Plötzlich fühlte sich Ross so müde, daß er am liebsten auf der Stelle eingeschlafen wäre; der blanke Fußboden hätte ihm zu diesem Zweck vollauf genügt. Eigentlich lachhaft, wenn er dabei berücksichtigte, daß er Tausende von Jahren geschlafen hatte und trotzdem immer noch müde war. Statt im Korridor herumzutaumeln, hätte er lieber Auflockerungsübungen machen sollen; sicher waren noch nicht alle Blutgefäße aufgetaut. Jetzt saß er auf einem unbequemen Polsterstuhl, der möglicherweise ausschließlich für die Nachtschwester bestimmt war, und wunderte sich noch immer. Nach allem, was er gesehen hatte, war es höchste Zeit, sich ins Bett zu legen und noch einmal alles gründlich zu überschlafen. Vielleicht funktionierte sein Gehirn noch nicht und brachte die verschiedenen Daten durcheinander. Ja, er mußte erst einmal einige Stunden schlafen, denn zwischen Kälteschlaf und richtigem Schlaf war doch ein großer Unterschied.
Fünf Minuten später hatte sich Ross in weiche und aus Plastik gewobene Decken eingehüllt, die so leicht waren, daß er nur die Wärme, aber nicht den Stoff auf seiner Haut spürte. Die Decken hatten eine durch das Alter bedingte gelbliche Farbtönung. Er versuchte zu schlafen, doch seine Neugier hielt ihn wach und munter. Die grüne Aktenmappe hatte er mitgenommen und unter das Kopfkissen geschoben, wenige Zentimeter von seiner Hand entfernt. Er hatte noch nicht alle Blätter der Aktenmappe gelesen und sie nur flüchtig durchgeblättert. Vielleicht fand er dort die Antwort auf seine quälenden Fragen — und er mußte eine Antwort finden, sonst stellte sein Verstand die Tätigkeit restlos ein. Natürlich war er sich darüber im klaren, daß die neuen Nachforschungen ein nicht gerade beruhigendes Ergebnis bringen und seine Gehirnzellen noch mehr strapazieren würden. Aber er hatte Angst und mußte alle Möglichkeiten ausnutzen, die Ursache dieser Angst zu ergründen.
Ächzend wälzte er sich auf einen Ellenbogen, zog die Mappe unter dem Kopfkissen hervor und begann darin zu blättern. Er überschlug die Seiten, die er schon im Korridor gelesen hatte und sah die Kopie eines zweiseitigen Rundschreibens. Zwei Ärzte und vier Schwestern waren mit Namen angegeben, und aus dem Wortlaut des Schreibens ging hervor, daß das Reinigungspersonal auch Arbeiten zu verrichten hatte, die normalerweise den Krankenschwestern oblagen. Es mußte nicht mehr allzu viele Menschen geben, ja, die Menschheit schien nur noch eine Art,Notdienst’ aufrechtzuerhalten. Das Rundschreiben war von Doktor Pellew unterzeichnet und war im März des Jahres 2062 in Umlauf gesetzt worden.
Auch in den nächsten fünf Blättern war von immer neuen Umgruppierungen die Rede. Sie umfaßten eine Zeitspanne von ungefähr zwanzig Jahren. Anscheinend bestand das Personal einiger Sektionen nur noch aus einem Arzt, einer Schwester und zwei Gehilfinnen für untergeordnete Tätigkeiten. Tatsächlich war der Personalmangel katastrophal. Denn je mehr die Zeit fortschritt, um so verantwortungsvoller wurden die Aufgaben selbst ungelernter Kräfte. Man war gezwungen, Hand in Hand zu arbeiten, und es gab keine Standesunterschiede mehr.
Fiebernd vor Aufregung schlug Ross die nächste Seite auf. Vielleicht entdeckte er dort eine direkte Antwort auf alle Fragen.
