SIEBTES Kapitel

Graues Zwielicht umgab sie, als sie erwachte, und es war kalt, eine klamme, kriechende Kälte, die nicht einmal besonders intensiv war, auf eine schwer in Worte zu fassende Weise aber ganz besonders unangenehm. Sie musste an Nebel denken und sonderbar formlose Gestalten, die sich darin bewegten, und vielleicht zum allerersten Mal in ihrem so unendlich langen Leben erwachte sie mit klopfendem Herzen und von Angst geschüttelt. Wirre Bilder und ungekannte grässliche Visionen lieferten sich einen stummen Kampf hinter ihrer Stirn, und sie zitterte am ganzen Leib.

»Du musst nicht so tun, als ob du noch schläfst«, sagte eine helle Stimme. »Ich weiß, dass du wach bist. Schon eine ganze Weile.« Bast wusste nicht, was unter einer ganzen Weile zu verstehen war, aber nach ihrem Dafürhalten waren erst wenige Sekunden vergangen, seit sie aufgewacht war. Viel interessanter war die Frage, wie lange sie bewusstlos gewesen war. Draußen wurde es schon wieder hell. Möglicherweise auch schon wieder dunkel ... oder auch schon zum zweiten Mal hell ... Bast lauschte einen Moment in sich hinein und stellte erschrocken fest, dass sie ihr Zeitgefühl verloren hatte. Mit ziemlicher Sicherheit war nur diese eine Nacht vergangen, aber das sagte ihr einzig ihre Logik.

»Wenn du weiter die Schweigsame spielen willst, dann gehe ich jetzt eben und hole Mrs Walsh«, fuhr Cindy trotzig fort. »Vielleicht redest du ja lieber mit der.«

Bast hatte bisher nicht einmal in ihre Richtung geblickt, sondern das schmale, ganz allmählich heller werdende Rechteck des Fensters angestarrt, aber sie hörte, wie Cindy sich herumdrehte und zur Tür ging und drehte nun rasch den Kopf in den Kissen. »Warte.«

Cindy blieb tatsächlich stehen und drehte sich zu ihr herum, kam aber nicht zurück. Sie versuchte trotzig auszusehen, aber es gelang ihr nicht, die Mischung aus Sorge und Erleichterung ganz zu verhehlen, die sie empfand. Sie sah schlecht aus, müde und ausgezehrt, und Bast musste nicht fragen, um zu wissen, dass sie die ganze Nacht an ihrem Bett gesessen hatte.

»Was ist?« Cindy legte den Kopf auf die Seite.

»Wie lange ...«, Bast deutete zum Fenster, »... habe ich geschlafen?«

»Geschlafen ist gut.« Cindy schnaubte. »Wir haben ein paar Mal gedacht, du springst über die Klinge. Wenigstens hat Mrs Walsh das gedacht ... Die ganze Nacht eben. Es ist Morgen und wird schon hell. Eigentlich müsste es schon hell sein, aber der Nebel will sich nicht verziehen.«

»Und du hast die ganze Nacht auf mich aufgepasst? Vielen Dank.«

»Einer musste es ja tun«, antwortete Cindy großspurig, wirkte aber gleich darauf plötzlich verlegen und wandte sich hastig wieder zur Tür. »Ich gehe jetzt und hole Mrs Walsh. Sie hat gesagt, dass ich sie sofort rufen soll, wenn du aufwachst, und das tue ich besser.«

Sie verschwand, bevor Bast noch etwas sagen konnte, und sie hörte, wie sich ihre schnellen Schritte draußen auf dem Flur entfernten. Das Haus war sehr still. Obwohl Bast konzentriert lauschte, konnte sie nichts außer Cindys leiser werdenden Schritten hören, und auch von draußen drang nicht der mindeste Laut herein. Wahrscheinlich dämpfte der Nebel alle Geräusche.

Bast versuchte vorsichtig, sich zu bewegen und registrierte überrascht, wie leicht es ihr fiel. Überhaupt fühlte sie sich erstaunlich ausgeruht und kräftig. Die Schwere, die nach ihrem Erwachen in ihren Gliedern gewesen war, war eine fast angenehme Mattigkeit, wie man sie manchmal nach einem langen und ganz besonders erfrischenden Schlaf empfindet, keine Erschöpfung, und auch die wirren Bilder und Visionen verwehten wie Spinnweben, die noch einen Moment im Morgentau glitzerten und dann zerrissen.

