eine üble Mischung aus Hagel und nassem Schnee, die mit einem scharfen Wind herabfiel. Als der Sturm weiter andauerte, wurde der Schnee sehr schmutzig. Offenbar war er lange in der Atmosphäre auf und ab getrieben und hatte dabei Grus und Staub und Rauchpartikel aufgesammelt, daraufhin mehr Flüssigkeit auskristallisiert und bei einem Aufwind in einem Gewitterkopf das wiederholt, bis das, was herunterkam, fast schwarz war. Schwarzer Schnee. Und dann fiel eine Art von gefrorenem Schlamm herab, der die Löcher und Lücken zwischen den Produkten des Windes füllte, ihre Oberseiten zudeckte und dann an den Seiten herunterfiel, als der scharfe Wind eine Million kleiner Lawinen erzeugte. Ann torkelte ziellos und zwecklos dahin, bis sie sich einen Knöchel verrenkte und mit fliegendem Atem stehenblieb, einen Stein in jeder kalten, mit Handschuhen bekleideten Hand haltend. Sie erkannte, daß das lange Geschiebe sich immer noch bewegte. Und schlammiger Schnee prasselte aus der schwarzen Luft und begrub die Ebene.
Aber nichts hält ewig, nicht einmal Stein und nicht einmal Verzweiflung.
Ann ging wieder zu ihrem Wagen, ohne zu wissen, wie und warum. Sie fuhr jeden Tag ein kleines Stück und gelangte unbeabsichtigt zu Cojotes Versteck. Dort blieb sie eine Woche lang, ging über die Dünen und mampfte ihr Essen.
Dann eines Tages: »Ann, di da do?«
Sie verstand nur das Wort Ann. Erschreckt über die Wiederkehr ihres Zungenredens hielt sie beide Hände an den Radiolautsprecher und versuchte zu sprechen. Es kam nichts heraus als ein erstickter Ton.
»Ann, di da do?«
Das war eine Frage.
»Ann«, sagte sie, als ob sie sich übergäbe.
Zehn Minuten später war sie in ihrem Wagen und drückte ihn an sich. »Wie lange bist du schon hier?«
»Nicht… nicht lange.«
Sie setzten sich. Ann nahm sich zusammen. Es war wie lautes Denken. Sicher dachte sie noch in Wörtern.
Cojote redete weiter, vielleicht etwas langsamer als sonst, und sah sie scharf an.
Sie fragte ihn nach dem Eisbohrturm.
»Ah, ich habe mich gefragt, ob du auf einen solchen stoßen würdest.«
»Wie viele gibt es davon?«
»Fünfzig.«
Cojote sah ihren Gesichtsausdruck und nickte kurz. Er aß gierig; und sie hatte den Eindruck, daß er leer bei dem Versteck angekommen war. »Sie stecken eine Menge Geld in diese großen Projekte. Der neue Aufzug, diese Wasserbohrer, Stickstoff von Titan… ein großer Spiegel da draußen zwischen uns und der Sonne, um mehr Licht auf uns zu werfen. Hast du davon gehört?«
Sie versuchte, sich zusammenzunehmen. Fünfzig. O Gott…
Das machte sie wild. Sie war auf den Planeten böse gewesen, weil er ihr keine Pause gönnte. Weil er sie erschreckte, aber nicht aktiv unterstützte. Aber das war eine andere Art von Ärger. Und als sie jetzt da saß, Cojote beim Essen zusah und über die Überschwemmung von Vastitas Borealis nachdachte, spürte sie, wie sich in ihr Wut zusammenzog wie eine prästellare Staubwolke — zusammenballte, bis sie zusammenstürzte und sich entzündete. Heiße Wut. Das Gefühl war schmerzlich. Und dennoch war es dieselbe alte Sache, Ärger über das Terraformen. Die alte ausgebrannte Emotion, die in den frühen Jahren zu einer Nova explodiert war, ballte sich jetzt zusammen und ging wieder los. Sie wollte das nicht, wirklich nicht. Aber verdammt, der Planet schmolz unter ihren Füßen. Er zerfiel. Zu Brei gestampft in einem Montanvorhaben der Erde.
