Biogenese ist in erster Linie Psychogenese. Diese Wahrheit ist nirgends deutlicher zum Ausdruck gekommen als auf dem Mars, wo die Noosphäre der Biosphäre vorausging. Die Zone des Denkens hat den schweigenden Planeten erst aus der Ferne umhüllt und ihn mit Geschichten, Plänen und Träumen besiedelt bis zu dem Moment, da John ausstieg und sagte: Da sind wir. Von da an verbreitete sich die Grüne Kraft wie ein Lauffeuer, bis der ganze Planet von Viriditas pulsierte. Es war, als hätte der Planet selbst gefühlt, daß ihm etwas fehlte, und als ob beim Aufprall von Geist gegen Fels, Noosphäre gegen Lithosphäre, die fehlende Biosphäre mit der verblüffenden Plötzlichkeit der Papierblume eines Magiers in die Lücke gesprungen wäre.
So etwa kam es Michel Duval vor, der sich leidenschaftlich jedem Anzeichen von Leben in der rostigen Öde widmete; der Hirokos Areophanie mit der Gier aufgegriffen hatte, mit der ein Mensch einen ihm zugeworfenen Rettungsring packt. Sie hatte ihm eine neue Sehweise gegeben. Um diese zu praktizieren, hatte er Anns Gewohnheit angenommen, in der Stunde vor Sonnenuntergang draußen spazierenzugehen. In der Gegend mit ihren langen Schatten war für ihn jeder Grasfleck eine erschütternde Freude. In jedem kleinen Stück Riedgras und Flechte sah er eine Provence im kleinen.
Das war seine Aufgabe, wie er sie jetzt verstand: die harte Arbeit, die auseinanderstrebende Gegensätzlichkeit von Provence und Mars zu versöhnen. Erfühlte sich in diesem Vorhaben als Teil einer langen Tradition; denn er hatte kürzlich bei seinen Studien bemerkt, daß die Geschichte des französischen Denkens beherrscht war von Versuchen, extreme Antinomien zu lösen. Für Descartes waren es Geist und Leib gewesen, für Sartre Freudianismus und Marxismus, für Teilhard de Chardin Christentum und Evolution — die Liste ließe sich noch verlängern; und ihm schien, daß die besondere Qualität der französischen Philosophie, ihre heroische Spannung und ihre Tendenz für einen langen Weg großartiger Irrtümer, aus diesem wiederholten Versuch stammte, unmögliche Gegensätze zusammenzuspannen. Vielleicht waren das alle, einschließlich der seinigen, Angriffe des gleichen Problems, des Bemühens, Geist und Materie zu verknüpfen. Und vielleicht war dies der Grund, weshalb das französische Denken so oft rhetorische Hilfsmittel begrüßt hatte wie das semantische Rechteck — Strukturen, welche diese auseinanderstrebenden Gegensätze in Netzen verbinden könnten, die stark genug waren, sie zu halten.
Somit war es jetzt Michels Aufgabe, Geist und rostige Materie zusammenzuknüpfen, die Provence auf dem Mars zu entdecken. Zum Beispiel ließen Krusten aus Flechten Teile der roten Ebene aussehen, als wären sie mit Jade überzogen. Und jetzt, an den hellen Indigo-Abenden (unter dem alten roten Himmel hatte Gras braun ausgesehen), erlaubte die Farbe des Himmels jedem Grashalm, so rein grün auszusehen, daß die kleinen Rasenflächen zu vibrieren schienen. Der intensive Druck von Farbe auf die Netzhaut — welche Wonne!
Und es war auch fast erschreckend, wie rasch diese primitive Biosphäre Wurzeln geschlagen hatte, aufgeblüht war und sich verbreitet hatte. Es gab einen innewohnenden Aufschwung zum Leben, eine grüne elektrische Frische zwischen den Polen von Fels und Geist. Eine unglaubliche Kraft, die hier eingegriffen und die genetischen Ketten berührt hatte, Sequenzen eingefügt, neue Hybriden geschaffen hatte, ihnen geholfen, sich zu verbreiten, und ihre Milieus so verändert hatte, daß sie wachsen konnten. Der natürliche Enthusiamus des Lebens für das Leben war überall deutlich, wie es kämpfte und sich so oft durchsetzte. Aber jetzt gab es auch leitende Hände, eine Noosphäre, die alles von Anfang an umfing. Die grüne Kraft stieß mit jeder Berührung ihrer Fingerspitzen in die Landschaft vor.
Also waren menschliche Wesen wirklich wie Zauberer — bewußte Schöpfer, die wie frische junge Götter über diese neue Welt schritten und immense alchemische Kräfte entfalteten. Darum sah sich Michel einen jeden, dem er auf dem Mars begegnete, neugierig an und fragte sich bei der Betrachtung seines oft harmlosen Äußeren, welch neuer Paracelsus oder Isaac von Holland vor ihm stand und ob er Blei in Gold verwandeln oder Steine zu Blüten machen würde.
Der von Cojote und Maya gerettete Amerikaner war auf den ersten Blick nicht auffälliger als jede andere Person, die Michel auf dem Mars getroffen hatte. Vielleicht etwas wißbegieriger und wohl auch intelligenter. Ein stämmiger watschelnder Mann mit einem dunklen Gesicht und einer spöttischen Miene. Aber Michel war es gewohnt, hinter solchen Gesichtern den transformativen Geist im Innern zu erkennen, und kam rasch zu dem Ergebnis, daß sie einen geheimnisvollen Mann in der Hand hatten.
Sein Name war Art Randolph, sagte er, und er hätte nützliches Material von dem heruntergefallenen Aufzug geborgen. »Karbon?« hatte Maya gefragt. Aber er hatte ihren sarkastischen Ton nicht mitbekommen oder ignoriert und antwortete: »Ja, aber auch…« und hatte eine ganze Liste exotisch zu Brekzien verwandelter Minerale heruntergerasselt. Maya hatte ihn nur angeschaut, aber er schien das nicht zu bemerken. Er hatte nur Fragen. Wer waren sie? Was taten sie da draußen? Wohin würden sie ihn bringen? Was für eine Art von Wagen waren das hier? Waren sie wirklich aus dem Weltraum nicht zu sehen? Wie entledigten sie sich ihrer thermischen Spuren? Warum mußten sie aus dem Raum unsichtbar sein? Gehörten sie zum Untergrund des Mars? Wer waren sie überhaupt?
Niemand beeilte sich, diese Fragen zu beantworten, und schließlich sagte Michel ihm: »Wir sind Martier. Wie leben hier draußen unabhängig allein.«
»Der Untergrund. Unglaublich! Ich hätte gedacht, ihr Burschen wäret eine Legende, um die Wahrheit zu sagen. Das ist großartig.«
Maya rollte nur mit den Augen und sagte, als ihr Gast sie bat, bei Echus Overlook abgesetzt zu werden, mit häßlichem Lachen: »Komm jetzt zur Sache!«
»Was meinst du?«
Michel erklärte ihm, daß sie ihn nicht freilassen könnten, ohne ihre Anwesenheit preiszugeben. Vielleicht würden sie ihn überhaupt nicht freilassen können.
»Oh, ich würde es niemandem erzählen.«
Maya lachte wieder.
»Die Sache ist zu wichtig, als daß wir einem Fremden vertrauen könnten«, sagte Michel. »Und du könntest nicht imstande sein, ein Geheimnis zu bewahren. Du müßtest erklären, wie du dich so weit von deinem Fahrzeug entfernt hast.«
»Ihr könntet mich wieder dorthin bringen.«
»Wir lieben es nicht, Zeit mit so etwas zu verschwenden. Wir wären nicht nahe herangekommen, wenn wir nicht bemerkt hätten, daß du in Schwierigkeiten stecktest.«
»Nun, das weiß ich zu schätzen. Aber ich muß sagen, daß das hier nicht gerade nach Rettung aussieht.«
»Besser als die Alternative«, sagte Maya in scharfem Ton.
»Sehr wohl. Und ich schätze es wirklich. Aber ich verspreche, daß ich es niemandem erzählen werde. Es ist außerdem nicht so, als ob die Leute nicht wüßten, daß ihr euch hier draußen befindet. Das Fernsehen zu Hause hat die ganze Zeit über euch berichtet.«
Selbst Maya verstummte daraufhin. Sie fuhren weiter. Maya führte über ihr Interkom ein lebhaftes russisches Gespräch mit Cojote, der im Rover vor ihnen war, und mit Kasei, Nirgal und Harmakhis. Cojote war unerbittlich. Wenn sie das Leben des Mannes gerettet hatten, konnten sie es sicher so einrichten, daß sie einige Zeit außer Gefahr blieben. Michel berichtete den Kern der Gespräche ihrem Gefangenen.
