ZEHNTER TEIL Phasenwechsel

Sie waren beim Pelikansurfen, als Lehrlinge, die am Strand auf und ab hüpften, sie alarmierten, daß etwas nicht stimmte. Sie flogen zurück zum Strand, steckten ihre Apparate in denfeuehten Sand und erhielten die Nachricht. Eine Stunde später waren sie am Flughafen und starteten kurz danach in einem kleinen Skunksworks-Raumflugzeug namens Gollum. Sie nahmen Südkurs, und als sie irgendwo über Panama dreißig Kilometer hoch waren, zündete der Pilot die Raketen. Sie wurden ein paar Minuten lang in ihre für hohes Ge berechneten Sitze gepreßt. Die drei Passagiere saßen in Cockpitsesseln hinter dem Piloten und Copiloten und konnten aus ihren Fenstern die Außenhaut des Flugzeugs sehen, die wie Zinn aussah und anfing zu glühen, was sich schnell in ein starkes Gelb verwandelte mit einer leichten Bronzetönung, immer heller, bis es aussah, als wären sie Sadrach, Mesach und Abed-Nego, die im Feuerofen saßen und keinen Schaden nahmen.

Als die Haut an Glut verlor und der Pilot in Horizontalflug überging, befanden sie sich etwa hundertdreißig Kilometer über der Erdoberfläche und schauten auf den Amazonas hinunter und das schöne gebogene Rückgrat der Anden. Während des Fluges nach Süden erzählte einer der Passagiere, ein Geologe, den anderen beiden mehr über die Lage.

»Die westantarktische Eisdecke ruhte auf Urgestein, das sich unter dem Meeresspiegel befindet. Es ist kontinentales Land, nicht Meeresboden; und unter Westantarctica befindet sich eine geothermisch sehr aktive Becken- und Grenzzone.«

»Westantarctica?« fragte Fort zwinkernd.

»Das ist die kleinere Hälfte mit der Halbinsel, die in Richtung Südamerika zeigt, und dem Ross-Eisschelf, Die westliche Eisdecke liegt zwischen den Bergen der Halbinsel und dem Transantarktischen Gebirge in der Mitte des Kontinents. Hier, sehen Sie her, ich habe einen Globus dabei.« Er holte aus der Tasche einen aufblasbaren Globus, ein Kinderspielzeug, blies ihn auf und reichte ihn im Cockpit herum.

»Also die westliche Eisdecke hier ruhte auf dem Urgestein unter Meeresniveau. Aber das Land darunter ist warm, und es gibt dort unten einige Vulkane unter dem Eis. Darum ist das Eis am Boden etwas geschmolzen. Dieses Wasser mischt sich mit Sedimenten aus den Vulkanen und bildet eine Substanz aus Geschiebelehm, die man Tilit nennt. Es hat eine Konsistenz wie Zahnpasta. Wenn das Eis über dieses Tilit gleitet, bewegt es sich schneller als gewöhnlich. Deshalb befanden sich in der westlichen Eisdecke Eisströme, wie schnelle Gletscher, deren Ränder aus langsamerem Eis bestanden. Zum Beispiel lief der Eisstrom B täglich zwei Meter, während das Eis um ihn herum nur zwei im Jahr zurücklegte. Und B war fünfzig Kilometer breit und einen Kilometer tief. Er bildete also einen höllischen Strom, der zusammen mit etwa einem halben Dutzend anderer Eisströme in das Ross-Eisschelf lief.« Er bezeichnete diese unsichtbaren Ströme mit der Fingerpitze.

»Hier — wo die Eisströme und das Eisschelf im allgemeinen sich vom Urgestein trennten und ins Rossmeer zu hinausschwammen — das nannte man die Auflauflinie.«

»Ah«, sagte einer von Forts Freunden. »Globale Erwärmung?«

Der Geologe schüttelte den Kopf. »Unsere globale Erwärmung hat auf all dies nur wenig Einfluß gehabt. Sie hat die Temperaturen und Meeresniveaus ein wenig angehoben; aber wenn das alles war, was geschah, hätte das hier keinen großen Unterschied ausgemacht. Das Problem ist, daß wir uns immer noch in der interglazialen Erwärmung befinden, die am Ende der letzten Eiszeit begann. Und diese Erwärmung schickt etwas, das wir einen thermischen Impuls nennen, durch die polaren Eisdecken nach unten. Dieser Impuls läuft seit achttausend Jahren nach unten. Und die Auflauflinie der westlichen Eisdecke hat sich seit achttausend Jahren landeinwärts bewegt. Und jetzt bricht einer der Vulkane unter dem Eis da unten aus. Eine große Eruption. Jetzt ungefähr drei Monate alt. Die Auflauflinie hat schon vor einigen Jahren angefangen, sich schneller zurückzuziehen, und befand sich dem ausgebrochenen Vulkan sehr nahe. Es sieht so aus, als hätte die Eruption die Auflauflinie direkt zu dem Vulkan gebracht; und jetzt fließt Meerwasser zwischen Eisdecke und Urgestein direkt in eine aktive Eruption hinein. Und so bricht die Eisdecke auf. Sie steigt hoch, gleitet ins Rossmeer hinaus und wird von Strömungen fortgetragen.«

Die Hörer starrten auf den kleinen aufblasbaren Globus. Inzwischen befanden sie sich über Patagonien. Der Geologe beantwortete ihre Fragen und zeigte auf dem Globus auf bestimmte Stellen. Wie er ihnen sagte, hatte sich so etwas schon früher und sogar schon mehrmals ereignet. Westantarctica war Ozean, trockenes Land oder Eisdecke gewesen — viele Male in den Jahrmillionen, seit tektonische Bewegungen diesen Kontinent in seine heutige Position gebracht hatten. Und es schien etliche instabile Punkte in den langfristigen Temperaturänderungen zu geben — er nannte sie Instabilitätsauslöser —, welche im Lauf von Jahren massive Veränderungen bewirkt hatten. »Dieses klimatologische Zeug ist praktisch instantan, soweit es Geologen betrifft. Es gibt übrigens auch in der Eiskappe von Grönland überzeugende Hinweise darauf, daß sie sich binnen drei Jahren von glazial zu interglazial verändert hat.« Der Geologe schüttelte den Kopf.

»Und diese Aufbrüche der Eisdecke?« fragte Fort.

»Nun, wir denken, die könnten in ein paar hundert Jahren ablaufen, was übrigens noch sehr schnell ist. Ein Auslöseereignis. Aber diesmal macht der Vulkanausbruch es viel schlimmer. Sehen Sie hier, da ist der Bananengürtel.«

Er zeigte nach unten; und sie sahen quer über der Drake- Meerenge eine schmale, vereiste, gebirgige Halbinsel, die in die gleiche Richtung zeigte wie der Schwanzfortsatz von Feuerland.

Der Pilot kippte nach rechts und dann schwächer nach links und begann eine weite lässige Schwenkung. Während sie hinunterblickten, lag unter ihnen das aus Satellitenfotos vertraute Bild von Antarctica; aber alles war jetzt leuchtend gefärbt und gegliedert. Das Kobaltblau des Ozeans, die Gänseblümchenkette zyklonischer Wolkensysteme, die verwirbelt nach Norden zog, die schimmernde Masse des Eises und die Flottillen winziger Eisberge, weiß im Blau.

Aber die vertraute Q-Gestalt des Kontinents in dem Gebiet hinter dem Komma der antarktischen Halbinsel erschien merkwürdig fleckig, mit klaffenden blauschwarzen Rissen im Weiß. Und das Rossmeer war sogar noch stärker zerrissen durch ozeanblaue Fjorde und ein radiales Muster türkisblauer Risse. Und vor der Küste des Rossmeeres schwammen tafelförmige Eisberge auf den Südpazifik zu, die wie davontreibende Stücke des Kontinents selbst aussahen. Der größte schien ungefähr ebenso groß zu sein wie die Südinsel von Neuseeland oder sogar noch größer.

Nachdem sie einander die größten Tafelberge gezeigt hatten und auch die mannigfachen Merkmale der gebrochenen und verkleinerten Eisdecke (der Geologe zeigte, wo nach seiner Meinung der Vulkan unter dem Eis lag, aber das sah nicht anders aus als der Rest der Decke), setzten sie sich einfach wieder hin und beobachteten.

Nach einer Weile sagte der Geologe: »Das da ist der Ronne-Eisschelf selbst und die Weddell-See. Ja, auch da gleitet etwas hinein. Da oben, wo McMurdo zu sein pflegte, auf der anderen Seite des Ross-Eises. Eis wurde über die Bucht gedrückt und hat die Siedlung überrannt.«

Der Pilot begann eine zweite Runde um den Kontinent.

»Welchen Effekt wird das haben?’«fragte Fort.

»Nun, theoretische Modelle sprechen von einer Erhebung des Meeresniveaus um etwa sechs Meter.«

»SechsMeter1.«

»Nun, es wird einige Jahre dauern bis zum vollen Anstieg; aber es hat entschieden angefangen. Der Ausbruch dieser Katastrophe wird den Meeresspiegel binnen Wochen um etwa zwei oder drei Meter heben. Was von der Eisdecke übrigbleibt, wird binnen Monaten, höchstens weniger Jahre, aufschwimmen; und das wird zusätzliche drei Meter ausmachen.«

»Wie könnte das den ganzen Ozean so sehr anheben?«

»Es ist eine Menge Eis.«

»So viel Eis kann es nicht sein!«

»O doch. Das ist der größte Teil des Süßwassers in der Welt, da unter uns. Seien Sie bloß dankbar, daß die ostantarktische Eisdecke gut und stabil ist. Wenn sie abgleiten würde, erhöben sich die Meeresspiegel um sechzig Meter.«

»Sechzig Meter sind eine ganze Masse«, sagte Fort.

Sie beendeten eine neue Runde. Der Pilot sagte: »Wir sollten umkehren.«

»Das reicht fiir jeden Strand in der Welt«, sagte Fort. »Ich meine, wir sollten wieder an unsere Arbeit gehen.«


Als die zweite Revolution auf dem Mars begann, war Nadia im oberen Canyon von Shalbatana Vallis. Man könnte in gewissem Sinne sagen, daß sie sie ausgelöst hat.

Sie hatte South Fossa zeitweilig verlassen, um die Klause von Shalbatana zu inspizieren, die denen über Nirgal Vallis und in den Tälern von Ost-Hellas ähnlich war. Ein langes Kuppeldach über einer gemäßigten Ökologie mit einem Fluß, der den Boden des Canyons herunterströmte, in diesem Fall durch Pumpen aus dem Reservoir von Lewis, 170 Kilometer weit im Süden. Shalbatana bildete eine lange Reihe leichter S-Windungen, so daß der Talboden sehr malerisch wirkte. Aber der Bau der Kuppel war schwierig gewesen.

Nichtsdestoweniger hatte Nadia das Projekt nur mit einem kleinen Teil ihrer Aufmerksamkeit geleitet. Der Rest blieb auf die sprunghaften Entwicklungen auf der Erde konzentriert. Sie war in täglicher Verbindung mit ihrer Gruppe in South Fossa und mit Art und Nirgal in Burroughs; und die hielten sie über alle jüngsten Nachrichten auf dem laufenden. Besonders interessierte sie sich für die Aktivitäten des Weltgerichtshofs, der versuchte, sich als Schiedsrichter in dem wachsenden Konflikt der Metanationalen von Subarashii und der Elfergruppe mit Praxis, der Schweiz und der sich anbahnenden Allianz von China und Indien zu etablieren. Er wollte, wie Art es ausdrückte, ›als eine Art von Weltgericht fungieren. Diese Bemühung war aussichtslos erschienen, als die Krawalle der Fundamentalisten begannen und die Metanationalen sich auf die Selbstverteidigung vorbereiteten. Und Nadia hatte unglücklicherweise gefolgert, daß die Dinge auf der Erde sich wieder auf einer Spirale nach unten ins Chaos bewegen würden.

Aber alle diese Krisen schrumpften zu Bedeutungslosigkeit, als Sax sie anrief, um ihr von dem Zusammenbruch der westantarktischen Eisdecke zu berichten. Sie nahm diesen Anruf an ihrem Pult in einem Bau-Anhänger entgegen und starrte auf das kleine Gesicht im Schirm. »Was meinst du mit zusammengebrochen?«

»Sie hat sich vom Urgestein abgehoben. Ein Vulkan bricht aus. Sie rutschte ins Meer und wird durch Meeresströmungen zerbrochen.«

Das Videobild, das er sendete, war ein Schnitt, der in Punta Arena aufgenommen war, einer chilenischen Hafenstadt, deren Docks verschwunden und Straßen überflutet waren. Dann kam ein Schnitt auf Port Elizabeth im südafrikanischen Azania, wo die Situation ziemlich dieselbe war.

»Wie schnell ist das?« fragte Nadia. »Ist es eine Gezeitenwelle?«

»Nein. Mehr wie eine sehr starke Springflut. Aber die wird nie mehr verschwinden.«

»Also ist genügend Zeit zum Evakuieren, aber nicht genug, um etwas zu bauen«, sagte Nadia. »Und du sprichst von sechs Metern?«

»Aber nur für die nächsten paar… Niemand weiß genau, wie lange. Ich habe Schätzungen gesehen, wonach nicht weniger als ein Viertel der Erdbevölkerung betroffen sein wird.«

»Das glaube ich. O Sax …«

Eine weltweite panische Flucht auf höher liegendes Terrain. Nadia starrte auf den Schirm und fühlte sich wie gelähmt, als sie sich über das Ausmaß der Katastrophe klarer wurde. Die Küstenstädte würden unter Wasser stehen. Sechs Meter! Sie fand es schwer, sich vorzustellen, daß irgendeine mögliche Eismasse imstande sein könne, den Meeresspiegel nur um einen Meter anzuheben — aber sechs! Das war, wenn es dessen noch bedurft hätte, ein erschütternder Beweis dafür, daß die Erde doch gar nicht so groß war. Oder aber, daß die westantarktische Eisdecke riesig war. Nun, sie hatte ein Drittel des Kontinents bedeckt und war, wie die Berichte angaben, mehr als drei Kilometer dick. Das war eine Menge Eis. Sax sagte etwas über die ostantarktische Eisdecke, die anscheinend nicht bedroht war.

Maya schüttelte den Kopf, um sich von diesem Geschwätz freizumachen, und konzentrierte sich auf die Nachrichten.

Bangladesh würde man ganz evakuieren müssen, das waren dreihundert Millionen Menschen. Ferner die Küstenstädte Indiens wie Kalkutta, Madras und Bombay. Dann London, Kopenhagen, Istanbul, Amsterdam, New York, Los Angeles, New Orleans, Miami, Rio, Buenos Aires, Sydney, Melbourne, Singapore, Hong-Kong, Manila, Djakarta, Tokio … Und das waren nur die großen Städte. An der Küste lebte eine Menge Leute, in einer Welt, die schon durch Überbevölkerung und abnehmende Ressourcen ernsthaft in Not war. Und jetzt wurden alle elementaren Bedürfnisse durch Salzwasser ertränkt.

»Sax, wir sollten ihnen helfen«, sagte sie. »Nicht bloß… «

»Es gibt nicht viel, das wir tun können. Und das können wir am besten tun, wenn wir frei sind. Erst das eine, dann das andere.«

»Versprichst du das?«

»Ja«, sagte er und sah überrascht aus. »Ich meine, ich werde tun, was ich kann.«

»Darum bitte ich ja.« Sie dachte darüber nach. »Hast du auf deiner Seite alles bereit?«

»Ja. Wir wollen mit Fernlenkgeschossen gegen alle Überwachungs- und Waffensatelliten anfangen.«

»Was ist mit Kasei Vallis?«

»Damit beschäftige ich mich gerade.«

»Wann willst du losschlagen?« »Wie wäre es mit morgen?«

»Morgen?«

»Ich muß mich sehr bald um Kasei kümmern. Die Bedingungen sind gerade jetzt günstig.«

»Was hast du vor?«

»Laß uns versuchen, morgen anzufangen. Es hat keinen Sinn, Zeit zu vergeuden.«

»Mein Gott!« sagte Nadia und dachte scharf nach. »Wir sind gerade dabei, hinter die Sonne zu gehen?«

»Ja.«

Diese Position vis-a-vis zur Erde hatte in diesen Tagen mehr symbolischen Charakter, da die Nachrichtenverbindungen durch viele Asteroidenrelais gesichert waren. Aber sie bedeutete doch, daß selbst die schnellsten Shuttles Monate brauchen würden, um von der Erde zum Mars zu gelangen.

Nadia holte tief Luft und sagte: »Also los!«

»Ich hoffte, daß du das sagen würdest. Ich werde die in Burroughs anrufen und Bescheid geben.«

»Werden wir uns in Underhill treffen?« Das war ihr derzeitiger Treffpunkt in Notfällen. Sax befand sich in einem Refugium im Da Vinci-Krater, wo viele seiner Geschosse stationiert waren Darum konnten beide in Tagesfrist nach Underhill gelangen.

»Ja, morgen«, sagte er und war weg.

Und so löste Nadia die Revolution aus.


Sie fand eine Nachrichtensendung mit dem Satellitenfoto aus der Antarktis und sah es verstört an. Kleine Stimmen auf dem Bildschirm plapperten rasch dahin. Die eine behauptete, die Katastrophe wäre ein Sabotageakt seitens Praxis, die angeblich Löcher in die Eisdecke gebohrt und Wasserstoffbomben auf dem antarktischen Urgestein angebracht hätte. Sie rief angewidert: »Immer noch damit beschäftigt!« Kein anderer Nachrichtendienst stellte diese Behauptung auf oder widersprach ihr. Es war ohne Zweifel ein Teil des Chaos und wurde von allen anderen Berichten über die Flut weggespült. Aber der Metanatricid dauerte an. Und sie waren ein Teil davon.

Alle Existenz reduzierte sich sofort darauf in einer Weise, die stark an 2061 erinnerte. Maya fühlte, daß sich ihr Magen wie früher verkrampfte, über alle gewöhnlichen Spannungszustände hinaus zu einer Walnuß im Zentrum ihres Wesens, schmerzhaft und zusammenpressend. Sie hatte kürzlich Medizin eingenommen, um Geschwüren vorzubeugen; aber die war für diesen Anfall jämmerlich unzureichend. Ruhig sein! Dies ist der Moment. Du hast ihn erwartet, du hast dafür gearbeitet. Du hast die Basis dafür gelegt. Jetzt kam das Chaos. Im Herzen jedes Phasenwechsels gab es eine Zone von herabstürzendem, rekombinierendem Chaos. Aber es gab Methoden, die zu verstehen und damit umzugehen.

Maya ging durch das kleine mobile Habitat und blickte kurz hinab auf die idyllische Schönheit des Canyonbodens von Shalbatana mit seinem kiesroten Fluß und den neuen Bäumen sowie Streifen von Baumwolle auf den Ufern und Inseln. Wenn die Dinge drastisch schiefgingen, war es möglich, daß nie wieder jemand in Shalbatana wohnen würde, daß dies eine leere Blasenwelt bleiben würde, bis Schlammstürme das Dach eindrückten oder in der mesokosmischen Ökologie etwas versagte. Nun …

Sie zuckte die Achseln, weckte ihre Crew und wies sie an, sich fertig zu machen, um nach Underhill aufzubrechen. Sie sagte ihnen, warum; und da sie alle auf die eine oder andere Art zur Widerstandsbewegung gehörten, jubelten sie.

Es war knapp nach der Dämmerung an einem vermutlich warmen Frühlingstag, an dem sie in leichten Schutzanzügen mit Kapuzen und Gesichtsmasken hätten arbeiten können, wobei nur die isolierten harten Stiefel Nadia an die plumpe Kleidung der frühen Jahre erinnerten. Freitag, Ls 101, 2. Zweitjuli im M-Jahr 52, irdisches Datum (sie sah auf ihr Armband) 12. Oktober 2127. Irgendwie nahe dem hundertsten Jahrestage ihrer Ankunft, obwohl niemand dieses Datum zu feiern schien. Hundert Jahre! Das war ein bizarrer Gedanke.

Also eine neue Julirevolution und zudem auch noch eine Oktoberrevolution. Eine Dekade nach dem zweihundertsten Jahrestag der bolschewistischen Revolution, wie sie sich zu erinnern glaubte. Das war noch ein seltsamer Gedanke. Nun, aber auch sie hatten es versucht. Alle Revolutionäre im ganzen Verlauf der Geschichte. Zumeist verzweifelte Bauern, die für das Leben ihrer Kinder kämpften. Wie in ihrem Rußland. So viele in jenem bitteren zwanzigsten Jahrhundert, die alles wagten, um ein besseres Leben zu schaffen. Aber dennoch hatte es zur Katastrophe geführt. Das war erschreckend, als ob die Geschichte eine Folge von Wellen menschlicher Angriffe gegen Elend wäre, die immer mißlangen.

Aber die Russin in ihr, das sibirische Kleinhirn, beschloß, das Oktoberdatum als gutes Omen anzusehen. Oder als eine Mahnung, was man nicht tun dürfe, im Hinblick auf 2061. Sie konnte in ihrem sibirischen Geist dies ihnen allen widmen. Dem heroischen Leid der sowjetischen Katastrophe, allen ihren Freunden, die 2061 gestorben waren, Arkady, Alex, Sasha, Roald, Janet, Evgenia und Samantha, allen denen, die noch in ihren Träumen und ihren abgeschwächten schlaflosen Erinnerungen spukten, wie Elektronen um die eiserne Walnuß in ihrem Innern kreisten und sie mahnten, nichts zu verkrampfen, sondern es diesmal richtig zu machen und den Sinn ihrer Leben und ihrer Tode wiedergutzumachen. Sie entsann sich, daß jemand ihr gesagt hatte: »Wenn ihr das nächste Mal eine Revolution habt, dann versucht es lieber auf eine andere Art.«

Und jetzt waren sie soweit. Aber es gab Guerillaverbände der MarsErsten unter Kaseis Befehl, ohne Kontakt mit dem Hauptquartier in Burroughs, sowie tausend andere Faktoren, die ins Gewicht fallen würden und deren meiste völlig außer ihrer Kontrolle waren. Ein kaskadenartig herabstürzendes rekombinierendes Chaos. Wie anders würde es also wohl diesmal kommen?


Sie brachte ihre Crew in Rovern zu dem kleinen Bahnhof einige Kilometer im Norden. Von dort fuhren sie in einem Güterzug auf einer mobilen Piste, die für die Arbeiten in Shalbatana angelegt worden war und zur Hauptstrecke zwischen Sheffield und Burroughs führte. Diese Städte waren beide Bollwerke der Metanationalen, und Nadia befürchtete, daß diese sich bemühen würden, die Verbindungsstrecke zu sichern. In diesem Sinn war Underhill strategisch wichtig, da seine Besetzung die Strecke abschneiden würde. Aber gerade aus diesem Grunde wollte sie von Underhill wegkommen und überhaupt von dem ganzen Pistensystem. Sie wollte in die Luft gehen, wie sie es ’61 getan hatte. Alle in jenen paar Monaten erworbenen Instinkte wollten wieder die Herrschaft übernehmen, als ob Sechsundsechzig Jahre nicht vergangen wären. Und diese Instinkte rieten ihr, sich zu verstecken.

Während sie nach Südwesten über die Wüste fuhren, welche die Lücke zwischen Ophir und Juventae Chasmas schließt, hielt sie mit ihrem Armband Verbindung zu Saxens Hauptquartier im Krater Da Vinci. Dessen technischer Stab bemühte sich, seinen trockenen Stil nachzuahmen; aber es war deutlich, daß sie ebenso aufgeregt waren wie Mayas junge Bauleute. Es kamen zugleich fünf von ihnen ans Armband, um ihr mitzuteilen, daß sie eine Sperre der Boden-Orbit-Geschosse ausgelöst hätten, welche Sax in versteckten äquatorialen Silos während der letzten zehn Jahre untergebracht hatte. Und diese Sperre sei wie ein Feuerwerk losgegangen und hätte alle orbitalen Waffenplattformen der Metanationalen weggeputzt, die sie kannten, und auch viele ihrer Nachrichtensatelliten. »Wir haben mit der ersten Welle achtzig Prozent von ihnen erwischt! Wir haben unsere eigenen Nachrichtensatelliten hochgeschickt! Jetzt beschäftigen wir uns mit ihnen von Fall zu Fall… «

Nadia unterbrach: »Funktionieren eure Satelliten?«

»Wir finden sie prima! Wir können das erst nach einem vollen Test genau sagen, aber alle sind jetzt sehr beschäftigt.«

»Laßt uns einen davon jetzt ausprobieren! Und das machen einige von euch dringend — verstanden? Wir brauchen ein redundantes System, ein sehr redundantes System.«

Sie schaltete aus und gab einen der Frequenz- und Verschlüsselungscodes ein, den Sax ihr gegeben hatte. Ein paar Sekunden später sprach sie mit Zeyk, der in Odessa war und half, die Aktivitäten im Hellasbecken zu koordinieren. Er sagte, bislang ginge alles nach Plan. Natürlich wären sie erst ein paar Stunden dabei; aber es schien, daß sich die Organisationsarbeiten von Michel und Maya gelohnt hätten, weil alle Mitglieder der Zellen in Odessa in die Straßen geströmt waren und den Leuten sagten, was geschah. Sie hatten eine spontane Arbeitsniederlegung und Demonstration entflammt. Sie waren jetzt dabei, den Bahnhof zu sperren, die Corniche und die meisten anderen öffentlichen Plätze mit einem Schlage zu besetzen, der bald zu einer völligen Übernahme führen dürfte. Das Personal der Übergangsbehörde in der Stadt zöge sich auf den Bahnhof oder die Versorgungsanlage zurück, wie Zeyk gehofft hatte. »Wenn die meisten von ihnen drin sind, werden wir die KI der Anlage überspielen; und dann wird es ein Kerker sein, in dem sie festsitzen. Wir haben die Kontrolle über die Reserven der Lebenserhaltungssysteme der Stadt übernommen.