Es mußte etwas getan werden.
Und sie hatte wirklich etwas zu tun, sei es auch nur, um die Stunden auszufüllen, die sie verbringen mußte, ehe sich irgendein Vorfall ihrer erbarmte. Etwas, um die präposthumen Stunden herumzubringen. Rache eines Zombies — nun, warum nicht? Bereit zu Gewalttätigkeit, bereit zu Verzweiflung …
»Wer baut sie?« fragte sie.
»Zumeist Consolidated. Es gibt Fabriken in Mareotis und Bradbury Point, die sie herstellen.« Cojote schlang noch einige Zeit weiter und sah sie dann an. »Das gefällt dir wohl nicht?«
»Allerdings nicht.«
»Möchtest du ihm Einhalt gebieten?«
Sie gab keine Antwort.
Cojote schien zu verstehen. »Ich meine nicht, die ganze Terraformungsbemühung zu stoppen. Aber es gibt einiges, das man tun kann. Die Fabriken in die Luft jagen.«
»Die würden sie bloß wieder aufbauen.«
»Das kann man nie sagen. Es würde sie hemmen. Es könnte genügend Zeit einbringen, bis etwas in globalerem Maßstab geschieht.«
»Du denkst an die Roten?«
»Ja. Ich denke, die Leute würden sie als Rote bezeichnen.«
Ann schüttelte den Kopf. »Die brauchen mich nicht.«
»Nein. Aber vielleicht kannst du sie brauchen? Und du bist für sie eine Heldin, wie du weißt. Du würdest ihnen mehr bedeuten als bloß eine weitere Person.«
Anns Geist war wieder leer geworden. Rote — sie hatte nie an die geglaubt, nie geglaubt, daß eine solche Form des Widerstands funktionieren würde. Aber jetzt — nun gut, selbst wenn es nicht klappen sollte, könnte es besser sein als Nichtstun. Man sollte sie mit einem Stock ins Auge stechen!
Und wenn es funktionierte …
»Laß mich darüber nachdenken!«
Sie sprachen über andere Dinge. Plötzlich wurde Ann von einer jähen Ermüdung befallen, was seltsam war, da sie so viel Zeit mit Nichtstun verbracht hatte. Aber so war es. Sprechen war eine anstrengende Tätigkeit, und sie war das nicht mehr gewohnt. Und Cojote war ein anstrengender Gesprächspartner.
»Du solltest zu Bett gehen«, sagte er und unterbrach seinen Monolog. »Du siehst erschöpft aus. Deine Hände …«Er half ihr auf. Sie legte sich in Kleidern auf ein Bett. Cojote breitete eine Decke über sie. »Du bist müde. Ich überlege, ob es bei dir nicht Zeit für eine neue Langlebigkeitsbehandlung ist, altes Mädchen.«
»Ich werde keine mehr nehmen.«
»Nein? Gut, du überraschst mich. Aber schlaf jetzt! Schlaf!«
Sie zog mit Cojote zusammen wieder nach Süden, und abends aßen sie zusammen, und er erzählte ihr von den Roten. Das war eine lockere Gruppierung und nicht eine starr organisierte Bewegung. Wie der Untergrund selbst. Er kannte einige der Gründer: Ivana, Gene und Paul von dem Farmteam, die mit Hirokos Areophanie und ihrem Beharren auf Viriditas nicht übereinstimmten, Kasei und Harmakhis und einige Zygote-Exogene, eine Menge von Arkadys Gefolgsleuten, die von Phobos heruntergekommen waren und dann mit Arkady aneinandergerieten über den Wert des Terraformens für die Revolution. Eine ganze Menge Bogdanovisten einschließlich Steve und Marian waren in den Jahren seit 2061 Rote geworden, wie auch Anhänger des Biologen Schnelling und einige radikale japanische Nisei und Sansei von Sabishii und Araber, die wollten, daß der Mars für immer arabisch bleiben sollte. Außerdem geflohene Gefangene von Korolyov und so weiter. Ein Haufen Radikaler. Nicht gerade ihr Typ, dachte Ann, denn sie hatte immer noch das Gefühl, daß ihre Einwände gegen das Terraformen rationaler wissenschaftlicher Natur wären. Oder mindestens eine zu verteidigende ethische oder ästhetische Position. Aber dann kam in ihr plötzlich wieder der Ärger hoch, und sie schüttelte den Kopf, von sich selbst angewidert. Wer war sie, daß sie über die Ethik der Roten urteilen könnte? Die hatten wenigstens ihren Ärger ausgedrückt und zugeschlagen. Wahrscheinlich fühlten sie sich besser, selbst wenn sie nichts ausgerichtet hatten. Und vielleicht hatten sie doch etwas ausgerichtet, zumindest in früheren Jahren, ehe das Terraformen in diese neue Phase von transnationalem Gigantismus eingetreten war.