Randolph runzelte kurz die Stirn und zuckte dann die Achseln. Michel hatte noch nie erlebt, daß sich jemand so rasch mit neuen Lebensumständen zurechtfand. Die Kaltblütigkeit des Mannes war eindrucksvoll. Michel beobachtete ihn aufmerksam, behielt aber auch ein Auge auf den vorderen Bildschirm gerichtet. Randolph stellte schon wieder Fragen, diesmal über die Lenkung des Rovers. Er machte nur eine Bemerkung zu seiner Lage, nachdem er die Bedienung von Radio und Interkom angeschaut hatte. »Ich hoffe, ihr werdet mich eine Nachricht an meine Firma schicken lassen, damit die wissen, daß ich in Sicherheit bin. Ich habe für Dumpmines, einen Teil von Praxis, gearbeitet. Ihr und Praxis habt wirklich vieles gemeinsam. Auch die können sehr verschwiegen sein. Ich schwöre, ihr solltet euch um eurer eigenen Sache willen mit ihnen in Verbindung setzen. Ihr müßt doch gewisse codierte Frequenzen benutzen, nicht wahr?«
Keine Antwort von Maya oder Michel. Und später, als Randolph in das kleine Toilettenabteil des Rovers gegangen war, zischte Maya: »Er ist offenbar ein Spion. Er war so absichtlich draußen, daß wir ihn aufgreifen würden.«
Das war typisch Maya. Michel versuchte nicht, mit ihr zu diskutieren, sondern zuckte nur die Achseln. »Jedenfalls behandeln wir ihn wie einen solchen.«
Und dann war er wieder draußen zwischen ihnen und stellte weitere Fragen. Wo lebten sie? Wie war es, sich die ganze Zeit zu verstecken? Michel fand allmählich Spaß an dem, was mehr oder weniger wie eine schauspielerische Übung oder ein Test zu sein schien. Randolph wirkte völlig offen, klug, freundlich, mit seinem dunklen Gesicht fast wie ein harmloses Mondkalb. Und dennoch beobachteten seine Augen sie sehr aufmerksam, und mit jeder nicht beantworteten Frage sah er interessierter und zufriedener aus, als ob er ihre Antworten durch Telepathie bekäme. Jeder Mensch besitzt eine große Kraft, und jeder Mensch auf dem Mars ist ein Alchemist. Und obwohl Michel die Psychiatrie längst aufgegeben hatte, konnte er immer noch erkennen, wenn ein Meister am Werk war. Er lachte fast über den zunehmenden Drang, den er in sich fühlte, diesem ungeschlachten seltsamen Mann, der sich noch ungeschickt bei Marsschwere benahm, alles zu offenbaren.
Dann piepte ihr Radio, und eine komprimierte Nachricht, die nicht länger als zwei Sekunden dauerte, zwitscherte über die Lautsprecher. Randolph sagte hilflos: »Seht, genau so könntet ihr Praxis eine Mitteilung zukommen lassen.«
Aber als der Computer die Meldung fertig entschlüsselt hatte, war jeder Spaß verflogen. Sax war in Burroughs verhaftet worden.
Am frühen Morgen fuhren sie bis zu Cojotes Wagen vor und verbrachten den Tag mit Beratungen, was zu tun wäre. Sie saßen in einem dicht gedrängten Kreis im Wohnabteil, alle Gesichter von Sorge gezeichnet — alle mit Ausnahme ihres Gefangenen, der zwischen Nirgal und Maya saß. Nirgal hatte ihm die Hände geschüttelt und genickt, als wären sie alte Freunde, obwohl keiner ein Wort sprach. Aber die Sprache der Freundschaft bestand nicht in Worten.
Die Mitteilung über Sax war von Spencer gekommen über Nadia. Spencer arbeitete in Kasei Vallis, das eine Art neues Korolyov bildete, eine Sicherheitsstadt, sehr raffiniert und zugleich von sehr niedrigem Profil. Sax war in einen der dortigen Wohnblocks gebracht worden, und Spencer hatte das ausgekundschaftet und Nadia gemeldet.
»Wir müssen ihn herausholen, und zwar schnell«, sagte Maya. »Sie haben ihn erst seit ein paar Tagen.«
»Den Sax Russell?« sagte Randolph. »Donnerwetter! Ich kann es nicht glauben. Wer seid ihr eigentlich? He, bist du Maya Toitovna?«
Maya verfluchte ihn in wütendem Russisch. Cojote ignorierte sie alle. Er hatte nichts gesagt, seit die Nachricht eingetroffen war, und war am Schirm seines Computers beschäftigt, um die Fotos der Wettersatelliten durchzumustern.
»Ihr könnt mich eigentlich auch laufen lassen«, sagte Randolph in die Stille. »Ich könnte ihnen nichts sagen, das sie nicht auch aus Russell herausholen könnten.«
»Der wird ihnen nichts sagen«, erklärte Kasei wütend.
Randolph schwenkte die Hand. »Ihn verängstigen, vielleicht ein wenig verletzen, ihn unter Druck und Drogen setzen und sein Gehirn an den richtigen Stellen anzapfen. Sie werden Antworten auf alle ihre Fragen bekommen. Sie haben das zu einer Wissenschaft gemacht, soweit ich weiß.« Er starrte Kasei an. »Auch du siehst mir bekannt aus. Macht nichts! Jedenfalls, wenn sie es herausquetschen können, pflegen sie es noch grausamer zu machen.«
»Woher weißt du all das?« fragte Maya.
»Das ist allgemein bekannt«, erwiderte Randolph. »Vielleicht stimmt das alles nicht, aber … «
»Ich will zu ihm«, sagte Cojote.
»Sie werden aber erfahren, daß wir hier draußen sind«, gab Kasei zu bedenken.
»Das wissen sie sowieso. Was sie nicht wissen, ist, wo wir sind.«
»Außerdem«, sagte Michel, »ist es unser Sax.«
»Hiroko wird nichts dagegen haben«, sagte Cojote.
»Und falls doch, kann sie uns gestohlen bleiben!« rief Maya. »Sagt ihr shikata ga nai!«
»Es wäre mir ein Vergnügen«, erklärte Cojote.
Die westlichen und nördlichen Hänge des Tharsis- Buckels waren im Vergleich zu dem östlichen Abfall zu Noctis Labyrinthus unbewohnt. Es gab einige areothermale Stationen und Wasserquellen; aber ein großer Teil der Gegend war mit einer ganzjährigen Schneeschicht und festen und jungen Gletschern bedeckt. Winde aus dem Süden kollidierten mit den starken Nordwestwinden, die um Olympus Mons herum kamen, und die Schneestürme konnten sehr heftig sein. Die protoglaziale Zone zog sich von der Höhenlinie von sechs oder sieben Kilometern bis fast zum Fuß der großen Vulkane hin. Das war kein guter Ort zum Bauen und auch nicht als Versteck für getarnte Wagen.
Sie fuhren knapp über die Sastrugi und an zähen Lavahügeln entlang, die als Straßen dienten, nach Norden am Tharsis-Vulkan vorbei, der ungefähr so groß war wie Mauna Loa, obwohl er unter dem aufragenden Ascraeus wie ein Aschenkegel wirkte. In der nächsten Nacht entfernten sie sich vom Schnee und wandten sich nach Nordosten über Echus Chasma. Am Tage versteckten sie sich unter der riesigen Ostwand von Echus, nur ein paar Kilometer nördlich des alten Hauptquartiers von Sax auf der Spitze der Klippe.
Die Ostwand von Echus Chasma war die höchste Stelle der Großen Böschung — eine drei Kilometer hohe Klippe, die tausend Kilometer schnurgerade nach Norden und Süden verlief. Die Areologen stritten sich noch über ihre Entstehung, da keine normale Kraft der Geländeformation imstande schien, sie geschaffen zu haben. Sie war einfach ein Bruch im Gewebe der Dinge, der den Boden von Echus Chasma von dem Hochplateau Lunae Planum trennte. Michel hatte in seiner Jugend Yosemite Valley besucht und erinnerte sich noch an diese hochragenden Granitklippen. Aber die Wand, die hier vor ihnen stand, war so lang wie der ganze Staat Kalifornien und auf dem größten Teil dieser Strecke drei Kilometer hoch, eine vertikale Wand, deren massive Flächen von rotem Fels kahl nach Westen blickten und bei jedem Sonnenuntergang wie die Flanke eines Kontinents erglühten.