Trotzdem war sie sehr vorsichtig, als sie sich aufsetzte und die Decke zurückschlug. Sie wurde mit einem ... sehr sonderbaren Anblick belohnt. Sie war nackt, und was von ihrem Körper zu sehen war, war offensichtlich frisch gewaschen. Um ihre Leibesmitte spannte sich ein breiter, blütenweißer Verband, und auch ihr rechter Unterarm war bandagiert, wo sie die Schrotkugeln getroffen hatten. Ihr rechtes Knie und der Oberschenkel waren ebenfalls frisch verbunden. Seltsam - sie konnte sich gar nicht erinnern, dort verletzt worden zu sein.

Aber genau genommen konnte sie sich ohnehin nur an sehr wenig erinnern ...

Sie hatte Ben getötet, das war ihre letzte wirklich klare Erinnerung, dies und ein vages Gefühl von Bedauern, das sie dabei empfunden hatte. Sie hatte ihn nicht töten wollen, so wenig, wie er sie. Dennoch hatte sie es ohne zu zögern getan, so wie auch er sie umgebracht hätte, wäre sie nicht schneller gewesen. Aber das war keine persönliche Sache zwischen ihnen. Sie waren niemals Feinde gewesen, sondern nur Krieger, die auf verschiedenen Seiten kämpften. Die Zweitälteste Geschichte der Welt. Vielleicht sogar die älteste.

Ein halblautes Räuspern erklang, und Bast fuhr aus ihren Gedanken hoch und zog hastig die Decke wieder bis zu den Schultern hoch, als sie nicht nur Mrs Walsh unter der Tür erblickte, sondern auch Kapitän Maistowe, der einen weißen Verband um die Stirn trug und vor Verlegenheit nicht wusste, wohin mit seinem Blick.

»Sie sind wach«, sagte Mrs Walsh. »Das freut mich. Und Sie sehen zumindest aus, als ob es Ihnen schon besser ginge.«

Bast war nicht ganz sicher - aber da schien ein Unterton in Mrs Walshs Stimme zu sein, der nicht hineingehörte, und in ihrem Blick war zwar dieselbe Mischung aus Sorge und vorsichtiger Erleichterung zu lesen wie in dem Cindys gerade, aber auch ... noch etwas.

»Es geht mir besser«, bestätigte Bast.

»Stellen Sie sich vor, das weiß ich, meine Liebe«, antwortete Mrs Walsh. »Fühlen Sie sich kräftig genug, mit uns zu reden, oder brauchen Sie noch eine Weile, um zu Kräften zu kommen?«

Jetzt war sie sicher, sich den neuen Unterton in Mrs Walshs Stimme nicht nur einzubilden. Und auch in ihrem Blick war eine Kühle, die sie bisher noch nie darin bemerkt hatte.

»Kein Problem«, antwortete sie. »Ich wollte auch gerade ...«

»Dann dürfen wir vielleicht hereinkommen.« Mrs Walsh trat vollends ein, und Maistowe folgte ihr auf dem Fuße, doch als sich auch Cindy anschließen wollte, schüttelte sie rasch den Kopf und machte eine zusätzliche, abwehrende Handbewegung.

»Sei doch so gut und warte unten im Salon auf uns, mein Kind«, sagte sie. »Oder noch besser: Geh in die Küche und setz einen Kessel Wasser auf den Herd. Ich bin sicher, dass sich Miss Bast über eine heiße Tasse Tee freuen wird.«

»Ihr wollt nur nicht, dass ich höre, was ihr redet«, sagte Cindy salzig.

»Das mag schon sein«, erwiderte Mrs Walsh gelassen. »Es gibt Dinge, die Kinder nichts angehen. Und nun geh und kümmere dich um den Tee - bitte.«

Cindy funkelte sie noch einen Moment trotzig an, aber dann fuhr sie auf dem Absatz herum und stampfte wütend davon. Mrs Walsh schüttelte wortlos den Kopf und schloss die Tür hinter ihr.

