2.

Der Atomkrieg war schon lange vorbei, als Ross geboren wurde. Die atomare Katastrophe hatte ihren Anfang genommen, als eine Frühwarnanlage ein falsches Messungsresultat verzeichnete und dadurch eine Kettenreaktion von vernichtenden Abwehrwaffen auslöste. Der Funkverkehr war gestört, so entdeckte man die Ursache des versehentlich ausgelösten Wahnsinns erst drei Wochen später. Noch weitere drei Wochen, und die Welt wäre total entvölkert gewesen. Alle beteiligten Mächte entschieden sich für eine sofortige Beendigung des Konflikts. Von zehn Menschen überlebte jeweils nur einer das Grauen. Doch die Überlebenden resignierten nicht. Infolge des Menschenmangels erlebte die Technik einen bisher nicht annähernd für möglich gehaltenen Aufschwung, und die kühnsten utopischen Träume wurden Wirklichkeit. Allerdings wurden kaum noch Hochhäuser gebaut, sondern tiefstöckige Wohnbunker, obwohl mit einem zweiten Atomkrieg wohl kaum zu rechnen war. Aber man war dennoch vorsichtig.

Wie alle Leute, so hatte auch Ross für diesen Krieg nur sarkastische Bemerkungen übrig. Er hatte nie eine überbevölkerte Erde gekannt und war eher froh, nicht in jenem Zeitabschnitt geboren worden zu sein. Und man lebte heute nicht schlecht und arbeitete nur drei Von täglich vierundzwanzig Stunden.

Doch als Ross etwa vierzehn Jahre alt war, stellten die Wissenschaftler fest, daß die Nachwirkungen des Atomkrieges noch nicht überwunden waren. Die Kopfzahl der männlichen und weiblichen Bevölkerungsschicht ging ständig zurück; es gab weit mehr Sterbefälle als Geburten. Gelang es nicht, diese bedrohliche Entwicklung zu stoppen, so lag das Ende der Menschheit in greifbarer Nähe.

Ein Menschenleben war plötzlich ein kostbares Kleinod, dessen Preis sich im Laufe der Zeit noch erhöhen mußte. Um die Menschheit vor dem Aussterben zu retten, scheute man weder Mühe noch Kosten. Niemand war so hoffnungslos krank, als daß man nicht bis zu seinem letzten Atemzug versucht hätte, ihn doch noch zu retten. Wo noch Leben war, da gab es auch noch Hoffnung. Versagten alle Mittel, so versetzte man den Patienten in Tiefschlaf, um auf diese Weise ein zu rasches Fortschreiten der Krankheit zu unterbinden. Solange die Patienten lebten, konnte immer noch ein Medikament entdeckt werden, das ihre Rettung bedeutete.

Ross war selber Arzt und behandelte die,unheilbar erkrankten Patienten des Hospitals. Nach grundlegenden Studien hatte er sich auf ein medizinisches Gebiet spezialisiert, das der Laie als künstlichen Tiefschlaf bezeichnet. Im fünften Jahr seiner klinischen Tätigkeit entdeckte Ross, daß er an einer leukämieartigen Krankheit litt. Doktor Pellew gab ihm den Rat, sich vorübergehend,eineisen zu lassen. Diesen Prozeß überwachte Doktor Pellew persönlich, und es schien erst eine Stunde her zu sein, als er murmelte: „Gute Nacht, junger Mann, und viel Glück.“ Dann hatte er Ross eine Injektion geben lassen, die dessen Nerven unempfindlich gegen die Kälte machte.

Aber das lag wohl länger zurück.

Ross dachte an den Inhalt der Konservenbüchsen. Eine davon war schlecht, die letzte hatte er gar nicht erst probiert. Und der Haltegurt war so mürbe, daß er diesen Namen kaum noch verdiente. Eine sehr lange Zeit mußte inzwischen vergangen sein. Sogar die Tonbandstimme von Doktor Pellew klang älter und müder. Aber das war nicht so wichtig. Es spielte auch keine Rolle, daß Ross nahezu bis zum Skelett abgemagert war und jeder Zoll seines Körpers schmerzte. Hauptsache, er war geheilt!