An ihrem nördlichen Ende wurde diese unglaubliche Klippe weniger hoch, und knapp über 20° Nord wurde sie von einem tiefen breiten Kanal durchschnitten, der nach Osten durchs Lunae Plateau verlief hinab zum Chryse-Becken. Dieser große Canyon war Kasei Vallis, eine der deutlichsten Manifestationen alter Überflutungen irgendwo auf dem Mars. Ein einziger Blick auf ein Satellitenfoto machte klar, daß eine sehr große Flut einstmals Echus Chasma heruntergeströmt war, bis sie eine Bresche in seiner großen Ostwand erreichte, vielleicht einen Graben. Das Wasser hatte sich durch dieses Tal direkt nach rechts gewandt und war mit phantastischer Kraft hindurchgebrochen. Dabei hatte es den Eingang bis zu einer glatten Kurve abgetragen, war über die äußeren Ufer der Biegung geschwappt und hatte an Verbindungen des Gesteins gerüttelt, bis sie ein komplexes Gitter enger Canyons bildeten. Ein zentraler Grat im Haupttal war zu einer langen Schleife einer tropfenförmigen Insel umgestaltet worden, die so hydrodynamisch wie ein Fischrücken geformt war. Das innere Ufer des fossilen Wasserlaufs wurde von zwei Canyons zerschnitten, die größtenteils nicht von Wasser berührt worden waren, gewöhnlichen Gräben, die zeigten, wie der Hauptkanal wahrscheinlich vor der Flut ausgesehen hatte. Die späteren Meteoriteneinschläge auf dem höchsten Teil des inneren Ufers hatten die Gestaltung des Terrains abgeschlossen und frische steile Krater hinterlassen.
Vom Boden aus, wenn man langsam auf den Anstieg des äußeren Ufers hinauffuhr, war es ein rundliches Tal mit dem schleifenförmigen Grat und den runden Wällen der Krater auf dem Anstieg der inneren Bank als besonders auffälligen Merkmalen. Es war eine attraktive Landschaft, die in ihrer räumlichen Pracht an die Gegend von Burroughs erinnerte. Der große Streifen des Hauptkanals hatte eben erst begonnen, sich mit fließendem Wasser zu füllen, und würde ohne Zweifel einen seichten verzweigten Strom bilden, der über Kieseisteine lief und sich jede Woche neue Betten und Inseln grub …
Aber jetzt war es der Platz für das Gefangenenlager der Sicherheit der Transnationalen. Die beiden Krater auf dem inneren Ufer waren mit Kuppeln überspannt worden, wie auch große Teile des gitterartigen Geländes auf dem äußeren Ufer und ein Teil des Hauptkanals zu beiden Seiten der geschweiften Insel. Aber nichts davon wurde je im Fernsehen gezeigt oder in den Nachrichten erwähnt. Es war nicht einmal auf den Karten eingezeichnet.
Aber Spencer war dort seit Baubeginn gewesen, und seine unregelmäßigen Berichte nach draußen hatten ihnen mitgeteilt, wofür die neue Stadt dienen sollte. In diesen Tagen wurden fast alle Personen, die man auf dem Mars für schuldig an Verbrechen befunden hatte, zum Asteroidengürtel hinausgeschickt, um ihre Strafen in Bergbauschiffen abzuarbeiten. Aber es gab Leute in der Übergangsbehörde, die ein Gefängnis auf dem Mars selbst haben wollten, und das war Kasei Vallis.
Außerhalb des Eingangs zum Tal versteckten sie ihre Wagen in einer Ansammlung von Felsblöcken, und Cojote studierte Wetterberichte. Maya war wütend wegen der Verzögerung, aber Cojote winkte ab. Er sagte ihr strikt: »Dies wird nicht einfach werden und ist überhaupt nur unter bestimmten Umständen möglich. Wir müssen darauf warten, daß einige Verstärkungen eintreffen, und müssen auch das Wetter abwarten. Das ist etwas, das Spencer und Sax selbst mit zu planen geholfen haben und ist sehr geschickt, aber die Anfangsbedingungen müssen stimmen.«
Er ging wieder zu seinen Bildschirmen, ignorierte sie alle und sprach mit sich selbst oder dem Alchemisten des Schirms. Sein hageres dunkles Gesicht flimmerte in deren Licht. Wirklich ein Alchemist, dachte Michel, der wie über einer Retorte oder einem Tiegel bei der Arbeit zur Umwandlung des Planeten vor sich hin murmelt… eine große Kraft. Und jetzt auf das Wetter konzentriert. Offenbar hatte er einige vorherrschende Muster in dem Strahlstrom entdeckt, die an bestimmte Punkte in der Landschaft gebunden waren. »Es ist eine Frage der vertikalen Skala«, sagte er schroff zu Maya, die ihn mit all ihren Fragen allmählich wie Randolph nervte. »Dieser Planet hat von oben bis unten eine Spanne von dreißig Kilometern! Darum gibt es starke Winde.«
»Wie der Mistral«, meinte Michel.
»Ja. Katabatische Winde. Und einer der stärksten fällt hier von der Großen Böschung herunter.«
Aber die vorherrschenden Winde in der Gegend kamen aus dem Westen. Wenn diese die Echus-Klippe trafen, bildeten sich hochreichende Aufwinde; und Flieger in Echus Overlook nutzten sie sportlich und flogen jeden Tag in Segelflugzeugen oder Schwingengleitern.
Aber ziemlich häufig traten zyklonische Systeme dazu und brachten Wind aus dem Osten. Wenn das geschah, flutete kalte Luft über das von Schnee bedeckte Lunae-Plateau, vertrieb den Schnee und wurde dichter und kälter, bis sie über das ganze Drainagegelände durch Kerben im Rand der großen Klippe hinausgedrückt war und die Winde wie eine Lawine hinunterstürzten.
Cojote hatte diese katabatischen Winde schon einige Zeit studiert, und seine Berechnungen hatten ihn zu der Annahme geführt, daß bei den richtigen Bedingungen — scharfe Temperaturgegensätze, eine entwickelte Sturmbahn von Ost nach West über das Plateau — sehr leichte Eingriffe an bestimmten Stellen bewirken würden, daß die abwärts führenden Strömungen zu vertikalen Taifunen würden, die ins Echus Chasma hinabrasten und mit immenser Gewalt nach Norden und Süden fegten. Als Spencer ihnen Art und Zweck der neuen Siedlung in Kasei Vallis darlegte, hatte Cojote sofort beschlossen, die Mittel zu schaffen, um solche Eingriffe in das Wettergeschehen vorzunehmen.
»Diese Idioten haben ihr Gefängnis in einem Windkanal gebaut«, knurrte er als Antwort auf Mayas Frage. »Also bauen wir ein Gebläse. Oder vielmehr einen Schalter, um das Gebläse anzustellen. Wir vergraben einige Verteiler von Silbernitrat oben auf der Klippe. Große monströse Düsenschläuche. Dann einige Laser, um die Luft genau über der Strömungszone zu verbrennen. Das erzeugt einen ungünstigen Druckgradienten, der die normale Aufwärtsströmung so dämmt, daß sie stärker ist, wenn sie schließlich durchbricht. Und Sprengstoffe auf der ganzen Strecke von der Klippenfront herunter, die Staub in den Wind drücken und ihn schwerer machen. Schaut, Wind erwärmt sich beim Fall, und das würde ihn etwas verlangsamen, wenn er nicht so voller Schnee und Staub wäre. Ich bin fünfmal von dieser Klippe hinuntergeklettert, um das alles einzurichten. Ihr hättet das sehen sollen. Habe auch einige Gebläse angebracht. Natürlich ist die Energie des ganzen Apparates vernachlässigbar gegenüber der Gesamtenergie des Windes; aber sensitive Abhängigkeit ist der ganze Schlüssel für Wetter, und unsere Computersimulation hat die Punkte für die Ausgangsbedingungen ermittelt, die wir brauchen. So hoffen wir jedenfalls.«
»Du hast es nicht versucht?« fragte Maya.
Cojote starrte sie an. »Wir haben es im Computer ausprobiert. Es funktioniert prima. Wenn wir die Anfangsbedingungen von zyklonischen Winden mit einhundertfünfzig Kilometern in der Stunde über Lunae bekommen, wirst du sehen.«
»Sie müssen in Kasei über diese katabatischen Winde Bescheid wissen«, erklärte Randolph.
»Aber ja. Nur welche Winde nach ihren Berechnungen einmal in tausend Jahren auftreten, glaube ich, können wir jederzeit erzeugen, wenn die Anfangsbedingungen Spitze sind.«
»Guerilla-Klimatologie«, sagte Randolph mit Stielaugen. »Wie nennst du das? Klimatage? Angriffsmeteorologie?«
Cojote tat, als ob er ihn nicht hörte, obwohl Michel ein kurzes Grinsen zwischen seinen Haarsträhnen bemerkte.
Aber dieses System konnte nur bei den richtigen Anfangsbedingungen funktionieren. Man konnte weiter nichts tun als dazusitzen und zu warten und hoffen, daß sie sich entwickelten.