»Ich fürchte, jetzt haben Sie sie ernsthaft gekränkt«, sagte Bast lächelnd. »Sie hasst es, wenn man sie als Kind bezeichnet.«

»Der Umstand, dass dieses Geschöpf Dinge mit ansehen musste, die keine erwachsene Frau auf der Welt jemals erleben sollte, macht sie nicht automatisch zu einer Erwachsenen«, belehrte sie Mrs Walsh. »Aber ich möchte jetzt nicht über Cindy sprechen, sondern über Sie. Würden Sie uns einige Fragen beantworten?«

Sie deutete auf Maistowe und sich, und als Bast nickte, zog sie sich einen Stuhl heran und ließ sich darauf nieder. Maistowe tat auf der anderen Seite des Bettes dasselbe, aber Bast konnte ihm ansehen, wie wenig wohl er sich in seiner Haut fühlte. Bast sah Mrs Walsh und ihn mit wachsender Beunruhigung an. War irgendetwas geschehen, während sie bewusstlos gewesen war?

»Ich habe mich noch gar nicht bei Ihnen bedankt«, sagte sie unsicher. »Für Ihre ... Hilfe.« Sie ließ es offen, ob sie Mrs Walshs überraschendes Eingreifen mit dem Messer meinte oder die Tatsache, dass sie sich danach um sie gekümmert hatte.

»Ich habe getan, was ich konnte«, erwiderte Mrs Walsh. »Aber ich bin nicht einmal sicher, ob es wirklich notwendig gewesen wäre.«

»Was ... meinen Sie damit?«, fragte Bast zögernd.

»Im Grunde habe ich nur eine einzige Frage an Sie«, antwortete Mrs Walsh. »Und ich möchte Sie bitten, sie mir wirklich ehrlich zu beantworten ... selbst wenn Sie der Meinung sein sollten, dass die Antwort mir nicht gefällt.«

»Dazu müsste ich Ihre Frage erst einmal kennen«, meinte Bast sanft.

Mrs Walsh hielt ihrem Blick stand, auch wenn sie ihr ansehen konnte, wie schwer es ihr fiel. »Sie ist im Grunde ganz einfach«, antwortete sie. »Wer sind Sie? Ich meine: Wer sind Sie wirklich ... oder sollte ich vielleicht besser fragen: Was sind Sie?«

Bast sah sie an und gab sich alle Mühe, so zu tun, als hätte sie die Frage nicht wirklich verstanden. »Sie wissen doch, wer ich bin.«

»Ich weiß, was Sie uns gesagt haben«, erwiderte Mrs Walsh. »Ich bin allerdings nicht mehr völlig sicher, ob Sie uns wirklich die Wahrheit gesagt haben. Nicht mehr seit gestern Abend.«

»Ich verstehe«, seufzte Bast. »Was Sie gestern Abend mit angesehen haben, hat Sie schockiert. Ich hätte Ihnen das gern erspart, und Jacob und vor allem Cindy auch, aber ich hatte keine andere Wahl. Glauben Sie mir, ich hätte es auch mir sehr gerne erspart.«

»Meinen Sie, jetzt wäre der richtige Moment für Scherze?«, fragte Mrs Walsh.

»Es war auch nicht als Scherz gemeint«, sagte Bast. »Es tut mir leid, Mrs Walsh, aber ich dachte, Sie wüssten, dass ich in der Lage bin, mich meiner Haut zu wehren.«

»Ihrer Haut zu wehren?«, wiederholte Mrs Walsh. »Sie haben fünf Männer getötet, Bast. Mit bloßen Händen!«

»Genau genommen waren es vier«, sagte Bast ruhig. »Roy hatte einfach Pech ... aber Sie haben recht: Wäre das nicht passiert, hätte ich ihn vermutlich auch getötet.«

»Und das ist normal, dort, wo sie herkommen?«, fragte Mrs Walsh. »Dass eine Frau fünf ...«, sie verbesserte sich, »... vier Männer mit bloßen Händen besiegt?«

»Da, wo ich herkomme«, antwortete Bast ruhig, »bin ich so eine Art ... Kriegerin.«

»Ja, das scheint mir auch so.« Mrs Walsh tauschte einen raschen Blick mit Maistowe. »Aber das beantwortet nicht unsere Frage. Was sind Sie?«

»Ich fürchte, ich verstehe nicht, was Sie meinen«, antwortete Bast.

Mrs Walsh starrte sie eine weitere Sekunde lang durchdringend an, dann beugte sie sich plötzlich vor und schlug die Decke zur Seite. Bast starrte sie vollkommen perplex an. Vorgestern Abend hätte sie Kapitän Maistowe am liebsten den Kopf abgerissen, nur weil er ihre Silhouette im Sternenlicht gesehen hatte, und jetzt schien es ihr nichts auszumachen, dass er sie splitternackt sah.