Darum können sie sehr wenig unternehmen oder höchstens sich in die Luft sprengen. Aber wir denken, das werden sie nicht tun. Eine Menge der UNTA- Leute hier sind Syrer unter Niazi; und ich spreche mit Rashid, während wie versuchen, die physikalische Anlage von außen stillzulegen, nur um uns zu vergewissern, daß niemand da drin sich entschließt, ein Märtyrer zu werden.«

»Ich glaube nicht, daß es unter den Metanationalen zu viele Märtyrer geben wird«, sagte Nadia.

»Das hoffe ich auch nicht, aber wer kann es sagen? So weit, so gut hier, immerhin. Und anderswo rund um Hellas ist es sogar noch leichter gewesen. Die Sicherheitskräfte waren minimal, und die meisten der Bevölkerung sind Eingeborene oder radikalisierte Einwanderer; und sie haben die Sicherheit einfach umzingelt und sie gewarnt, irgendwie gewalttätig zu werden. Es hat sich entweder ein Unentschieden ergeben, oder die Sicherheitskräfte wurden entwaffnet. Dao und Harmakhis-Reull haben sich zu freien Canyons proklamiert und jeden, der will, eingeladen, dort bei Bedarf Zuflucht zu suchen.«

»Gut!«

Zeyk hörte die Überraschung in ihrer Stimme und warnte: »Ich glaube nicht, daß es in Burroughs und Sheffield so leicht sein wird. Und wir müssen den Aufzug stillegen, damit sie nicht anfangen können, von Clarke aus auf uns zu schießen.«

»Zumindest sitzt Clarke über Tharsis fest.«

»Gewiß. Aber es wäre hübsch, das Ding zu packen, damit nicht wieder der Aufzug auf uns herunterkracht.«

»Ich weiß. Ich habe gehört, daß die Roten mit Sax an einem Plan für die Kaperung arbeiten.«

»Allah schütze uns! Nadia, ich muß Schluß machen. Sag Sax, daß die Pläne für die Fabrik tadellos funktioniert haben. Und höre, ich meine, wir sollten herkommen und uns mit dir im Norden zusammentun. Wenn wir Hellas und Elysium schnell sichern können, wird das unsere Chancen mit Burroughs und Sheffield erhöhen.«

Also ging es mit Hellas wie geplant. Und was ebenso oder sogar noch wichtiger war, sie hatten noch Verbindung miteinander. Das war kritisch. Unter allen Alpträumen von ’61 gab es unter den Szenen, die in ihrer Erinnerung blitzartig durch Angst oder Schmerz aufleuchteten, wenige, die schlimmer waren als das Gefühl absoluter Hilflosigkeit, als ihr Kommunikationssystem zusammengebrochen war. Danach spielte nichts von dem, was sie taten, eine Rolle. Sie waren wie Insekten gewesen, denen man die Antennen abgerissen hat und die hilflos herumtaumeln. Darum hatte Nadia im Lauf der letzten Jahre Sax wiederholt gedrängt, er möge vordringlich einen Plan zum Schutz ihrer Nachrichtenverb indun — gen aufstellen. Und er hatte eine ganze Flotte sehr kleiner Kommunikationssatelliten gebaut und jetzt in den Orbit gebracht, die getarnt und so gut wie möglich gepanzert waren. Bisher funktionierten sie wie geplant. Und die eiserne Walnuß in Nadia war zwar nicht verschwunden, drückte aber nicht mehr so heftig auf ihre Rippen. Ruhe, sagte sie zu sich. Dies ist der Moment und der einzige Moment. Konzentrier dich darauf!


Die mobile Piste erreichte die große äquatoriale Linie, die im Vorjahr neu angelegt worden war, um das Eis von Chryse zu vermeiden. Und sie rangierten auf die Piste für Nahverkehrszüge und fuhren nach Westen. Ihr Zug war nur drei Waggons lang; und Nadias ganze Crew, über dreißig Personen, waren alle im ersten Wagen beisammen, um die eingehenden Meldungen auf dem Bildschirm des Wagens zu verfolgen. Es gab offizielle Nachrichten von Mangalavid in South Fossa, die wirr und inkonsistent waren. Sie verbanden normale Wetterberichte und dergleichen mit kurzen Meldungen über Anschläge in vielen Städten. Nadia hielt ihr Armband in Kontakt mit entweder Da Vinci oder dem sicheren Haus der Freimarsleute in Burroughs. Während der Fahrt beobachtete sie sowohl den Schirm im Wagen wie ihr Handgelenk und nahm gleichzeitige Kurzmeldungen auf, als ob sie einer polyphonen Musik lauschte. Sie stellte fest, daß sie die beiden Quellen gleichzeitig ohne Schwierigkeiten verfolgen konnte, und hungerte nach mehr. Praxis sendete ständig Berichte über die Lage auf der Erde, die konfus war, aber nicht so unzusammenhängend und undurchsichtig wie 2061. Einerseits hielt Praxis sie auf dem laufenden; und andererseits galt viel der laufenden Aktivität auf der Erde der Evakuierung der Küstenbewohner aus dem Bereich der Fluten, die bisher wie sehr starke Springfluten waren, wie Sax es erwartet hatte. Der Metanatricid ging weiter in Form von operativen Schlägen und Enthauptungsunternehmungen, Stoßtruppangriffen und Gegenangriffen auf verschiedene Komplexe und Hauptquartiere von Firmen in Verbindung mit legalen Aktionen und Propaganda aller Art, einschließlich einer Anzahl von Prozessen und Gegenverfahren, die endlich beim Weltgerichtshof anhängig gemacht worden waren, was Nadia ermutigend fand. Aber diese strategischen Angriffe und Manöver waren angesichts der globalen Überschwemmung zweitrangig. Und selbst in ihren schlimmsten Formen (Videos von explodierenden Bomben, verunglückten Flugzeugen, Straßen, die durch Bomben mit Kratern übersät waren) waren sie immer noch unendlich viel besser als jede Art eines eskalierenden Krieges, der in biologischer Form Millionen töten könnte. Das wurde deutlich in einem schockierenden Bericht aus Indonesien, der über den Schirm des Wagens kam. Eine radikale Befreiungsgruppe aus Ost-Timor hatte auf die Insel Java eine noch nicht identifizierte Seuche losgelassen, so daß zu mit den Lasten der Überschwemmung Hunderttausende kamen, die an der Krankheit starben. Auf einem Kontinent würde eine solche Seuche eine fatale Katastrophe bedeuten; und es gab keine Garantie, daß das nicht doch noch passieren würde.

Aber inzwischen war mit dieser einen schrecklichen Ausnahme der Krieg da unten das, was man das Chaos des Metanatricids nannte, das sich als ein Kampf auf höchster Ebene abspielte. Ein Vorgehen faktisch ähnlich dem, was sie auf dem Mars versuchten. Das war in gewisser Weise tröstlich, obwohl die Metanationalen, wenn sie sich diesen Stil aneigneten, wohl auch ebenso auf dem Mars Krieg führen könnten — wenn nicht im ersten Moment der Überraschung, so doch später, wenn sie sich neu organisiert hatten. Und in dem eingehenden Nachrichtenstrom aus Praxis in Genf gab es einen ominösen Punkt, der darauf deutete, daß sie vielleicht schon reagierten. Ein schnelles Shuttle mit einer großen Macht von ›Sicherheitsexperten‹ hatte vor drei Monaten die Erdbahn in Richtung Mars verlassen, wie die Meldung sagte, und wurde ›in wenigen Tagen‹ auf dem Mars erwartet. Diese Meldung wurde jetzt laut der UN-Pressestelle freigegeben, um die Sicherheitskräfte zu ermutigen, die durch Krawalle und Terrorismus bedrängt wurden.

Nadias Konzentration auf die Nachrichten wurde unterbrochen durch das Erscheinen eines der großen die Welt umrundenden Züge auf der Piste neben ihnen. Eine Sekunde lang glitten sie sanft über das rumplige Plateau von Ophir Planum, während der große Zug mit fünfzig Waggons an ihnen vorbeirauschte. Aber er wurde nicht langsamer, und darum konnte man nicht sagen, wer, wenn überhaupt jemand, hinter seinen verdunkelten Fenstern saß. Dann war er an ihnen vorbei und bald danach am Horizont verschwunden.

Die Nachrichtensendungen gingen in ihrem rasenden Tempo weiter. Die Reporter waren offensichtlich durch die Ereignisse des Tages überrascht — Krawalle in Sheffield, Arbeitsniederlegungen in South Fossa und Hephaestus. Die Vorfälle überschnitten sich in so rascher Folge, daß Nadia im Zweifel war, ob sie real wären.

Als sie nach Underhill kamen, hielt Nadias Gefühl von Unwirklichkeit an; denn die verschlafene und halb aufgegebene alte Siedlung sprudelte vor Aktivität wie im Jahre M-l. Sympathisanten des Widerstandes strömten den ganzen Tag herein von kleinen Stationen um Ganges Catena und Hebes Chasma und dem Nordwall von Ophir Chasma. Die lokalen Bogdanovisten hatten sie offenbar zu einem Marsch gegen die kleine Einheit von UNTA-Sicherheitspersonal organisiert, das beim Bahnhof stationiert war. Das hatte zu einem Unentschieden direkt außerhalb der Station geführt unter der Kuppel, die die alte Arkade und den ursprünglichen Quadranten von Tonnengewölben bedeckte und jetzt sehr klein und kurios wirkte.

Als Nadias Zug einfuhr, war gerade ein lauter Streit im Gange zwischen einem Mann mit Lautsprecher, der von etwa zwanzig Leibwächtern umgeben war, und der aufmüpfigen Menge ihnen gegenüber. Nadia stieg aus, sobald der Zug hielt, und ging hinüber zu der Gruppe, die den Bahnhofsvorsteher und seine Truppen umzingelt hatte. Sie requirierte einen Lautsprecher von einer erstaunt aussehenden jungen Frau und brüllte damit los. »Bahnhofsvorsteher! Bahnhofsvorsteher! Bahnhofsvorsteher!« Sie wiederholte das auf englisch und russisch; und alle waren still geworden, um herauszufinden, wer sie war. Ihr Team von Bauleuten hatte sich durch die Menge vorgearbeitet; und als sie sah, daß sie in Stellung waren, ging sie direkt auf den Haufen von Männern und Frauen in ihren Flakjacken zu. Der Bahnhofsvorsteher erwies sich als ein Oldtimer des Mars. Sein Gesicht war verwittert und trug eine Narbe auf der Stirn. Seine junge Mannschaft trug die Abzeichen der Übergangsbehörde und sah verängstigt aus. Nadia ließ den Lautsprecher zur Seite gleiten und sagte: »Ich bin Nadia Cherneshevsky. Ich habe diese Stadt erbaut. Und wir übernehmen die Kontrolle über sie. Für wen arbeitest du?«

»Für die Übergangsbehörde der Vereinten Nationen«, sagte der Bahnhofsvorsteher entschlossen und starrte sie an, als wäre sie dem Grabe entstiegen.

»Aber welche Einheit? Welche Metanationale?«

»Wir sind eine Mahjari-Einheit«

»Mahjari arbeitet jetzt mit China zusammen und China mit Praxis und Praxis mit uns. Wir stehen auf derselben Seite; und du weißt es noch nicht. Und ganz gleich, was du davon hältst, wir sind hier in der Übermacht.« Sie rief der Menge zu: »Jeder Bewaffnete möge die Hand erheben!«

Alle in der Menge hoben die Hand; und ihre ganze Crew hielt Betäubungsgewehre oder Nagelpistolen oder Flammenwerfer hoch.

»Wir wollen kein Blutvergießen«, sagte Nadia zu dem immer dichter werdenden Haufen von Leibwächtern vor sich. »Wir wollen euch nicht einmal gefangennehmen. Da steht unser Zug. Ihr könnt ihn nehmen, nach Sheffield fahren und euch mit dem Rest eures Teams zusammentun. Dort werdet ihr den neuen Stand der Dinge erfahren. Sonst werden wir den Bahnhof hier verlassen und in die Luft jagen. Wir übernehmen so oder so die Macht; und es wäre töricht, wenn irgend jemand getötet würde, weil die Revolte schon gewonnen ist. Nehmt also den Zug! Ich würde raten, nach Sheffield zu gehen, wo ihr, wenn ihr wollt, eine Fahrt mit dem Aufzug nach draußen bekommen könnt. Wenn ihr aber für einen freien Mars arbeiten wollt, dann könnt ihr euch gleich jetzt und hier mit uns vereinigen.«

Sie sah den Mann ruhig an und fühlte sich erleichterter, als sie den ganzen Tag gewesen war. Der Mann senkte den Kopf, um sich mit seiner Mannschaft zu beraten. Sie redeten fast fünf Minuten flüsternd miteinander.

Dann sah der Mann sie wieder an. »Wir werden euren Zug nehmen.«

Und so wurde Underhill die erste befreite Stadt.


In dieser Nacht ging Nadia hinaus zum Anhängerparkplatz, der sich nahe bei der Mauerkappe des neuen Zeltes befand. Die beiden Habitats, die nicht in Labors umgewandelt worden waren, waren noch mit der Ausstattung der alten Wohnungen versehen. Nachdem Nadia sie besichtigt hatte, ging sie wieder hinaus und durch die Tonnengewölbe und das Alchemistenquartier. Dann kehrte sie zu dem zurück, in dem sie gewohnt hatte, und legte sich mit dem Gefühl von Erschöpfung auf eine der Matratzen auf dem Boden.

Es war wirklich seltsam, zwischen all den Geistern zu liegen und zu versuchen, die Anwesenheit jener vergangenen Zeit wieder in sich zu fühlen. Zu seltsam. Trotz ihrer Erschöpfung konnte sie nicht schlafen. Gegen Morgen hatte sie eine undeutliche Vision, daß sie sich um das Auspacken der Güter von Frachtraketen kümmerte, robotische Fliesenleger programmierte und einen Anruf Arkadys von Phobos entgegennahm. Sie schlief in diesem Zustand sogar einige Zeit und döste ungemütlich dahin, bis ein Kribbeln in ihrem Phantomfinger sie aufweckte.

Und als sie dann knurrend aufstand, war es genauso schwer, sich vorzustellen, daß sie in einer Welt voller Aufruhr erwachte, in der Millionen Menschen darauf warteten, was der Tag bringen würde. Während sie sich in der Enge ihres ersten Heims auf dem Mars umschaute, schien es ihr plötzlich, als ob sich die Wände in einem sehr leichten Rhythmus bewegten, einer Art doppelter Vision, als ob sie in dem schwachen Frühlicht durch einen temporalen Stereogucker blickte, der alle vier Dimensionen zugleich mit einem pulsierenden halluzinatorischen Licht offenbarte.

Sie frühstückten in den Tonnengewölben, in der großen Halle, wo Sax sich einst für die Vorteile einer Terraformung des Mars eingesetzt hatte. Sax hatte diese Diskussion gewonnen; aber Ann kämpfte immer noch darum, als ob nicht alles längst entschieden worden wäre.

Nadia konzentrierte sich auf die Gegenwart, auf ihren Computerschirm und die Flut von Nachrichten, die an diesem Samstag morgen eingingen. Der obere Teil des Bildes galt Mayas sicherem Haus in Burroughs und der untere Teil Praxismeldungen von der Erde. Maya verhielt sich heroisch wie gewöhnlich. Sie zitterte vor Erwartung und kommandierte alle herum, damit sie ihrer Ansicht entsprachen, wie alles geschehen solle, hager und doch in innerer Erregung rotierend. Während Nadia zuhörte, wie sie die letzten Entwicklungen schilderte, verzehrte sie methodisch ihr Frühstück und nahm das vorzügliche Brot von Underhill kaum wahr. In Burroughs war schon Nachmittag, und der Tag war geschäftig gewesen. Jede Stadt auf dem Mars war in Aufruhr. Auf der Erde waren inzwischen alle Küstengebiete überschwemmt, und die Massenverschiebungen bewirkten im Landesinnern ein Chaos. Die neue UN hatte die Aufständischen auf dem Mars als herzlose Opportunisten verurteilt, die ein Leid, wie es noch nie vorgekommen war, ausnützten, um ihre eigene selbstsüchtige Sache zu fördern. »Nur allzu wahr«, sagte Nadia zu Sax, als er zur Tür hereinkam, frisch vom Da Vinci-Krater. »Ich wette, daß sie uns das später vorhalten werden.«

»Nicht, wenn wir ihnen aus ihrer Scheiße heraushelfen.«

»Hmm.« Sie bot ihm Brot an und betrachtete ihn genau. Trotz seiner veränderten Gesichtszüge sah er jeden Tag Sax immer ähnlicher, wie er ungerührt dastand und blinzelte, während er sich in der alten Backsteinkammer umschaute. Es schien, als ob Revolution das Letzte wäre, das er im Kopf hatte. Sie sagte: »Bist du bereit, nach Elysium zu fliegen?«

»Das wollte ich dich gerade fragen.«

»Gut. Laß mich mein Gepäck holen.«

Während sie ihre Kleider und den Computer in ihren alten Rucksack warf, piepte ihr Armband. Es war Kasei. Sein langes graues Haar flatterte wild um sein tief runzliges Gesicht, das eine ganz seltsame Mischung von John und Hiroko darstellte. Johns Mund, im Moment zu einem breiten Grinsen verzogen, und Hirokos orientalische Augen, die jetzt vor Vergnügen geschlitzt waren. Nadia sagte: »Hallo, Kasei, ich glaube nicht, dich auf meinem Armband schon früher einmal gesehen zu haben.«

»Besondere Umstände«, erklärte er unerschüttert. Sie war gewohnt, ihn sich als einen mürrischen Mann vorzustellen; aber der Ausbruch der Revolution hatte offenbar sehr kräftigend auf ihn gewirkt. Sie erkannte plötzlich an seiner Miene, daß er sein ganzes Leben lang darauf gewartet hatte. »Schau, Cojote und ich und eine Schar von Roten sind hier oben in Chasma Borealis; und wir haben den Reaktor und den Damm gesichert. Alle, die hier arbeiten, sind kooperativ gewesen.«

»Ermutigend!« schrie jemand neben ihm.

»Ja, es hat hier viel Unterstützung gegeben, mit Ausnahme eines Sicherheitsteams von etwa hundert Personen, das im Reaktor eingesperrt ist. Die Idioten drohen, ihn zu schmelzen, wenn wir ihnen nicht freies Geleit nach Burroughs geben.«

»So?« fragte Nadia.

»So?« wiederholte Kasei und lachte. »Cojote sagt, wir sollten dich fragen, was zu tun wäre.«

Nadia knurrte: »Wieso, finde ich schwer zu glauben.«

»He, auch hier glaubt das keiner. Aber das ist es, was Cojote gesagt hat; und wir mögen den alten Schurken gewähren lassen, wenn wir können.«

»Na schön, gebt ihnen freies Geleit nach Burroughs! Das ist ein hirnloser Mensch, wenn ich je einen gesehen habe. Es wird nichts ausmachen, wenn in Burroughs hundert Bullen mehr sind; und je weniger Reaktoren schmelzen, desto besser. Wir waten noch in der Strahlung vom letzten Mal herum.«

Sax kam herein, während Kasei darüber nachdachte. »Okay!« sagte er dann. »Wenn du es sagst. Wir sprechen uns später. Ich muß gehen, ka.«

Nadia schaute ärgerlich auf ihren leeren Bildschirm am Armband.

»Um was ging es da?« fragte Sax.

»Du hast mich erwischt«, sagte Nadia und schilderte das Gespräch, während sie versuchte, Cojote anzurufen. Sie bekam keine Verbindung.

»Nun, du bist der Koordinator«, sagte Sax.

»Mist!« Nadia warf sich ihren Rucksack über die Schulter. »Laß uns gehen!«


Am Montag abend ging Nadia mit Sax Sie flogen in einer neuen 51B, sehr klein und sehr schnell. Sie wählten einen großen Rundkurs, der nordwestlich über den Eis-See von Vastitas führte und die metanationalen Bollwerke von Ascraeus und Echus Overlook vermied. Bald nach den Start konnten sie das Eis erblicken, das Chryse im Norden anfüllte. Die zerklüfteten schmutzigen Eisberge waren mit roten Schneealgen und amethystfarbenen Schmelztümpeln gepunktet. Die alte Transponderstraße nach Chasma Borealis war natürlich längst verschwunden, wie auch das ganze System zum Wassertransport nach Süden vergessen und nur eine technische Fußnote für die Geschichtsbücher war. Während Nadia auf das Eischaos hinunterschaute, erinnerte sie sich plötzlich daran, wie das Land bei jener ersten Reise ausgesehen hatte, die endlosen Berge und Täler, die Trichter und die großen schwarzen Dünen, das unglaublich geschichtete Gelände in den letzten Sandgebieten vor der Polkappe … das alles war jetzt verschwunden und von Eis überwältigt. Und die Polkappe selbst war ein Gewirr aus großen Schmelzzonen und Eisströmen, schlammigen Flüssen und von Eis bedeckten flüssigen Teichen — jede Art von Matsch, und alles von dem hohen runden Plateau herunterbrechend, auf dem die Polkappe ruhte, hinab in das die Welt umspannende nördliche Meer.

Eine Landung kam deshalb während eines großen Teils ihres Fluges nicht in Betracht. Nadia beobachtete nervös die Instrumente. Sie war sich nur zu gut all dessen bewußt, was in einem neuen Flugzeug während einer Krise versagen konnte, wenn die Wartung darniederlag und menschliches Vorsagen Konjunktur hatte.

Dann erschienen weiße und schwarze Rauchwolken im Südwesten am Horizont, die in einem offenbar kräftigen Wind nach Osten zogen. »Was ist das?« fragte Nadia und rückte im Flugzeug nach links, um hinauszusehen.

»Kasei Vallis«, sagte Sax von Pilotensitz her.

»Was ist da passiert?«

»Es brennt.«

Nadia starrte ihn an. »Was meinst du?«

»Dort im Tal gibt es schwere Vegetation. Und längs des Fußes der Großen Böschung. Größtenteils harzige Bäume und Büsche. Auch Feuersaatbäume. Arten, die Feuer brauchen, um sich zu verbreiten. Von Biotique entwickelt. Dornige harzige Bärentraube, Riesensequoia und einige andere.«

»Woher weißt du das?«

»Ich habe sie gepflanzt.«

»Und jetzt hast du sie in Brand gesteckt?«

Sax nickte. Er schaute auf den Rauch hinunter.

»Aber, Sax, ist nicht der Prozentsatz von Sauerstoff in der Atmosphäre jetzt wirklich hoch?«

»Vierzig Prozent.«

Sie starrte ihn weiter an und war plötzlich mißtrauisch. »Das hast du auch so hochgetrieben, nicht wahr? Mein Gott, Sax, du hättest die ganze Welt in Brand stecken können!«

Sie sah auf den Boden der Rauchwolke hinunter. Da in der tiefen Senke von Kasei Vallis war eine Flammenlinie, der vordere Rand des Feuers, die strahlend weiß brannte anstatt gelb. Es sah aus wie geschmolzenes Magnesium. Sie schrie: »Das wird niemand auslöschen! Du hast die Welt angezündet!«

Sax sagte »Das Eis. In Windrichtung gibt es nichts als das Eis, welches Chryse bedeckt. Es sollten nur ein paar tausend Quadratkilometer abbrennen.«

Nadia sah ihn erstaunt und entsetzt an. Sax schaute noch auf das Feuer hinunter, beobachtete aber die meiste Zeit die Instrumente des Flugzeugs mit einer seltsamen Miene — reptilienhaft, versteinert, höchst unmenschlich.

Die Sicherheitskomplexe der Metanationalen in der Krümmung von Kasei Vallis kamen über den Horizont. Alle Kuppeln brannten lodernd wie Pechfackeln. Die Krater am inneren Ufer spieen weiße Flammen in die Luft. Offensichtlich wehte ein starker Wind von Echus Chasma herunter und wurde wie in einem Trichter durch Kasei Vallis gedrückt und fachte die Flammen an. Ein Feuersturm. Und Sax sah hinunter, ohne zu blinzeln. Seine Kinnbacken waren verkrampft.

»Flieg nach Norden!« wies ihn Nadia an. »Mach, daß wir von hier wegkommen!«

Er kippte das Flugzeug, und sie schüttelte den Kopf. Tausende von Quadratmetern verbrannt. Diese ganze so mühsam eingeführte Vegetation — Sauerstoffgehalt der Atmosphäre beträchtlich erhöht… Sie sah verdrießlich auf die merkwürdige Kreatur, die neben ihr saß.

»Warum hast du mir nichts davon gesagt?«

»Ich wollte nicht, daß du mich aufhältst.«

So einfach war das.