Während dieser langen Stunden hatte Michel den Eindruck, daß Cojote sich durch seinen Bildschirm hindurch in den Himmel schleudern mochte. »Los!« drängelte der drahtige kleine Mann mit halber Stimme, die Nase gegen das Glas gepreßt. »Stoß zu, stoß zu! Komm über den Berg, du verdammter Wind! Pack zu und dreh dich zu einer dichten Spirale! Mach schon!«
Er ging durch den verdunkelten Wagen, während die anderen zu schlafen suchten, und murmelte: »Schau, ja schau!« und zeigte auf Merkmale auf Satellitenfotos, die keiner der anderen sehen konnte. Er saß da und brütete über meteorologische Daten, kaute Brot und fluchte. Er pfiff wie ein Wind. Michel lag auf der benachbarten Pritsche, den Kopf in die Hand gestützt, und sah fasziniert zu, wie der wilde Mann durch den düsteren Wagen schlich, eine kleine, im Schatten liegende, eigenbrötlerische schamanenhafte Gestalt. Und der bärenhafte Brocken ihres Gefangenen hatte ein Auge offen und war ebenso wach, um diese nächtliche Szene zu erleben. Er rieb sich mit hörbarem Kratzen sein struppiges Kinn und schaute zu Michel, als das Flüstern weiter ging: »Los, verdammt, mach schon … Puste wie ein Oktoberorkan!«
Schließlich, am Ende des zweiten Tages ihres Wartens, stand Cojote auf und reckte sich wie eine Katze. »Es ist soweit. Die Winde sind da.«
Während des langen Wartens waren einige Rote von Mareotis gekommen, um bei der Befreiung zu helfen; und Cojote hatte einen Angriffsplan mit ihnen ausgearbeitet, der auf Informationen beruhte, die Spencer geschickt hatte. Sie würden sich teilen und aus verschiedenen Richtungen auf die Stadt losgehen. Michel und Maya sollten einen Wagen auf das zerklüftete Terrain des äußeren Ufers fahren, wo sie sich am Fuß einer kleinen Mesa mit Sicht auf die Kuppeln der äußeren Bank verbergen konnten. Eine dieser Kuppeln barg eine medizinische Klinik, wo Sax während einiger Zeit festgehalten wurde — laut Spencer ein Ort mit angenehm geringer Sicherheitsstufe, wenigstens im Vergleich mit dem Gefängniskomplex der inneren Bank, wo Sax zwischen Sitzungen in der Klinik steckte. Sein Stundenplan war schwankend; und Spencer konnte nicht sicher sein, an welcher Stelle Sax sich zu einer bestimmten Zeit befinden würde. Als also der Wind kam, sollten Michel und Maya in die Kuppel der äußeren Bank eindringen und Spencer treffen, der bereit sein würde, sie zur Klinik zu führen. Der größere Wagen mit Cojote, Kasei, Nirgal und Art Randolph sollte auf der inneren Bank mit einigen Roten zusammentreffen. Andere Wagen der Roten würden ihr Bestes tun, damit der Angriff wie eine Attacke großen Stils aus verschiedenen Richtungen, besonders dem Osten, aussah. »Wir werden die Rettung schaffen«, sagte Cojote und machte ein finsteres Gesicht vor seinen Schirmen. »Der Wind wird den Angriff machen.«
Also saßen am nächsten Morgen Maya und Michel in ihrem Wagen und warten auf den Wind. Sie konnten hinab über die äußere Bank bis zu dem gebogenen Grat blicken. Während des Tages konnten sie in die grünen Blasenwelten schauen unter den Kuppeln der äußeren Bank und dem Grat — kleine Terrarien, die den roten sandigen Streifen des Tals unter sich hatten und durch klare Verbindungsröhren und einige gewölbte Brückenrohre verbunden waren. Es sah aus wie Burroughs vor vierzig Jahren, erstes Teilstück einer Stadt, die einst ein großes wüstes Trockental ausfüllen sollte.
Michel und Maya schliefen, aßen, saßen da und beobachteten. Maya marschierte im Wagen auf und ab. Sie war jeden Tag nervöser geworden und trabte jetzt wie eine Tigerin im Käfig, die das Blut einer Mahlzeit gerochen hat. Statische Elektrizität sprang von ihren Fingerspitzen, als sie Michels Nacken streichelte, so daß ihre Berührung schmerzte. Es war unmöglich, sie zu beruhigen. Michel stand hinter ihr, wenn sie im Fahrersitz Platz genommen hatte, und massierte ihr Schultern und Nacken, wie sie es bei ihm getan hatte. Aber es war, als wollte man Holzklötze kneten, und er spürte, wie seine Arme bei der Berührung steif wurden.
Ihre Gespräche waren unzusammenhängend und planlos, in freien Assoziationssprüngen. Am Nachmittag merkten sie, daß sie eine Stunde lang über die Tage in Underhill gesprochen hatten — über Sax, Hiroko und sogar Frank und John.
»Erinnerst du dich, wie eine der überwölbten Kammern zusammenbrach?«
»Nein«, sagte Maya ärgerlich. »Das tue ich nicht. Erinnerst du dich an die Zeit, da Ann und Sax einen großen Streit über das Terraformen gehabt haben?«
»Nein«, sagte Michel seufzend. »Das kann ich nicht sagen.«
Sie konnten so lange Zeit vor- und zurückgehen, bis es schien, als ob sie in völlig verschiedenen Underhills gelebt hätten. Wenn sie sich beide an ein Ereignis erinnerten, war das ein Grund zum Jubeln. Bei allen Ersten Hundert wurden die Erinnerungen lückenhaft, wie Michel bemerkt hatte; und ihm schien, daß die meisten sich besser an ihre Kindheit auf der Erde erinnerten als ihre ersten Jahre auf dem Mars. Nun ja, sie erinnerten sich an ihre eigenen größten Vorkommnisse und den allgemeinen Verlauf der Story. Aber die kleinen Ereignisse, die einem irgendwie in den Sinn kamen, waren für jeden verschieden. Das Versiegen und Wiederauftauchen von Erinnerungen warfen allmählich große klinische und theoretische Probleme in der Psychologie auf, verschlimmert durch die vorher nie dagewesene Langlebigkeit, die jetzt erreicht war. Michel hatte ab und zu etwas in der Literatur darüber gelesen, und obwohl er längst die klinisch-therapeutische Praxis aufgegeben hatte, stellte er seinen alten Kameraden immer noch Fragen wie eine Art von informellem Experiment, wie jetzt mit Maya. »Erinnerst du dich an dies, erinnerst du dich an das? Nein, nein, nein. An was erinnerst du dich denn?«
Die Art, wie Nadia uns herumgeschubst hat, sagte Maya, und er mußte lächeln. Die Art, wie sich die Bambusfußböden anfühlten. Und erinnerst du dich daran, wie sie über die Alchemisten schimpfte? Warum nicht? sagte sie. So ging es immer weiter, bis es schien, als ob die privaten Underhills, in denen sie gelebt hatten, getrennte Universen gewesen wären, Riemannsche Räume, die sich nur in der Ebene der Unendlichkeit schnitten, während jeder von ihnen derweilen in dem langen Bereich seines oder ihres Idiokosmos dahinwanderte.
Schließlich sagte Maya finster: »Ich erinnere mich kaum an etwas davon. Ich schaffe es kaum noch, an John zu denken. Und auch an Frank. Ich versuche es gar nicht mehr. Und dann wird irgend etwas irgendwie ausgelöst, und ich bin für alles andere verloren, während ich daran denke. Erinnerungen dieser Art sind so stark, als ob das, an was man sich erinnert, erst vor einer Stunde passiert wäre! Oder als ob es sich wiederholen würde.« Sie erschauderte unter seinen Händen. »Ich hasse das. Weißt du, was ich meine?«
»Natürlich. Memoire involuntaire. Aber ich erinnere mich auch, daß mir genau dasselbe passiert ist, als wir in Underhill lebten. Es liegt also nicht einfach am Altwerden.«
»Nein, es ist das Leben, was wir nicht vergessen können. Dennoch kann ich kaum Kasei anschauen … «
»Ich weiß. Diese Kinder sind seltsam. Hiroko ist seltsam.«
»Das ist sie. Aber warst du damals glücklich? Nachdem du mit ihr abgehauen bist?«
»Ja.« Michel dachte daran zurück und bemühte sich sehr, sich zu erinnern. Erinnerung war sicher das schwache Glied in der Kette… »Ja, ich war es sicher. Es kam darauf an, Dinge zuzugeben, die ich in Underhill zu unterdrücken gesucht hatte. Daß wir Tiere sind. Daß wir sexuelle Kreaturen sind.« Er knetete ihre Schultern fester denn je, und sie ließ sie unter seinen Händen rollen.