Die Absätze, die mit einem Paragraphenzeichen versehen und dick unterstrichen waren, sprangen ihn förmlich an:
Solange diese Notverordnungen bestehen, darf niemand die ihm zugeteilte Sektion verlassen. Ein eigenmächtig vorgenommener Wechsel sowie die Mitnahme von Lebensmitteln, Medikamenten und ärztlicher Ausrüstungsgegenstände sind verboten. Eine Mißachtung dieser Verordnung ist einem Ausschluß gleichzusetzen. Der Kontakt zwischen den einzelnen Sektionen wird ausschließlich durch das Lautsprechersystem aufrechterhalten.
Alle Tiefschlaf-Patienten mit erfolgversprechender Diagnose werden in die Sektion für Wiedergenesende eingeliefert. Es handelt sich hierbei um die Patienten…
— Es folgten eine Reihe Ziffern und eine davon war Ross.
Also hatte es auch eine Notverordnung gegeben. Ross mochte dieses Wort nicht leiden. Seine Hand zitterte, als er die Seite umdrehte; aber dieses Zittern war nicht allein Schwäche.
Es folgten vier in sich zusammengeheftete Seiten mit engbeschriebenen Zeilen. Aus dem Inhalt ging hervor, daß man am 6. Juli 2071 eine Versammlung beschlossen hatte. Der Präsident war Doktor Hanson. Zur Diskussion standen neue Behandlungsmethoden der Tiefschlaf-Patienten. Mit Ausnahme von Doktor Hanson waren alle Teilnehmer über sechzig Jahre alt. Keiner von ihnen würde das Erwachen der für eine Dauer von fünfzig Jahren in Tiefschlaf versetzten Patienten erleben, es sei denn, sie ließen sich mit der gleichen Methode behandeln. Doch letzten Endes mußte ein Arzt wachbleiben und die wissenschaftliche Forschungsarbeit zum Ziel führen. Gelang ihm das, so hatte er dreißig Menschenleben gerettet oder sie zumindest vor dem Verschlafen von weiteren Jahrzehnten bewahrt. Eine Zeittabelle mit zwanzig Schlaf- und zwei Wachjahren war vorgeschlagen worden, einschließlich einer Übergangszeit von drei Monaten, in denen der wiederbelebte Arzt von seinem Kollegen mit der neuen Situation bekanntgemacht wurde. Als jüngster Arzt der Gruppe beantragte Doktor Hanson, die Zahl seiner wachen Jahre auf fünf zu erhöhen. Er arbeitete an einem Präparat gegen ein Herzleiden, das den früheren Leiter des Hospitals gezwungen hatte, sich der Tiefschlaf-Therapie zu unterziehen. Man war übereingekommen, das Leben Doktor Pellews unter allen Umständen zu erhalten, denn sein Wissen war von unschätzbarem Wert.
Weiter hatte man über die rein psychologischen Gefahren dieses Wach- und Schlafschemas diskutiert und Methoden entwickelt, diesen Gefahren vorzubeugen. Auch dieses Versammlungsprotokoll schloß mit einer Diskussion über erneute Umgruppierungen des Personals und Erweiterungen des Tätigkeitsfeldes der einzelnen Angestellten. Eine Schwester hatte das Recht, Diagnosen zu stellen, Medikamente zu verschreiben und sogar kleinere Operationen vorzunehmen. Lauter Verordnungen, bei denen ein verzweifelter Lebenswille Pate gestanden hatte. Jeder sollte tun, was nur irgendwie in seinen Kräften stand. Das Leben mußte weitergehen, solange es in dieser Welt noch Leben gab.
Ross starrte auf das letzte Blatt, und die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen. Das also wäre das Ende der ersten Lektion, dachte er, das Ende allen menschlichen Lebens. Alle waren sie gestorben, die ihm in eine neue, fremde Gegenwart verholfen hatten.