Cojote beharrte darauf, daß die Roten das Terraformen erheblich verlangsamt hätten. Manche von ihnen hatten sogar Rekorde erzielt in dem Versuch, den von ihnen bewirkten Unterschied zu quantifizieren. Es gab auch, wie er sagte, unter einigen Roten eine wachsende Bewegung, die Realität anzuerkennen und zuzugeben, daß das Terraformen kommen würde. Aber sie entwickelten Programme, die verschiedene Arten von Terraformen geringster Einwirkung befürworteten. »Es gibt einige sehr detaillierte Vorschläge für eine weitgehend Kohlendioxid enthaltende Atmosphäre, warm, aber arm an Wasser, die das Pflanzenleben fördern würde und bei der die Leute Gesichtsmasken tragen müßten, wobei die Welt aber nicht in ein terrestrisches Modell gezwängt würde. Das ist sehr interessant. Es gibt auch etliche Vorschläge, bei denen die tiefen Zonen arktisch und für uns nur eben erträglich sind, während die höherliegenden Gebiete oberhalb des Großteils der Atmosphäre bleiben und damit in einem natürlichem Zustand oder nahe daran. Die Calderas der vier großen Vulkane würden in einer solchen Welt besonders rein bleiben, so etwa sagen sie.«
Ann bezweifelte, daß die meisten dieser Vorschläge realisierbar wären oder die vorausgesagten Wirkungen haben könnten. Aber Cojotes Mitteilungen reizten sie dennoch. Er war, wie es schien, ein starker Befürworter aller Bemühungen der Roten und war ihnen von Anfang an eine große Hilfe gewesen. Er hatte ihnen aus dem Untergrund Asyl gewährt, ihre gegenseitigen Verbindungen gefördert und ihnen geholfen, ihre eigenen Zufluchsstätten zu bauen, die sich hauptsächlich in den Mesas und dem unübersichtlichen Gelände der Großen Böschung befanden, wo sie der terraformenden Tätigkeit nahe blieben und sich deshalb leichter einmischen konnten. Ja — Cojote war ein Roter oder mindestens ein Sympathisant. »Eigentlich bin ich nichts. Ein alter Anarchist. Ich denke, du würdest mich jetzt einen Anhänger von Boone nennen insofern, als ich an alles glaube, dessen Verwirklichung helfen würde, den Mars zu einem freien Mars zu machen. Manchmal denke ich, daß das Argument, eine für Menschen verträgliche Oberfläche würde der Revolution helfen, gut ist. Manchmal nicht. Jedenfalls sind die Roten ein starkes Guerillapotential. Ich teile ihre Meinung, daß wir nicht hier sind, um etwa Kanada zu reproduzieren — um Gottes willen! Also helfe ich. Ich bin gut im Verstecken, und es gefällt mir.«
Ann nickte.