»Du hast also solche Macht?«

»Ja.«

»Du wolltest, daß ich manches nicht erfahren sollte?«

»Nur dies hier«, sagte Sax. Seine Kinnmuskeln arbeiteten in einem Rhythmus, der sie plötzlich an Frank Chalmers erinnerte. »Die Gefangenen sind alle in den Asteroidenabbau gebracht worden. Dies war der Ausbildungsplatz für ihre Geheimpolizei. Für die, welche nie aufgeben. Die Folterer.« Er richtete seinen eidechsenhaften Blick auf sie. »Ohne sie sind wir besser dran.« Und er wandte sich wieder seinen Armaturen zu.

Nadia blickte immer noch auf die wilde weiße Linie des Feuersturms zurück, als das Radio des Flugzeugs in ihrem Code piepte. Diesmal war es Art, mit angstvoll verzerrter Miene. »Ich brauche deine Hilfe«, rief er. »Anns Leute haben Sabishii zurückerobert, und eine Menge Sabishiier sind aus dem Labyrinth herausgekommen, um es wieder zu besetzen, und die Roten, die da die Macht haben, sagen denen, sie sollten verschwinden.«

»Was?«

»Ich weiß — das heißt, ich glaube nicht, daß Ann noch dabei ist. Und sie antwortet nicht auf meine Anrufe. Da draußen gibt es Rote, neben denen sie wie eine Boone-Anhängerin dasteht, das schwöre ich. Aber ich habe Ivana und Raul erreicht und sie dazu gebracht, die Roten in Sabishii zu stoppen, bis ich von dir gehört habe. Das ist das Beste, was ich tun konnte.«

»Warumich?«

»Ich denke, Ann hat ihnen gesagt, daß sie auf dich hören sollen.«

»Scheiße!«

»Nun, wer sonst sollte es machen? Maya hat sich zu viele Feinde gemacht, als sie in den letzten paar Jahren die Dinge zusammenhielt.«

»Ich dachte, du wärest hier der große Diplomat.«

»Das bin ich auch. Aber ich habe festgestellt, daß ein jeder dafür war, deinem Urteil zu vertrauen. Das war das Beste, was ich tun konnte. Es tut mir leid, Nadia. Ich werde dir aber in jeder Weise helfen, die du von mir verlangst.«

»Du würdest es viel besser machen, nachdem du mich so etabliert hast.«

Er grinste. »Es ist nicht mein Fehler, daß alle dir vertrauen.«

Nadia schaltete ab und versuchte die verschiedenen Frequenzen der Roten. Ann konnte sie erst nicht finden. Aber während sie durch die Kanäle ging, hörte sie genug Meldungen, um zu erkennen, daß da junge rote Radikale waren, die Ann sicher verurteilen würde, wie sie hoffte — Leute, die, während die Revolte noch in der Schwebe war, emsig damit beschäftigt waren, Plattformen in Vastitas zu sprengen, Kuppeln aufzuschlitzen, Pisten zu zerstören und zu drohen, ihre Zusammenarbeit mit den anderen Rebellen zu beenden, wenn diese nicht bei ihren Sabotagen mitmachten und alle ihre Forderungen erfüllten und so weiter und so fort.

Endlich antwortete Ann auf Nadias Ruf. Sie sah aus wie eine rächende Furie, schlicht und einfach verrückt. »Schau«, sagte Nadia zu ihr ohne Vorrede, »ein unabhängiger Mars ist die beste Chance, die du jemals haben wirst, um das zu bekommen, was du willst. Du versuchst die Revolution als Geisel für deine Interessen zu nehmen. Die Leute werden sich aber erinnern. Ich warne dich! Du kannst dich für alles einsetzen, was du willst, wenn wir die Lage unter Kontrolle haben; aber es ist einfach Erpressung, was du da tust. Es ist ein Dolchstoß in den Rücken. Du bringst besser die Roten in Sabishii dazu, die Stadt ihren Bewohnern zurückzugeben.«

»Wie kommst du auf den Gedanken, daß ich ihnen sagen könnte, was sie tun sollen?« erwiderte Ann säuerlich.

»Wer anders, wenn nicht du?«

»Wie kommst du darauf, daß ich mit dem, was sie tun, nicht einverstanden wäre?«

»Ich habe den Eindruck, daß du eine vernünftige Person bist. Deshalb!«

»Ich erhebe nicht den Anspruch, andere Leute herumzukommandieren.«

»Diskutiere mit ihnen, wenn du ihnen keine Befehle erteilen kannst! Sag ihnen, daß schon größere Revolten als die unsrige mißlungen sind wegen solcher Stupidität. Sag ihnen, sie sollen Verständnis zeigen!«

Ann trennte die Verbindung, ohne zu antworten.

»Mist!« sagte Nadia.

Ihre KI spie weiter Nachrichten aus. Die Expeditionsstreitmacht der UNTA kam aus den Gebirgen im Süden zurück und schien nach Hellas oder Sabishii unterwegs zu sein. Sheffield war noch unter der Kontrolle von Subarashii. In Burroughs war die Lage offen. Sicherheitskräfte schienen die Kontrolle zu haben; aber aus Syrtis und von überall her strömten Flüchtlinge in die Stadt, und es war auch ein Generalstreik im Gange. Die Videos ließen darauf schließen, daß der größte Teil der Bevölkerung den Tag draußen auf den Boulevards und in den Parks verbringen würde mit Demonstrationen gegen die Übergangsbehörde oder auch nur, um zu sehen, was vor sich ging.

»Wir müssen wegen Burroughs etwas unternehmen«, sagte Sax.

»Ich weiß.«

Sie flogen wieder nach Süden, vorbei am Buckel von Hecates Tholus am Nordende des Elysium-Massivs zum Raumflughafen von South Fossa. Ihr Flug hatte zwölf Stunden gedauert, aber sie waren durch neun Zeitzonen nach Westen gereist und hatten die Datumsgrenze bei 180° Länge überschritten, so daß es Sonntag mittag war, als ihr Flughafen-Bus sie zum Rande von South Fossa und durch die Schleuse in die Kuppel brachte.

South Fossa und die anderen Städte von Elysium, Hephaestus und Elysium Fossa, hatten sich alle großartig für einen freien Mars entschieden. Sie bildeten eine gewisse geographische Einheit. Ein südlicher Arm des Eises von Vastitas verlief jetzt zwischen dem Elysium-Massiv und der Großen Böschung; und obwohl er bereits durch Pontonbrücken überspannt war, stand Elysium im Begriff, ein Inselkontinent zu werden. In allen drei großen Städten waren Massen auf die Straßen geströmt und hatten die Büros und physikalischen Versorgungsanlagen der Stadt besetzt. Ohne die Drohung mit Angriffen aus dem Orbit zu ihrer Unterstützung hatten die geringen Polizeikräfte der Übergangsbehörde in den Städten entweder Zivil angezogen und waren in der Menge verschwunden oder in den Zug nach Burroughs gestiegen. Elysium war unzweifelhaft ein Teil des freien Mars.

Unten in den Büros von Mangalavid stellten Nadia und Sax fest, daß eine große bewaffnete Schar von Rebellen den Bahnhof erobert hatte und jetzt damit beschäftigt war, vierundzwanzig und eine halbe Stunde täglich auf allen vier Kanälen Videoberichte zu senden, die alle mit der Revolte sympathisierten, mit langen Interviews von Menschen in allen unabhängigen Städten und Stellungen. Der Zeitrutsch war einer Zusammenfassung der Ereignisse des Vortages gewidmet.

Einige abseits gelegene Bergbaustationen in den radialen Schluchten von Elysium und den Phlegra-Bergen waren reine Unternehmungen der Metanationalen, zumeist von Amexx und Subarashii. Diese waren weitgehend mit neuen Emigranten besetzt, die in ihren Camps eingeschlossen waren und entweder still geworden waren oder jeden, der versuchte, sie zu belästigen, bedrohten. Einige hatten sogar ihre Absicht erklärt, den Planeten wieder zu erobern oder durchzuhalten, bis Verstärkungen von der Erde einträfen. Nadia gab den Rat, sie zu ignorieren. »Geht ihnen aus dem Weg und ignoriert sie! Blockiert ihr Kommunikationssystem, wenn ihr könnt, und laßt sie in Ruhe!«

Meldungen von anderswo her auf dem Mars waren aussichtsreicher. Senzeni Na war in den Händen von Leuten, die sich als Boone-Anhänger bezeichneten, obwohl sie nicht mit Jackie verbunden waren. Es waren Issei, Sansei und Yonsei, die ihr Mohole sofort John Boone genannt und Thaumasia zu einer ›Neutralen Stätte Dorsa Brevia‹ proklamiert hatten. Korolyov, jetzt nur noch eine kleine Bergbaustadt, hatte fast so heftig wie 2061 revoltiert; und seine Bürger, viele von ihnen Abkömmlinge der alten Gefängnisbevölkerung, hatten die Stadt in Sergei Pavlovich Korolyov umbenannt und zu einer inoffiziellen anarchistischen Freizone erklärt. Die alten Gefängniskomplexe sollten zu einem riesigen Basar und kommunalen Wohngebiet umgewandelt werden, wobei die Flüchtlinge von der Erde besonders willkommen geheißen wurden. Nicosia war ebenso eine freie Stadt. Cairo stand unter der Kontrolle von Amexx-Sicherheitstruppen. Odessa und der Rest der Städte des Hellasbeckens hielten noch an Unabhängigkeit fest, obwohl die Strecke rund um Hellas an einigen Stellen unterbrochen war. Das System der magnetischen Schwebebahnen war in dieser Hinsicht schlecht. Damit die Strecken und Züge funktionierten, mußten die Magnetsysteme arbeiten, die aber leicht zu unterbrechen waren. Aus diesem Grund fuhren viele Züge leer oder wurden gestrichen, als die Leute auf Rover oder Flugzeuge umstiegen, um sicher zu sein, daß sie nicht irgendwo in der Wildnis strandeten in Fahrzeugen, die nicht einmal Räder hatten.

Nadia und Sax verbrachten den Rest des Sonntags damit, daß sie Entwicklungen überprüften und, wenn sie gefragt wurden, Vorschläge für Problemsituationen machten. Im allgemeinen hatte Nadia den Eindruck, daß die Dinge gut liefen. Aber am Montag kam schlechte Kunde von Sabishii. Das Expeditionscorps der UNTA war dort aus dem südlichen Gebirge eingetroffen und hatte nach einem schweren, die ganze Nacht dauernden Kampf mit den roten Guerilleros den Oberflächenteil der Stadt wieder erobert. Die Roten und die ursprünglichen Sabishiier hatten sich in das Haldenlabyrinth oder auswärtige Schutzräume zurückgezogen; es war klar, daß es im Labyrinth zu anhaltenden blutigen Kämpfen kommen würde. Art sagte voraus, daß die Sicherheitskräfte nicht imstande sein würden, in das Labyrinth einzudringen, und deshalb gezwungen sein müßten, Sabishii aufzugeben und mit Bahn oder Flugzeug nach Burroughs zu fliehen, um sich mit den bereits dort befindlichen Kräften zusammenzuschließen. Aber man konnte keineswegs sicher sein; und das arme Sabishii war durch den Angriff schwer angeschlagen und wieder in den Händen der Sicherheit.

Am Montag abend ging Nadia mit Sax los, um etwas zu essen aufzutreiben. Der Canyon von South Fossa war voller ausgewachsener Bäume. Riesige Sequoias ragten über ein unteres Stockwerk von Kiefern, Wacholdern und im tieferen Teil des Canyons Espen und Eichen empor. Während sie durch den Park am Flußufer gingen, wurden Nadia und Sax von den Mangalavidleuten einer Gruppe nach der anderen vorgestellt, zumeist Eingeborene und alles unbekannte Gesichter, aber alle sehr erfreut, sie kennenzulernen. Das war deutlich. Es war eigenartig, so viele Menschen offenbar fröhlich zu sehen. Im normalen Leben fiel einem das gar nicht auf, wie Nadia bemerkte. Überall Lächeln, Fremde, die miteinander sprachen… Es gab vieles, was entschwand, wenn eine soziale Ordnung zerbrach. Anarchie und Chaos waren gewiß allzu möglich, aber auch Gemeinschaft.

Sie speisten in einem Freiluftrestaurant am Hauptstrom und kehrten dann in die Büros von Mangalavid zurück. Nadia setzte sich wieder vor ihren Bildschirm und machte sich daran, mit so vielen Organisationskomitees zu sprechen, wie sie erreichen konnte. Sie fühlte sich wie Frank 2061 und bediente die Telefone in wilder Eile. Erst jetzt waren sie in Verbindung mit dem ganzen Mars; und sie hatte den klaren Eindruck, daß sie, wenn sie auch keineswegs die Führung hatte, doch zumindest ein gutes Gefühl dafür besaß, was vor sich ging. Und das war wirklich Gold wert. Die eiserne Walnuß in ihrem Magen fing an, sich mehr in so etwas wie Holz zu verwandeln.

Nach einigen Stunden begann sie, zwischen einem Anruf und dem nächsten für Sekunden in Schlaf zu fallen. In Underhill und Shalbatana war jetzt Mitternacht; und sie hatte seit dem Anruf von Sax wegen Antarctica nicht viel geschlafen. Das bedeutete vier oder fünf Tage ohne Schlaf — nein, halt —, sie rechnete nach: drei Tage. Obwohl es sich schon wie drei Wochen anfühlte.

Sie hatte sich gerade auf einer Couch hingelegt, als es ein Geschrei gab und alle in den Korridor rannten und dann hinaus auf die mit Steinen gepflasterte Plaza vor den Mangalavidbüros. Nadia torkelte hinter Sax her, der sie am Arm packte und half, Balance zu halten.

Offenbar gab es ein Loch im Kuppeldach. Die Leute zeigten hin, aber Nadia konnte es nicht erkennen.

»Hier sind wir jetzt besser dran«, sagte Sax mit einem leicht befriedigten Zug um den Mund. »Der Druck unter dem Dach ist nur um hundertfünfzig Millibar höher als außen.«

»Darum zerplatzen die Dächer nicht wie angestochene Ballons«, sagte Nadia und erinnerte sich schaudernd an einige überkuppelte Krater von 2061.

»Und selbst wenn etwas Außenluft eindringt, ist es zumeist Sauerstoff und Stickstoff. Es gibt noch zu viel Kohlendioxid, aber nicht so viel, daß wir alle sofort vergiftet würden.«

»Wenn das Loch aber größer wäre«, sagte Nadia.

»Gewiß.«

Sie schüttelte den Kopf. »Wir müssen den ganzen Planeten sichern, um wirklich in Sicherheit zu sein.«

»Gewiß.«

Nadia ging gähnend wieder hinein. Sie setzte sich wieder an ihre KI und verfolgte die vier Mangalavidkanäle, zwischen denen sie rasch hin und her schaltete. Die meisten großen Städte waren entweder offen für Unabhängigkeit oder in verschiedenen Pattsituationen, bei denen die Sicherheit die Kontrolle über die physikalischen Versorgungsanlagen hatte, aber nichts passierte und ein großer Teil der Bevölkerung in den Straßen wartete, um zu sehen, was als nächstes geschehen würde. Es gab eine Anzahl von Städten und Camps der Firmen, die noch ihre Metanationalen unterstützten. Aber im Falle von Bradbury Point und Huo Hsing Vallis, benachbarten Städten auf der Großen Böschung, hatten sich ihre metanationalen Eltern Amexx und Mahjari auf der Erde bekämpft. Welchen Einfluß das auf diese nördlichen Städte haben würde, war nicht klar; aber Nadia war sicher, daß es ihnen nicht helfen könnte, ihre Lage zu klären.

Es gab noch etliche wichtige Städte im Griff von Subarashii und Amexx, und diese dienten als Magnete für isolierte Sicherheitseinheiten von Metanationalen und UNTA. Burroughs war offenbar unter ihnen führend; aber das galt auch für Cairo, Laßwitz, Sudbury und Sheffield. Im Süden kamen die Menschen aus den Zufluchtsstätten, welche nicht aufgegeben oder vom Expeditionscorps zerstört worden waren, aus ihren Verstecken heraus; und in Vishniac bauten die Bogdanovisten eine Oberflächenkuppel über dem alten Parkplatz für Robotfahrzeuge dicht bei ihrem Mohole. Also würde der Süden ohne Zweifel wieder seine Position als Bollwerk des Widerstandes gewinnen, soviel das wert war. Nadia hielt nicht viel davon. Und die nördliche Polkappe war in ihrer Umwelt so ungeordnet, daß es kaum eine Rolle spielte, wer sie innehatte. Das meiste von ihrem Eis wurde nach Vastitas abgeführt, aber die Polkappe bedeckte sich in jedem Winter mit frischem Schnee. Sie war die ungastlichste Gegend auf dem Mars, und es waren fast gar keine Dauersiedlungen dort übriggeblieben.

Also bestand die umstrittene Zone hauptsächlich in den gemäßigten und äquatorialen Breiten, in dem Band um den Planeten, das vom Vastitas-Eis im Norden und den zwei großen Becken im Süden begrenzt wurde. Und dazu gehörte natürlich auch der Weltraum. Aber Saxens Angriff auf metanationale orbitale Objekte war offenbar erfolgreich gewesen, und seine Entfernung von Deimos aus der Nähe sah jetzt wirklich wie ein glücklicher Schlag aus. Indessen war der Aufzug noch immer in Händen der Metanationalen, und Verstärkungen von der Erde waren jederzeit fällig. Und Sax in Da Vinci hatte offenbar seine meisten Waffen bei dem ersten Angriff aufgebraucht.

Was die Soletta und den Ringspiegel anging, waren diese so groß und zerbrechlich, daß man sie unmöglich verteidigen konnte. Falls jemand sie zerstören wollte, wäre das wohl möglich. Aber Nadia sah keinen Grund dafür. Und falls es geschähe, hätte sie sofort Rote aus ihren eigenen Reihen als Täter in Verdacht.

Und wenn sie es tun sollten, würde ein jeder ohne dieses zusätzliche Licht auskommen wie schon vorher. Sie müßte Sax fragen, was er davon hielte. Und mit Ann darüber sprechen, um zu erfahren, welches ihre Position war. Oder vielleicht war es besser, ihr keine Ideen in den Kopf zu setzen. Sie würde selbst sehen müssen, wie es lief. Was sonst noch …?


Sie schlief mit dem Kopf auf dem Bildschirm ein. Als sie wieder aufwachte, lag sie ausgehungert auf der Couch, und Sax las ihren Schirm. »Es sieht schlecht aus in Sabishii«, sagte er, als er sah, wie sie sich aufrappelte. Sie ging ins Bad, und als sie zurückkam, blickte sie ihm über die Schulter und las weiter, während er redete. »Die Sicherheit kam mit dem Labyrinth nicht zurecht. Darum sind sie nach Burroughs fortgegangen. Aber schau!«

Er hatte zwei Bilder auf dem Schirm. Oben eines von Sabishii, das so wild brannte wie vorher Kasei Vallis. Unten Truppen, die in den Bahnhof von Burroughs strömten. Sie trugen leichten Körperschutz und hatten automatische Waffen. Ihre Fäuste schlugen in die Luft. Burroughs war anscheinend voll dieser Sicherheitskräfte; und die hatten Branch Mesa und Double Decker Butte als Wohnquartiere erobert. Also waren zusammen mit den UNTA-Truppen in der Stadt jetzt Sicherheitsteams aus sowohl Subarashii wie Mahjari — praktisch alle großen Metanationalen waren vertreten, was Nadia veranlaßte, sich zu fragen, was auf der Erde wirklich zwischen denen geschah, ob sie etwa eine Art von Vereinbarung oder ad hoc-.Allianz geschlossen hätten infolge der Krise. Sie rief Art in Burroughs an, um ihn zu fragen, was er meinte.

Er sagte: »Vielleicht sind diese Einheiten auf dem Mars so abgeschnitten, daß sie ihren eigenen Frieden machen. Vielleicht sind sie völlig auf sich allein gestellt.«

»Wenn wir aber noch Kontakt mit Praxis haben … «

»Na ja, aber wir haben sie überrascht. Sie waren sich nicht über den Umfang der Sympathie für den Widerstand bewußt, und so konnten wir die günstige Lage ausnützen. Mayas Strategie des Losschiagens hat sich in diesem Sinne bewährt. Nein, diese Teams könnten gerade jetzt recht gut isoliert sein. In diesem Fall könnten wir den Mars schon jetzt als unabhängig ansehen und mitten in einem Bürgerkrieg befindlich darüber, wer hier die Kontrolle hat. Ich meine, wenn diese Leute in Burroughs uns anrufen und sagen: Okay, der Mars ist eine Welt, groß genug für mehr als eine Regierungsform. Ihr habt eure, und wir haben Burroughs. Versucht nicht, uns die unsere zu nehmen — was würden wir dann sagen?«

»Ich glaube nicht, daß jemand in der Sicherheit der Metanationalen in diesen Maßstäben denkt«, sagte Nadia. »Es ist erst drei Tage her, daß die Dinge über sie hereingebrochen sind.« Sie zeigte auf den Bildschirm. »Schau, da ist Derek Hastings, Chef der Übergangsbehörde. Er war Leiter der Mission Control in Houston, als wir losgeflogen sind, und er ist gefährlich — schlau und sehr hartnäckig. Er wird einfach durchhalten, bis jene Verstärkungen landen.«

»Was sollten wir also deiner Meinung nach tun?«

»Ich weiß es nicht.«

»Können wir Burroughs einfach allein lassen?«

»Das glaube ich nicht. Wir wären viel besser dran, wenn wir mit einer vollständigen Eroberung wieder hinter der Sonne zum Vorschein kämen. Wenn es belagerte Truppen von der Erde gibt, die heroisch in Burroughs durchhalten, werden sie fast sicher heraufkommen, um sie zu retten. Es eine Rettungsaktion nennen und dann auf den ganzen Planeten losgehen.«

»Es wäre nicht leicht, Burroughs einzunehmen mit all den Truppen darin.«

»Ich weiß.«

Sax hatte auf einer anderen Couch im Zimmer geschlafen und öffnete jetzt ein Auge. »Die Roten sprechen davon, es zu überfluten.«

»Was?«

»Es liegt unter dem Niveau des Eises von Vastitas. Und unter dem Eis befindet sich Wasser. Ohne den Deich … «

»Nein«, sagte Nadia. »In Burroughs sind zweihunderttausend Menschen und nur ein paar tausend Leute von den Sicherheitstruppen. Was sollen die Leute denn machen? So viele Menschen kann man nicht evakuieren. Das ist verrückt. Es ist wieder ganz wie 2061.« Je mehr sie darüber nachdachte, desto wütender wurde sie. »Was können die denken?«

»Macht es einfach als eine Drohung!« sagte Art über den Schirm.

»Drohungen wirken nicht, wenn die Leute, denen man droht, glauben, daß man sie nicht ausführen kann.«

»Vielleicht werden sie es glauben.«

Nadia schüttelte den Kopf. »So dumm ist Hastings nicht. Zum Teufel, er könnte seine Truppen über den Raumhafen evakuieren und die Bevölkerung ersaufen lassen! Und dann werden wir zu Ungeheuern, und die Erde würde noch sicherer über uns kommen. Nein! Auf keinen Fall!«

Sie stand auf und sah sich nach etwas Frühstück um. Als sie dann die Reihe von Backwaren in der Küche anschaute, stellte sie fest, daß ihr der Appetit vergangen war. Sie nahm eine Tasse Kaffee und ging wieder ins Büro zurück. Sie sah, daß ihr die Hände zitterten.

Im Jahre 2061 war Arkady mit einer Splittergruppe konfrontiert gewesen, die einen kleinen Asteroiden auf Kollisionskurs mit der Erde geschickt hatte. Das sollte nur eine Drohung sein. Aber der Asteroid war explodiert in der größten von Menschen bewirkten Explosion der Geschichte. Und danach war der Krieg auf dem Mars plötzlich so tödlich geworden wie nie zuvor. Und Arkady war hilflos gewesen, dem Einhalt zu gebieten.

Und das könnte wieder geschehen.

Sie ging wieder ins Büro und sagte zu Sax: »Los! Wir müssen nach Burroughs.«

In Revolutionen gelten Sitten so wenig wie Gesetze. Da aber die Natur vor einem Vakuum zurückschreckt, schrecken die Menschen vor Anarchie zurück.