Er fühlte einen Kloß in seinem Hals und gedachte mit ehrfürchtiger Bewunderung jener alten Wissenschaftler, die die Fackel ihrer Erkenntnisse im Wettlauf gegen die Zeit durch zwei Jahrtausende getragen hatten. Und Doktor Hanson war erfolgreich gewesen, denn das Rundschreiben trug die Jahreszahl 2071, und» der Name Doktor Pellews tauchte noch einmal auf einem Formblatt des Jahres 2233 auf.
Ross dachte wieder nach, und plötzlich erhellte ein Hoffnungsschimmer die Finsternis seiner Verzweiflung; eine wilde, verzweifelte und selbstsüchtige Hoffnung. Von dem Gesundheitszustand des behandelnden Personals war keine Rede gewesen. Möglich, daß sich die Namen hinter den Ziffern des einen Blattes verbargen. Es war auch nicht ausgeschlossen, daß sie sich ebenfalls hatten in Tiefschlaf versetzen lassen — und vielleicht hieß einer der Patienten Alice?
Das Licht erlosch.
Ross erstarrte das Blut in den Adern; der kalte Schweiß stand ihm auf der Stirn, auch Rücken und Handflächen waren so naß, als habe man ihm einen Eimer Leitungswasser über den Kopf gestülpt. Ross fürchtete sich, dennoch hätte er nicht die genaue Ursache angeben können.
Vergeblich suggerierte er sich ein, daß das Licht nur erloschen war, damit er ruhig schlafen konnte und ansonsten nicht die geringste Gefahr bestand.
Doch eine solch undurchdringliche Dunkelheit konnte nur in einer Kohlengrube herrschen, wenn es im Stromnetz einen Kurzschluß gegeben hatte…
Ross hatte die Korridortür offengelassen in der Hoffnung, daß jemand vorbeikommen und von seiner Person Notiz nehmen würde. Aber im Korridor herrschte die gleiche Kohlenschwärze. Er hörte die Aktenmappe von der Bettdecke gleiten und lag mit angehaltenem Atem reglos da. Er vernahm deutlich die aufgeregten Klopftöne seines Herzens und biß krampfhaft die Zähne zusammen.
Obwohl sein Puls raste wie das Hufgetrappel eines Rennpferdes, hörte er draußen im Korridor ein Geräusch.
Es war ein sanftes, regelmäßiges und dumpfes Geräusch, das von einem Seufzen begleitet wurde. Es kam immer näher.
Ross strengte verzweifelt seine Augen an, um die Dunkelheit zu durchdringen. Zum Teufel, er mußte doch wenigstens einen Schatten wahrnehmen können! Aber er sah nichts, absolut nichts; er hörte nur die Geräusche und hatte den Eindruck, als würden Gegenstände hin und her gerückt. Wer dieses unsichtbare Etwas auch war, es kannte sich in diesem Zimmer aus und schien mit geübten Griffen bestimmte Arbeiten zu verrichten. Jedenfalls konnte dieses Wesen trotz der Dunkelheit ausgezeichnet sehen — und zweifellos sah es auch ihn. Es würde auch an sein Bett kommen, sich über ihn beugen und…
„Wer… wer ist da?“ stammelte Ross und richtete sich vorsichtig auf.
„Stationsschwester“, kam die Antwort aus der Dunkelheit. Eine kühle, doch unzweifelhaft weibliche Stimme.
„Was wollen Sie?“ fragte Ross noch immer unsicher.
Seine Frage wurde überhört. „Ihre Genesung macht Fortschritte, Mister Ross.“
„Aber mein Geisteszustand scheint schlecht zu sein; ich sehe nämlich Gespenster.“
Wieder erhielt Ross keine Antwort.
Die Geräusche wandten sich zur Tür und verebbten langsam im Korridor. Irgendwie war Ross heilfroh, daß ihn der unsichtbare Gast nicht berührt hatte. Er hörte, daß eine Tür — vielleicht auch die Transparentwand — zurückgezogen wurde, und wenige Sekunden später blendete ihn das grelle Licht.