»Willst du dich also mit ihnen zusammentun? Oder dich wenigstens mit ihnen treffen?«
»Ich werde darüber nachdenken.«
Ihr Interesse an Gestein war dahin. Jetzt kam sie nicht umhin zu bemerken, wie viele Anzeichen von Leben es auf dem Land gab. In den zehner und zwanziger Graden des Südens schmolz an Nachmittagen im Sommer Eis von den Gletschern des Ausbruchs, und das kalte Wasser strömte abwärts und teilte das Land in neue primitive Wasserscheiden. Es verwandelte die Hänge der Vorberge in etwas, das Ökologen als Fellfields, eine Art von Bergmooren, kennen. Diese steinigen Stellen bildeten die ersten Lebensgemeinschaften, nachdem das Eis wich. Sie bestanden aus Algen, Flechten und Moosen. Sandiger Regolith, der von hindurchströmendem Wasser mit Mikrobakterien infiziert war, wurde erstaunlich rasch, wie sie meinte, zum Fellfield: und die empfindlichen Lebensformen wurden bald zerstört. Ein großer Teil des Regoliths auf dem Mars war ultratrocken gewesen, so dürr, daß bei Kontakt mit Wasser starke chemische Reaktionen auftraten — viel Freisetzung von Wasserstoffperoxid und Salzkristallisationen. Im wesentlichen wurde der Boden zersetzt und floß als sandiger Schlamm stets nach unten in lockeren Terrassen, sogenannten Solifluktionsrinnen, und in mit Reif bedeckten neuen Proto-Fellfields. Die Merkmale des Geländes verschwanden. Das Land schmolz. Nach langer eintägiger Fahrt durch ein derart verändertes Gebiet sagte Ann zu Cojote: »Vielleicht werde ich zu ihnen sprechen.«
Aber erst kehrten sie nach Zygote zurück oder Gamete, wo Cojote zu tun hatte. Ann blieb in Peters Zimmer, da er fort war und der Raum, den sie sich mit Simon geteilt hatte, anderen Zwecken zugeführt worden war. Sie hätte sowieso nicht darin bleiben können. Peters Zimmer lag unter dem von Harmakhis, ein rundes Bambussegment, in dem ein Pult, ein Stuhl und auf dem Boden eine Matratze waren sowie ein Fenster, das auf den Teich führte. In Gamete war alles gleich, aber auch anders. Und trotz der Jahre, in denen sie Zygote regelmäßig besucht hatte, fühlte sie sich mit nichts davon verbunden. Es war in der Tat hart, sich daran zu erinnern, wie Zygote gewesen war. Sie wollte sich auch nicht erinnern, sondern übte sich ständig im Vergessen. Jedesmal, wenn ein Bild aus der Vergangenheit zu ihr kam, sprang sie auf und tat etwas, das Konzentration erforderte. Sie untersuchte Steinproben oder seismographische Aufzeichnungen oder kochte komplizierte Mahlzeiten oder ging aus, um mit den Kindern zu spielen, bis das Bild verblaßt und die Vergangenheit gebannt war. Mit einiger Übung konnte man der Vergangenheit fast völlig trotzen.
Eines Abends steckte Cojote den Kopf durch die Tür in Peters Zimmer. »Hast du gewußt, daß auch Peter ein Roter ist?«
»Was?«
»Das ist er. Aber er arbeitet unabhängig, meistens im Weltraum. Ich glaube, daß sein Rutsch vom Fahrstuhl herunter ihn auf den Geschmack dafür gebracht hat.«
»Mein Gott!« sagte sie enttäuscht. Das war auch so ein zufälliges Ereignis. Nach allen Regeln hätte Peter sterben sollen, als der Aufzug herabstürzte. Wie groß waren die Chancen dafür, daß ein Raumschiff vorbeiflog und ihn bemerkte, allein in areosynchroner Umlaufbahn? Nein, das war lächerlich. Es gab nichts als Kontingenz.