So machen Gewohnheiten ihre ersten Exkursionen in das neue Gelände wie Bakterien in Gestein. Danach folgen Prozeduren, Protokolle und ein ganzes Feld sozialer Erörterungen auf dem Wege zu dem Hochwald das Gesetzes … Nadia sah, daß Leute (manche Leute) tatsächlich zu ihr kamen, um Streitfälle zu klären, wobei sie sich ihrem Urteil unterwarfen. Vielleicht hatte sie nicht die Führung, aber sie war ihr ganz nahe. Das Allgemeine Lösungsmittel, wie Art sie nannte, oder General Nadia, wie Maya boshaft über ihr Armband gesagt hatte. Das verursachte Nadia nur Schaudern, was Maya beabsichtigt hatte. Nadia zog etwas vor, das sie Sax über Armband seiner getreuen Schar von Technikern sagen gehört hatte, die alle im Begriff waren, junge Saxe zu werden: »Nadia ist der ernannte Schiedsrichter, sprecht mit ihr darüber!« Das war die Macht der Namen. Schiedsrichter anstatt General. Sie hatte den Auftrag, das zustande zu bringen, was Art den ›Phasenwechsel‹ nannte. Sie hatte gehört, wie er diesen Ausdruck bei einem langen Interview für Mangalavid brauchte, mit seiner ausdruckslosen Miene, die es sehr schwer machte zu sagen, ob er scherzte oder nicht. »Oh, ich meine nicht, daß es wirklich eine Revolution ist, was wir erleben, nein. Es ist hier ein völlig natürlicher Schritt. Darum ist es mehr eine evolutionäre oder Entwicklungsangelegenheit, oder das, was man in der Physik als Phasenwechsel bezeichnet.«

Seine nachfolgenden Bemerkungen zeigten Nadia, daß er eigentlich gar nicht wußte, was ein Phasenwechsel war. Aber sie wußte es und fand den Gedanken verlockend. Verdampfung irdischer Autorität, Kondensation lokaler Macht, schließlich der Tau … wie man auch darüber denken mochte. Schmelzen trat ein, wenn die thermische Energie der Teilchen groß genug war, um die intrakristallinen Kräfte zu überwinden, die sie in Position hielten. Wenn man also die Ordnung der Metanationalen als die kristalline Struktur ansah… Aber dann machte es einen großen Unterschied, ob die zusammenhaltenden Kräfte inter-ionisch oder intermolekular waren. Natriumchlorid schmilzt inter-ionisch bei 801 °C; Methan schmilzt intermolekular bei –183 °C. Was für eine Art von Kräften war es also? Und wie hoch lag die Temperatur?

An dieser Stelle zerschmolz die Analogie selbst. Aber Namen waren im menschlichen Kopf ohne Zweifel mächtig. Phasenwechsel, integrierte Seuchenbekämpfung, selektive Arbeitslosigkeit — alle diese Ausdrücke zog sie dem alten tödlichen Wort Revolution vor; und sie freute sich, daß man sie bei Mangalavid und in den Straßen allgemein gebrauchte.

Aber sie erinnerte sich, daß es in Burroughs und Sheffield fünftausend schwerbewaffnete Sicherheitstruppen gab, die sich immer noch für eine Polizei hielten, die mit bewaffneten Aufständischen konfrontiert war. Und um damit fertig zu werden, würde man mehr brauchen als Semantik.

Aber zum größten Teil liefen die Dinge besser, als sie gehofft hatte. Das war irgendwie auch eine Sache der Demographie. Es schien, daß fast jede Person, die auf dem Mars geboren war, sich jetzt in den Straßen befand oder städtische Ämter besetzte, sowie Bahnhöfe, Raumflughäfen — all dies, nach den Interviews in Mangalavid zu schließen, völlig (und unrealistisch, wie Nadia meinte) unduldsam der Idee gegenüber, daß Mächte auf einem anderen Planeten sie in irgendeiner Weise kontrollieren könnten. Das war hier fast die Hälfte der jetzigen Bevölkerung des Mars. Und auch ein guter Prozentsatz der Oldtimer war auf ihrer Seite, sowie einige der neuen Emigranten. »Nenn sie Immigranten!!« riet Art über das Telefon. »Oder Neuankömmlinge. Nenne sie Siedler oder Kolonisten, je nachdem, ob sie mit uns sind oder nicht. Das hat Nirgal gemacht; und ich denke, daß es den Leuten hilft, über die Lage nachzudenken.«

Auf der Erde war die Situation weniger klar. Die Metanationalen von Subarashii kämpften noch mit denen im Süden, waren aber im Rahmen der großen Überschwemmung zu einer bitteren Episode geworden. Es war schwer zu sagen, was die Menschen auf der Erde im allgemeinen über den Konflikt auf dem Mars dachten.

Aber was auch immer sie denken mochten, ein schnelles Shuttle würde bald mit Verstärkungen für die Sicherheit eintreffen. Darum wurden die Widerstandsgruppen von überall her mobilisiert, sich auf Burroughs zusammenzuziehen. Art tat, was er konnte, um dieses Unternehmen aus dem Innern von Burroughs her zu unterstützen, indem er all jenen, die unabhängig daran gedacht hatten zu kommen (es lag ja schließlich nahe), sagte, daß ihre Idee gut wäre und sie Gegnern des Plans zureden sollten. Er war in Nadias Augen ein subtiler Diplomat — groß, sanft, unprätentiös, ohne Anmaßung und ›undiplomatisch‹. Er neigte den Kopf, wenn er mit Leuten konferierte, und gab ihnen den Eindruck, daß sie es wären, die den Fortschritt vorantrieben. Wirklich unermüdlich. Und sehr schlau. Bald kamen viele Gruppen zu ihm, einschließlich der Roten und der Guerilleros von MarsErst, die sich ihr Anrücken immer noch als eine Art von Attacke oder Belagerung vorzustellen schienen. Nadia hatte den deutlichen Eindruck, daß, während die Roten, die sie kannte — Ivana, Gene, Raul, Kasei —, mit ihr in Verbindung blieben und zustimmten, sie als Schiedsrichter anzuerkennen, es da draußen radikalere Gruppen von Roten und MarsErst-Leuten gab, für die sie irrelevant oder sogar ein Hindernis war. Dies machte sie wütend, weil sie sicher war, daß die radikaleren Elemente, wenn Ann sie völlig unterstützte, auch kommen würden. Sie beklagte sich darüber bitterlich bei Art, nachdem sie eine Verlautbarung der Roten gesehen hatte, die die westliche Hälfte der ›Konvergenz‹ auf Burroughs regelte. Art ging ans Werk, überredete Ann dazu, einen Anruf entgegenzunehmen, und verband sie mit Nadia.

Und da war sie wieder, wie eine Furie der Französischen Revolution, so kalt und grimmig wie immer. Ihr letztes Gespräch über Sabishii lag schwer zwischen ihnen. Dieses Thema war strittig geworden, als die UNTA Sabishii wiedererobert und niedergebrannt hatte. Aber Ann war offenbar immer noch ärgerlich, was Nadia beunruhigend fand.

Nach kümmerlicher Begrüßung artete ihr Gespräch fast sofort in eine Auseinandersetzung aus. Ann sah die Revolte deutlich als eine Chance, alle Bemühungen für Terraformung zu beseitigen und so viele Städte und Menschen wie möglich vom Planeten zu entfernen, notfalls durch direkten Angriff. Erschreckt von dieser apokalyptischen Vision, diskutierte Nadia mit ihr erst scharf und dann wütend. Aber Ann hatte sich in eine ihr eigene Welt zurückgezogen. Sie erklärte kühl: »Ich wäre ebenso glücklich, wenn Burroughs zerstört würde.«

Nadia knirschte mit den Zähnen. »Wenn du Burroughs zerstörst, zerstörst du alles. Wohin sollten wohl die Leute darin gehen? Du wärst nicht besser als eine Mörderin, eine Massenmörderin. Simon würde sich schämen.«

Ann machte ein mürrisches Gesicht. »Ich sehe, daß Macht korrumpiert. Verbinde mich mit Sax! Ich bin dieser Hysterie überdrüssig.«

Nadia gab den Anruf an Sax weiter und ging fort. Es war nicht Macht, die die Menschen verdarb, sondern es waren die Narren, welche die Macht korrumpierten. Nun, es könnte sein, daß sie sich zu schnell aufgeregt hatte und zu grob gewesen war. Aber sie war erschreckt von jener finsteren Stelle in Anns Innerem, dem Teil, der zu allem fähig war; und Angst korrumpierte noch mehr als Macht. Wenn man beides kombinierte …

Hoffentlich hatte sie Ann so stark schockiert, daß diese finstere Stelle in ihre Ecke zurückgedrängt wurde. Das war schlechte Psychologie, wie Michel sanft darlegte, als sie ihn in Burroughs anrief, um darüber zu sprechen. Eine Strategie, die sich aus Angst ergab. Aber sie fürchtete, nicht anders zu können. Revolution bedeutete die Zerstörung einer Struktur und Schaffung einer anderen. Aber Zerstören war leichter als Erschaffen, und deshalb waren diese beiden Teile des Aktes nicht notwendigerweise dazu bestimmt, gleichermaßen erfolgreich zu sein. In diesem Sinne war die Konstruktion einer Revolution wie der Bau eines Bogens. Solange nicht beide Säulen vorhanden und der Schlußstein an Ort und Stelle waren, konnte praktisch jeder Bruch das ganze Ding herunterkrachen lassen.


Also brachen am Samstag abend, fünf Tage nachdem Nadia von Sax angerufen worden war, etwa hundert Personen nach Burroughs auf — in Flugzeugen, da die Pisten als für Sabotage zu verwundbar galten. Sie flogen über Nacht zu einer steinigen Landebahn bei einem großen Refugium von Bogdanovisten in der Wand des Kraters Du Martheray auf der Großen Böschung südöstlich von Burroughs. Sie landeten in der Dämmerung, während die Sonne wie ein Klumpen Quecksilber durch Nebel aufstieg und entfernte Berge im Norden auf der tiefen Isidis-Ebene beleuchtete.

Dort war ein neuer Eis-See, dessen Fortschritt nach Süden nur durch die gebogene Linie des Deichs gehemmt wurde, der sich wie ein langer Damm aus Erde über das Land krümmte/ der er ja auch genaugenommen war.

Um bessere Sicht zu bekommen, stieg Nadia auf das oberste Geschoß des Refugiums von Du Martheray, wo ein Beobachtungsfenster, das als horizontaler Spalt gleich unter dem Rand getarnt war, einen Blick hinab zur Großen Böschung und dem neuen Deich und dem dagegen drückenden Eis freigab. Sie starrte lange hin und trank Kaffee, gemischt mit einer Dosis Kava. Im Norden lag das Eismeer mit seinen zusammengedrängten Eisnadeln und langen Druckspalten und den Gegend von Burroughs:



flachen weißen Flächen großer geschmolzener und überfrorener Seen. Direkt unter ihr lagen die ersten niedrigen Hügel der Großen Böschung, gefleckt mit stachligen Flächen von Acheron-Kakteen, die sich wie Korallenriffe über den Fels ausbreiteten. Abgestufte Wiesen von schwarzgrünem Tundramoos folgten dem Lauf kleiner gefrorener Flüsse, die von der Böschung herunterströmten. Von weitem sahen diese Flüsse aus wie Kieselalgen, die in Ritzen des roten Gesteins gestopft waren.

Und dann verlief in mittlerer Entfernung der neue, Wüste vom Eis trennende Deich wie eine kahle braune Narbe, die zwei getrennte Realitäten zusammennähte.

Nadia verbrachte lange Zeit damit, ihn im Feldstecher zu mustern. Sein südliches Ende war eine Halde aus Regolith, die den Ausläufer des Kraters Wg hinauflief und direkt am Kraterrand endete, der etwa einen halben Kilometer über dem Normalnull lag, gut über dem erwarteten Meeresniveau. Der Deich verlief von Wg nach Nordwesten. Von ihrem hohen Aussichtsplatz hoch auf der Böschung konnte Nadia etwa vierzig Kilometer davon überschauen, ehe er am Horizont verschwand, genau westlich vom Krater Xh. Dieser war fast bis zum Rand von Eis umgeben, so daß sein rundes Innere einem merkwürdigen roten Senkloch glich. Überall anderswo hatte sich das Eis gegen den Deich in die Höhe gepreßt, soweit Nadia sehen konnte. Die Wüstenseite des Deichs schien mindestens zweihundert Meter hoch zu sein, obwohl das schwer zu beurteilen war, da sich unterhalb des Deichs ein breiter Graben befand. Auf der anderen Seite staute sich das Eis ziemlich hoch, bis zur Hälfte oder noch mehr.

Der Deich war an der Krone etwa dreihundert Meter breit. Soviel verlagerter Regolith — Nadia stieß einen respektvollen Pfiff aus — stellte mehrere Jahre der Arbeit dar durch ein sehr großes Team von robotischen Schürfkübelbaggern und Kanalgrabmaschinen. Aber lockerer Regolith! Ihr schien, daß der Deich, so gewaltig er für jeden menschlichen Maßstab war, doch nicht viel bedeutete, um einen Ozean aus Eis zusammenzuhalten. Und Eis war noch der leichtere Teil bei der Sache. Wenn es schmolz, würden die Wellen und Strömungen Regolith wie Staub wegreißen. Und das Eis schmolz auch schon. Es hieß, daß immense Massen davon überall unter der schmutzigweißen Oberfläche lägen und auch direkt am Deich, wo sie hineinsickerten.

»Wird man nicht diese ganze Aufschüttung durch Beton ersetzen müssen?« fragte sie Sax, der sie begleitet hatte und durch seinen eigenen Feldstecher mit hinschaute.

»Verkleiden«, sagte er. Nadia erwartete eine schlechte Nachricht, aber er fuhr fort: »Man muß den Deich mit einer Diamantschicht verkleiden. Die würde ziemlich lange halten. Vielleicht ein paar Millionen Jahre.«

»Hmm«, machte sie. Wahrscheinlich war das richtig. Vielleicht könnte von unten etwas einsickern. Aber auf jeden Fall würde man, wie auch immer die besonderen Umstände sein mochten, das System ständig warten müssen, und ohne Fehlerspielraum, da Burroughs nur fünfzig Kilometer südlich vom Deich lag und etwa hundertfünfzig Meter tiefer. Ein merkwürdiger Platz, um zu verrecken. Nadia richtete ihr Glas in Richtung zur Stadt, aber die lag gerade hinter dem Horizont etwa siebzig Kilometer im Nordwesten. Natürlich konnten Deiche wirksam sein. Die in Holland hatten jahrhundertelang gehalten und Millionen Menschen und Hunderte von Quadratkilometern geschützt — bis zu der jüngsten Überschwemmung. Und auch jetzt würden diese großen Deiche halten und zuerst durch flankierende Fluten durch Deutschland und Belgien gefährdet werden. Deiche konnten gewiß wirksam sein. Aber es war trotzdem ein seltsames Schicksal.

Nadia richtete ihren Feldstecher auf das zerrissene Gestein der Großen Böschung. Was aus der Ferne wie Blumen aussah, waren in Wirklichkeit massive Haufen von Korallenkaktus. Ein Strom sah aus wie eine Treppe aus violetten Polstern. Der rohe rote Stein ließ die Landschaft sehr eindrucksvoll, surreal und schön erscheinen … Nadia wurde von einem jähen Ausbruch von Angst davor betroffen, daß etwas mißlingen und sie plötzlich getötet werden könnte, daran gehindert, noch mehr von dieser Welt und ihrer Entwicklung mitzuerleben. Das könnte passieren. Jeden Augenblick konnte ein Geschoß aus dem violetten Himmel herausstoßen. Dies Refugium war ein Übungsziel, wenn irgendein verängstigter Batteriechef draußen beim Raumhafen von Burroughs von seiner Existenz erführe und beschlösse, mit dem Problem reinen Tisch zu machen. Sie könnten binnen Minuten nach einer solchen Entscheidung tot sein.

Aber so war das Leben auf dem Mars. Sie konnten binnen Minuten wie immer durch jede Menge unerwarteter Ereignisse tot sein. Sie ließ den Gedanken fallen und ging mit Sax die Treppe hinunter.


Sie wollte nach Burroughs hineingehen und etwas sehen, um an Ort und Stelle zu sein und sich selbst ein Urteil zu bilden. Umhergehen und die Bürger der Stadt anschauen, sehen, was sie machten und sagten. Spät am Donnerstag sagte sie zu Sax: »Komm, laß und hineingehen und einen Blick darauf werfen!«

Aber das schien unmöglich zu sein. »Die Sicherheit ist an allen Toren sehr streng«, sagte Maya ihr über das Armband. »Und die ankommenden Züge werden am Bahnhof scharf kontrolliert. Dasselbe gilt für die U-Bahn zum Raumhafen. Die Stadt ist geschlossen. Wir sind praktisch Geiseln.«

»Was geschieht, können wir auf dem Bildschirm sehen«, erklärte Sax. »Das macht nichts aus.«

Nadia stimmte mißmutig zu. Offenbar shikata ga nai. Aber die Situation gefiel ihr nicht, da sie sich nach ihrer Meinung zu rasch einem Patt näherte, mindestens lokal. Und sie war höchst neugierig auf die Verhältnisse in Burroughs. »Sag mir, wie es steht!« sagte sie zu Maya über die Telefonverbindung.

»Nun, sie haben die Kontrolle über die Infrastruktur«, sagte Maya. »Physikalische Versorgungsanlage, Tore und so weiter. Aber sie sind nicht genug Leute, um die Menschen in Hausarrest zu halten oder zur Arbeit zu zwingen und dergleichen. Sie scheinen also nicht zu wissen, was sie als nächstes tun sollen.«

Nadia konnte das verstehen, da auch sie einen Verlust empfand. Jede Stunde kamen mehr Sicherheitskräfte in die Stadt mit Zügen aus Kuppelstädten, die man aufgegeben hatte. Diese neu Angekommenen vereinigten sich mit ihren Kameraden und blieben in Nähe der Versorgungsanlage und der Stadtbüros. Sie bewegten sich unbehelligt in schwerbewaffneten Gruppen in der Stadt. Sie waren in Wohnbezirken von Branch Mesa, Double Decker Butte und Black Syrtis Mesa einquartiert; und ihre Anführer trafen sich mehr oder weniger ständig im UNTA-Hauptquartier in Table Mountain. Aber sie erteilten keine Befehle.

Somit waren die Dinge unbehaglich in der Schwebe. Die Büros von Biotique und Praxis dienten allen noch als Informationszentren. Sie verbreiteten Nachrichten von der Erde und dem Rest des Mars auf Bulletintafeln und Computertexten. Diese Medien bedeuteten zusammen mit Mangalavid und anderen privaten Kanälen, daß jedermann über die letzten Entwicklungen gut informiert war. Auf den großen Boulevards und in den Parks sammelten sich von Zeit zu Zeit große Menschenmassen. Aber, häufiger waren die Leute in Dutzenden kleiner Gruppen verteilt, die in einer Art aktiver Paralyse umherzogen, irgendwie zwischen einem Generalstreik und Geiselkrise. Ein jeder wartete darauf, was als nächstes geschehen würde. Die Leute schienen in guter Stimmung zu sein. Viele Läden und Restaurants waren noch offen, und Video-Interviews, die darin auf Band aufgenommen wurden, zeigten sie freundlich.

Nadia beobachtete sie, während sie eine Mahlzeit hinunterschlang, und fühlte ein schmerzhaftes Verlangen, dort drin zu sein und selbst zu den Leuten zu sprechen. Etwa um zehn an diesem Abend erkannte sie, daß sie noch stundenlang nicht würde schlafen können. Sie rief wieder Maya an und bat sie, eine Vidcambrille aufzusetzen und für sie in der Stadt spazierenzugehen. Maya, ebenso rastlos wie sie, wenn nicht noch mehr, willigte gern ein.


Bald war Maya aus dem sicheren Haus heraus, trug eine Videobrille und übertrug Bilder von dem, was sie ansah, an Nadia, die im Gemeinschaftsraum des Du Martheray-Refugiums aufmerksam in einem Sessel vor einem Bildschirm saß. Sax und einige andere sahen ihr über die Schultern, verfolgten das hüpfende Bild, welches Maya mit ihrer Kamera erhielt, und lauschten ihrem laufenden Kommentar.

Sie ging schnell den Boulevard der Großen Böschung hinunter zum Zentraltal. Als sie sich dort zwischen den Wagenverkäufern befand, verlangsamte sie ihren Schritt und sah sich gemächlich um, damit Nadia ein Panoramabild der Szene bekommen konnte. Überall waren Leute draußen, plauderten in Gruppen und genossen eine gewisse festliche Stimmung. Zwei Frauen in der Nähe von Maya begannen ein angeregtes Gespräch über Sheffield. Eine Gruppe von Neuankömmlingen ging direkt auf Maya zu und fragte sie, was als Nächstes passieren würde. Sie erwarteten sicher, daß sie das wüßte. »Bloß, weil ich so alt bin«, stellte Maya mürrisch fest, als sie fort waren. Nadia mußte darüber lächeln. Aber dann erkannten einige junge Leute Maya wirklich und kamen her, um sie fröhlich zu begrüßen. Nadia beobachtete diese Begegnung aus Mayas Sicht und merkte, wie sehr von Stars besessen diese Leute schienen. So also sah die Welt für Maya aus! Kein Wunder, daß sie sich für etwas so Besonderes hielt, wenn die Menschen sie ansahen, als wäre sie eine gefährliche Göttin, die gerade aus einer Sage herausgetreten war…

Das war in mehr als einer Hinsicht beunruhigend. Nadia schien es, daß ihre alte Gefährtin Gefahr lief, von der Sicherheit festgenommen zu werden, und sie sagte ihr das auch über ihr Armbandgerät. Aber das Bild auf dem Schirm wackelte, als Maya den Kopf schüttelte und sagte: »Schau nur, daß da keine Bullen zu sehen sind! Die Sicherheit ist um die Tore und Bahnhöfe zusammengezogen; und denen bleibe ich fern. Außerdem — warum sollten sie sich die Mühe machen, mich zu verhaften? Sie haben doch praktisch diese ganze Stadt unter Arrest.«

Maya folgte einem gepanzerten Fahrzeug, als es über den begrasten Boulevard fuhr und vorbeikam, ohne langsamer zu werden, als ob es ihren Standpunkt illustrieren wollte. Maya sagte finster: »Das geschieht, damit ein jeder die Waffen sehen kann.«

Sie ging zum Kanalpark hinunter, machte dann kehrt und stieg den Weg zum Table Mountain hoch. Es war kalt in dieser Nacht in der Stadt. Vom Kanal gespiegelte Lichter zeigten, daß das Wasser sich mit Eis bedeckte. Falls die Sicherheit aber gehofft hatte, die Leute zu entmutigen, war das nicht gelungen. Der Park war dicht gefüllt, und es kamen immer mehr Leute hinzu. Man drängte sich um Aussichtserker, Cafes oder große orangefarbene Heizspiralen. Und überall sah Maya, daß noch mehr Menschen in den Park strömten. Einige hörten Musikern zu, andere unterhielten sich mittels kleiner Schulterverstärker, wieder andere sahen sich auf ihren Handgelenken oder Lektionarschirmen die Nachrichten an. Jemand rief: »Massenversammlung um Mitternacht! Zusammenkunft im Zeitrutsch!«

Maya sagte scharfsinnig: »Ich habe davon nichts gehört. Das muß Jackies Werk sein.«

Sie sah sich so rasch um, daß das Bild auf Nadias Schirm verschwamm. Überall Menschen. Sax ging an einen anderen Schirm und rief das sichere Haus in Hunt Mesa an. Art antwortete dort, aber bis auf ihn war das Haus fast leer. Jackie hatte in der Tat zu einer Massendemonstration während des Zeitrutsches aufgerufen. Das hatte sich über alle Medien der Stadt herumgesprochen. Nirgal war mit ihr draußen.

Nadia teilte Maya das mit, und die fluchte lästerlich. »Für eine solche Sache ist es viel zu riskant. Verdammt soll sie sein!«

Aber jetzt konnte sie nichts mehr daran ändern. Tausende strömten über die Boulevards in den Kanalpark und Princess Park; und wenn Maya sich umschaute, konnte man auf den Rändern der Mesas und in den Gehröhren der Fußgängerbrücken über dem Kanalpark kleine, dichtgedrängte Gestalten erkennen. »Die Redner werden im Princess Park auftreten«, erklärte Art über Saxens Schirm.

»Du solltest dort hinaufkommen, Maya«, sagte Nadia, »und zwar schnell. Nur du könntest die Lage unter Kontrolle halten.«

Maya marschierte los; und während sie sich ihren Weg durch die Menge bahnte, sprach Nadia ständig zu ihr und gab ihr Ratschläge, was sie sagen sollte, falls sie eine Gelegenheit zum Sprechen bekäme. Ihre Worte überschlugen sich geradezu; und als sie eine Pause machte, brachte Art eigene Gedanken zur Sprache, bis Maya sagte: »Aber warte, ist etwas davon wahr?«

»Mach dir keine Sorgen, ob es wahr ist!« sagte Nadia.

»Mach dir keine Sorgen, ob es wahr ist!« schrie Maya in ihr Armband. »Mach dir keine Sorgen, ob das, was ich zu hunderttausend Leuten sage und was ich jedermann auf den zwei Welten sage, wahr ist oder nicht!«

»Wir werden es wahr machen«, sagte Nadia. »Versuch es nur!«

Maya fing an zu laufen. Andere gingen in die gleiche Richtung wie sie durch den Kanalpark zu der erhöhten Stelle zwischen Ellis Butte und Table Mountain, und ihre Kamera zeigte hüpfende Bilder von Hinterköpfen und gelegentlichen aufgeregten Gesichtern, die sich ihr zuwandten, wenn sie schrie, damit man ihr Platz machte. Lautes Gebrüll und Hochrufe wogten durch die Menge vor ihr, die immer noch dichter wurde, bis Maya langsamer wurde und sich durch Lücken zwischen Gruppen hindurchdrängen und winden mußte. Die meisten dieser Leute waren jung und viel größer als Maya. Nadia ging an Saxens Schirm, um die Bilder der Mangalavidkameras anzusehen, die zwischen einer Kamera auf der Rednertribüne, die auf dem Rande eines alten Buckels über Princess Park stand, und einer Kamera hoch auf einer der Fußgängerbrücken hin und her wechselten. Beide Ausschnitte zeigten, daß die Menge gewaltig zunahm. Vielleicht achtzigtausend Personen, schätzte Sax, dessen Nase von dem Schirm einen Zentimeter entfernt war, als ob er sie einzeln zählen würde. Art gelang es, sich zu Maya mit Nadia zuzuschalten; und er und Nadia sprachen weiter zu ihr, während sie sich ihren Weg durch die Menge nach vorn erkämpfte.