»Ich habe vor zwei Stunden Ihre Verbände gewechselt«, sagte sie. »Aber eigentlich wäre das gar nicht nötig gewesen.« Sie machte eine auffordernde Geste. »Warum nehmen Sie sie nicht ab? Sie müssen unbequem sein.«

Bast sah sie zwar noch einen Moment mit gespielter Verstandnislosigkeit an, sah dann die Sinnlosigkeit dieser Scharade aber auch selbst ein und entfernte den Verband an ihrem Arm. Mrs Walsh hatte vollkommen recht: Der Verband wäre nicht nötig gewesen. Ihre Haut war völlig unversehrt.

Rasch entfernte sie auch die Verbände an ihrem Knie und ihrem Oberschenkel, und beide Male mit demselben Ergebnis. Als sie jedoch nach dem Verband um ihren Leib greifen wollte, schüttelte Mrs Walsh hastig den Kopf.

»Das sollten Sie besser nicht tun«, sagte sie. »Das ist der einzige Verband, der noch einen Sinn hat ... vielleicht.«

Rast biss sich auf die Unterlippe. Sie fühlte sich in die Enge getrieben, und wie hätte es auch anders sein sollen? Es gab nicht mehr viel, was sie sagen konnte, ohne sich endgültig lächerlich zu machen. »Ich ... habe gutes Heilfleisch«, antwortete sie mit einem schiefen Grinsen. »Das hatte ich immer schon.«

Mrs Walsh beugte sich abermals vor und schlug die Decke wieder zurück; vermutlich aus reiner Rücksicht auf Jacob. »Roy hat Ihnen in den Leib geschossen«, sagte sie. »Aus kaum drei Metern Entfernung. Sie müssten tot sein, oder wenigstens sehr schwer verletzt, aber das sind Sie nicht. Und was diese drei Kerle mit Ihnen gemacht haben, das will ich gar nicht wissen.«

»Ich glaube, Sie wissen es«, antwortete Bast spröde. »Sie haben versucht, mich zu vergewaltigen.«

»Sie sind tot«, sagte Mrs Walsh. »Und ich habe noch nie solche Leichen gesehen.«

»Wie viele Leichen haben Sie denn schon gesehen, Mrs Walsh?«, fragte Bast sanft.

»Sie wissen, was ich meine«, erwiderte Mrs Walsh.

Natürlich wusste sie es. Sie wusste nur nicht, was sie antworten sollte. Schließlich entschied sie sich für die Wahrheit ... oder zumindest etwas, das ihr nahe kam. »Sie haben recht«, sagte sie. »Ich bin ... nicht ganz das, was Sie glauben.«

»Sind Sie ein Mensch?«, fragte Mrs Walsh.

Bast lachte. »Verzeihen Sie, Mrs Walsh - aber das ist lächerlich.«

»Ist es das?« Mrs Walsh schüttelte den Kopf. Es wirkte eher traurig als wütend. »Bastet«, murmelte sie. »Horus und Sobek ... hatte Abberline recht? Sind Sie die alten ägyptischen Götter?«

»Ja«, hörte sich Bast zu ihrer eigenen Überraschung antworten. Mrs Walshs Gesicht blieb vollkommen ausdruckslos, doch Maistowe starrte sie aus hervorquellenden Augen an. Er wirkte entsetzt, aber nicht überrascht. »Und Ra, Seth und Osiris und Anubis und noch eine Menge anderer Namen, die Sie vermutlich noch nie zuvor gehört haben. Es gibt uns wirklich. Aber wir sind trotzdem Menschen und keine Götter. Das waren wir nie.«

»Das fällt mir schwer zu glauben«, sagte Mrs Walsh zögernd. Sie starrte die Stelle der Bettdecke an, unter der sich der Verband über ihrem Magen verbarg.