»Ich brauche mich nicht daran zu erinnern«, sagte sie mit kurzem Lachen. »Und hat Hiroko dir das zurückgegeben?«
»Ja, aber nicht bloß Hiroko. Evgenia, Rya — wirklich sie alle. Nicht direkt… Nun ja, manchmal auch direkt. Aber nur insoweit, daß wir zugaben, Körper zu haben, Körper zu sein. Wir arbeiteten zusammen, sahen und berührten einander. Ich brauchte das. Ich hatte ernstlich Schwierigkeiten. Und sie schafften es, das auch mit dem Mars zu verbinden. Du schienst nie mit so etwas Probleme gehabt zu haben, ich aber hatte sie wirklich. Ich war krank, Hiroko hat mich gerettet. Für sie war es sinnvoll, unser Heim und unsere Nahrung aus dem Mars zu gewinnen. Eine Art von Liebe für ihn oder Befruchtung oder Geburtshilfe — auf jeden Fall ein sinnlicher Akt. Dies war’s, was mich gerettet hat.«
»Das und ihre Körper. Die von Hiroko, Evgenia und Rya.« Sie sah ihn über die Schulter mit einem tückischen Grinsen an, und er lachte. »Ich wette, daß du dich sehr gut erinnerst.«
»Gut genug.«
Es war Mittag, aber im Süden auf dem langen Hals von Echus Chasma wurde der Himmel dunkel. Michel sagte: »Vielleicht kommt es endlich.«
Wolken standen über der Großen Böschung, eine hochragende Masse von Cumulunimbus-Wolken, deren schwarze Unterseiten von Blitzen flimmerten und die drei Gipfel der Klippe streiften. Die Luft im Chasma war diesig, und die Kuppeln von Kasei Vallis zeichneten sich scharf unter diesem Dunst ab. Kleine Blasen klarer Luft standen über den Gebäuden und merkwürdig ruhigen Bäumen wie gläserne Briefbeschwerer, die man auf die windige Wüste geworfen hatte. Sie würden warten müssen, selbst wenn die Winde kämen. Maya stand auf und marschierte wieder hin und her. Sie strahlte Energie aus, bückte sich, aus den niedrigen Fenstern zu blicken, und murmelte etwas auf russisch. Böen kamen auf und trafen den Wagen. Sie pfiffen und strichen über den gebrochenen Fels am Fuß der kleinen Mesa hinter ihnen.
Mayas Ungeduld machte Michel nervös. Es war wirklich so, als ob man mit einem wilden Tier eingesperrt wäre. Er ließ sich in den Fahrersitz fallen und schaute zu den Wolken auf, die über die Böschung rollten. Die geringe Schwere des Mars erlaubte, daß Gewitterköpfe sich gewaltig hoch in den Himmel auftürmten. Und diese immensen weißen Massen mit amboßartigen Köpfen machten zusammen mit der gewaltigen Klippenfront darunter, daß die Welt surrealistisch groß aussah. Sie waren Ameisen in einer solchen Landschaft. Sie waren selbst die kleinen roten Leute.
Sicher würden sie in dieser Nacht den Rettungsversuch unternehmen. Sie hatten so schon zu lange warten müssen. Bei einer ihrer rastlosen Runden blieb Maya wieder hinter ihm stehen, ergriff die Muskeln zwischen seinen Schultern und seinem Nacken und drückte sie. Das verursachte Schocks an seinem Rücken und Flanken und dann an der Innenseite seiner Oberschenkel. Er krümmte sich in ihrer Umklammerung und wandte sich in dem Drehsessel so um, daß er ihr seine Arme um die Taille schlingen und sein Ohr gegen ihr Brustbein drücken konnte. Sie bearbeitete weiter seine Schultern, und er fühlte, wie Puls und Atem sich beschleunigten. Sie beugte sich herüber und küßte ihn oben auf den Kopf. Sie kamen sich immer näher, bis sie eng aneinandergedrängt waren. Maya knetete die ganze Zeit seine Schultern. Lange Zeit verharrten sie so.
Dann zogen sie sich in den Wohnraum des Wagens zurück und liebten sich. Voller Erwartung, wie sie waren, stürzten sie sich mit voller Intensität hinein. Ohne Zweifel hatte das Gespräch über Underhill dies ausgelöst. Michel erinnerte sich lebhaft an sein unerlaubtes Begehren für Maya in jenen Jahren. Er vergrub sein Gesicht in ihrem Silberhaar und versuchte, mit ihr zu verschmelzen und tief in sie einzutauchen. Als ein katzenhaftes Tier, das sie war, stieß sie mit ebenso wilder Angriffslust zurück, um ihn tief in sich aufzunehmen. Diese Anstrengung machte ihn völlig fertig. Es war gut, daß sie unter sich waren, denn ihr überraschtes Hingerissensein äußerte sich als eine Folge von Stöhnen und Ächzen und in einem geradezu elektrischen Sinnesrausch.
Danach lag er auf ihr, noch in ihr drin; und sie hielt sein Gesicht und schaute ihn an. »In Underhill habe ich dich geliebt«, sagte er.
»In Underhill habe auch ich dich geliebt«, sagte sie träge. »Wirklich. Ich habe nie etwas dazu getan, weil ich mich töricht gefühlt hätte gegenüber John und Frank. Aber ich habe dich geliebt. Darum war ich so ärgerlich auf dich, als du verschwandest. Du warst mein einziger Freund. Du warst der einzige, mit dem ich ehrlich sprechen konnte. Du warst der einzige, der mir wirklich zugehört hat.«
Michel erinnerte sich und schüttelte den Kopf. »Ich habe mich damals nicht besonders gut aufgeführt.«
»Vielleicht nicht. Aber du hast dich um mich gekümmert, nicht wahr? Es war nicht bloß deine Aufgabe.«
»O nein, ich habe dich geliebt, ja. Maya, es war nicht bloß eine Aufgabe. Nicht für irgend wen oder irgend etwas.«
»Schmeichler!« sagte sie und stieß ihn an. »Du hast das immer getan. Du versuchtest, all die schrecklichen Dinge, die ich tat, bestmöglich zu verstehen.« Sie lachte kurz.
»Ja. Aber die waren gar nicht so schrecklich.«
»Sie waren es.« Sie zog den Mund zusammen. »Aber dann bist du einfach verschwunden!« Sie schlug ihn leicht ins Gesicht. »Du hast mich verlassen!«
»Das ohnehin. Ich mußte es.«
Ihr Mund zog sich bitter zusammen, und sie schaute an ihm vorbei in den tiefen Abgrund all ihrer Jahre. Sie glitt die Sinuskurve ihrer Stimmungen hinunter in etwas noch Finstereres und Tieferes. Michel beobachtete das mit angenehmer Resignation. Er war lange Zeit glücklich gewesen und konnte an ihrem Mienenspiel erkennen, daß er, wenn er mit ihr zusammenbliebe, sein Glück — oder mindestens dies spezielle Glück — für sie eintauschen würde. Sein ›Optimismus durch Politik‹ würde anstrengender werden, und er würde jetzt eine andere Antinomie in seinem Leben auszugleichen haben, die so auseinanderstrebend war wie die Provence und der Mars. Das war einfach Maya und Maya.
Sie lagen nebeneinander, jeder in seine Gedanken vertieft, blickten nach draußen und fühlten, wie der Rover über seinen Stoßdämpfer rumpelte. Der Wind nahm zu, und der Staub strömte jetzt von Echus Chasma und dann Kasei Vallis herunter in einer gespenstischen Nachahmung der großen Flut, die einst den Kanal ausgetieft hatte. Michel richtete sich auf, um die Schirme zu kontrollieren. »Über zweihundert Kilometer in der Stunde.« Maya seufzte tief. Die Winde waren in alten Zeiten schneller gewesen, aber bei einer so viel dickeren Atmosphäre täuschten diese geringen Geschwindigkeiten. Windstöße waren jetzt kräftiger als die alten inhaltslosen Strömungen.
Sicher würden sie heute abend hineingehen. Es kam nur darauf an, das Signal von Cojote zu erhalten. Also legten sie sich zusammen hin und warteten, angespannt und entspannt zugleich. Sie massierten einander gründlich, um die Zeit zu vertreiben und die Spannung zu mildern. Michel staunte immer noch über die katzenartige Anmut von Mayas langem, muskulösem Körper, der nach Jahren alt war, aber in fast jeder Hinsicht derselbe wie immer. So schön wie je.
Dann färbte endlich der Sonnenuntergang die dunstige Luft und die monumentalen Wolken im Osten, die jetzt die Front der Klippe bedeckten. Sie standen auf, wuschen sich ab mit Schwämmen, verzehrten eine Mahlzeit, kleideten sich an und nahmen vorne im Rover Platz. Als die Sonne wie Quarz verschwand und das stürmische Zwielicht auch, wurden sie wieder nervös.