Antar hatte eine kurze zündende Rede auf arabisch gehalten, während Maya sich endgültig durch die Menge nach vorn drückte und Jackie jetzt vor einer Reihe von Mikrofonen auf der Rednertribüne stand und eine perfekte Rede hielt, die durch die großen Lautsprecher auf dem Hügel verstärkt und dann weiter verstärkt wurde durch die Zusatzlautsprecher, die im ganzen Princess Park angebracht waren, und auch durch Schulterlautsprecher, Lektionare und Armbandgeräte, bis ihre Stimme überall war. Da aber jeder Satz ein Echo vom Table Mountain und Ellis Butte hervorrief und mit Hochrufen begrüßt wurde, konnte man sie doch nur einen Teil der Zeit hören. »… werden nicht erlauben, daß der Mars als Ersatzwelt benutzt wird … von einer herrschenden Clique, die in erster Linie für die Zerstörung der Erde verantwortlich ist… das gleiche Unheil auf dem Mars anrichten, wenn wir sie gewähren lassen… nicht geschehen! Denn dies ist jetzt ein freier Mars! Freier Mars! Freier Mars!«

Dann reckte sie einen Finger gen Himmel; und die Menge brüllte diese Worte, bei jeder Wiederholung immer noch lauter, und fiel bald in einen Rhythmus, in dem sie alle zusammen rufen konnten: »Freier Mars! Freier Mars! Freier Mars!«

Während die riesige und noch zunehmende Menge dies skandierte, begab sich Nirgal auf den Buckel und zur Plattform. Als die Leute ihn sahen, fingen viele an zu rufen: »Nir-gal«, entweder im Rhythmus mit ›Freier Mars‹ oder in den Pausen dazwischen, so daß in einem enormen Choral-Kontrapunkt daraus »Freier Mars (Nir-gal) Freier Mars (Nir-gal)« wurde.

Als er das Mikrofon erreichte, bat Nirgal mit einer Handbewegung um Ruhe. Aber die Rufe hörten nicht auf, sondern änderten sich völlig zu »Nir-gal, Nir-gal, Nir-gal« mit einem Enthusiasmus, der greifbar war und im Schall dieser großen kollektiven Stimme vibrierte, als ob jeder einzelne Mensch da draußen ein Freund von ihm wäre und kolossal über seine Erscheinung erfreut. Und Maya dachte, daß er in seinem Leben so viel gereist war, daß das nicht sehr von der Wahrheit entfernt wäre.

Allmählich verstummten die rhythmischen Rufe, bis das Geräusch der Menge ein allgemeines Summen war, ziemlich laut, über dem aber Nirgals verstärkte Begrüßung recht gut zu hören war. Während er sprach, bewegte sich Maya weiter durch die Menge zum Buckel. Und als das Volk ruhiger wurde, war es für sie leichter, durchzukommen. Als dann Nirgal zu sprechen begann, blieb sie auch stehen und beobachtete ihn bloß noch. Manchmal fiel ihr wieder ein, sich während der Hochrufe und des Applauses, womit manche Sätze endeten, weiter nach vorn zu bewegen.

Sein Redestil war gedämpft, freundlich und ruhig. Man konnte ihn leichter hören. Er sagte: »Für jene von uns, die auf dem Mars geboren sind, ist dies unsere Heimat.«

Er mußte fast eine Minute pausieren, als die Menge jubelte. Nadia sah wieder, daß es meistens Eingeborene waren. Maya war kleiner als fast alle da draußen.

Nirgal fuhr fort: »Unsere Körper bestehen aus Atomen, die kürzlich noch ein Teil des Regoliths waren. Wir sind durch und durch Marsmenschen. Wir sind menschliche Wesen, die mit diesem Planeten dauernd biologisch verbunden sind. Er ist unsere Heimat. Wir sind hier zu Hause, nicht auf der Erde. Es führt kein Weg zurück.« Weitere Hochrufe ertönten bei diesem sehr gut bekannten Schlagwort.

»Nun, was jene angeht, die auf der Erde geboren wurden, da gibt es allerhand verschiedene Arten. Wenn Menschen an einen neuen Ort umziehen, so beabsichtigen manche dazubleiben und ihn zu ihrer neuen Heimat zu machen. Diese nennen wir Siedler. Andere kommen, um hier eine Weile zu arbeiten und dann wieder dorthin zu gehen, woher sie gekommen sind. Diese nennen wir Besucher. Jetzt sind Eingeborene und Siedler natürliche Verbündete. Schließlich sind Eingeborene auch nur die Kinder früherer Siedler. Dies hier ist Heimat für uns alle. Was Besucher angeht, so ist auch für sie auf dem Mars Raum. Wenn wir sagen, daß der Mars frei ist, soll das nicht heißen, daß Erdenmenschen nicht mehr herkommen können. Keineswegs! Wir alle sind Kinder der Erde, so oder so. Sie ist unsere Mutterwelt, und wir werden ihr in jeder Weise helfen, soweit wir können.«

Der Lärm nahm ab. Die Menge schien etwas überrascht zu sein durch diese Aussage.

Nirgal fuhr fort: »Aber es liegt auf der Hand, daß das, was hier geschieht, nicht von Kolonialisten entschieden werden sollte oder von irgend jemand unten auf der Erde.« Es kamen Hochrufe auf, die etwas von dem, was er sagte, übertönten, »…eine einfache Feststellung unseres Verlangens nach Selbstbestimmung … unser natürliches Recht… die treibende Kraft der menschlichen Geschichte. Wir sind keine Kolonie und wollen auch nicht als eine solche behandelt werden. So etwas wie eine Kolonie gibt es nicht mehr. Wir sind ein freier Mars.«

Weitere Hochrufe, lauter denn je, gingen über in weitere Skandierung von: »Freier Mars! Freier Mars!«

Nirgal unterbrach den Chor: »Was wir jetzt als freie Marsmenschen zu tun beabsichtigen, ist, daß wir jeden Erdenmenschen willkommen heißen, der zu uns kommen will. Ob er hier eine Weile leben und dann zurückkehren will oder sich hier auf Dauer niederlassen will. Und wir beabsichtigen auch, alles zu tun, womit wir der Erde in ihrer jetzigen Umweltkrise helfen können. Wir haben einige Erfahrung mit Überschwemmungen (Beifall), und wir können helfen. Aber diese Hilfe wird von jetzt an nicht mehr durch Metanationale vermittelt werden, die nur ihre Profite daraus ziehen wollen. Sie wird als freies Geschenk kommen. Sie wird dem Volk der Erde mehr nützen als alles, was man von uns als einer Kolonie herausziehen kann. Das gilt ganz wörtlich für die Menge an Ressourcen und Arbeit, die vom Mars zur Erde überführt werden wird. Und wir hoffen und vertrauen darauf, daß ein jeder auf beiden Welten das Erstarken eines freien Mars begrüßen wird.«

Nirgal trat zurück und schwenkte die Hand; und die Hochrufe und Rezitationen brachen wieder aus. Nirgal stand auf der Plattform lächelnd und winkend. Er sah vergnügt aus, aber irgendwie unsicher, was als Nächstes zu tun wäre.

Während dieser ganzen Rede und des Beifalls hatte Maya sich weiter langsam vorgearbeitet; und Nadia konnte jetzt in ihrem Videobild erkennen, daß sie am Rande der Plattform in der ersten Reihe stand. Ihre Arme verdeckten das Bild immer wieder; und Nirgal bemerkte ihre Bewegungen und schaute sie an.

Als er sah, wer sie war, lächelte er, kam gleich herüber und half ihr, auf die Plattform zu kommen. Er führte sie zu den Mikrofonen, und Nadia bekam ein letztes Bild von einer überraschten und ärgerlichen Jackie Boone, ehe Maya ihre Videobrille abstreifte. Das Bild auf Nadias Schirm ruckte heftig und zeigte schließlich die Planken der Plattform. Nadia fluchte und eilte mit starkem Herzklopfen hinüber zu Saxens Schirm.

Sax hatte noch das Bild von Mangalavid, das jetzt von der Kamera auf der Gehröhre von der Brücke zwischen Ellis Butte und Table Mountain kam. Aus diesem Winkel konnte man das Menschenmeer sehen, das die Anhöhe umgab und das zentrale Tal der Stadt bis weit in den Kanalpark hinein füllte. Es mußte bestimmt fast die ganze Einwohnerschaft von Burroughs sein. Auf der Behelfsbühne schien Jackie Nirgal etwas ins Ohr zu brüllen. Nirgal antwortete ihr nicht und schritt mitten in ihrem Appell zu den Mikrofonen. Maya sah neben Jackie klein und alt aus, war aber stolz wie ein Adler; und als Nirgal ankündigte: »Hier ist Maya Toitovna!«, gab es mächtigen Applaus.

Maya fuchtelte mit den Händen, während sie nach vorn trat, und sagte in die Mikrofone: »Ruhe! Ruhe! Danke! Danke! Seid still! Wir haben hier noch einige wichtige Ankündigungen zu machen.«

»Mein Gott, Maya!« sagte Nadia und klammerte sich an die Lehne von Saxens Sessel.

»Jawohl, der Mars ist jetzt unabhängig. Ruhe! Aber wie Nirgal gerade gesagt hat, bedeutet dies nicht, daß wir unabhängig von der Erde existieren. Das ist unmöglich. Wir beanspruchen Souveränität gemäß internationalem Recht und appellieren an den Weltgerichtshof, diesen legalen Status sofort zu bestätigen. Wir haben vorläufige Verträge unterzeichnet, welche diese Unabhängigkeit versichern, und richten diplomatische Beziehungen mit der Schweiz, Indien und China ein. Wir haben auch eine nichtexklusive wirtschaftliche Partnerschaft mit der Organisation Praxis geschlossen. Diese wird wie alle Arrangements, die wir treffen, nicht auf Gewinn gerichtet sein, sondern gemeinnützig und dazu bestimmt, beiden Welten maximal von Vorteil zu sein. Mit allen diesen Abkommen zusammengenommen beginnt die Schaffung unserer formalen, legalen und semiautonomen Beziehung zu den verschiedenen gesetzlichen Körperschaften der Erde. Wir erwarten volle sofortige Bestätigung und Ratifizierung aller dieser Abkommen durch den Weltgerichtshof, die Vereinten Nationen und alle anderen relevanten Institutionen.«

Auf diese Ankündigung gab es Applaus; und obwohl der nicht so laut war wie vorher für Nirgal, ließ Maya die Leute gewähren. Als sie etwas ruhiger geworden waren, fuhr sie fort:

»Was die Lage hier auf dem Mars angeht, so haben wir die Absicht, uns hier sofort in Burroughs zu versammeln und die Erklärung von Dorsa Brevia als Ausgangspunkt für die Etablierung einer freien Marsregierung zu benutzen.«

Wiederum Applaus, viel enthusiastischer. »Ja, ja«, sagte Maya ungeduldig und versuchte, sie wieder zur Ruhe zu bringen. »Ruhe! Herhören! Vor all diesem müssen wir das Problem der Opposition ansprechen. Wie ihr wißt, treffen wir uns hier im Hauptquartier der Streitkräfte der Übergangsbehörde der Vereinten Nationen, die in diesem Augenblick zusammen mit allen übrigen von uns zuhören, da im Innern von Table Mountain.« Sie zeigte dorthin.

»Falls sie nicht herauskommen, um sich mit uns zu verbinden.« Hochrufe, Gebrüll, Sprechchöre. »…Ich will denen jetzt sagen, daß wir ihnen nicht übelwollen. Seht ihr, es ist jetzt Sache der Übergangsbehörde zu erkennen, daß der Übergang eine neue Gestalt gewonnen hat. Und ihren Sicherheitskräften zu befehlen, daß sie aufhören, uns kontrollieren zu wollen. Ihr könnt uns nicht kontrollieren!« Wilde Hochrufe, »…wollen euch nichts Böses. Und wir versichern euch, daß ihr freien Zugang zum Raumhafen habt, wo es Flugzeuge gibt, die euch alle nach Sheffield bringen können und von dort nach Clarke, falls ihr euch nicht in dieser neuen Aufgabe mit uns zusammentun wollt. Dies ist keine Belagerung oder Blockade. Es ist ganz einfach… «

Und sie hörte auf, streckte beide Hände aus; und die Menge jubelte ihr zu.


Durch den Lärm der Sprechchöre versuchte Nadia, zu Maya, die noch auf der Bühne stand, durchzudringen, aber sie konnte sie offenbar nicht hören. Aber endlich blickte Maya auf ihr Armband. Das Bild vibrierte. Ihr Arm zitterte.

»Maya, das war großartig! Ich bin so stolz auf dich.«

»Na ja, jeder kann Geschichten erfinden.«

Art sagte laut: »Sieh zu, ob du sie dazu bringen kannst, sich zu zerstreuen!«

»Richtig!« sagte Maya.

»Sprich mit Nirgal!« schlug Nadia vor. »Veranlasse ihn und Jackie, es zu tun! Sag ihnen, sie sollen den Leuten versichern, daß es keinen Angriff auf Table Mountain oder dergleichen geben wird. Überlaß das ihnen beiden!«

»O ja!« rief Maya. »Wir werden Jackie das machen lassen, nicht wahr?«

Danach schwenkte das kleine Bild am Armband überall hin, und der Lärm war so groß, daß die angeschlossenen Beobachter nichts erkennen konnten. Die Mangalavidkameras zeigten einen großen Volkshaufen auf der Bühne in Beratung.

Nadia ging weg und setzte sich auf einen Stuhl. Sie fühlte sich so ausgedörrt, als ob sie die Rede hätte selbst halten müssen. Sie sagte: »Maya war großartig. Sie hat sich an alles erinnert, was ich ihr gesagt habe. Jetzt müssen wir es nur noch verwirklichen.«

»Das bloße Aussprechen macht es real«, sagte Art. »Zum Teufel, ein jeder auf beiden Welten hat das gesehen. Praxis wird schon dran sein. Und die Schweiz wird uns sicher decken. Nein, wir werden es in die Tat umsetzen.«

»Es kann sein, daß die Übergangsbehörde nicht einverstanden ist«, wandte Sax ein. »Hier ist eine Nachricht von Zeyk gekommen. Rote Kommandos sind von Syrtis heruntergekommen. Sie haben das westliche Ende des Deichs besetzt und bewegen sich schnell darauf nach Osten. Sie sind nicht weit vom Raumhafen entfernt.«

Nadia schrie: »Genau das haben wir vermeiden wollen! Wissen die überhaupt, was sie da anrichten?«

Sax zuckte die Achseln.

»Der Sicherheit wird das gar nicht behagen«, sagte Art.

»Wir sollten direkt mit denen reden«, sagte Nadia und überlegte. »Ich habe öfters mit Hastings gesprochen, als er die Mission Control leitete. Ich kann mich nicht sehr gut an ihn erinnern, glaube aber nicht, daß er ein eklatant verrückter Typ war.«

»Es könnte nicht schaden herauszufinden, was er denkt«, sagte Art.


Also ging Nadia in ein ruhiges Zimmer, setzte sich vor einen Schirm, rief das UNTA-Hauptquartier in Table Mountain an und wies sich aus. Obwohl es schon zwei Uhr morgens war, kam sie in ungefähr fünf Minuten zu Hastings durch.

Sie erkannte ihn sofort wieder, obwohl sie sein Gesicht längst vergessen zu haben glaubte. Ein kleiner gequälter Technokrat mit schmalem Gesicht und einigem Temperament. Als er sie auf dem Schirm sah, schnitt er eine Grimasse. »Wieder ihr Leute. Wir haben die falschen Hundert geschickt. Das habe ich immer gesagt.«

»Ohne Zweifel.«

Nadia studierte sein Gesicht und suchte sich vorzustellen, was für ein Mann im vorigen Jahrhundert Mission Control geleitet haben könnte und dann im nächsten die Übergangsbehörde. Er hatte sich mit ihnen oft gestritten, als sie auf der Ares waren. Er hatte ihnen jede kleine Abweichung von den Regeln vorgeworfen und war richtig wütend geworden, wenn sie bei Verspätung unterwegs eine Zeitlang aufgehört hatten, Videos zurückzusenden. Ein sturer Bürokrat von der Art, die Arkady verabscheut hatte. Aber ein Mann, mit dem man vernünftig reden konnte.

Oder so schien es ihr zuerst. Sie diskutierte mit ihm zehn oder fünfzehn Minuten lang und sagte ihm, daß die Demonstration, die er gerade draußen im Park erlebt hatte, nur ein Teil von dem war, was überall auf dem Mars geschehen war. Und daß sie frei wären, zum Flughafen zu gehen und sich zu entfernen.

Hastings sagte: »Wir werden nicht gehen.«

Seine UNTA-Kräfte kontrollierten, wie er ihr sagte, die Versorgungsanlage, und deshalb gehöre ihm die Stadt. Die Roten könnten vielleicht den Deich erobern; aber es gäbe keine Chance, daß sie ihn brechen würden, da es in der Stadt zweihunderttausend Menschen gäbe, die praktisch Geiseln wären. Mit dem nächsten Shuttle von der Erde sei das Eintreffen von fachmännischen Verstärkungen fällig, die in den nächsten vierundzwanzig Stunden in den Orbit eintreten sollten. Also seien die Reden bedeutungslos und nur eine Pose.

Er war ruhig, als er Nadia dies sagte. Wäre er nicht so mürrisch gewesen, hätte Nadia ihn sogar angenehm gefunden. Höchstwahrscheinlich hatte er Anweisungen von daheim bekommen, daß er fest in Burroughs sitzen bleiben und auf die Verstärkungen warten solle. Ohne Zweifel hatte man der UNTA-Division in Sheffield dasselbe mitgeteilt. Und mit Burroughs und Sheffield in ihren Händen und Verstärkungen, die jede Minute fällig waren, war es nicht überraschend, daß sie glaubten, die Oberhand zu haben. Man könnte sogar sagen, sie hätten recht. Hastings sagte Nadia: »Wenn die Leute hier Vernunft annehmen, werden wir hier wieder die Kontrolle haben. Das einzige, auf das es jetzt wirklich ankommt, ist ohnehin die antarktische Überschwemmung. Es ist entscheidend wichtig, die Erde in ihrer Notzeit zu unterstützen.«

Nadia gab auf. Hastings war offensichtlich ein hartnackiger Bursche und hatte überdies einen Punkt für sich. Also beendete sie die Konferenz so höflich, wie es ihr möglich war, mit der Bitte, ihn später wieder kontaktieren zu dürfen. Sie hoffte, damit Arts diplomatischen Stil getroffen zu haben. Dann kehrte sie wieder zu den anderen zurück.

Im weiteren Verlauf der Nacht verfolgten sie unablässig alle Berichte, die von Burroughs und anderswo eingingen. Es geschah zu viel, als daß Nadia sich hätte wohl fühlen können, wenn sie zu Bett ginge, und offenbar hatten Sax, Steve, Mariana und die anderen Bogdanovisten in Du Martheray ziemlich das gleiche Gefühl. Also saßen sie in ihren Sesseln zusammengesunken mit geröteten Augen da und stöhnten, während die Stunden vergingen und die Bilder auf dem Schirm flimmerten. Einige Rote sonderten sich deutlich von der Hauptkoalition der Widerstandes ab und folgten einem eigenen Aktionsplan. Sie verstärkten ihre Kampagne von Sabotage und direkten Angriffen auf dem ganzen Planeten, eroberten kleine Posten mit Gewalt, setzten dann die Leute daraus in Wagen und jagten die Stellungen in die Luft. Eine andere ›Rote Armee‹ stürmte auch erfolgreich die physikalische Anlage in Cairo, tötete viele der Wächter darin und veranlaßte den Rest, sich zu ergeben.

Dieser Sieg hatte ihnen Mut gemacht, aber anderswo waren die Ergebnisse nicht so gut. Nach den Anrufen einiger zerstreuter Überlebender schien eine Attacke der Roten auf die physikalische Anlage in Laßwitz diese zerstört und die Kuppel massiv beschädigt zu haben, so daß diejenigen, welche sich nicht in sichere Gebäude oder nach draußen in Wagen hatten retten können, elend umgekommen waren. »Was tun die bloß?« schrie Nadia. Aber niemand antwortete ihr. Diese Gruppen erwiderten ihre Anrufe nicht. Und Ann ebensowenig.

Nadia sagte besorgt: »Ich möchte wenigstens ihre Pläne mit den übrigen von uns diskutieren. Wir können die Dinge nicht außer Kontrolle geraten lassen. Das ist zu gefährlich … «

Sax spitzte mit mürrischer Miene den Mund. Sie gingen in den Speiseraum, um etwas zu essen und dann etwas auszuruhen. Nadia mußte sich zum Essen zwingen. Es war genau eine Woche her seit Saxens erstem Anruf, und sie konnte sich nicht erinnern, in dieser Woche etwas gegessen zu haben. Sie merkte, daß sie wirklich Heißhunger hatte, und fing an, Rührei hinunterzuschlingen.

Als sie mit dem Essen fast fertig waren, beugte Sax sich vor und sagte: »Du hast davon gesprochen, über Pläne zu diskutieren.«

»Was?« sagte Nadia mit halb zum Mund gehobener Gabel.

»Nun, dieses ankommende Shuttle mit der Eingreiftruppe der Sicherheit an Bord?«

»Was ist damit?« Nach dem Flug über Kasei Vallis war sie sich nicht sicher, ob Sax vernünftig war. Die Gabel in ihrer Hand fing sichtlich an zu zittern.

»Nun, ich habe einen Plan«, sagte er. »Meine Gruppe in Da Vinci hat ihn eigentlich ausgedacht.«

Nadia bemühte sich, die Gabel ruhig zu halten. »Erzähl!«


Für Nadia war der Rest dieses Tages verschwommen, da sie jeden Versuch, sich auszuruhen, aufgab. Sie versuchte, rote Gruppen zu erreichen, entwarf mit Art Botschaften an die Erde und berichtete Maya, Nirgal und dem Rest in Burroughs das Neueste von Sax. Es schien, daß der Gang der Ereignisse, der schon beschleunigt war, sich auf etwas geschaltet hatte, das rasend rotierte und jetzt über jede Kontrolle hinaus war, so daß keine Zeit mehr blieb, um zu essen oder zu schlafen oder ins Bad zu gehen. Aber all dies mußte getan werden; und so schleppte sie sich in die Damentoilette und duschte ausgiebig. Dann aß sie ein spartanisches Frühstück mit Brot und Käse und streckte sich danach auf einer Couch aus und bekam etwas Schlaf. Aber es war jener unruhige leichte Schlaf, bei dem ihr Verstand weiter arbeitete und unklare verzerrte Gedanken über die Ereignisse des Tages wälzte, wobei die Stimmen im Raum einbezogen wurden. Nirgal und Jackie kamen nicht zurecht. War das für die übrigen ein Problem?

Dann war sie wieder auf, so erschöpft wie zuvor. Die Leute im Zimmer redeten noch über Jackie und Nirgal. Nadia ging ins Bad und bemühte sich dann um Kaffee.

Zeyk und Nazik und ein großes arabisches Kontingent waren in Du Martheray eingetroffen, während sie schlief; und jetzt steckte Zeyk den Kopf in die Küche. »Sax sagt, das Shuttle wird gleich ankommen.«

Du Martheray lag nur sechs Grad nördlich vom Äquator. Darum hatten sie eine gute Position, um das Luftbremsmanöver der ankommenden Fähre zu beobachten, das kurz nach Sonnenuntergang stattfinden sollte. Das Wetter spielte mit, und der Himmel war wolkenlos und sehr klar. Die Sonne senkte sich, der Osthimmel wurde dunkel, und die Farben über Syrtis im Westen boten ein Spektrum, das von Gelb, Orange, einem schmalen Streifen Grün über Blau bis Indigo reichte. Dann verschwand die Sonne über den schwarzen Bergen, und die Farben des Himmels vertieften sich und wurden transparent, als ob das Himmelsgewölbe plötzlich hundertmal so groß geworden wäre.

Und inmitten dieser Farbspiele, zwischen den zwei Abendsternen, flammte ein dritter weißer Stern auf und schoß am Himmel empor unter Hinterlassung eines kurzen geraden Kondensstreifens. Dies war das gewöhnliche dramatische Bild, welches Shuttles beim Bremsen in der Luft boten, wenn sie in die obere Atmosphäre eintauchten. Es war bei Tage fast so gut sichtbar wie bei Nacht. Es dauerte nur etwa eine Minute, um den Himmel von einem Horizont zum andern zu überqueren, wie langsame, leuchtende Sternschnuppen.

Aber diesmal wurde es immer schwächer, als es noch hoch im Westen war, bis es schließlich als matter Stern erlosch und verschwand.