Aber sie war dennoch ärgerlich.
Sie ging schlafen, erregt durch diese Gedanken; und plötzlich träumte sie in ihrem Schlummer, daß sie und Simon durch den eindrucksvollsten Teil von Candor Chasma wanderten, auf jenem ersten Ausflug, den sie zusammen gemacht hatten, als alles unbefleckt war und sich seit einer Milliarde Jahren nicht geändert hatte. Sie waren die ersten Menschen, die gemeinsam in dieser weiten Schlucht von geschichtetem Terrain und immensen Wänden gingen. Simon hatte es ebenso gefallen wie ihr. Und er war so schweigsam gewesen, so absorbiert in der Realität von Fels und Himmel. Es gab keinen besseren Gefährten für eine so glorreiche Betrachtung. Dann fing in dem Traum eine der riesigen Wände des Canyons an einzustürzen, und Simon sagte: »Eine lange Laufstrecke.« Und sie wachte abrupt auf und war schweißgebadet.
Sie zog sich an, verließ Peters Wohnung und ging hinaus in den kleinen Mesokosmos unter der Kuppel mit seinem heißen Teich und dem Krummholz der flachen Dünen. Hiroko war ein besonderes Genie, daß sie sich einen solchen Platz ausdachte und dann viele andere überredete, sich mit ihr darin niederzulassen. So viele Kinder zu empfangen ohne Genehmigung der Väter, ohne Kontrolle der genetischen Manipulationen. Das war wirklich eine Form von Wahnsinn, ob göttlich oder nicht.
Da kam an dem eisigen Strand ihres kleinen Teichs eine Schar von Hirokos Brut an. Man konnte sie nicht mehr Kinder nennen; die jüngsten waren fünfzehn oder sechzehn irdische Jahre alt und die ältesten — die ältesten hatten sich über die ganze Welt verteilt. Kasei war inzwischen wahrscheinlich fünfzig und seine Tochter Jackie fast fünfundzwanzig, eine Absolventin der neuen Universität in Sabiishii und in Demimondepolitik aktiv. Diese Gruppe von Retortenkindern war wieder auf Besuch in Gamete wie Ann selbst. Da waren sie und kamen am Strand heran. Jackie führte die Gruppe an, eine große, anmutige, junge Frau mit schwarzem Haar, durchaus schön und gebieterisch, ohne Zweifel die Anführerin ihrer Generation. Falls es nicht der muntere Nirgal wäre oder der grüblerische Harmakhis. Aber Jackie führte sie. Harmakhis folgte ihr mit hündischer Ergebenheit, und sogar Nirgal hatte ein Auge auf sie. Simon hatte Nirgal gemocht und Peter auch. Ann sah, weshalb. Er war unter Hirokos Schar von Ektogenen der einzige, der sich nicht vor ihr drückte. Der Rest karriolte selbstvergessen umher, Könige und Königinnen ihrer kleinen Welt; aber Nirgal hatte Zygote bald nach Simons Tod verlassen und war kaum je zurückgekommen. Er hatte in Sabishii studiert, was Jackie auf diese Idee gebracht hatte, und verbrachte jetzt die meiste Zeit in Sabishii oder draußen mit Cojote oder Peter; oder er besuchte die Städte des Nordens. War er also auch ein Roter? Unmöglich zu sagen. Aber er war an allem interessiert, nahm alles wahr, lief überall herum, eine Art junger männlicher Hiroko, falls so etwas möglich wäre; aber weniger seltsam als Hiroko, sondern mehr mit anderen Leuten beschäftigt, mehr menschlich.