* * *

Vorsichtig stützte er seinen Körper auf Knie und Hände. Er kroch einmal langsam um den Raum herum. Seine Kinnmuskeln schmerzten, denn er mußte plötzlich grinsen. Überhaupt war ihm seltsam lustig zumute; vielleicht würde er sogar ein Lied gesungen haben, doch leider fehlte ihm der nötige Atem. Als nächstes standen Auflockerungsübungen auf dem Plan, aber weil sich niemand blicken ließ, führte Ross nur sehr sparsame Bewegungen aus und blieb dabei auf Knien und Händen. Langsam wich die Lähmung aus seinen Muskeln, und er konnte auch wieder lachen, ohne dabei Schmerzen zu empfinden. Den Gedanken an Alice versuchte er auszuschalten. Alice mußte jetzt etwa fünfzig Jahre alt sein. Was den Altersunterschied anbetraf, so würde es noch Überraschungen geben, denn Ross war natürlich in der „Schlafperiode“ nicht gealtert.

Eine Hand gegen die Wand gestützt, konnte er schließlich aufrecht stehen. Er öffnete den Wandschrank, in dem sich seine Kleidungsstücke befanden. Ein kalter Luftzug streifte sein Gesicht und ließ die Augen tränen. Die Innenseite der Schranktür war sofort mit Rauhreif bedeckt, der sich auch auf die Kleidung niederschlug. Ross zog die Tür weiter auf, so daß die warme Luft des Zimmers hineindringen und die Kleidung trocknen konnte.

Unschlüssig kehrte Ross an sein Lager zurück. Nur merkwürdig, sehr merkwürdig, daß sich keine Menschenseele um ihn kümmerte oder wenigstens den Kopf durch die Tür steckte, um dann einen Arzt herbeizurufen. Ross war ja praktisch von den Toten auferstanden, da hätte sich doch jemand um ihn kümmern müssen! So war das bisher noch immer gewesen, wenn ein Patient aus dem Tiefschlaf und seiner Erstarrung erwachte. Ärzte, Psychiater, Schwestern… wo blieben sie nur? Statt dessen blickte ihn lediglich die Beethovenbüste an, der ein Lautsprecher die Stimme verlieh. Eine gewisse Vorsorge hatte man allerdings getroffen; so sollten ihn die Schaumgummipolster auf dem Fußboden bei einem etwaigen Sturz vor Verletzungen bewahren.

Wahrscheinlich Personalmangel, dachte Ross, und eine seltsame Angst ergriff von ihm Besitz. Wenn es so wenig Personal gab, dann konnte das Hospital seine Pforten schließen…

Ross tastete nach der Klinke. Er wußte nicht, wie er zur Tür gekommen war, sondern nur, daß ihm die Beine schmerzten.

Die Tür ließ sich mühelos öffnen, und er stolperte hinaus. Er befand sich in einer Sektion des Hospitals, die er nie zuvor gesehen hatte. Möglich, daß man diesen Flügel in der Zeit seiner Tiefschlafperiode weiter ausgebaut oder gründlich renoviert hatte.

Er sah einen kurzen, erleuchteten und blitzsauberen Korridor mit drei Türen auf jeder Seite. Zur rechten Hand bildete der Korridor eine Art Sackgasse, zur linken sah man eine durchsichtige Transparentwand. Kurz davor konnte Ross ein Schreibpult, einen leeren Stuhl und eine Aktenmappe mit blaßgrünem Deckel erkennen.

Ross taumelte zur gegenüberliegenden Tür und zog sie auf. Der Raum war dunkel, nur das Licht des Korridors erhellte ihn notdürftig. Es war auch eine Schlafkammer. Im Zickzack den Korridor entlangtaumelnd, blickte Ross in die weiteren Räume. Überall Leere und Dunkelheit. Immerhin schienen die Räume noch regelmäßig gereinigt zu werden, denn Ross konnte nach einer Fingerspitzenprobe kein Stäubchen feststellen. Also mußte noch Personal vorhanden sein — aber es wurde höchste Zeit, daß sich endlich jemand blicken ließ.

Ross torkelte auf das Schreibpult zu und nahm Platz. Er lachte leise, als er auf dem Deckel der grünen Aktenmappe seinen Namen las.


* * *

Seit dem Augenblick seiner Wiederbelebung hatte Ross alle kreislauffördernden Übungen ohne Aufsicht ausgeführt. So würde er sich vermutlich auch allein orientieren müssen.