Der Beobachtungsraum von Du Martheray war überfüllt, und viele stießen bei diesem ungewohnten Anblick laute Rufe aus, obwohl man sie vorher in Kenntnis gesetzt hatte. Als die Erscheinung völlig vorbei war, bat Zeyk Sax, sie für die, welche die volle Geschichte nicht gehört hatten, zu erklären. Sax sagte ihnen, daß das Fenster für den Eintritt in die Umlaufbahn für luftgebremste Shuttles sehr eng wäre. Es gab nur wenig Fehlerspielraum. Nun hatten Saxens Techniker im Krater Da Vinci eine Rakete mit einer Nutzlast aus Metallstücken — vor allem mit zerkleinertem Eisenschrott, sagte er — ausgerüstet und ein paar Stunden zuvor abgeschossen. Diese Nutzlast war in der Einschußbahn des herankommenden Shuttles für den Marsorbit ein paar Minuten vor dessen Eintreffen explodiert und hatte die Metallstücke in einem Band ausgeworfen, das in horizontaler Richtung breit, in vertikaler aber schmal war. Nun wurden orbitale Einfädelungen natürlich vollkommen von Computern gesteuert. Als das Radar des Shuttles den Schrottfleck identifiziert hatte, gab es für die KI des Shuttles nur wenige Alternativen der Navigation. Unter den Schrott zu tauchen würde das Shuttle durch dichtere Schichten der Atmosphäre tragen, so daß es höchstwahrscheinlich verbrannte; durch die Trümmerwolke hindurchzustoßen hätte die Gefahr gehabt, den Hitzeschild zu durchlöchern und auch zu verbrennen. Also shikata ga nai. In Anbetracht der einprogrammierten Risikoniveaus mußte der Computer den Flug mit Luftbremsung abbrechen, indem er das Shuttle über das Hindernis hinwegfliegen ließ und damit wieder aus der Atmosphäre hinausschleuderte. Dies bedeutete, daß sich das Shuttle noch weiter aus dem Sonnensystem hinausbewegte mit nahezu seiner Höchstgeschwindigkeit von vierzigtausend Kilometern in der Stunde.

Zeyk fragte Sax: »Haben sie irgendeine Möglichkeit, langsamer zu werden außer Luftbremsung?«

»Nicht wirklich. Darum bremsen sie ja mit der Luft.«

»Also ist das Shuttle dem Untergang geweiht?«

»Nicht unbedingt. Sie können einen anderen Planeten als Gravitationshebel benutzen, um herumzukurven und wieder hierher oder zur Erde zurückzugelangen.«

»Dann sind sie also jetzt unterwegs zum Jupiter?«

»Nun, Jupiter befindet sich derzeit leider auf der anderen Seite des Sonnensystems.«

Zeyk grinste. »Sind sie unterwegs zum Saturn?«

Sax sagte: »Sie könnten es vielleicht schaffen, nacheinander sehr nahe an einigen Asteroiden vorbeizufliegen, um ihren Kurs umzulenken.«

Zeyk lachte; und obwohl Sax noch weiter über Strategien zur Kurskorrektur sprach, redeten zu viele andere Leute, als daß man ihn noch hätte hören können.


Also brauchten sie sich keine weiteren Sorgen mehr wegen Verstärkungen der Sicherheit von der Erde her zu machen, wenigstens nicht unmittelbar. Aber Nadia meinte, daß dieser Umstand die UNTA-Polizei in Burroughs veranlassen könnte, sich in der Falle zu fühlen und damit für sie noch gefährlicher zu werden. Und gleichzeitig rückten die Roten weiter ständig der Stadt im Norden vor, was ohne Zweifel das Gefühl des Eingesperrtseins für die Sicherheitstruppen erhöhte. In der gleichen Nacht, in der das Shuttle vorbeiflog, nahmen Gruppen Roter in gepanzerten Wagen den Deich endgültig in Besitz. Dies bedeutete, daß sie dem Raumhafen von Burroughs gefährlich nahe waren, der nur zehn Kilometer nordwestlich der Stadt lag.

Auf dem Bildschirm erschien Maya. Sie sah nicht anders aus als vor ihrer großen Rede. »Wenn die Roten den Raumhafen erobern«, sagte sie zu Nadia, »dann wird die Sicherheit in Burroughs festsitzen.«

»Ich weiß. Das ist es ja, was wir gerade nicht wollen. Besonders jetzt.«

»Ich weiß. Kannst du diese Leute unter Kontrolle halten?«

»Sie fragen mich nicht mehr um Rat.«

»Ich dachte, du wärest hier die große Führerin.«

»Ich dachte, du wärest es«, erwiderte Nadia prompt.

Maya lachte rauh und humorlos.

Eine andere Mitteilung kam von Praxis, ein Bündel Nachrichten von der Erde, das über Vesta als Relais gesendet worden war. Das meiste davon enthielt die letzte Information über die Flut und die Katastrophen in Indonesien und vielen anderen Küstengebieten; aber es gab auch einige politische Neuigkeiten, darunter einige Fälle von Nationalisierung metanationalen Eigentums durch die Militärs einiger Klientelländer im Südlichen Club, von denen die PraxisAnalytiker annahmen, sie könnten der Anfang einer Revolte von Regierungen gegen Metanationale sein. Was die Massendemonstration in Burroughs anging, so hatte sie in vielen Ländern Aufsehen erregt und war sicher ein Thema in Regierungsbüros und Amtsstuben rund um die Welt. Die Schweiz hatte bestätigt, daß sie mit einer Regierung des Mars diplomatische Beziehungen aufnehmen würde, die »später ernannt werden würde«, wie Art grinsend erklärte. Praxis hatte dasselbe getan. Der Weltgerichtshof hatte verlauten lassen, daß er das von der Friedlichen Neutralen Koalition Dorsa Brevia gegen UNTA angestrengte Verfahren erwägen würde — ein Prozeß, der von den Medien der Erde als ›Mars contra Terra‹ bezeichnet wurde —, und zwar sobald wie möglich. Und das Linienshuttle hatte seinen mißlungenen Eintritt in die Marsatmosphäre gemeldet. Offenbar plante es, im Asteroidengebiet umzukehren. Aber Nadia fand es höchst ermutigend, daß keines dieser Ereignisse auf der Erde die ersten Schlagzeilen eingenommen hatte, wo das durch die Überschwemmungen verursachte Chaos immer noch die Spitzenstellung in der allgemeinen Aufmerksamkeit behauptete. Überall gab es Millionen Flüchtlinge, und viele davon in unmittelbarer Bedrängnis …

Aber gerade darum hatten sie die Revolte zu diesem Zeitpunkt begonnen. Die Unabhängigkeitsbewegungen hatten die meisten Städte unter ihrer Kontrolle. Sheffield war immer noch eine Hochburg der Metanationalen; aber dort war Peter Clayborne als Oberbefehlshaber aller Aufständischen in Pavonis, der ihre Aktivitäten so koordinierte, daß sie es nicht Burroughs hatten gleichtun können. Das war zum Teil deshalb so, weil viele der radikalsten Elemente Tharsis vermieden hatten und weil andererseits die Lage in Sheffield äußerst schwierig war und wenig Raum zum Manövrieren bot. Die Aufständischen kontrollierten jetzt Arsia und Ascraeus und die kleine wissenschaftliche Station im Krater Zp auf Olympus Mons; und sie beherrschten sogar den größten Teil der Stadt Sheffield. Aber die Steckdose des Aufzugs und der ganze sie umgebende Teil der Stadt waren fest in den Händen der Sicherheitspolizei, die schwer bewaffnet war. Also hatte Peter alle Hände voll auf Tharsis zu tun und würde ihnen bei Burroughs nicht helfen können. Nadia sprach kurz mit ihm, schilderte die Lage in Burroughs und bat ihn, Ann anzurufen und sie zu bitten, daß die Roten sich zurückhalten möchten. Er versprach zu tun, was er könnte, schien aber nicht zuversichtlich zu sein, daß er das Ohr seiner Mutter hätte.

Danach versuchte Nadia einen neuen Anruf bei Ann, kam aber nicht durch. Dann wollte sie Hastings erreichen. Er nahm ihren Anruf entgegen. Aber das Gespräch war nicht produktiv. Hastings war nicht mehr die angenehme enttäuschte Person der vergangenen Nacht. Er rief wütend: »Diese Eroberung des Deichs? Was versuchen die zu beweisen? Denkt ihr, ich glaube, daß sie den Deich zerstören, wenn in der Stadt zweihunderttausend Menschen sind, von denen die meisten auf eurer Seite stehen? Das ist absurd! Aber hör mir zu, in dieser Organisation gibt es Leute, denen die Gefahr nicht gefällt, in die die Bevölkerung gerät. Für die kann ich nicht die Verantwortung übernehmen, wenn diese Leute nicht vom Deich verschwinden — und aus ganz Isidis Planitia! Seht zu, daß sie dort abhauen!«

Und er trennte die Verbindung, ehe Nadia auch nur antworten konnte, abgelenkt durch jemanden außerhalb des Schirms, der mitten in dieser Tirade hereingekommen war. Ein verängstigter Mann, dachte Nadia und spürte wieder in ihrem Innern die eiserne Walnuß. Ein Mann, der sich nicht mehr als Herr der Lage fühlte. Ohne Zweifel eine korrekte Beurteilung. Aber der letzte Ausdruck in seinem Gesicht hatte ihr nicht gefallen. Sie versuchte sogar zurückzurufen; aber in Table Mountain wollte niemand mehr antworten.


Einige Stunden später weckte Sax sie in ihrem Sessel auf, und sie fand heraus, worüber Hastings so besorgt gewesen war. Sax sagte ihr mit ernster Miene: »Die UNTA, welche Sabishii verbrannt hat, ist mit Panzerwagen losgezogen und hat versucht, den Roten den Deich zu entreißen. Offenbar hat es einen Kampf um den der Stadt am nächsten liegenden Abschnitt gegeben. Und wir haben gerade von einigen Roten gehört, daß der Deich durchstoßen ist.«

»Was?«

»In die Luft gejagt. Sie hatten Löcher gebohrt und Ladungen angebracht als Drohung. Und beim Kampf haben sie die gezündet. Das ist alles, was sie gesagt haben.«

»O mein Gott!« Sie ging mit wild klopfendem Herzen zum nächsten Schirm. Es war drei Uhr morgens. »Gibt es eine Chance, daß Eis die Lücke verstopfen und als Damm dienen wird?«

Sax blinzelte. »Das glaube ich nicht. Hängt davon ab, wie groß die Lücke ist.«

»Können wir mit Gegensprengungen die Lücke schließen?«

»Das glaube ich nicht. Schau, hier gibt es Videos, die einige Rote südlich des Lochs vom Deich gesendet haben.« Er zeigte auf einen Schirm, der ein Infrarotbild sendete mit Schwarz zur Linken und Dunkelgrün zur Rechten und einem waldgrünen Erguß in der Mitte. »Da in der Mitte, das ist die Explosionszone, wärmer als der Regolith. Die Sprengung ist anscheinend dicht bei einem Bereich von flüssigem Wasser angesetzt worden. Oder es war eine Explosion, die so angebracht war, daß sie das Eis hinter dem Bruch verflüssigte. Jedenfalls kommt eine Menge Wasser hindurch. Und das wird die Lücke erweitern. Nein, wir haben echt ein Problem.«

»Sax!« rief sie und hielt sich an seiner Schulter fest, während sie auf den Schirm sah. »Die Leute in Burroughs, was sollen die machen? Verdammt, was könnte Ann wohl denken?«

»Vielleicht ist Ann es gar nicht gewesen.«

»Ann oder irgendeiner von den Roten!«

»Sie wurden angegriffen. Es hätte ein Unfall gewesen sein können. Oder jemand auf dem Deich muß gedacht haben, daß man sie zwingen wollte, von den Sprengstoffen wegzugehen. In diesem Fall ging es um alles oder nichts.« Er schüttelte den Kopf. »So etwas ist immer schlimm.«

»Verdammt! Verdammt! Verdammt!«Nadia schüttelte heftig den Kopf, um ihn frei zu machen. »Wir müssen etwas unternehmen.« Sie dachte scharf nach. »Sind die Gipfel der Mesas hoch genug, um über der Flut zu bleiben?«

»Für einige Zeit schon. Aber Burroughs ist ungefähr die niedrigste Stelle in dieser Depression. Darum wurde es dort angelegt. Weil die Seiten der Wanne ihm lange Horizonte bescherten. Nein. Auch die Mesagipfel werden überflutet werden. Ich bin nicht sicher, wie lange das dauern wird, weil ich nicht die genaue Strömungsstärke kenne. Aber wir wollen einmal sehen. Das zu füllende Volumen beträgt ungefähr…« Er tippte wild darauf los; aber seine Augen blieben ausdruckslos. Nadia erkannte plötzlich, daß ein anderer Teil seines Gehirns die Berechnung schneller schaffte als die KI, eine gestalthafte Visualisierung der Situation. Sax starrte in die Unendlichkeit und wackelte wie ein Blinder mit dem Kopf vorwärts und rückwärts. Ehe er mit dem Tippen fertig war, flüsterte er: »Es könnte recht schnell sein. Wenn die geschmolzene Wassermasse groß genug ist.«

»Damit müssen wir rechnen.«

Er nickte.

Da saßen sie nun nebeneinander und starrten auf Saxens Computer.

Sax sagte zögernd: »Als ich in Da Vinci arbeitete, versuchte ich, mir die möglichen Szenarien vorzustellen. Die Gestalten kommender Dinge, verstehst du? Und ich machte mir Sorgen, daß so etwas passieren könnte. Zerbrochene Kuppeln. Überschwemmte Städte. So stellte ich mir das vor. Oder Feuersbrünste.«

»Und?« fragte Nadia und sah ihn an.

»Ich dachte an ein Experiment, einen Plan.«

»Erzähle!«

Aber Sax las etwas, das wie ein aktueller Wetterbericht aussah, der gerade über den Bildern erschienen war, die über den Schirm liefen. Nadia wartete geduldig ab; und als er wieder von seinem Computer aufschaute, sagte sie: »Na und?«

»Das gibt es eine Hochdruckzelle, die von Xanthe aus durch Syrtis herunterkommt. Sie sollte heute hier sein. Oder morgen. Auf Isidis Planitia wird der Druck um dreihundertvierzig Millibar liegen, mit rund fünfundvierzig Prozent Stickstoff, vierzig Prozent Sauerstoff und fünfzehn Prozent Kohlendioxid … «

»Sax, das Wetter interessiert mich nicht!«

»Es ist atembar«, sagte er und sah mit jener reptilienhaften Miene aus wie eine Eidechse oder ein Drache oder eine kalte nachmenschliche Kreatur, die im Vakuum leben kann. »Fast atembar. Wenn man das CO2 ausfiltert. Und das können wir machen. Wir haben in Da Vinci Gesichtsmasken hergestellt. Die sind aus einer Zirkoniumlegierung angefertigt. Das ist einfach. Moleküle von Kohlendioxid sind größer als die von Sauerstoff oder Stickstoff. Darum haben wir Molekülsiebfilter gemacht. Das ist auch ein aktives Filter mit einer piezoelektrischen Schicht, bei der eine elektrische Ladung entsteht, wenn das Material beim Ein- und Ausatmen gebogen wird, wodurch ein aktiver Sauerstoffaustausch durch das Filter mit Energie versorgt wird.«

»Wie ist es mit Staub?« fragte Nadia.

»Es handelt sich um einen nach Größe gestaffelten Filtersatz. Erst hält er Staub fest, dann Grus, dann CO2.« Er sah zu Nadia auf. »Ich dachte, es könnten Leute, die eine Stadt verlassen müssen… Darum haben wir eine halbe Million davon hergestellt. Die Maske wird angeschnallt. Die Ränder sind aus klebrigern Polymer und haften auf der Haut. Dann atmet man die freie Luft. Ganz einfach.«

»Also evakuieren wir Burroughs.«

»Ich sehe keine Alternative. Wir können nicht so viele Menschen mit der Bahn oder auf dem Luftweg schnell genug hinausschaffen. Aber sie können gehen.«

»Aber wohin gehen?«

»Zum Libya-Bahnhof.«

»Sax, das sind von Burroughs aus etwa siebzig Kilometer, nicht wahr?«

»Dreiundsiebzig Kilometer.«

»Das ist zu Fuß ein höllisch weiter Weg!«

»Ich denke, die meisten Leute könnten es schaffen, wenn sie es müßten«, sagte er ruhig. »Und die, welche nicht von Rovern oder Luftschiffen aufgenommen werden können. Wenn die Leute dann den Bahnhof von Libya erreicht haben, können sie mit dem Zug weiterkommen. Oder mit Luftschiffen. Und der Bahnhof faßt vielleicht zwanzigtausend auf einmal. Wenn man sie hineinstopft.«

Nadia dachte darüber nach und sah auf Saxens ausdrucksloses Gesicht. »Wo sind diese Masken?«

»Sie sind noch in Da Vinci. Aber sie sind schon in schnellen Flugzeugen verstaut. Wir könnten sie in ein paar Stunden hier haben.«

»Bist du sicher, daß sie funktionieren?«

Sax nickte. »Wir haben sie ausprobiert. Und ich habe ein paar mitgebracht. Ich kann sie dir zeigen.« Er stand auf und holte aus seiner Reisetasche einen Stapel weißer Gesichtsmasken. Eine gab er Nadia. Das war eine Maske für Mund und Nase und sah einer üblichen Staubmaske, wie sie bei Bauarbeiten benutzt werden, sehr ähnlich. Sie war nur dicker und hatte einen Rand, der sich klebrig anfühlte.

Nadia sah sie sich an, legte sie sich über den Kopf und zog das Kinnband fest. Sie konnte dadurch so leicht atmen wie durch eine Staubmaske. Überhaupt kein Gefühl von Behinderung. Die Dichtung schien gut zu sein.

Sie sagte: »Ich werde sie draußen ausprobieren.«


Zuerst gab Sax nach Da Vinci Anweisung, die Masken herzuschicken, und dann gingen sie zur Fluchtschleuse hinunter. Der Plan und der Versuch hatten sich schnell herumgesprochen, und alle Masken, die Sax mitgebracht hatte, waren schnell vergriffen. Zusammen mit Nadia und Sax gingen ungefähr zehn andere Personen nach draußen, einschließlich Zeyk und Nazik und Spencer Jackson, der etwa eine Stunde vorher von Du Martheray angekommen war.

Sie alle trugen Schutzanzüge für die Oberfläche der jetzt gebräuchlichen Art. Das waren Einteiler aus mehrschichtigem isoliertem Stoff mit Heizfäden, aber ganz ohne das frühere zusammendrückende Material, das man in den Jahren geringen Drucks gebraucht hatte. Nadia sagte zu den anderen: »Versucht, die Heizung eurer Anzüge abzustellen! Auf diese Weise können wir sehen, wie sich die Kälte anfühlt, wenn man nur Stadtkleidung trägt.«

Sie zogen die Masken übers Gesicht und gingen in die Garagenschleuse. Die Luft darin wurde sehr schnell kalt. Dann ging die Außentür auf.

Sie traten auf die Oberfläche hinaus.

Es war kalt. Dieser Schock traf Nadia an der Stirn und den Augen. Es war schwer, nicht etwas zu keuchen. Sicher lag das an dem Übergang von 500 Millibar auf 340 Millibar. Die Augen tränten, und die Nase lief. Sie atmete aus und ein. Die Lungen schmerzten von der Kälte. Die Augen waren direkt dem Wind ausgesetzt. Das war die eindrucksvollste Sinneswahrnehmung. Sie erschauerte, als die Kälte durch den Stoff ihres Schutzanzugs und in die Brust drang. Die Kälte brachte für sie einen Hauch von Sibirien mit sich.

260 K waren –13 °C. Eigentlich gar nicht so schlimm. Sie war es einfach nicht mehr gewohnt. Ihre Hände und Füße waren auf dem Mars oft sehr kalt geworden; aber es war viele Jahre her — tatsächlich mehr als ein Jahrhundert! —, seit ihr Kopf und ihre Lungen die Kälte dermaßen gespürt hatten.

Die anderen redeten laut miteinander. Ihre Stimmen klangen seltsam in der freien Luft. Keine Helm-Interkoms! Der Halsring des Anzugs, wo der Helm gesessen hätte, fühlte sich äußerst kalt an am Schlüsselbein und im Nacken. Das alte, zertrümmerte, schwarze Gestein der Großen Böschung war von einer dünnen Schicht nächtlichen Reifs bedeckt. Nadia hatte einen Rundblick, wie sie ihn nie zuvor im Helm gehabt hatte. Der kalte Wind ließ ihr Tränen die Wangen herunterrinnen. Sie empfand keine besondere Erregung. Sie war überrascht, wie die Dinge aussahen, wenn die Sicht nicht durch eine Visierscheibe oder sonstiges Fenster behindert war. Sie hatten eine scharfe halluzinatorische Klarheit, sogar bei Sternenlicht. Der Himmel im Osten zeigte ein üppiges Preußischblau der Vordämmerung mit hohen Cirruswolken, die schon Licht auffingen wie rosa Pferdeschweife. Die roten Falten der Großen Böschung erschienen im Licht der Sterne grau auf schwarz, mit schwarzen Schatten gefurcht. Der Wind in ihren Augen!

Die Leute sprachen ohne Interkom. Ihre Stimmen waren dünn und körperlos, die Münder durch die Masken verdeckt. Es gab kein mechanisches Summen, Brummen, Zischen oder Brausen. Nach mehr als einem Jahrhundert solcher Geräusche war die windige Stille im Freien seltsam, eine Art Hohlheit für die Ohren. Nazik sah aus, als trüge sie einen Beduinenschleier.

»Es ist kalt«, sagte sie zu Nadia. »Mir brennen die Ohren. Ich kann den Wind auf meinen Augen fühlen. Auf meinem Gesicht.«

»Wie lange werden die Filter reichen?« fragte Nadia Sax. Sie sprach laut, um sicher zu sein, daß er sie hören konnte.

»Hundert Stunden.«

»Jammerschade, daß die Menschen durch sie ausatmen müssen. Das müßte dem Filter viel mehr Kohlendioxid zuführen.«

»Allerdings. Aber ich sehe keinen einfachen Ausweg.«

Sie standen barhäuptig auf der Oberfläche des Mars. Sie atmeten die Luft mit nichts mehr als einer Filtermaske. Die Luft war dünn, wie Nadia merkte, aber sie fühlte sich nicht schwindelig. Der hohe Prozentsatz an Sauerstoff glich wohl den geringen atmosphärischen Druck aus. Es kam auf den Partialdruck des Sauerstoffs an. Und bei so viel Prozent Sauerstoff in der Luft…

Zeyk sagte: »Ist dies das erste Mal, daß jemand das gemacht hat?«

»Nein«, sagte Sax. »Wir haben es in Da Vinci oft getan.«

»Es ist ein schönes Gefühl. Es ist nicht so kalt, wie ich erwartet hatte.«

»Und wenn du stramm marschierst, wird es dir wärmer werden«, sagte Sax.

Sie gingen etwas umher und achteten im Dunkeln auf ihre Schritte. Es war recht kalt, ganz gleich, was Zeyk sagte. »Wir sollten wieder hineingehen«, schlug Nadia vor.

»Ihr solltet draußen bleiben und die Dämmerung betrachten. Die ist ohne Helme sehr schön«, sagte Sax.

Nadia, überrascht, von ihm eine solche Gefühlsäußerung zu hören, sagte: »Wir können noch mehr Dämmerungen sehen. Eben jetzt gibt es vieles, worüber wir sprechen müssen. Außerdem ist es kalt.«

»Es ist ein gutes Gefühl«, sagte Sax. »Schaut, da ist Kerguelenkohl. Und Sandwurz. Er kniete sich hin und schob ein behaartes Blatt zur Seite, um ihnen eine versteckte weiße Blüte zu zeigen, die in dem schwachen Licht der Vordämmerung kaum zu erkennen war.«

Nadia starrte ihn an und sagte: »Komm jetzt herein!«

Und so gingen sie zurück.


In der Schleuse legten sie ihre Masken ab und waren dann wieder im Umkleideraum des Refugiums, rieben sich die Augen und bliesen in ihre behandschuhten Hände. »Es war nicht so kalt! Die Luft roch angenehm!«

Nadia zog ihre Handschuhe aus und befühlte ihre Nase. Das Fleisch war eiskalt, aber es war nicht die weiße Kälte beginnender Erfrierungen. Sie sah Sax an, dessen Augen in wilder Erregung leuchteten, was ihm gar nicht ähnlich war — ein seltsamer und irgendwie bewegender Anblick. Übrigens sahen sie alle erregt aus, mit einer bis an Lachen grenzenden Erheiterung erfüllt, die durch die gefährliche Situation unten in Burroughs noch verschärft wurde. »Ich habe mich seit Jahren bemüht, das Sauerstoffniveau zu heben«, sagte Sax zu Nazik, Spencer und Steve.

Spencer sagte: »Ich dachte, das wäre, damit dein Feuer in Kasei Vallis so stark brennen sollte.«

»O nein. Was Feuer angeht, so ist es, wenn man eine gewisse Menge an Sauerstoff hat, mehr eine Frage, wie trocken es ist und was für Material brennen soll. Nein, dies war, um den Partialdruck des Sauerstoffs zu erhöhen, so daß Menschen und Tiere ihn atmen können. Sofern nur das Kohlendioxid vermindert wurde.«

»Hast du also auch Masken für Tiere gemacht?«

Sie lachten und gingen in den Speiseraum des Refugiums hinauf. Zeyk machte sich daran, Kaffee aufzubrühen, während sie über den Spaziergang redeten und gegenseitig die Wangen betasteten, um die Kälte zu vergleichen.