»Aber es ist so«, antwortete Bast. Sie hatte es aufgegeben, irgendwelche Ausflüchte zu erfinden - wozu auch? Sie hatte Mrs Walsh und Jacob schon viel zu viel verraten, als dass sie ihnen ihre Erinnerung noch lassen konnte. Aber sie hatte jetzt keine Wahl mehr, und im Moment war die Wahrheit die einfachste Lösung. »Sie haben recht: Wir sind ... anders als Sie und die meisten anderen Menschen. Vielleicht ein wenig zäher, und nicht so leicht umzubringen. Aber wir sind nicht unsterblich. Im Gegenteil - ohne Ihre Hilfe hätte Ben mich möglicherweise getötet. Das war sehr tapfer von Ihnen, wissen Sie das?«

»Ich hatte keine andere Wahl«, antwortete Mrs Walsh leise. »Obwohl ich eigentlich kein Blut sehen kann.«

»Sie wären überrascht, wozu Menschen fähig sind, wenn es sein muss«, erwiderte Bast ernst. »Aber das ist nichts, wofür man sich schämen müsste. Ganz im Gegenteil ...«

»Sie finden es richtig, Menschen wehzutun, mein Kind?«

»Ich finde es richtig, um sein Leben zu kämpfen«, antwortete Bast. Sie hob die Schultern und lächelte plötzlich. »Bei der Gelegenheit: Es klingt ... ein bisschen seltsam, wenn Sie mich immer mein Kind nennen, Mrs Walsh. Ich weiß, es sieht anders aus, aber ich bin älter als Sie. Viel älter.«

»Und wie alt sind Sie?«, wollte Mrs Walsh wissen.

»Ich muss gestehen, dass ich es selbst nicht mehr genau weiß«, antwortete Bast. »Aber Sie haben von den großen Pyramiden in Ägypten gehört?« Mrs Walsh nickte, und Bast fuhr fort: »Ich war dabei, als sie gebaut wurden.«

Wieder verging eine - diesmal spürbar längere - Zeit, in der Mrs Walsh sie nur anstarrte. Sie wirkte weder zweifelnd noch erschrocken oder schockiert, aber sehr erschüttert. Maistowe sah sie immer noch nicht an, sondern sah nervös überall hin, nur nicht in ihre Richtung, aber sie konnte den Aufruhr spüren, der in seinem Inneren tobte. Dennoch fand sie, dass die beiden sich erstaunlich gut hielten, in Anbetracht dessen, was sie gerade erfahren hatten. Aber vermutlich hatten sie die halbe Nacht mit nichts anderem als den wildesten Spekulationen zugebracht.

»Das ist ... erstaunlich«, murmelte Mrs Walsh schließlich. »Es fällt mir schwer, es zu glauben.«

»Ich versichere Ihnen ...«

Mrs Walsh unterbrach sie mit einem erschrockenen Kopfschütteln. »Nein, Sie verstehen nicht. Ich weiß, dass Sie die Wahrheit sagen. Ich habe es gesehen, mit eigenen Augen. Aber es ... fällt mir trotzdem nicht leicht, es zu glauben, wenn Sie verstehen.«

»Ich verstehe nur zu gut«, antwortete Bast. »Und ich versichere Ihnen, hätte ich geahnt, was passiert ...«

»... wären Sie nicht hierhergekommen, ich weiß.« Mrs Walsh seufzte. »Aber Sie sind nun einmal hier, und nun müssen wir sehen, wie wir mit dieser schrecklichen Situation zurechtkommen. Mit Gottes Hilfe wird es uns schon irgendwie gelingen.«

»Ich fürchte, Ihr Gott wird uns in diesem Punkt wenig helfen«, sagte Bast.

»Er ist nicht nur mein Gott«, sagte Mrs Walsh scharf.

Bast schluckte alles herunter, was ihr dazu auf der Zunge lag. Sie hatte wirklich keine Lust auf eine religiöse Grundsatzdiskussion. Statt zu antworten, wandte sie sich an Maistowe. »Da ich noch hier und wir alle in Freiheit sind, nehme ich an, dass niemand etwas von diesem ... Zwischenfall bemerkt hat?«

Maistowe schüttelte den Kopf, sah sie aber immer noch nicht an. Er begann unruhig auf seinem Stuhl hin und her zu rutschen.

»Was ist mit dem Bobby, der draußen gestanden hat?«, fragte sie.

»Er steht immer noch dort«, antwortete Maistowe, noch immer ohne sie anzusehen. »Beziehungsweise schon wieder. Natürlich ist es nicht mehr derselbe.« Er hob die Schultern. »Ich nehme an, die Kerle haben abgewartet, bis seine Ablösung gekommen ist und es eine Lücke in der Überwachung gab. Wie es aussieht, nehmen die Konstabler ihre Pflicht nicht allzu ernst.«

»Und Roy und die anderen?«

Diesmal antwortete Maistowe nicht mehr, aber Mrs Walsh sagte: »Jacob und ich haben sie in ein leeres Zimmer geschafft. Es war das Schrecklichste, was ich jemals tun musste.« Sie lächelte gequält. »In meinem eigenen Haus.«

Maistowe sah sie irritiert an, und Mrs Walshs schiefes Grinsen erlosch wie abgeschaltet.