Im Dunkeln war der Wind ein bloßes Geräusch und ein unregelmäßiges Erzittern des Rovers auf seinen harten Stoßdämpfern. Böen trafen den Wagen so heftig, daß er manchmal mehrere Sekunden lang gegen den vollen Anprall nach unten gepreßt wurde und wie ein Tier, das sich aus dem Grund eines Stroms befreien will, auf und ab hüpfte. Dann ließen die Windstöße nach, und der Wagen ruckte wild empor. Maya fragte: »Werden wir hineingehen können?«
»Hmm.« Michel war vor einigen schweren Stößen draußen gewesen, aber im Dunkeln konnte man nicht sicher sein, ob es noch schlimmer wurde oder nicht. Gewiß machte es einen solchen Eindruck; und das Anemometer verzeichnete jetzt Windstöße von zweihundertdreißig Kilometern in der Stunde. Aber im Lee ihrer kleinen Mesa war es unklar, ob diese echte Maxima darstellten oder nicht.
Er kontrollierte den Stand des feinen Abriebs und war nicht überrascht festzustellen, daß es jetzt auch ein ausgewachsener Staubsturm war. Maya sagte: »Laß uns näher heranfahren! Das bringt uns schneller hin und macht es auch leichter, den Wagen wiederzufinden.«
»Eine gute Idee.«
Sie nahmen in den Fahrersitzen Platz und brachen auf. Außerhalb des Schutzes der Mesa war der Wind schrecklich. Einmal wurde das Hüpfen so stark, daß sie fürchteten umgeworfen zu werden; und wenn sie den Wind von der Seite bekommen hätten, wäre das leicht möglich gewesen. So, mit Rückenwind, rollten sie mit fünfzehn Kilometern in der Stunde dahin, wenn es zehn hätten sein sollen; und der Motor brummte ärgerlich, als sie den Wagen bremsten, damit er nicht noch schneller wurde. »Das ist zu viel Wind, nicht wahr?« fragte Maya.
»Ich glaube nicht, daß Cojote viel Kontrolle über ihn hat.«
»Guerillaklimatologie«, sagte Maya mürrisch. »Der Mann ist ein Spion, dessen bin ich sicher.«
»Ich denke das nicht.«
Die Kameras zeigten nichts als ein Sternenloses schwarzes Tosen. Der Computer des Wagen führte sie durch Koppelnavigation; und auf der Karte des Bildschirms wurden sie innerhalb zwei Kilometern Entfernung von der am weitesten südlich gelegenen Kuppel der äußeren Bank verzeichnet. »Von hier aus sollten wir lieber gehen«, sagte Michael.
»Wie werden wir den Wagen wiederfinden?«
»Wir müssen den Ariadnefaden benutzen.«
Sie zogen sich an und gingen in die Schleuse. Als die Außentür auf glitt, wurde die Luft sofort hinausgesaugt und versetzte ihnen einen kräftigen Stoß. Der Wind brauste um die Tür.
Sie traten aus der Schleuse und wurden von schweren Stößen in den Rücken getroffen. Einer davon warf Michel auf Hände und Knie, und er konnte durch den Staub nicht bis Maya sehen, die sich neben ihm in der gleichen Position befand. Er langte zurück in die Schleuse und nahm die Spule mit dem Faden in die Hand. Mit der anderen hielt er Maya. Er klemmte sich die Spule an den Oberarm.
Durch vorsichtiges Probieren merkten sie, daß sie stehen konnten, wenn sie sich tief gebückt vorwärts bewegten, die Helme auf Taillenhöhe, die Hände erhoben und bereit, sich zu packen, falls sie umgeworfen würden. Sie stolperten langsam geradeaus und ließen sich fallen, wenn starke Böen es unmöglich machten zu stehen. Der Boden unter ihnen war gerade eben zu sehen; und es war durchaus möglich, mit dem Knie an einen Stein zu stoßen. Cojotes Wind war tatsächlich zu stark heruntergekommen. Aber dagegen konnte man nichts machen. Und sicher würden die Bewohner der Kasei-Kuppel nicht draußen herumlaufen.
Eine Bö warf sie wieder zu Boden, und Michel ließ den Wind über sich tosen. Es kostete Kraft, nicht weggerollt zu werden. Sein Armband war mit Mayas durch eine Sprechleitung verbunden, und er fragte: »Maya, geht es dir gut?«
»Ja. Und dir?«
»Ich bin in Ordnung.«
Allerdings schien er einen kleinen Riß im Handschuh über dem Daumenballen zu haben. Er ballte die Faust und fühlte, wie die Kälte an seinem Handgelenk emporkroch. Nun, es würde, so wie es aussah, nicht gleich eine Erfrierung geben oder Verletzung durch Druck. Er holte ein Anzugspflaster aus dem Fach seines Armbandes und klebte es fest. »Ich denke, wir sollten besser so kriechen.«
»Wir können nicht zwei Kilometer weit kriechen.«
»Das können wir, wenn wir müssen.«
»Aber ich denke nicht, daß wir das machen. Bleib einfach geduckt und sei bereit, dich fallen zu lassen!«
»Okay.«
Sie standen wieder auf, bückten sich tief und schlurften behutsam vorwärts. Schwarzer Staub flog mit verblüffender Geschwindigkeit an ihnen vorbei. Michels Navigationsbild erhellte seine Visierscheibe unten vor dem Mund. Die erste Blasenkuppel war noch einen Kilometer entfernt, und zu seiner Überraschung zeigten die grünen Ziffern der Uhr 23:15:16 an. Sie waren schon eine Stunde draußen. Das Heulen des Windes machte es schwer, Maya zu hören, selbst mit dem Interkom direkt am Ohr. Drüben auf der inneren Bank würden Cojote und die anderen und auch die roten Gruppen vermutlich bei ihrem Überfall auf die Wohnbereiche sein. Aber es gab keine Möglichkeit, das festzustellen. Sie mußten darauf vertrauen, daß der scharfe Wind diesen Teil der Unternehmung nicht aufgehalten oder zu sehr verlangsamt hatte.
Es war eine harte Arbeit, sich tief gebückt voranzuschieben, durch die Telefonleitung verbunden. Es ging immer weiter, bis Michels Schenkel brannten und der untere Rücken schmerzte. Endlich zeigte das Navigationsbild an, daß sie die südlichste Kuppel unmittelbar vor sich hatten. Sie konnten sie aber nicht ausmachen. Der Wind wurde noch stärker; und sie krochen die letzten paar hundert Meter über schmerzhaft hartes Gestein. Die Ziffern der Uhr blieben bei 24:00:00 stehen. Schon kurz danach stießen sie gegen die Betonkappe des Kuppelfundaments. »Schweizer Zeitplanung«, flüsterte Michel. Spencer erwartete sie während des Zeitschlupfes; und sie hatten gedacht, daß sie an der Mauer hätten warten müssen, bis er käme. Er langte hoch und legte eine Hand leicht auf die Plastikhaut. Die war sehr straff und pulsierte mit der heranbrausenden Luft. »Bereit?«
»Ja«, sagte Maya mit gepreßter Stimme.
Michel holte aus seiner Schenkeltasche ein kleines Luftgewehr. Er fühlte, wie Maya dasselbe tat. Die Gewehre hatten verschiedene Zusätze, vom Nageleinschlagen bis zu Impfungen. Jetzt hofften sie, damit die zähen und elastischen Fasern der Kuppelhaut zu durchstoßen.
Sie trennten die Telefonleitung zwischen sich und drückten beide ihre Waffen gegen die vibrierende unsichtbare Wand. Mit einem Stoß der Ellbogen schössen sie zugleich.
Nichts geschah. Maya steckte sich die Sprechleitung wieder in ihr Armband. »Vielleicht werden wir es aufschlitzen müssen.«
»Kann sein. Laß uns die beiden Waffen zusammentun und es noch einmal versuchen! Dieses Material ist kräftig, aber mit dem Wind … «
Sie trennten sich wieder und versuchten es noch einmal. Ihre Arme wurden über die Einfassung geschleudert, und sie prallten hart gegen die Betonmauer. Es folgte ein lauter Knall und dann ein schwächerer, danach ein zunehmendes Getöse und eine Reihe von Explosionen. Alle vier Schichten der Kuppelhaut blätterten ab zwischen den zwei Stützpfeilern und vielleicht entlang der ganzen Südseite, wodurch sicher das ganze Ding explodieren würde. Staub flog zwischen die schwach erleuchteten Gebäude vor ihnen. Fenster wurden dunkel, als Häuser ihre Lichter verloren. Manche schienen infolge des raschen Drucksturzes die Fenster einzubüßen, obwohl es nirgends so schlimm war, wie es einmal hätte sein können.