»Was ist mit der Evakuierung der Leute aus der Stadt?« fragte Nadia Sax plötzlich. »Was ist, wenn die Sicherheit die Tore geschlossen hält?«

»Sie gehen zum Raumhafen hinaus«, rief jemand aus dem Nachrichtenraum. »Die Sicherheitskräfte nehmen die Untergrundbahn zum Raumhafen. Sie verlassen das Schiff, die Schufte. Und Michel sagt, daß der Bahnhof — die Südstation — zerstört ist!«

Das bewirkte einen Tumult. Über diesen hinweg sagte Nadia zu Sax: »Wir wollen Hunt Mesa den Plan mitteilen und dann nach unten gehen und die Masken holen.«

Sax nickte.

Zwischen Mangalavid und den Armbandgeräten gelang es ihnen, der Bevölkerung von Burroughs den Plan sehr rasch bekanntzugeben, während sie in einer großen Karawane von Du Martheray zu einer niedrigen Reihe von Hügeln südwestlich der Stadt fuhren. Bald nach ihrer Ankunft schwebten die zwei Flugzeuge mit den Masken gegen Kohlendioxid über Syrtis ein und landeten auf einer freigemachten Stelle der Ebene gleich außerhalb der westlichen Böschung der Kuppelmauer. Auf der anderen Seite hatten die Beobachter der Stadt auf der Double Decker Butte schon gemeldet, daß sie gesehen hatten, wie sich die Flut aus Ostnordost näherte. Dunkelbraunes, von Eis geflecktes Wasser, das durch die Falte hereinkam, die in der Stadt vom Kanalpark besetzt war. Und die Meldungen über den Südbahnhof hatten sich bewahrheitet. Die Ausrüstung der Piste war durch eine Explosion in dem linearen Induktionsgenerator zerstört. Niemand wußte genau, wer das getan hatte. Aber es war geschehen, und die Züge waren zum Stillstand verurteilt.

Während Zeyks Araber die Kisten mit den Masken nach den westlichen, südwestlichen und südlichen Toren schafften, versammelten sich riesige Volksmengen bereits in jedem davon. Alle trugen entweder Schutzanzüge mit Heizdrähten oder die schwersten Kleider, die sie hatten, nicht zu schwer für das, was vor ihnen lag, wie Nadia meinte, als sie zum Südwesttor ging und aus Kisten Gesichtsmasken austeilte. In diesen Tagen gingen viele Leute in Burroughs so selten auf die Oberfläche hinaus, daß sie bei Bedarf Schutzanzüge mieteten. So gab es nicht genug davon, um jeden zu versorgen, und sie mußten mit Mänteln gehen, die für das Kuppelinnere gedacht waren und ziemlich dünn waren. Meistens mangelte es auch an Kopfbedeckungen. Immerhin war mit der Nachricht über die Evakuierung auch eine Aufforderung ergangen, sich für 255 K anzuziehen. Darum trugen die meisten Leute mehrere Garnituren und waren dick vermummt.

Jede Torschleuse konnte pro Minute hundert Personen durchlassen; aber das war bei weitem noch nicht schnell genug, wenn Tausende drinnen warteten und die Massen im Verlauf des Samstag morgens noch zunahmen. Die Masken waren unter den Leuten verteilt worden; und Nadia war sicher, daß inzwischen jeder eine hatte. Es war unwahrscheinlich, daß in der Stadt noch jemand nichts von der Notlage wußte. Darum ging Nadia zu Zeyk, Sax, Maya, Michel und allen anderen bekannten Personen, die sie sah, und sagte: »Wir sollten die Kuppelwand zerschneiden und dann losziehen. Ich werde mich daranmachen.« Niemand war dagegen.

Endlich erschien Nirgal. Er glitt durch die Menge wie der Gott Merkur bei einem dringenden Auftrag, lächelte breit und begrüßte einen Bekannten nach dem anderen, Leute, die ihn umarmen, ihm die Hand schütteln oder ihn wenigstens berühren wollten. Nadia sagte zu ihm: »Ich zerschneide jetzt gleich die Kuppelwand. Alle haben Masken, und wir müssen hier schneller herauskommen, als es durch die Tore möglich ist.«

Er sagte: »Eine gute Idee. Laß mich nur ansagen, was passiert.«

Und er sprang drei Meter hoch in die Luft, packte eine Mauerkappe des Betonbogens der Tores und schwang sich darauf, so daß er mit beiden Füßen auf dem drei Zentimeter breiten Streifen balancierte. Dann stellte er einen kleinen Schulterlautsprecher an, den er bei sich trug, und sagte: »Achtung, bitte! Wir fangen gleich an, die Kuppelwand zu zerschneiden, direkt über der Mauerkrone. Es wird also in Kürze eine nach außen gehende Brise zu spüren sein, nicht sehr stark. Die der Wand am nächsten befindlichen Leute natürlich zuerst. Es wird hierbei nicht nötig sein, sich zu beeilen. Wir werden ausgiebig schneiden; und jeder sollte in der nächsten halben Stunde aus der Stadt heraus sein. Seid bereit für die Kälte! Die wird sehr erfrischend sein. Bitte, legt eure Maske an und kontrolliert, ob sie dicht ist bei euch wie auch bei den Leuten um euch herum!«

Er schaute zu Nadia hinunter, die aus ihrem schwarzen Rucksack ein kleines Laserschneidgerät geholt hatte und es Nirgal zeigte. Sie hielt es über den Kopf, damit viele Leute es sehen konnten.

»Sind alle bereit?« fragte Nirgal über seinen Lautsprecher. Alle in der Menge sichtbaren Leute hatten eine weiße Maske über dem unteren Teil ihres Gesichts. »Ihr seht aus wie Banditen«, sagte Nirgal zu ihnen und lachte. Dann rief er »Okay!« mit Blick auf Nadia.

Und sie zerschnitt den Stoff der Kuppel.


Ein vernünftiges Verhalten, um zu überleben, ist fast so ansteckend wie Panik, und die Evakuierung verlief schnell und geordnet. Nadia schnitt ungefähr zweihundert Meter von dem Stoff ein, direkt oberhalb der Betonkappe; und der höhere Luftdruck innen bewirkte einen hinausgehenden Luftstrom, der die transparenten Schichten der Kuppelbespannung hoch und von der Einfassung weg hielt, so daß die Leute über die hüfthohe Mauer klettern konnten, ohne sich darum kümmern zu müssen. Andere schnitten den Stoff bei den westlichen und südlichen Toren auf; und in ungefähr der Zeit, die erforderlich ist, um ein großes Stadion zu entleeren, war die Bevölkerung von Burroughs aus der Stadt heraus und in der kühlen frischen Luft eines Morgens auf Isidis: 350 Millibar Druck, 261 K oder –12 °C Temperatur.

Zeyks Araber blieben in ihren Rovern und dienten als Eskorte, indem sie vorwärts und rückwärts fuhren und die Leute zu der Hügelkette führten, die ein paar Kilometer südwestlich der Stadt lag und Moeris-Berge hieß. Das Wasser der Flut erreichte die östliche Seite der Stadt, als die letzten Nachzügler diese Reihe niedriger Buckel in der Ebene erreichten und Beobachter der Roten, die in eigenen Rovern weit umherstreiften, meldeten, daß die Flut jetzt nördlich und südlich um die Basis der Stadtmauer liefe, in einem Schwall, der weniger als einen Meter tief war.

Es war also eine äußerst knappe Situation gewesen, knapp genug, um Nadia erschauern zu lassen. Sie stand oben auf einem der Moerishügel und schaute sich um, damit sie sich ein Bild der Lage verschaffen konnte. Die Leute hatten ihr Bestes getan, waren aber ihrer Meinung nach ungenügend bekleidet. Nicht jeder hatte isolierte Stiefel, und nur sehr wenige hatten viel auf dem Kopf. Die Araber stiegen aus ihren Rovern, um den Leuten zu zeigen, wie man mit Schals oder Handtüchern oder Extrajacken über den Köpfen Burnuskapuzen improvisieren konnte. Und das mußte genügen. Aber es war draußen kalt, sehr kalt trotz Sonne und Windstille; und die Bürger von Burroughs, die nicht außerhalb der Kuppel gearbeitet hatten, machten ein entsetztes Gesicht. Einige waren allerdings in besserer Verfassung als andere. Nadia konnte neu Angekommene aus Rußland an ihren warmen Kopfbedeckungen erkennen, die sie von daheim mitgebracht hatten. Sie begrüßte diese Leute auf russisch, und sie grinsten fast immer und riefen: »Das ist gar nichts. Es ist gutes Wetter zum Schlittschuhlaufen, da?«

»Bleibt in Bewegung!« sagte Nadia zu ihnen und zu allen anderen. Man erwartete, daß es am Nachmittag wärmer würde, vielleicht bis über den Gefrierpunkt.

Innerhalb der dem Untergang geweihten Stadt ragten die Mesas starr und dramatisch in das Morgenlicht wie ein titanisches Museum von Kathedralen. Die Fensterreihen waren wie Juwelen, und das Blattwerk auf den Gipfeln bildete kleine grüne Gärten. Die Bevölkerung der Stadt stand in der Ebene, maskiert wie Banditen oder Heuschnupfenpatienten, dick in Kleider gewickelt, manche in knappen beheizten Schutzanzügen und ein paar mit Helmen für späteren Gebrauch im Bedarfsfall. Der ganze Pilgerzug stand da und schaute auf die Stadt zurück. Menschen auf der Oberfläche des Mars, die Gesichter der kalten dünnen Luft ausgesetzt, die Hände in den Taschen, über ihnen hohe (Zirruswolken wie Metallspäne vor dem dunkelroten Himmel. Die Fremdartigkeit des Anblicks war zugleich erheiternd und erschreckend. Nadia ging an der Hügelreihe auf und ab und sprach mit Zeyk, Sax, Nirgal, Jackie und Art. Sie schickte sogar noch eine Nachricht an Ann in der Hoffnung, daß sie die bekommen würde, obwohl sie nie antwortete. »Vergewissere dich, daß die Sicherheitstruppen am Raumhafen keine Schwierigkeiten machen!« sagte sie, unfähig, den Ärger aus ihrer Stimme fernzuhalten. »Bleibt ihnen aus dem Wege!«

Ungefähr zehn Minuten später piepste das Armband. »Ich weiß«, sagte Anns Stimme knapp. Und das war alles.

Jetzt, da sie aus der Stadt heraus waren, fühlte Maya sich frohgemut. Sie rief: »Laßt uns losmarschieren! Bis zum Libya-Bahnhof ist es ein weiter Weg, und der halbe Tag ist schon vorbei.«

»Stimmt«, sagte Nadia. Und viele Leute waren schon aufgebrochen, stapften über die Piste, die vom Südbahnhof von Burroughs ausging, und folgten ihr den Hang der Großen Böschung hinauf.

Sie ließen die Stadt hinter sich. Nadia blieb oft stehen, um den Leuten Mut zuzusprechen, und schaute ebenso oft nach Burroughs zurück, auf die Dächer und Gärten unter der transparenten Blase des Zeltes im mittäglichen Sonnenschein, hinab in diesen grünen Mesokosmos, der so lange die Hauptstadt ihrer Welt gewesen war. Jetzt war rostig-schwarzes und von Eis geflecktes Wasser schon fast um die ganze Stadtmauer gelaufen; und ein dicker Strom schmutziger Eisberge trieb von der niedrigen Lücke nach Nordosten und ergoß sich in einem sich verbreiternden Schwall auf die Stadt zu. Er erfüllte die Luft mit einem Donnern, das die Haare im Nacken zu Berge stehen ließ. Ein Getöse wie damals in Marineris …

Das Land, über das sie gingen, war mit zerstreuten niedrigen Pflanzen übersät, zumeist Tundramoos und alpine Blumen mit gelegentlichen Gruppen von Eiskakteen, die wie stachlige schwarze Feuerhydranten dastanden. In der Luft schwirrten Mücken und Fliegen, die durch die fremde Invasion aufgescheucht worden waren. Es war merklich wärmer als am Morgen. Die Temperatur stieg rasch an. »Zweihundertzweiundsiebzig!« rief Nirgal, als Nadia ihn im Vorübergehen fragte. Er kam alle paar Minuten vorbei. Er lief an den Leuten vom einen Ende der Reihe bis zum anderen hin und her. Nadia sah auf ihr Handgelenk: 272 K. Der Wind war schwach und kam aus Südwesten. Die Wetterberichte sagten, daß eine Zone hohen Luftdrucks noch mindestens einen Tag über Isidis verweilen würde.

Die Leute gingen in kleinen Gruppen und trafen dabei auf andere kleine Gruppen, so daß Freunde und Bekannte sich im Weitergehen begrüßten, oft überrascht durch vertraute Stimmen unter den Masken und vertraute Augen zwischen Maske und Kapuze oder Hut. Von der Menge stieg eine diffuse Reifwolke auf, eine Massenausatmung, die in der Sonne schnell verdunstete. Rover der Roten Armee waren von beiden Seiten der Stadt herangefahren und beeilten sich, von der Flut wegzukommen. Jetzt rollten sie langsam dahin. Ihre Vorreiter gaben Flaschen mit warmen Getränken aus. Nadia sah sie an und murmelte im Schutz ihrer Maske stumme Verwünschungen. Aber einer der Roten erkannte das an ihren Augen und sagte zu ihr gereizt: »Wir waren es nicht, die den Deich gebrochen haben, mußt du wissen. Es waren die Guerilleros von MarsErst. Es war Kasei!«

Und er fuhr weiter.

Es wurde vereinbart, daß Schluchten östlich der Strecke als Latrinen benutzt werden sollten. Man war schon weit genug nach oben gestiegen, daß die Leute oft anhielten, um in die eigenartig leere Stadt hinunterzuschauen mit ihrem neuen Burggraben von rostigem, von Eis verstopftem Wasser. Gruppen Eingeborener sangen beim Gehen Teile der Areophanie. Als Nadia das hörte, krampfte sich ihr Herz zusammen. Sie murmelte: »Verdammt, Hiroko! Komm heraus, komm noch heute heraus!«

Sie entdeckte Art und ging zu ihm hinüber. Er gab über das Armband einen laufenden Kommentar, den er offenbar einer Nachrichtengesellschaft auf der Erde übermittelte. »O ja«, sagte er schnell beiseite, als Nadia ihn danach fragte. »Wir sind live. Auch wirklich gutes Video. Da bin ich sicher. Und sie können das Szenario der Flut weitergeben.«

Ohne Zweifel. Die Stadt mit ihren Mesas, jetzt von schwarzem, mit Eis verstopftem Wasser umgeben, das leicht dampfte. Die Oberfläche war aufgewirbelt, die Ränder sprudelten heftig durch Karbonisierung, wenn Wellen, die einen Lärm machten wie ein schwerer Sturm, von Norden her aufbrandeten … Die Lufttemperatur lag jetzt gerade über dem Gefrierpunkt, und das ansteigende Wasser blieb flüssig, selbst wenn es von Treibeisstücken bedeckt war. Nadia hatte noch nie etwas gesehen, das ihr deutlicher die Tatsache verriet, daß sie die Atmosphäre umgestaltet hatten — weder die Pflanzen noch das Blau des Himmels noch auch ihre Fähigkeit, die Augen frei zu halten und durch dünne Masken zu atmen. Der Anblick des Wassers, das während der Überschwemmung von Marineris gefror, wobei es in zwanzig Sekunden oder weniger von Schwarz zu Weiß wurde, hatte sie tiefer geprägt, als sie wußte. Jetzt hatten sie offenes Wasser. Die niedrige breite Bruchstelle, die Burroughs festhielt, sah wie eine gargantuanische Meeresbucht aus, die von der Flut aufgerissen wurde.


Die Leute stießen Rufe aus. Ihre Stimmen füllten die dünne Luft wie Vogelgesang über dem tiefen Continuo der Flut. Nadia wußte nicht, warum. Dann sah sie es — am Raumhafen gab es Bewegung.

Der Raumhafen lag auf einem breiten Plateau nordwestlich der Stadt; und auf ihrer jetzigen Höhe auf dem Abhang konnte die Bevölkerung von Burroughs da stehen und zusehen, wie sich die großen Tore des größten Hangars öffneten und fünf riesige Raumflugzeuge nacheinander herausrollten. Ein ominöser und irgendwie militärischer Anblick. Die Flugzeuge rollten zum Hauptterminal des Hafens, und Landebrücken fuhren aus und rasteten an ihren Seiten ein. Es ereignete sich nichts weiter, und die Flüchtlinge gingen fast eine Stunde lang auf die ersten richtigen Berge der Großen Böschung zu, bis trotz der Höhe die Rollbahnen des Raumhafens und die unteren Hälften der Hangars unter dem wässerigen Horizont lagen. Die Sonne stand inzwischen im Westen.

Die Aufmerksamkeit richtete sich auf die Stadt selbst, als das Wasser die Kuppelmauer auf der Ostseite von Burroughs aufriß und über deren Krone am Südwesttor strömte, wo sie den Stoff zerschnitten hatten. Bald danach überflutete es den Princess Park, Kanalpark und das Niederdorf, teilte die Stadt damit in zwei Teile und stieg langsam die Seitenboulevards empor, um die Dächer im unteren Teil der Stadt zu bedecken.

Mitten in diesem Schauspiel erschien einer der großen Jets am Himmel über dem Plateau. Er schien zum Fliegen viel zu langsam zu sein, wie es bei großen Flugzeugen in Bodennähe immer zu sein pflegt. Er war in Richtung Süden gestartet. Darum wurde er für die Zuschauer auf dem Boden ständig größer, ohne anscheinend an Tempo zu gewinnen, bis das tiefe Brummen der Motoren sie erreichte und die Maschine über ihre Köpfe pflügte mit der langsamen unmöglichen Schwerfälligkeit einer Hummel. Als sie nach Westen dahinrumpelte, erschien die nächste über dem Raumhafen und wandte sich an der von Wasser überschwemmten Stadt vorbei und über die Leute gen Westen. Und eins folgte dem anderen, und alle sahen gleichermaßen aerodynamisch aus, bis das letzte an ihnen vorbei am westlichen Horizont verschwunden war.

Jetzt fingen sie an, ernsthaft zu marschieren. Die schnellsten Geher machten sich davon, ohne zu versuchen, mit den langsameren zurückzubleiben. Es war wichtig, die Leute möglichst schnell vom Libya-Bahnhof fortzuschaffen. Das war allen klar. Von allen Seiten waren Züge nach Libya unterwegs, aber der Bahnhof war klein und hatte nur ein paar Rangiergleise; darum würde die Choreographie der Evakuierung schwierig werden.

Es war jetzt fünf Uhr nachmittags, die Sonne stand tief über der Erhebung von Syrtis, und die Temperatur sank rasch unter Null. Als die schnellsten Marschierer, meistens Eingeborene und die letzten Einwanderer, nach vorn preschten, zog sich die Menge in eine lange Kolonne auseinander. Die Leute in Rovern meldeten, daß sie bereits einige Kilometer lang war und ständig noch länger wurde. Diese Rover fuhren an der Reihe auf und ab, nahmen Leute auf und ließen manchmal andere heraus. Alle verfügbaren Schutzanzüge und Helme waren in Gebrauch. Cojote war auf der Bildfläche erschienen. Er kam aus Richtung des Deichs; und als Nadia seinen Felswagen erblickte, hegte sie sofort den Verdacht, daß er hinter der Zerstörung des Deichs steckte. Aber nachdem er sie fröhlich über das Armband begrüßt und gefragt hatte, wie die Dinge liefen, schlug er vor: »Wendet euch an Süd Fossa, daß sie ein Luftschiff über die Stadt schicken für den Fall, daß jemand zurückgeblieben ist und sich auf den Gipfeln der Mesas befindet. Es könnten noch Menschen drin sein, die tagsüber geschlafen und beim Aufwachen eine böse Überraschung erlebt haben.«

Er lachte wild. Aber das war eine gute Idee; und Art rief sofort an.

Nadia ging mit Maya, Sax und Art am Ende der Kolonne und lauschte auf eingehende Meldungen. Sie veranlaßte die Rover, auf den nicht benutzten Gleisen zu fahren, um zu vermeiden, daß sie Staub aufwirbelten. Sie bemühte sich, den Umstand zu ignorieren, daß sie schon ermüdet war. Es war hauptsächlich Mangel an Schlaf und nicht Erschöpfung der Muskeln. Aber die Nacht würde lang werden. Und nicht nur für sie selbst. Viele Menschen auf dem Mars waren reine Stadtbewohner und es nicht gewohnt, große Strecken zu marschieren. Sie hatte das auch nur selten getan, obwohl sie auf ihren Baustellen oft zu Fuß unterwegs gewesen war und keinen Schreibtischjob hatte wie viele dieser Leute. Zum Glück folgten sie einer Piste und konnten, wenn sie wollten, sogar auf ihrer glatten Oberfläche gehen, zwischen den Hängeschienen zu beiden Seiten und der Reaktionsschiene in der Mitte. Die meisten zogen es aber vor, auf den Beton- oder Kieswegen zu bleiben, die an der Piste entlangliefen.

Unglücklicherweise bedeutete das Verlassen von Isidis Planitia zu Fuß, daß man in jeder Richtung außer Norden bergauf gehen mußte. Der Libya-Bahnhof lag ungefähr siebenhundert Meter höher als Burroughs, keine unbeträchtliche Höhe. Aber der Anstieg verlief über die siebzig Kilometer fast gleichmäßig, und es gab auf dem Weg keine steilen Abschnitte. »Das wird helfen, uns warm zu halten«, sagte Sax, als Nadia es erwähnte.

Es wurde immer später und später. Ihre Schatten reichten schon weit nach Osten, als wären sie Riesen. Hinter ihnen verschwand die ertrinkende Stadt ohne Licht und leer mit schwarzem Boden über ihrem Horizont mit einer Mesa nach der anderen, bis zuletzt Double Decker Butte und Moeris Mesa hinter der Schwelle des Himmels untergingen. Das düstere Umbra von Isidis gewann immer mehr an Farbe, der Himmel wurde immer dunkler, bis die dicke Sonne düster am Westhorizont brannte. Sie gingen langsam durch eine rötliche Welt, langgezogen wie eine zerlumpte Armee auf dem Rückzug.


Nadia kontrollierte ab und zu Mangalavid und fand die Nachrichten vom Rest des Planeten zumeist tröstlich. Alle großen Städte außer Sheffield waren von der Unabhängigkeitsbewegung gesichert worden. Das Labyrinth in der Halde von Sabishii hatte den Überlebenden des Brandes Zuflucht geboten; und obwohl das Feuer noch nicht überall gelöscht war, meinte man im Labyrinth, daß es ihnen gutginge. Nadia sprach während des Marsches eine Weile mit Nanao und Etsu. Das kleine Bild von Nanao zeigte seine Erschöpfung; und sie sagte etwas darüber, wie schlecht sie sich fühlte — Sabishii verbrannt, Burroughs ertränkt — die beiden größten Städte des Mars vernichtet. «Nein, nein«, sagte Nanao. »Wir bauen wieder auf. Wir haben uns Sabishii vorgenommen.«

Sie schickten so wie auch viele andere Städte ihre Züge zum Libya-Bahnhof, soweit sie nicht verbrannt waren. Die am nächsten gelegenen schickten auch Flugzeuge und Luftschiffe. Die Luftschiffe konnten ihren während des Nachtmarschs zu Hilfe kommen, was sehr nützlich war. Besonders wichtig war alles Wasser, das sie mitbringen konnten, da die Dehydrierung in der kalten und übermäßig trockenen Nacht ernst wurde. Nadias Kehle war schon ausgedörrt, und sie nahm dankbar einen Schluck warmes Wasser von einem vorbeikommenden Rover entgegen, der es an die Marschierer ausgab. Sie hob ihre Maske an und trank rasch, wobei sie sich bemühte nicht zu atmen. »Letzter Aufruf!« sagte die Frau, welche die Becher ausgab, fröhlich. »Wir werden hinter den nächsten hundert Personen hereilen.«

Aus South Fossa kam ein Anruf anderer Art. Die hatten von einigen Bergwerkscamps um Elysium gehört, deren Bewohner sich für unabhängig sowohl von den Metanationalen wie der Bewegung Freier Mars erklärt hatten und alle aufforderten, sich fernzuhalten. Einige von Roten besetzte Stationen machten es genauso. Nadia knurrte: »Schickt ihnen ein Exemplar der Erklärung von Dorsa Brevia und sagt ihnen, sie sollen die einige Zeit studieren. Falls sie zustimmen, den Abschnitt über Menschenrechte zu beachten, sehe ich nicht, warum wir uns ihretwegen Sorgen machen sollten.«


Während sie weitermarschierten, ging die Sonne unter. Die langsame Dämmerung nahm ihren Lauf.

Während noch ein dunkles Purpur die dunstige Luft erfüllte, kam von Osten ein Felsenwagen und hielt genau vor Nadias Gruppe an. Es kamen Leute heraus, die weiße Masken und Kapuzen trugen. An der Silhouette erkannte Nadia plötzlich die führende Gestalt. Es war Ann, groß und hager, die direkt auf sie zukam und sie ohne Zögern trotz des schwachen Lichts aus dem Haufen am Ende der Kolonne herauspickte. Die Ersten Hundert kannten einander eben …

Nadia blieb stehen und schaute zu ihrer alten Freundin auf.

Ann blinzelte wegen der plötzlichen Kälte.