»Dann müssen wir die Toten wegschaffen, bevor Sie das Haus verlassen«, sagte Bast hastig. »Ich werde das übernehmen, sobald es wieder dunkel geworden ist.«

»Das wird nicht nötig sein.« Maistowe stand mit einem Ruck auf und trat ans Fenster, um in die lichter werdende Dämmerung hinauszuschauen. »Ich werde meinen Männern Bescheid geben. Wir gehen eben mit ein bisschen mehr Gepäck an Bord, als wir ursprünglich geplant haben.«

»Ihre Männer?« Bast blinzelte. »Ich dachte, die Lady of the Mist wäre ein Handelsschiff, kein Piratensegler.«

»Manchmal ist der Unterschied gar nicht so groß, wie die Leute meinen«, antwortete Maistowe. »Machen Sie sich keine Sorgen. Meine Männer sind zuverlässig, und sie stellen keine Fragen. Worüber ich mir Sorgen mache, ist etwas ganz anderes.« Er drehte sich herum, lehnte sich mit vor der Brust verschränkten Armen gegen das Fensterbrett und sah sie nun doch an, als gäbe ihm die Entfernung mehr Sicherheit. »Frederick Abberline.«

»Der Inspektor?« Bast runzelte die Stirn. »Sie glauben nicht, dass er etwas mit ...«

»Natürlich nicht«, unterbrach sie Maistowe hastig. »Aber diese Wache dort draußen ist nicht hier, um uns vor Einbrechern zu beschützen. Dieser Monro hat garantiert etwas vor, das mir ganz und gar nicht gefällt. Ich würde Frederick ja um Hilfe bitten, aber ich bin nicht sicher, wie weit er uns überhaupt helfen kann.«

»Ich verstehe«, sagte Bast. »Er ist Ihr Freund, aber er ist auch Polizist.«

»Und ein sehr gewissenhafter«, fügte Maistowe hinzu. »Das Mindeste, was passieren würde, wäre wohl, dass sich unsere Abreise verzögert. Und ich möchte ihn auch nicht noch weiter in diese unangenehme Geschichte hineinziehen, als es ohnehin schon der Fall ist.«

Unangenehme Geschichte, dachte Bast, war sehr schmeichelhaft ausgedrückt. Aber sie verstand, was Maistowe meinte. »Dann sollten Sie hoffen, dass er heute genug anderes zu tun hat und nicht auf die Idee kommt, Ihnen einen Abschiedsbesuch abzustatten. Weiß er, dass Sie Ihre Abreise vorverlegt haben?« Maistowe nickte. »Dann wird er wohl kommen, fürchte ich.«

»Ich vertraue Frederick«, wiederholte Maistowe. »Es ist Monro, der mir Sorge bereitet. Wenn er auch nur ahnt, dass wir von seinen schmutzigen Geschäften mit Ihren Freunden wissen ...«

Oder gar die Toten findet, fügte Bast in Gedanken hinzu. Sie verstand Maistowes Sorge nur zu gut. Sie hielt Monro nicht in dem Maße für gewissenlos und niederträchtig, wie Maistowe es zu tun schien, aber er hatte gewiss eine Menge zu verlieren, und sie vermutete, dass er nicht besonders wählerisch sein würde, wenn es darum ging, einen Sündenbock zu finden, den er der Öffentlichkeit präsentieren konnte.

»Ich könnte mit Monro sprechen«, schlug sie vor.

»Auf Ihre ganz spezielle Art, vermute ich?« Mrs Walsh schüttelte heftig und beinahe empört den Kopf. »Wozu sollte das gut sein?«

Sie hatte ja recht, dachte Bast. Natürlich könnte sie dafür sorgen, dass Monro jegliches Interesse an ihr, Mrs Walsh und Kapitän Maistowe verlor ... für eine Weile. Aber sie konnte nicht jeden ausfindig machen, mit dem er bereits über diesen Fall gesprochen hatte, und da war schließlich noch immer Horus, der kaum tatenlos zusehen würden, auch wenn sie alle Spuren ihrer Anwesenheit verwischte.