»Bist du okay?« fragte Michel über das Interkom. Er hörte, wie Maya den Atem durch die Zähne preßte. »Ich hab mir den Arm verletzt«, sagte sie. Über dem Brausen des Windes konnten sie den Alarm klingeln hören. »Laß uns Spencer finden!« sagte sie rauh. Sie richtete sich auf und wurde heftig über die Einfassung gestoßen. Michel folgte rasch, fiel drinnen hart hin und rollte gegen sie. »Los!« sagte sie. Sie stolperten in die Gefängnisstadt des Mars.
In der Kuppel herrschte das Chaos. Staub machte die Luft zu einer Art von schwarzem Brei, der in einem phantastisch schnellen Gießbach durch die Straßen brauste, so laut, daß Michel und Maya einander kaum hören konnten, selbst wenn sie ihr Telefonkabel verbanden. Die Dekompression hatte einige Fenster und sogar eine Wand herausgedrückt, so daß die Straßen mit Glasscherben und Betonbrocken übersät waren. Sie bewegten sich mit vorsichtigen Schritten Seite an Seite vorwärts und faßten sich oft an den Händen, um ihrer Positionen sicher zu sein. Maya riet: »Versuch dein infrarotes Helmsichtgerät!«
Michel schaltete es ein. Das Bild war gespenstisch. Die explodierten Häuser glühten wie grüne Feuer.
Sie kamen zu dem großen Zentralgebäude, in dem Sax nach Spencers Auskunft sein würde, und fanden, daß es auch an einer ganzen Wand hellgrün strahlte. Sie hofften, daß es Panzerwände aufwies zum Schutz der unterirdischen Klinik, wohin nach Spencers Aussage Sax gebracht worden war. Falls nicht, könnte ihr Rettungsversuch ihren Freund schon getötet haben. Das war alles durchaus möglich, urteilte Michel. Die über dem Boden befindlichen Stockwerke des Gebäudes waren Ruinen.
Und es war ein Problem, in die unteren Etagen zu gelangen. Vermutlich gab es einen Treppenschacht, der als Notschleuse diente; aber der war nicht leicht zu finden. Michel schaltete auf die allgemeine Frequenz und hörte mit, wie eine wilde Diskussion durch das Tal tobte. Die Kuppel über dem kleineren der zwei Krater auf der inneren Bank war weggeblasen worden, und es waren Hilferufe zu hören. »Wir wollen uns verstecken und sehen, ob jemand herauskommt«, sagte Maya über Telefon.
Sie legten sich hinter einer Wand hin und warteten, etwas vor dem Wind geschützt. Dann ging vor ihnen eine Tür auf, und Gestalten in Schutzanzügen rannten die Straße hinunter und verschwanden. Als sie fort waren, eilten Maya und Michel zu der Tür und traten ein.
Es war ein Korridor, dekomprimiert, aber die Beleuchtung brannte, und ein Paneel an einer Wand zeigte rote Lichter. Das war eine Notschleuse. Schnell schlossen sie die äußere Tür und setzten den kleinen Raum wieder unter Druck. Sie standen vor der inneren Tür und sahen sich durch staubige Visierscheiben an. Michel wischte seine mit einem Handschuh ab und zuckte die Achseln. Vorher im Rover hatten sie über diesen Moment diskutiert. Er war die Crux des Unternehmens; aber sie hatten nicht alles voraussehen oder planen können. Und jetzt war der Augenblick da, und das Blut raste in Michels Adern, als ob es von dem Wind draußen angetrieben würde.
Sie trennten die Telefonleitung wieder und zogen die Pistolen aus den Schenkeltaschen, die ihnen Cojote gegeben hatte. Michel schoß auf das Türschloß, und es ging zischend auf. Sie trafen auf drei Männer in Schutzanzügen, aber ohne Helme, die verängstigt aussahen. Michel und Maya schossen auf sie. Sie stürzten und blieben mit krampfhaften Zuckungen liegen.
Sie zerrten alle drei in einen Nebenraum und schlossen sie ein. Michel überlegte, ob sie zu oft auf sie geschossen hätten. Wenn das geschah, waren Herzrhythmusstörungen oft die Folge. Sein Körper schien sich ausgedehnt zu haben, bis er den Anzug ausfüllte; und ihm war sehr warm, und er atmete schwer und stoßweise. Plötzlich wurde der Korridor dunkel. Maya stellte ihre Stirnlampe an, und sie folgten deren staubigem Lichtkegel bis zur dritten Tür rechts, wo, wie Spencer gesagt hatte, Sax sein würde. Sie war verschlossen.
Maya nahm aus ihrer Schenkeltasche eine kleine Sprengladung und brachte sie über dem Griff und Schloß an. Dann gingen sie einige Meter zurück. Als sie die Ladung zündete, prallte die Tür nach außen. Sie flog, von innen durch die Explosion angetrieben, durch die Luft. Sie stürmten hinein und fanden zwei Männer, die eilig Helme auf ihre Anzüge setzen wollten. Als sie Michel und Maya sahen, griff der eine zu einem Hüfthalfter, während der andere zu einer Pultkonsole ging. Aber behindert durch die Notwendigkeit, ihre Helme zu sichern, gelang ihnen keines von beidem, ehe sie auf sie schossen. Sie gingen zu Boden.
Maya ging zurück und schloß die Tür, durch die sie gekommen waren Sie gingen durch einen weiteren Korridor. Das war der letzte. Sie kamen zur Tür eines weiteren Raums, und Michel machte ein Zeichen. Maya hielt ihre Pistole mit beiden Händen und nickte, daß sie bereit wäre. Michel trat die Tür ein, und Maya rannte hindurch, Michel dicht hinter ihr. Da stand jemand in Schutzanzug und Helm neben etwas, das wie ein Operationstisch aussah, und arbeitete an dem Kopf eines liegenden Körpers. Maya schoß mehrere Male aus kurzer Distanz auf die stehende Person. Die krachte zu Boden wie von Faustschlägen getroffen und rollte dann über den Boden, verzerrt durch Muskelkrämpfe.
Sie eilten zu dem Mann auf dem Operationstisch. Es war Sax, obwohl Michel ihn mehr an seinem Körper als an seinem Gesicht erkannte, das wie eine Totenmaske aussah mit zwei geschwärzten Augen und einer zermalmten Nase dazwischen. Er schien mindestens bewußtlos zu sein. Sie befreiten ihn von den Fesseln. An verschiedenen Stellen seines rasierten Kopfes waren Elektroden angebracht, und Michel zuckte zusammen, als Maya alle mit einem Ruck abriß. Michel holte einen leichten Notanzug aus seiner Schenkeltasche und machte sich daran, ihn Sax über seine lahmen Beine und den Rumpf zu ziehen. Er behandelte ihn in der Eile recht grob, aber Sax stöhnte nicht einmal. Maya kam zurück und nahm aus Michels Rucksack ein kleines Kopfstück aus Stoff und einen kleinen Tank. Das schlossen sie an Saxens Anzug an und stellten diesen an.
Mayas Hand drückte das Handgelenk Michels so fest, daß er fürchtete, die Knochen würden brechen. Sie stöpselte ihr Telefonkabel wieder in sein Armband und fragte. »Ist er am Leben?«
»Ich denke, ja. Laß uns ihn hier hinausschaffen. Das können wir später feststellen.«
»Schau, was sie mit seinem Gesicht getan haben, diese Faschistenschweine!«
Die Person auf dem Boden, eine Frau, rührte sich. Maya ging hin und trat sie kräftig in den Bauch. Dann beugte sie sich vor und schaute in die Visier-Scheibe. Überrascht stieß sie einen Fluch aus. »Es ist Phyllis!«
Michel zerrte Sax aus dem Zimmer und den Korridor hinunter. Maya holte sie ein. Vor ihnen tauchte jemand auf, und Maya zielte mit ihrer Waffe, aber Michel schlug ihre Hand beiseite. Es war Spencer Jackson. Er erkannte ihn an den Augen. Spencer sagte etwas. Mit ihren aufgesetzten Helmen konnten sie ihn nicht hören. Er sah das und schrie: »Gott sei Dank, daß ihr gekommen seid! Sie waren mit ihm fertig und wollten ihn umlegen.«
Maya sagte etwas auf russisch, lief zu dem Raum zurück und warf etwas hinein. Dann kam sie wieder zu ihnen geeilt. Eine Explosion jagte Rauch und Trümmer aus dem Zimmer und sprenkelte die der Tür gegenüberliegende Wand.