»Wir haben es nicht getan«, sagte Ann brüsk. »Die Armscorgruppe ist in Panzerwagen ausgerückt und hat uns beschossen. Es gab ein Gefecht. Kasei fürchtete, daß sie, wenn sie den Deich wieder eroberten, überall alles wieder einnehmen würden. Wahrscheinlich hatte er recht.«

»Geht es ihm gut?«

»Ich weiß nicht. Auf dem Deich wurden viele Leute getötet. Und viele mußten vor der Flut fliehen, indem sie nach Syrtis hinaufgingen.«

Ann stand vor ihnen, grimmig und ohne Entschuldigung. Nadia wunderte sich, daß man einer Silhouette so viel entnehmen konnte, die einen schwarzen Ausschnitt vor den Sternen bildete. Vielleicht die Haltung der Schultern oder die Neigung des Kopfes.

»Also los!« sagte Nadia. Sie wußte in diesem Moment nichts anderes zu sagen. Zuerst auf den Deich gehen und die Sprengladungen anbringen … Aber das war jetzt nicht mehr wichtig. »Laß uns gehen!«

Das Licht entschwand vom Land, aus der Luft und vom Himmel. Sie gingen unter den Sternen dahin durch eine Luft so kalt wie in Sibirien. Nadia hätte schneller gehen können, wollte aber hinten bei der langsamsten Gruppe bleiben, um helfen zu können. Manche Leute ließen kleinere Kinder auf den Schultern reiten. Aber es gab nicht sehr viele Kinder am Ende der Kolonne. Die kleinsten waren schon in Rovern, und die älteren waren vorn bei denen, die am schnellsten gingen. Es hatte ohnehin nicht so viele Kinder in Burroughs gegeben.

Scheinwerfer von Rovern stachen durch den Staub, den sie aufwühlten. Als Nadia das sah, überlegte sie, ob die Kohlendioxidfilter nicht durch den Grus verstopft werden könnten. Sie sprach das laut aus, und Ann sagte: »Es hilft, wenn du die Maske ab und zu fest gegen das Gesicht drückst und kräftig pustest. Du kannst auch den Atem anhalten, sie abnehmen und mit Druckluft ausblasen, wenn du einen Kompressor hast.«

Sax nickte.

»Du kennst diese Masken?« fragte Nadia.

Ann nickte. »Ich habe viele Stunden damit verbracht, sie zu benutzen.«

»Okay, gut!« Nadia experimentierte mit ihrer Maske, hielt den Stoff fest gegen ihren Mund und blies kräftig hindurch. Sie empfand rasch Atemmangel. »Wir sollten versuchen, auf der Piste und den Straßen zu gehen und den Staub zu verringern. Und sag den Rovern, daß sie langsamer fahren sollen!«

Sie marschierten weiter. Im Laufe der nächsten paar Stunden verfielen sie in eine Art von Rhythmus. Niemand überholte sie, und niemand blieb zurück. Es wurde immer noch kälter. Scheinwerfer von Rovern beleuchteten teilweise die Tausende von Menschen vor ihnen bis zum hohen, vielleicht zwölf oder vierzehn Kilometer vor ihnen liegenden Horizont im Süden auf dem langen Anstieg. Die Kolonne erstreckte sich bis dahin als eine hüpfende und eingrenzende Sammlung von Scheinwerferlichtern, Taschenlampenstrahlen und dem roten Licht der Schlußlichter. Ein seltsamer Anblick. Gelegentlich hörte man ein Brummen über ihnen, wenn Luftschiffe von South Fossa ankamen und mit voller Beleuchtung wie protzige UFOs dahinschwebten. Ihre Motoren brummten, wenn sie sich heruntersenkten, um für die Wagen Verpflegung und Wasser abzuladen und vom Ende der Kolonne Gruppen aufzunehmen. Dann summten sie wieder in die Luft und waren fort. Sie verschwanden im Osten über dem Horizont.

Während des Zeitrutsches versuchte eine Schar übermütiger junger Eingeborener zu singen; aber es war zu kalt und zu trocken, so daß sie das nicht lange durchhielten. Nadia gefiel dieser Gedanke, und sie sang in Gedanken viele ihrer alten Lieblingslieder: ›Hallo, Zentrale, gib mir Dr. Jazz!‹, ›Ein Loch ist im Eimer‹, ›Auf der Sonnenseite der Straße‹. Immer und immer wieder.

Je länger die Nacht dauerte, desto besser wurde ihre Stimmung. Der Plan schien zu funktionieren. Sie kamen nicht an Hunderten ausgestreckter Leute vorbei, obwohl seitens der Wagen verlautete, daß eine merkliche Anzahl der jungen Leute kurzatmig geworden wären und zu schnell schlapp gemacht hätten und jetzt Hilfe brauchten. Sie alle waren von 500 Millibar auf 340 gegangen, was auf der Erde einem Anstieg von 4000 auf 6500 Meter entsprach, kein unbeträchtlicher Sprung, selbst bei dem höheren Prozentsatz an Sauerstoff in der Luft des Mars, der die Effekte milderte. Also gab es Fälle von Höhenkrankheit. Diese pflegte die Jüngeren sowieso mehr zu treffen als die älteren; und viele von denen waren sehr enthusiastisch losgezogen. Darum mußten sie jetzt dafür bezahlen, indem eine ganze Anzahl an Kopfschmerzen und Übelkeit litt. Aber die Wagen meldeten Erfolg, indem sie die einen kurz vor dem Erbrechen aufgenommen und die anderen eskortiert hatten. Und die Nachhut der Kolonne hielt ein gleichmäßiges Tempo ein.

So trottete Nadia weiter, manchmal Hand in Hand mit Maya oder Art, manchmal in ihrer eigenen Welt. Ihr Geist wanderte in der schneidenden Kälte und erinnerte sie an merkwürdige Bruchstücke der Vergangenheit. Sie dachte an einen anderen gefährlichen Marsch in der Kälte, den sie in dieser ihrer Welt unternommen hatte, draußen im großen Sturm mit John beim Rabe-Krater… auf der Suche nach dem Transponder mit Arkady … mit Frank in Noctis Labyrinthus in der Nacht, da sie dem Angriff auf Cairo entkamen … Auch in jener Nacht war sie in eine verrückte kalte Fröhlichkeit verfallen — vielleicht als Reaktion auf eine Befreiung von Verantwortung, indem sie nicht mehr als ein Fußsoldat wurde, der der Führung von jemand anderem folgte. Einundsechzig war eine solche Katastrophe gewesen. Auch diese Revolution konnte sich zu einem Chaos entwickeln. Das hatte sie sich eigentlich schon. Niemand hatte die Führung. Aber über ihr Armband kamen von überall her noch Stimmen herein. Und niemand würde sie aus dem Weltraum angreifen. Die radikalsten Elemente der Übergangsbehörde waren in Kasei Vallis wahrscheinlich getötet worden — ein Aspekt von Arts integrierter Seuchenbekämpfung, der kein Spaß war. Und der Rest der UNTA war rein zahlenmäßig überwältigt worden. Sie waren so wie jeder andere auch nicht fähig, einen ganzen Planeten von Dissidenten zu beherrschen. Oder zu verängstigt, es zu versuchen.

Also hatten sie es geschafft, es diesmal anders zu machen. Oder aber die Verhältnisse auf der Erde hatten sich einfach geändert, und alle verschiedenen Phänomene der Geschichte des Mars waren nur verzerrte Abklatsche dieser Veränderungen. Durchaus möglich. Ein beunruhigender Gedanke, wenn man die Zukunft betrachtete. Aber das kam erst später. Sie würden mit alledem konfrontiert sein, wenn es so weit wäre. Jetzt mußten sie sich nur Gedanken machen, den Libya- Bahnhof zu erreichen. Der rein physische Charakter dieses Problems und seiner Lösung gefiel ihr ungeheuer. Endlich etwas, bei dem sie mit Hand anlegen konnte. Gehen. Die kalte Luft atmen. Die Lungen aus dem Rest von ihr erwärmen, vom Herzen aus — etwas wie Nirgals unheimliche Umverteilung von Wärme, wenn sie das nur könnte!

Es schien so, als ob sie wirklich kleine Ausbrüche von Schlaf erhaschen könnte, während sie ging. Sie fürchtete, es könnte sich um Kohlendioxidvergiftung handeln, raffte sich aber von Zeit zu Zeit immer wieder auf. Ihre Kehle war sehr wund. Das hintere Ende der Kolonne wurde immer langsamer, und Rover fuhren jetzt dorthin zurück, nahmen alle Erschöpften auf und fuhren sie bergauf zum Libya-Bahnhof, wo sie sie absetzen und für eine andere Ladung zurückkehren konnten. Sehr viel mehr Leute begannen, an Höhenkrankheit zu leiden; und die Roten sagten Betroffenen über ihre Armbänder, wie sie die Masken ablegen und speien und dann die Masken wieder aufsetzen könnten, ehe sie wieder atmeten. Bestenfalls eine schwierige und unangenehme Maßnahme, zumal viele sowohl an Kohlendioxidvergiftung wie Höhenkrankheit litten. Aber sie kamen ihrem Ziel näher. Die Armbandbilder vom Libya-Bahnhof sahen aus wie das Innere einer Untergrundbahn von Tokio zur Stoßzeit; aber regelmäßig kamen Züge an und fuhren ab, so daß es schien, daß für später Ankommende Raum sein würde.

Ein Rover fuhr neben ihnen vor und fragte, ob sie mitgenommen werden wollten. Maya sagte: »Macht euch fort von hier! Seht ihr nicht, was los ist? Los, helft den Leuten da, verschwendet nicht weiter unsere Zeit!«

Der Fahrer verschwand rasch, um weiterem Tadel zu entgehen. Maya sagte heiser: »Zur Hölle mit so etwas! Ich bin hundertdreiundvierzig Jahre alt und will verdammt sein, wenn ich nicht den ganzen Weg marschiere. Laßt uns etwas schneller gehen!«

Sie behielten ihr Tempo bei. Sie blieben weiter am Ende der Kolonne und beobachteten die Parade der Lichter, die im Dunst vor ihnen hüpften. Nadias Augen schmerzten schon seit einigen Stunden; aber jetzt wurde das wirklich schlimm. Die Taubheit der Kälte half offenbar nicht mehr. Die Augen waren äußerst trocken und sandig in den Höhlen. Zwinkern verursachte stechende Schmerzen. Es wäre eine gute Idee gewesen, neben den Masken auch Schutzbrillen zu haben.

Nadia stolperte über einen Stein, den sie nicht gesehen hatte; und ihr fiel eine Erinnerung aus ihrer Jugend ein. Einmal hatten sie und ihre Arbeitskameraden im Winter in südlichen Ural eine Lastwagenpanne gehabt. Sie mußten vom Ende der verlassenen Tscheljabinsk-65 bis Tscheljabinsk-40 marschieren, über fünfzig eisige Kilometer stalinistisch verwüsteten industriellen Ödlands — schwarze aufgegebene Fabriken, zerbrochene Schornsteine, umgefallene Zäune, ausgeweidete Lastwagen… alles in der schneeigen kalten Winternacht unter niedrigem Gewölk. Sie erzählte Maya, Art und Sax davon mit rauher Stimme. Die Kehle tat weh, aber nicht so schlimm wie die Augen. Sie hatten sich an Interkoms gewöhnt. Es war merkwürdig, durch die Luft zwischen ihnen zu sprechen. Aber sie wollte reden. »Ich weiß nicht, wie ich jemals diese Nacht habe vergessen können. Aber ich habe seit sehr langer Zeit nicht mehr daran gedacht. Es muß vor — na — hundertzwanzig Jahren gewesen sein.«

»An diese Nacht wirst du dich sicher auch erinnern«, sagte Maja.

Sie tauschten kurze Geschichten aus über die größte Kälte, welche sie erlebt hatten. Die zwei russischen Frauen konnten zehn Fälle aufzählen, die kälter gewesen waren als die kältesten, mit denen Sax oder Art aufwarten konnten. Art fragte: »Wie wäre es mit dem heißesten Erlebnis? Da kann ich gewinnen. Ich war einmal bei einem Holzsägewettbewerb in der Kettensägeabteilung. Dabei kommt es darauf an, wer die stärkste Säge hat. Darum tauschte ich den Motor der meinigen mit einem von einer Harley-Davidson aus und schnitt das Holz in weniger als zehn Sekunden. Aber die Motoren von Motorrädern haben Luftkühlung, und meine Hände wurden ganz schön heiß!«

Sie lachten. Maya erklärte: »Das zählt nicht. Es war nicht dein ganzer Körper.«

Es waren weniger Sterne zu sehen als zuvor. Erst schob Nadia das auf den feinen Staub in der Luft oder die Schwierigkeit mit ihren sandigen Augen. Aber dann schaute sie auf ihr Armband und sah, daß es fast fünf Uhr morgens war. Bald kam die Dämmerung. Und Libya-Bahnhof war nur noch ein paar Kilometer entfernt. Die Temperatur betrug 256 Kelvin.

Sie kamen bei Sonnenaufgang an. Es wurden Tassen mit heißem Tee ausgegeben, der wie Ambrosia duftete. Der Bahnhof war so voll, daß man nicht hineingehen konnte, und mehrere tausend Leute warteten draußen. Aber die Evakuierung war seit einigen Stunden glatt verlaufen, organisiert von Vlad, Ursula und einer ganzen Schar Bogdanovisten. Auf allen drei Pisten kamen immer noch Züge aus Osten, Süden und Westen an. Sie wurden rasch beladen und fuhren gleich wieder ab. Und Luftschiffe schwebten über den Horizont ein. Die Bevölkerung von Burroughs wurde aufgeteilt. Einge kamen nach Elysium, einige nach Hellas und weiter südlich nach Hiranyagarbha und Christianopolis, andere zu den kleinen Städten auf dem Weg nach Sheffield einschließlich Underhill.


So warteten sie, bis sie an die Reihe kamen. In dem Dämmerlicht konnten sie erkennen, daß bei allen die Augen stark von Blut unterlaufen waren, was zusammen mit den von Staub bedeckten Masken noch über den Mündern den Leuten ein wildes und blutiges Aussehen gab. Sicher müßte man im Freien Schutzbrillen tragen.

Endlich geleiteten Zeyk und Marina die letzte Gruppe in den Bahnhof. Bis dahin hatten einige der Ersten Hundert einander gefunden und sich an einer Wand zusammengedrängt, angezogen von dem Magnetismus, der sie in einer Krise immer zusammenführte. In der letzten Gruppe waren mehrere von ihnen: Maya und Michel, Nadia, Sax und Ann, Vlad, Ursula, Marina, Spencer, Ivana, der Cojote …

Drüben an den Gleisen dirigierten Jackie und Nirgal Menschen in Züge. Sie schwenkten die Arme wie Dirigenten einer Sinfonie und beruhigten jene, deren Beine in letzter Minute versagten. Die Ersten Hundert gingen zusammen auf den Bahnsteig. Maya übersah Jackie, als sie hinter ihr auf einen Zug zuging. Nadia folgte Maya hinein, und dann kam der Rest von ihnen. Sie gingen den Mittelgang entlang, vorbei an all den fröhlichen zweifarbigen Gesichtern — braun mit Staub von oben und sauber um den Mund herum. Auf dem Boden lagen einige schmutzige Gesichtsmasken, aber die meisten Leute hielten sie noch beim Gehen zusammengefaltet in den Händen.

Bildschirme vorn in jedem Waggon übertrugen einen Film, den ein Luftschiff von Burroughs zeigte, das an diesem Morgen ein See aus von Eis bedecktem Wasser war, wobei das Eis vorherrschte, obwohl überall auch schwarze eisfreie Stellen waren. Über diesem neuen See standen die neun Mesas der Stadt, jetzt neun Inseln mit steilen Klippen, nicht sehr hoch. Die restlichen Dachgärten und Fensterreihen wirkten über dem schmutzigen Packeis sehr merkwürdig.

Nadia und der Rest der Ersten Hundert folgten Maya durch die Waggons bis zum letzten. Maya wandte sich um und sah sie alle, die das kleine Abteil des Zuges füllten, und sagte: »Was, geht der hier nach Underhill?«

»Odessa«, sagte Sax zu ihr.

Sie lächelte.

Leute standen auf und gingen nach vorn, damit sich die alten in dem Schlußabteil zusammen hinsetzen konnten. Und sie lehnten diese Höflichkeit nicht ab. Sie bedankten sich und nahmen Platz. Bald danach waren auch die Abteile vor ihnen voll. Vlad sagte etwas darüber, daß der Kapitän als letzter das sinkende Schiff verläßt.

Nadia fand diese Bemerkung deprimierend. Sie war jetzt wirklich müde und konnte sich nicht erinnern, wann sie zum letzten Mal geschlafen hatte. Sie hatte Burroughs gern gehabt, und eine große Anzahl von Mannstunden war hineingeflossen, es zu erbauen… Sie entsann sich, was Nanao über Sabishii gesagt hatte. Auch Burroughs war in ihren Gedanken. Vielleicht würden sie, wenn sich die Küste des neuen Ozeans gefestigt hatte, irgendwo anders ein neues Burroughs erbauen.

Vorerst nun saß Ann auf der anderen Seite des Waggons, und Cojote kam durch den Mittelgang zu ihnen, blieb stehen, um das Gesicht an das Fensterglas zu pressen, und machte Nirgal und Jackie, die noch draußen waren, ein Zeichen mit erhobenem Daumen. Beide stiegen einige Waggons vor dem letzten in den Zug. Michel lachte über etwas, das Maya gesagt hatte; und Ursula, Marina, Vlad, Spencer — diese Mitglieder von Nadias Familie waren um sie und in Sicherheit, wenigstens für den Moment. Und da dieser Moment alles war, das sie je gehabt hatte … fühlte sie, wie sie in ihrem Sitz zerschmolz. Sie würde in wenigen Minuten eingeschlafen sein. Das spürte sie an ihren trockenen brennenden Augen. Der Zug setzte sich in Bewegung.


Sax schaute auf sein Armband, und Nadia fragte ihn schläfrig: »Was geschieht auf der Erde?«

»Der Meeresspiegel steigt noch. Er ist jetzt vier Meter höher. Es sieht so aus, als hätten die Metanationalen die Kämpfe eingestellt, jedenfalls zeitweilig. Der Weltgerichtshofhat einen Waffenstillstand ausgehandelt. Praxis hat alle Hilfsmittel in Fluthilfe gesteckt. Einige andere Metanationalen scheinen es ebenso machen zu wollen. Die UN-Generalversammlung ist in Mexico City zusammengetreten. Indien hat erklärt, einen Vertrag mit einer unabhängigen Marsregierung zu haben.«

»Das ist eine verteufelte Geschichte«, sagte Cojote von der anderen Seite des Abteils. »Indien und China sind für uns zu groß, um damit fertig zu werden. Abwarten und zusehen!«

»Also ist der Kampf da unten zu Ende?« sagte Nadia.

»Es ist noch nicht sicher, ob das für die Dauer ist oder nicht«, erwiderte Sax.

Maya knurrte. »Auf keinen Fall währt er ewig.«

Sax zuckte die Achseln.

»Wir müssen eine Regierung bilden«, sagte Maya, »und zwar schnell, und der Erde eine geschlossene Front bieten. ]e besser etabliert wir wirken, desto weniger ist es wahrscheinlich, daß sie uns vernichtend angreifen werden.«

»Sie werden kommen«, sagte Cojote vom Fenster her.

»Nicht, wenn wir sie überzeugen, daß sie von uns alles bekommen werden, das sie sich selbst genommen hätten«, sagte Maya, die sich über Cojote ärgerte. »Das wird sie mäßigen.«

»Kommen werden sie auf jeden Fall.«

»Wir werden nie außer Gefahr sein, ehe nicht die Erde ruhig und stabilisiert ist«, erklärte Sax.

»Die Erde wird nie zur Ruhe kommen«, warf Cojote ein.

Sax zuckte die Achseln.

»Wir sind es, die sie beruhigen müssen!« rief Maya und zeigte mit einem Finger auf Cojote. »Um unserer selbst willen!«

»Die Erde areoformen«, sagte Michel mit einem ironischen Lächeln.

»Gewiß, warum nicht?« sagte Maya. »Wenn es erforderlich ist.«

Michel beugte sich vor und gab Maya einen Kuß auf ihre staubige Wange.

Cojote schüttelte den Kopf und sagte: »Das ist, als wollte man die Welt ohne einen Angelpunkt bewegen.«

»Der Angelpunkt steckt in unseren Köpfen«, erwiderte Maya zu Nadias Erstaunen.

Auch Marina blickte auf ihr Handgelenk und sagte: »Die Sicherheit hat immer noch Clarke und das Kabel. Peter sagt, sie haben von Sheffield nur noch die Steckdose behalten. Und jemand — he, irgendwer — will Hiroko in Hiranyagarbhagesehen haben.«

Sie schwiegen und hingen ihren Gedanken nach.

Nach einer Weile sagte Cojote: »Ich habe Einblick in die UNTA-Akten jener ersten Eroberung von Sabishii genommen. Da wurde Hiroko überhaupt nicht erwähnt, noch jemand aus ihrer Gruppe. Ich glaube nicht, daß sie sie erwischt haben.«

»Was geschrieben ist, hat mit dem, was geschah, nichts zu tun«, sagte Maya finster.

»Hiranyagarbha bedeutet im Sanskrit ›Der goldene Keim‹«, erklärte Marina.

Nadia krumpfte sich das Herz zusammen. Komm heraus, Hiroko — dachte sie. Verdammt noch mal, komm heraus! Michels Gesicht verriet Kummer. Seine ganze Familie verschwunden …

»Wir können nicht sicher sein, ob wir den Mars schon ganz haben«, sagte Nadia, um ihn abzulenken Sie sah ihm in die Augen. »In Dorsa Brevia haben wir uns nicht einigen können. Warum sollten wir es jetzt tun?«

»Weil wir frei sind«, entgegnete Michel, sich wieder zusammenraffend. »Das ist jetzt real. Wir sindfrei, es zu versuchen. Und man steckt alles Bemühen nur dann in etwas, wenn es kein Zurück gibt.«

Der Zug wurde langsamer, um die Äquatorpiste zu kreuzen, und sie wurden mit ihm hin und her geschüttelt.

Cojote sagte: »Es gibt Rote, die alle Pumpstationen in Vastitas in die Luft jagen. Ich glaube nicht, daß wir irgendeine Übereinstimmung hinsichtlich der Terraformung erzielen werden.«

»Das ist sicher«, sagte Ann mit heiserer Stimme. Sie räusperte sich. »Wir wollen auch die Soletta beseitigen.«

Sie sah Sax scharf an, aber der zuckte nur die Achseln.

»Ökopoiesis«, meinte er. »Wir haben schon eine Biosphäre. Das ist alles, was wir brauchen. Eine schöne Welt.«

Draußen sauste das zerrissene Gelände im kühlen Licht des Morgens vorbei. Die Hänge von Tyrrhena waren khakifarben durch das Vorhandensein von Millionen kleiner Flecke von Gras, Moos und Flechten, die zwischen die Steine geduckt waren. Sie blickten, schweigend hinaus. Nadia fühlte sich überwältigt und versuchte, an all dies zu denken und es auseinanderzuhalten, das sich verwischte wie die Flut von Rost- und Khakifarbe draußen …

Sie sah die Leute rings um sich an, und in ihr drehte sich irgendein Schlüssel. Ihre Augen waren noch trocken und entzündet, aber sie war nicht mehr schläfrig. Der Krampf in ihrem Magen ließ nach, zum ersten Mal, seit die Revolte angefangen hatte. Sie konnte frei atmen. Sie blickte in die Gesichter der alten Freunde — Ann war noch auf sie böse, Maya war noch auf Cojote böse; alle waren sie erschöpft und schmutzig. Sie hatten gerötete Augen wie das kleine rote Volk, ihre Iris glich runden Stücken eines Halbedelsteins und schimmerte in ihrer blutunterlaufenen Fassung. Sie hörte sich sagen: »Arkady würde es gefallen.«

Die anderen machten überraschte Gesichter. Ihr fiel auf, daß sie nie über ihn gesprochen hatten.

»Simon auch«, sagte Ann.

»Und Alex.« »Und Sasha.«

»Und Tatiana.«

»Und allen unseren, die wir verloren haben«, sagte Michel rasch, ehe die Liste zu lang wurde.

»Aber nicht Frank«, erklärte Maya. »Frank wäre über manches ganz schön von den Socken.«

Sie lachten, und Cojote sagte: »Und wir müssen die Tradition fortführen, nicht wahr?« Und sie lachten noch mehr, als sie ihm mit dem Finger drohte.

»Und John?« fragte Michel. Er zog Mayas Arm herunter und richtete die Frage direkt an sie.

Maya machte ihren Arm frei und drohte Cojote weiter mit dem Finger. »John würde nicht Zeter und Mordio schreien und der Erde den Laufpaß geben, als ob wir ohne sie auskommen könnten. John Boom würde in diesem Moment begeistert sein!«

»Daran sollten wir denken«, sagte Michel rasch. »Wir sollten überlegen, was er tun würde.«

Cojote grinste. »Er würde in Hochstimmung in diesem Zug hin und her rennen. Würde angeheitert sein. Es wäre bis hin nach Odessa eine Party. Musik, Tanz und alles.«

Sie sahen sich an.

»Nun?« fragte Michel.

Und sie gingen durch den Zug nach vorn.

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