Sie überlegte - oder redete sich zumindest ein, es zu tun, um sich nicht eingestehen zu müssen, dass sie ihren Entschluss schon längst gefasst hatte. »Also gut«, seufzte sie. »Ich werde ihn suchen und mit ihm reden.«

»Wen?«, fragte Mrs Walsh misstrauisch.

»Horus«, antwortete Bast. »Einen der beiden Männer, von denen Abberline gestern gesprochen hat. Sie erinnern sich?«

»Ich erinnere mich vor allem, dass Sie behauptet haben, sie wären tot«, sagte Mrs Walsh.

»Diese Annahme war vielleicht ein wenig vorschnell«, antwortete Bast. »Sobek ist tot, aber Horus ist noch am Leben. Die Situation ist zu kompliziert, um sie in allen Einzelheiten zu erklären, aber ich hoffe, dass er bereit ist, das Land zu verlassen, wenn ich ihm sage, dass ich bereit bin, zu kapitulieren.« Und Isis niemals wieder zu sehen. Es war so furchtbar kompliziert. Wie sollte sie Mrs Walsh etwas erklären, das sie selbst noch nicht wirklich verstand oder doch zumindest nicht richtig in Worte kleiden konnte?

»Das ist albern«, sagte Mrs Walsh auch prompt. »Sie erwarten allen Ernstes, dass wir tatenlos zusehen, wie Sie sich opfern?«

»Jetzt unterschätzen Sie mich, meine Liebe«, sagte Bast lächelnd. »Auch jemand wie ich hängt am Leben.« Sie schüttelte den Kopf, als Mrs Walsh widersprechen wollte. »Ich werde mit Horus sprechen und ihn zurück nach Ägypten begleiten, und diese sogenannten Ripper-Morde werden aufhören. Es wird genau so kommen, wie Inspektor Abberline vorgestern Abend gesagt hat.«

»Und Sie werden die Gefangene dieses ... dieses Ungeheuers sein!«, sagte Mrs Walsh empört.

»Wie gesagt: Die Situation ist etwas komplizierter, als es vielleicht den Anschein hat«, antwortete Bast. »Aber ich glaube nicht, dass er mir etwas antun wird, und ich werde auch keine Gefangene sein. Nicht so, wie Sie meinen.«

»Ich verstehe«, sagte Mrs Walsh ärgerlich. »Sie wollen sagen, dass es keinen Sinn hat, uns etwas zu erklären, was dumme Sterbliche wie wir sowieso nicht begreifen.«

Einen Moment lang war Bast versucht, einfach mit Ja zu antworten und die gesamte Diskussion damit zu beenden, aber dann schüttelte sie den Kopf. »Es geht um Dinge, die Sie nicht verstehen können, Mrs Walsh, weil Ihnen ein paar tausend Jahre Erfahrung fehlen«, sagte sie sanft. »Und um Dinge, mit denen ich Sie nicht belasten möchte. Ich habe schon genug Schaden angerichtet. Aber ich kann vielleicht wenigstens einen Teil davon wiedergutmachen. Also lassen Sie es mich wenigstens versuchen. Ich muss ohnehin noch einmal nach Whitechapel, um mit Faye zu sprechen.«

»Den Teufel werden Sie tun!«, versetzte Mrs Walsh grimmig. »Ihre Wunde ist noch längst nicht verheilt, und Sie brauchen Ruhe. In der vergangenen Nacht wären Sie beinahe gestorben, ist Ihnen das eigentlich klar?« Sie erstickte Basts Widerspruch mit einem energischen Kopfschütteln im Keim. »Und ich werde gewiss nicht zulassen, dass Sie dieses arme Mädchen in die Obhut dieser ... zweifelhaften Person entlassen.«

Sie hatte eigentlich ein anderes Wort im Sinn gehabt, das spürte Bast. Entsprechend vorsichtig formulierte sie ihre Antwort. »Faye ist auch nicht sehr viel älter als Cindy, Mrs Walsh. Und ich vertraue ihr.«

»Ach, tun Sie das?«, fragte Mrs Walsh mit sonderbarer Betonung.