»Nein!« rief Spencer. »Das war Phyllis!«
»Ich weiß!« schrie Maya wütend. Aber Spencer konnte sie nicht hören.
»Los!« drängte Michel und lud sich Sax auf die Arme. Er machte Spencer ein Zeichen, sich einen Helm aufzusetzen. »Laßt uns gehen, solange wir können.« Niemand schien ihn zu hören, aber Spencer setzte einen Helm auf und half dann Michel, Sax durch den Korridor und die Treppe zum Erdgeschoß hinaufzutragen.
Draußen war es noch lauter als vorher und ebenso finster. Es rollten Gegenstände über den Boden und flogen sogar durch die Luft. Michel bekam einen Stoß gegen die Visierplatte, der ihn umwarf.
Danach war er zwei Schritte hinter allem, was geschah. Maya steckte ein Telefonkabel in Spencers Armband und zischte ihnen beiden Anweisungen zu. Ihre Stimme war hart und präzise.
Sie hoben Sax auf die Kuppelumrandung und darüber. Dann krochen sie hin und her, bis sie die eiserne Spule fanden, an der ihr Ariadnefaden saß.
Es war sofort klar, daß sie nicht in den Wind marschieren konnten. Sie mußten auf Händen und Füßen kriechen, wobei die Person in der Mitte Sax auf seinem oder ihrem Rücken tragen und die anderen beiden auf jeder Seite stützen mußten. Sie krochen immer weiter, dem Faden folgend. Ohne ihn hätten sie keinerlei Hoffnung gehabt, den Rover wiederzufinden. Mit ihm konnten sie direkt auf ihr Ziel los kriechen. Ihre Hände und Knie wurden vor Kälte taub. Michel entdeckte unter seiner Visierscheibe einen schwarzen Anflug von Staub und Sand. Irgendwann fiel ihm ein, daß die Scheibe schlimm verkratzt war.
Sie machten eine Ruhepause, als sie Sax dem nächsten Träger aufluden. Als er an der Reihe war, kniete Michel sich hin. Er japste und stützte seine Visierscheibe direkt auf den Boden, damit der Staub über ihn wegflog. Er spürte Grus auf der Zunge, bitter, salzig und schweflig — der Geschmack der Angst oder des Todes auf dem Mars — oder auch nur der seines Blutes. Das konnte er nicht sagen. Es war zu laut zum Nachdenken. Sein Hals schmerzte, er hatte Ohrensausen und rote Würmer vor Augen. Das kleine rote Volk trat endlich aus seinem peripheren Blickfeld heraus, um direkt vor ihm zu tanzen. Er merkte, daß er kurz davor stand, bewußtlos zu werden. Einmal glaubte er, sich übergeben zu müssen, was in einem Helm lebensgefährlich war. Sein ganzer Körper krampfte sich zusammen in der Bemühung, es zurückzuhalten. Ein peinigender, schweißiger arger Schmerz in allen seinen Muskeln und Zellen. Nach langem Kampf verging der Drang.
Sie krochen weiter. Es verging eine Stunde heftiger und wortloser Anstrengungen und noch eine. Michels Knie verloren ihre Taubheit zugunsten scharfer stechender Schmerzen und wurden wund. Manchmal lagen sie bloß auf dem Boden und warteten, bis eine besonders wilde Bö vorbeigezogen war. Es war frappierend, wie der Wind jetzt sogar mit orkanartigen Geschwindigkeiten in einzelnen Stößen kam. Der Wind erzeugte keinen gleichmäßigen Druck, sondern eine Reihe erschütternder Schläge. Sie mußten so lange flach daliegen und diese Hammerschläge abwarten, daß man Zeit hatte, sich zu langweilen, den Geist schweifen zu lassen und zu dösen. Es schien, als ob sie von der Morgendämmerung erwischt werden könnten. Aber dann sah er auf der Uhr in seinem Visier die Ziffern. Es war erst 3:30 früh. Sie krochen weiter.
Und dann hob sich der Faden, und sie stießen mit der Nase direkt auf die Schleusentür des Rovers, an der er befestigt war. Sie schnitten ihn ab und hievten Sax blindlings in die Schleuse. Danach kletterten sie erschöpft hinter ihm hinein. Sie schlossen die Außentür. Feiner Staub wirbelte vom Pumpengebläse herunter und trübte die grelle Luft. Michel starrte zwinkernd in die kleine Gesichtsplatte von Saxens Notkopfteil. Es war, als sähe man in eine Tauchermaske, und er bemerkte kein Anzeichen von Leben.
Als die innere Tür aufging, legten sie Helme, Stiefel und Anzüge ab, kletterten in den Innenraum und schlossen die Tür rasch vor dem Staub. Michels Gesicht war feucht; und als er es abwischte, merkte er, daß es Blut war, hellrot in dem stark erleuchteten Raum. Er hatte Nasenbluten gehabt. Trotz der hellen Lichter war seine periphere Sicht trübe, und der Raum war seltsam ruhig. Maya hatte einen üblen Schnitt über dem Schenkel, und die Haut darum war durch Erfrierungen weiß. Spencer wirkte erschöpft, unverletzt, aber sichtlich erschüttert. Er zog Sax das Kopfstück herunter und plapperte dabei: »Ihr könnt nicht einfach Leute aus diesen Sonden herausreißen. Das kann zu Hirnschäden führen. Ihr hättet warten sollen, bis ich hinzukam. Ihr wußtet nicht, was ihr tatet!«
»Wir haben nicht gewußt, ob du kommen würdest«, sagte Maya. »Du warst spät dran.«
»Nicht so sehr. Ihr hättet nicht so in Panik verfallen sollen.«
»Das sind wir nicht.«
»Warum hast du ihn dann da herausgerissen? Und warum hast du Phyllis getötet?«
»Sie war eine Peinigerin und Mörderin!«
Spencer schüttelte heftig den Kopf. »Sie war genau so eine Gefangene wie Sax.«
»Das war sie nicht.«
»Du wußtest es nicht. Du hast sie getötet, weil es so aussah. Du bist nicht besser, als sie es sind.«
»Halt den Mund! Sie sind es, die uns quälen. Du hast ihnen nicht Einhalt geboten, und darum mußten wir es tun.«
Maya fluchte auf russisch, kroch zum Fahrersitz und startete den Rover. »Schick Cojote die Nachricht!« fauchte sie Michel an.
Michel versuchte sich zu erinnern, wie er das Radio bedienen mußte. Seine Hand löste mit einem Tastendruck die komprimierte Meldung aus, daß sie Sax hätten. Dann ging er wieder zu Sax, der auf der Couch lag und schwach atmete. Er stand unter Schock. Teile seiner Kopfhaut waren rasiert worden. Seine Nase war blutig. Spencer wischte sie vorsichtig ab und schüttelte den Kopf. »Sie benutzen Infrarotstrahlen und gebündelten Ultraschall«, sagte er betrübt. »Ihn da herauszunehmen, hätte …« Er schüttelte den Kopf.
Der Puls von Sax ging schwach und unregelmäßig. Michel machte sich daran, ihm den Anzug auszuziehen. Dabei sah er, wie seine eigenen Hände sich wie schwimmende Seesterne bewegten. Sie waren von seinem Willen losgelöst. Es war, als ob er mit einem beschädigten Telemanipulator zu arbeiten versuchte. Er fühlte sich gelähmt, verletzt und schwindlig. Spencer und Maya brüllten sich wütend an und wurden richtig ärgerlich. Er konnte nicht verstehen, weshalb.
»Sie war ein Mistvieh!«
»Wenn man Menschen getötet hätte, weil sie Mistviecher waren, wärst du nie von der Ares heruntergekommen!«
»Hört auf!« sagte Michel leise zu ihnen. »Ihr beide.« Er begriff nicht ganz, was sie sagten; aber es war ganz deutlich ein Streit; und er wußte, daß er ihn schlichten müßte. Maya glühte vor Wut und Schmerz, kreischte und brüllte. Spencer brüllte zurück und zitterte am ganzen Körper. Sax lag noch im Koma. Ich werde mich wieder mit Psychotherapie beschäftigen müssen, dachte Michel und kicherte. Er arbeitete sich bis zu einem Fahrersitz durch und versuchte, die Steuerorgane zu verstehen, die unter dem schwarzen Flugstaub außerhalb der Windschutzscheibe trübe schimmerten. »Fahr los!« rief er Maya verzweifelt zu. Sie saß neben ihm und weinte heftig, beide Hände an das Lenkrad geklammert. Michel legte ihr die Hand auf die Schulter, aber sie stieß sie so heftig weg, daß er fast aus dem Sitz kippte. »Erzähle später!« sagte er. »Was geschehen ist, ist geschehen. Jetzt müssen wir nach Hause kommen.«
»Wir haben kein Zuhause«, krächzte Maya.