Ann hatte nie im Leben eine normale Konversation mit Hiroko geführt, die ein fremdartiges Bewußtsein zu haben schien, mit anderen Bedeutungen für alle Wörter der Sprache und trotz ihrer Brillanz in Ökoplanung eigentlich gar keine Wissenschaftlerin, sondern eher eine Art Prophetin. Nirgal andererseits schien intuitiv den Kern von allem zu treffen, was der Person, mit der er sprach, am meisten am Herzen lag. Und er konzentrierte sich darauf und stellte eine Frage nach der anderen, wißbegierig, anpassungsfähig und sympathisch. Als Ann ihn beobachtete, wie er am Strand hinter Jackie her trottete und hin und her lief, erinnerte Ann sich daran, wie langsam und vorsichtig sie an Simons Seite gegangen war. Wie er in jener letzten Nacht so erschrocken ausgesehen hatte, als Hiroko auf ihre besondere Art ihn dazu gebracht hatte, Lebewohl zu sagen. Das ganze Geschehen war für einen Jungen eine grausame Sache gewesen; aber Ann hatte damals keine Einwände erhoben. Sie war verzweifelt gewesen und bereit, alles mögliche zu tun. Das war ein anderer Fehler gewesen, der nicht wiedergutzumachen war.
Sie starrte auf den gelben Sand unter ihren Füßen, bis die Ektogenen vorbeigegangen waren. Es war eine Schande, daß Nirgal so von Jackie gefesselt war, die sich so wenig aus ihm machte. Jackie war auf ihre Art eine bemerkenswerte Frau, aber viel zu sehr wie Maya — launisch und beeinflußbar, auf keinen Mann fixiert außer vielleicht auf Peter, der glücklicherweise (obwohl es damals nicht so ausgesehen hatte) eine Affäre mit Jackies Mutter gehabt hatte und nicht im geringsten an Jackie interessiert war. Das war eine schmutzige Sache, und Peter und Kasei waren noch immer davon ferngehalten, und Esther war nie zurückgekehrt. Nicht Peters beste Stunde. Und die Effekte auf Jackie… O ja, da würde es Effekte geben (Achtung — eine dunkle Lücke in ihrer tiefen Vergangenheit), ja, und es ging immer weiter, alle ihre dreckigen kleinen Leben, die sich in ihren sinnlosen Runden wiederholten …
Sie suchte sich auf die Zusammensetzung der Sandkörner zu konzentrieren. Gelb war nicht gerade die gewöhnliche Farbe für Sand auf dem Mars. Ein sehr seltener granitischer Stoff. Sie fragte sich, ob Hiroko danach gesucht oder bloß Glück gehabt hätte.
Die Ektogene waren fort, drüben auf der anderen Seite des Teichs. Sie war allein am Strand, Simon irgendwo unter ihr. Es war hart, mit so etwas Verbindung zu halten.
Ein Mann kam über die Dünen auf sie zu. Er war klein; und sie dachte zuerst, es wäre Sax, dann Cojote. Aber er war keiner der beiden. Er zögerte, als er sie sah, und an dieser Bewegung erkannte sie, daß es tatsächlich Sax war. Aber ein im Aussehen stark veränderter Sax. Vlad und Ursula hatten an seinem Gesicht soviel kosmetische Chirurgie vorgenommen, daß er nicht mehr wie der alte Sax aussah. Er wollte nach Burroughs gehen und dort mit einer biotechnischen Firma zusammenkommen mit Benutzung eines Schweizer Passes und einer von Cojotes viralen Identitäten. Er ging wieder zum Terraformen. Ann blickte hinaus aufs Wasser. Er kam heran und versuchte, mit ihr zu reden. Er sah jetzt nicht wie Sax aus, sondern hübsch, ein netter alter Tolpatsch. Aber es war noch der alte Sax, und sie wurde so ärgerlich, daß sie kaum denken konnte und von einer Sekunde zur anderen nur schwach behielt, worüber sie sprachen.
»Du siehst anders aus«, war alles, an was sie sich erinnerte. Trivialitäten dieser Art. Wenn sie ihn ansah, dachte sie: Er wird sich nie verändern. Aber sein neues Gesicht hatte einen erschreckend betroffenen Ausdruck, etwas Tödliches, das es heraufbeschwören könnte, wenn sie ihm nicht Einhalt gebieten würde … Und so diskutierte sie mit ihm, bis er zum letztenmal eine Grimasse zog und wegging. Sie saß lange da, wurde kälter und zerstreuter. Endlich legte sie den Kopf auf die Knie und fiel in eine Art Schlaf.