Ross bedeckte seine Augen mit der Handfläche, damit sie sich wieder an die Helligkeit gewöhnten. Dann stellten seine blinzelnden Augen vier Thermosbehälter mit einer warmen Mahlzeit fest. Sie standen neben der Beethovenbüste. Sonst schien sich im Raum nichts verändert zu haben.
Er zog die Bettdecke bis zum Kinn und fühlte sich zum erstenmal seit seiner Wiederbelebung halbwegs entspannt. Die noch immer vorhandene Allgemeinschwäche ließ seine Gedanken zwar langsamer arbeiten, beeinträchtigte aber nicht die Logik der Gedankengänge.
Schließlich konnte er sich alles besser zusammenreimen: die Schwester, die ihn in der Dunkelheit besucht hatte, mußte der Schlüssel aller Lösungen sein. Es gab noch Leben in dieser Welt, etwas, das sich bewegen und sprechen konnte.
Wie unwirklich war das alles… Die sprechende Beethovenbüste, seine Krankheitsgeschichte und eine Schwester, deren Augen die schwärzeste Finsternis durchdrangen.
Das wichtigste Problem jener Zeit, in der sich Ross in Tiefschlaf versetzen ließ, war die ständig sinkende Geburtsrate. Nach den Aufzeichnungen der Aktenmappe zu schließen, mußte dieses Problem noch unerhört an Bedeutung gewonnen haben. Vor allem war auf jeder Seite von weiterer Personalverknappung die Rede. Ein Menschenleben war selten und kostbar geworden.
Durch die Nachwirkungen des Atomkrieges konnten auch Veränderungen der Erbmasse ausgelöst worden sein, überlegte Ross. Es gab ja auch Tiere, die nachts sehen konnten. Und was mochte im Zeitraum von zwei Jahrtausenden in der Welt vorgegangen sein? Vielleicht wollte die Schwester ihm ihren Anblick ersparen, vielleicht kam er ihr selber vor wie ein Wesen aus einer anderen Welt. Ja, sie wollte ihn wohl nicht erschrecken, weil sie in seinen Augen wohl wie ein Monster wirkte. Das mußte die Antwort auf diese Frage sein.
Sie trainieren mich seelisch auf weitere Überraschungen vor, dachte Ross. Er würde zwar eine gewisse Zeit brauchen, um die neuen Eindrücke zu verdauen, aber man konnte sich schließlich an alles gewöhnen. Und notfalls konnte er sich mit der Hoffnung trösten, daß noch Menschen der alten Rasse im Tiefschlaf lagen, und einer konnte Alice sein.
Das einzige Stück, das nicht ganz in diese Theorie hineinpaßte, waren die seltsamen Träume, die er gehabt hatte. Es waren im wesentlichen zwei Bilder, die eine auffallende Ähnlichkeit miteinander hatten. Ross war der Überzeugung, daß ihm die Träume nicht während des Erstarrungszustandes, sondern beim Vorgang des Erwachens in den Sinn gekommen waren. Dicke Metallstäbe wurden ihm auf Kopf, Brust, Bauch und Beine gepreßt. Andere drückten ihm die Arme zusammen, machten sich an seinen Fußgelenken zu schaffen und drohten, seinen Schädel zu zerbrechen. Ross versuchte, diesem unerklärlichen Druck zu entgehen, aber er konnte sich weder rühren noch irgend jemand sehen. Er fühlte und hörte nur Metall, dazu noch einen regelmäßig tickenden Laut…
Solange diese Träume nicht eine befriedigende Erklärung gefunden hatten, dachte Ross, werde ich kaum mit einem ruhigen und friedlichen Schlaf rechnen können. Der Traum, oder was es sein mochte, konnte ihn jeden Augenblick erneut überfallen.
Aber Ross schlief diesmal traumlos.