Er lachte nicht mehr, denn jetzt war ihm klar, daß es in seiner Situation kaum etwas zu lachen gab.

Die Aktenmappe war mit einer Banderole zugeklebt. Er riß sie mit einem Fingernagel auf. Seine Fingernägel waren weitergewachsen, obwohl während des Erstarrungszustandes alle andern Organe ihre Tätigkeit eingestellt hatten. Er schlug die Aktenmappe auf und durchblätterte das Register. Eins davon enthielt sieben grüne Formulare der Norm 508. In den Eintragungen war vom Zustand der Tiefschlafpatienten die Rede. Das erste Formular kannte Ross, denn als es ausgefüllt wurde, war er zugegen gewesen. Es war am 29. September 2017 ausgefüllt, am Tag der Voruntersuchung. Doktor Pellew und sein Assistent hatten ihre Namenszüge daruntergesetzt. Das zweite Formular wies die gleichen Unterschriften auf, war jedoch am 4. Juni 2036 datiert. Aus den Eintragungen ging hervor, daß man es erfolglos mit einer neuen Behandlungsmethode versucht hatte, um den Patienten erneut in Tiefschlaf zu versetzen. Das dritte Formular trug das Datum vom 1. Mai 2093 und war von einem Doktor Hanson unterschrieben. Wieder hatte man den Patienten vor- übergehend ins Leben zurückgerufen, aber auch diese Behandlungsmethode zeigte keinen Erfolg. Ross betrachtete noch einmal das Datum: 1. Mai 2093!

Damit wäre das Problem Alice gelöst, kam es ihm dumpf in den Sinn. Eine simple Rechnung, denn im Jahre 2017 war Alice zweiundzwanzig Jahre alt gewesen und heute schrieb man das Jahr 2093! Demnach war sie schon gestorben.

Ross fühlte Tränen in seinen Augen aufsteigen und versuchte gewaltsam, an etwas anderes zu denken. Aber er sollte noch eine weitere Überraschung erleben. Das vierte Formular trug das Datum vom 17. Mai 2233. Er wollte es zuerst nicht glauben. Entweder war es ein Druckfehler, oder man hatte eine neue Zeiteinteilung erfunden. Die Buchstaben waren winzig klein und die Zeilen so eng, daß sie Ross mit bloßem Auge kaum auseinanderhalten konnte. Die erneute Behandlung schien erfolgversprechend gewesen zu sein, denn die Eintragungen endeten mit den Worten: Der Zustand des Patienten hat sich erstmals gebessert; mit seiner endgültigen Wiederbelebung dürfte in fünfundsiebzig Jahren zu rechnen sein.

Dieses Formular war wieder von Doktor Pellew und einer Schwester unterzeichnet, die allerdings nicht mit ihrem vollen Namen, sondern mit Stationsschwester, 5 B’ gezeichnet hatte.

Ross schüttelte skeptisch den Kopf. Das konnte niemals die Unterschrift von Doktor Pellew sein, nicht nach zweihundertsechzehn Jahren. Es mußte sich um einen Arzt handeln, der zufällig den gleichen Namen hatte — oder vielleicht war es auch ein Urgroßenkel von Doktor Pellew? Doch Ross hatte auf dem Tonband seine Stimme gehört, seine konservierte Stimme. War eine Bandaufnahme auch noch nach zweihundert Jahren brauchbar? Zweifellos hatte die Technik auch auf diesem Gebiet Fortschritte gemacht…

Dann blieb immer noch die Echtheit der Unterschrift.

Das folgende Formular trug das Datum vom 17. Mai 2308, und die Eintragungen schlossen mit den Worten: Der Patient steht kurz vor der Genesung.

Dieses Formular hatte nur Stationsschwester, 5 B’ unterzeichnet und offenbar wieder ihren vollen Namenszug vergessen. Vielleicht hatte sie das auch nicht nötig, weil ihre Person jedermann im Hospital ein Begriff war.

Das nächste Blatt war ein Durchschlag und trug das Datum vom 7. Oktober 2308. Es war vier Monate später ausgefüllt worden und trug den Vermerk: Wiederbelebung.

„Na, jetzt weiß ich endlich, welch einen Tag wir heute haben“, murmelte Ross. „Wenn ich noch die genaue Zeit wüßte, könnte ich meine Uhr stellen…“

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