Sie hatte einen Traum. Alle Ersten Hundert standen um sie herum, die Lebenden und die Toten. Sax mit seinem alten Gesicht und jener neuen Miene des Kummers in ihrer Mitte. Er sagte: »Nettogewinn in Komplexität.«
Vlad und Ursula sagten: »Nettogewinn in Schönheit.«
Hiroko sagte: »Nettogewinn in Schönheit.«
Nadia sagte: »Nettogewinn in Güte.«
Maya sagte: »Nettogewinn in emotionaler Intensität.« Und hinter ihr rollten John und Frank die Augen.
Arkady sagte: »Nettogewinn in Freiheit.«
Michel sagte: »Nettogewinn in Verständnis.«
Von hinten sagte Frank: »Nettogewinn in Macht«, und John stieß ihn mit dem Ellbogen an und rief: »Nettogewinn in Glück!«
Und dann starrten alle Ann an. Und sie stand auf, bebend vor Wut und Angst. Sie erkannte, daß allein sie unter ihnen überhaupt nicht an die Möglichkeit des Nettogewinns von irgend etwas glaubte und daß sie eine verrückte Reaktionärin war. Alles, was sie tun konnte, war, daß sie mit dem Finger auf sie zeigte und sagte: »Mars, Mars, Mars.«
An diesem Abend erwischte sie nach dem Essen in dem großen Versammlungsraum Cojote allein und sagte: »Wann gehst du wieder hinaus?«
»In ein paar Tagen.«
»Bist du immer noch bereit, mich diesen Leuten vorzustellen, über die du gesprochen hast?«
»Ja, gewiß.« Er sah sie mit geneigtem Kopf an. »Das ist es, wo du hingehörst.«
Sie nickte bloß. Sie sah sich in dem Gemeinschaftsraum um und dachte: Lebwohl, Lebwohl! Gott sei Dank ist es weg!
Eine Woche später saß sie mit Cojote in einem ultraleichten Flugzeug. Sie flogen in den Nächten nach Norden in das Äquatorgebiet und dann weiter zu der Großen Böschung, zu den Deuteronilus Mensae nördlich von Xanthe — einem wild zerklüfteten Gelände, wo die Mensae wie ein Archipel von Inselgruppen ein Sandmeer punktierten. Das würde ein echter Archipel werden, dachte Ann, als Cojote zwischen zwei Inseln landete, wenn das Pumpen im Norden weiterging.
Cojote ging auf einem kurzen Streifen aus staubigem Sand herunter und rollte in einen Hangar, der in die Seite einer Mesa hineingegraben war. Als sie ausstiegen, wurden sie von Steve, Ivana und einigen weiteren Leuten begrüßt und in einem Aufzug auf eine Etage direkt unter dem Gipfel der Mesa gebracht. Das nördliche Ende dieser Mesa hatte eine scharfe Felsenspitze, worin ganz oben ein großer dreieckiger Versammlungsraum ausgehöhlt war. Als sie hineinging, blieb Ann überrascht stehen. Eine Menge Leute, mindestens mehrere hundert, saßen dicht gedrängt an langen Tischen, beugten sich vor und gossen sich gegenseitig Wasser ein zu Beginn eines Mahles. Die Menschen an der einen Tafel sahen sie und hielten inne. Dieser Effekt verbreitete sich durch den ganzen Raum, als die anderen sie bemerkten. Schließlich waren alle still. Dann stand einer auf und noch einer, und nach und nach alle. Einen Moment schien alles erstarrt zu sein. Dann fingen sie an zu applaudieren. Sie klatschten wild in die Hände, ihre Gesichter strahlten. Sie stießen Hochrufe aus.