»Vergessen Sie nicht, dass ich ... in einen Menschen hineinsehen kann«, antwortete sie. »Keine Sorge - ich lese weder Ihre Gedanken noch die Jacobs. Aber ich erkenne, ob jemand die Wahrheit sagt oder nicht. Faye will dieses Leben genauso hinter sich lassen wie Cindy. Sie ist noch nicht so weit, es sich selbst einzugestehen, aber ich weiß, dass es so ist. Ich habe ihr versprochen, ihr dabei zu helfen, und sie wird Cindy mit sich nehmen und sich um sie kümmern. Sie kann nicht hier in London bleiben, so gut es Vater MacNeill und seine Bekannte auch mit ihr meinen mögen. So etwas wie gestern Abend könnte sich wiederholen.«

»Sie meinen also, diese ... Faye meint es ehrlich mit Ihnen?« Mrs Walsh seufzte. »Nun, dann fürchte ich, lassen Ihre famosen Fähigkeiten Sie in diesem Fall wohl im Stich.«

»Wieso?«

»Roy hat noch einen Moment gelebt«, antwortete Maistowe an Mrs Walshs Stelle. »Lange genug, um uns ...« Er tauschte einen seltsam verschwörerisch wirkenden Blick mit Mrs Walsh. »... noch ein paar Fragen zu beantworten. Haben Sie sich noch gar nicht gefragt, woher Maude und er wussten, dass sich das Mädchen hier bei uns befindet?«

Bast blickte ihn gleichermaßen fragend und beunruhigt an.

»Faye«, sagte Maistowe. »Sie hat es ihm verraten.«

»Das glaube ich nicht«, antwortete Bast impulsiv.

»Aber genau das hat Roy behauptet«, sagte Mrs Walsh. »Warum sollte er lügen? Nur sehr wenige Menschen sagen die Unwahrheit, wenn sie im Sterben liegen.«

»Und woher sollte er es auch sonst wissen?«, fügte Maistowe hinzu. »In Whitechapel bin ich kein Unbekannter, aber niemand dort weiß, wo ich wohne. Ich habe immer streng darauf geachtet, in diesem Punkt Diskretion zu wahren. Schon um Glorias willen.«

Bast spürte, dass er die Wahrheit sagte, aber etwas in ihr wehrte sich immer noch, ihm zu glauben. Warum sollte Faye sie so hintergehen?

Sie beantwortete ihre eigene Frage laut. »Wahrscheinlich hat Roy sie gezwungen.«

»Das mag sein«, sagte Mrs Walsh. »Aber es macht es nicht besser.« Sie seufzte und stand auf. »Ich werde nach dem Tee schauen, und wenn ich schon einmal dabei bin, gleich noch eine kräftige Brühe aufsetzen. Sie können sie sicher brauchen, um wieder zu Kräften zu kommen. Möchten Sie nach unten kommen und mit uns essen, oder soll ich Cindy mit einem Teller nach oben schicken?«

Bast war so ziemlich nach allem zumute, nur nicht nach Essen, aber sie nickte trotzdem. »Ich komme nach unten.«

»Wie Sie möchten.« Mrs Walsh wandte sich zur Tür und bedeutete Maistowe mit einem Blick, ihr zu folgen, blieb aber dann wieder stehen und wartete, bis er das Zimmer verlassen hatte. »Gehen Sie schon einmal voraus, Jacob. Ich habe da noch eine Sache mit Miss Bast zu besprechen.«

Maistowe machte keinen Hehl aus seiner Neugier. »Was ...?«

»Eine reine Frauengeschichte«, beschied ihn Mrs Walsh streng. »Nichts, was Sie etwas anginge. Bitte schließen Sie die Tür. Von außen.«

Maistowe riss verdutzt die Augen auf, und Mrs Walsh nahm ihm die Arbeit ab, indem sie ihm die Tür vor der Nase zuknallte, wartete aber, bis sich seine Schritte draußen auf dem Flur entfernt hatten, bevor sie sich wieder herumdrehte.

»Welche Frauengeschichten wollen Sie denn mit mir besprechen?«, fragte Bast ... aber ihr Lächeln erlosch, als sie den Ausdruck auf Mrs Walshs Gesicht gewahrte.

»Jacob hat es nicht gesehen«, sagte Mrs Walsh ernst. »Er ist wohl noch zu benommen, oder vielleicht auch zu verängstigt, aber das ist nur gut so.«

»Jacob hat was nicht gesehen?«, fragte Bast alarmiert.

»Wie Sie Ben getötet haben«, antwortete Mrs Walsh. »Ich habe es gesehen. Und ich habe auch die beiden Männer gesehen, die Sie hier oben getötet haben.«

»Ich hatte keine Wahl«, erwiderte Bast, aber Mrs Walsh unterbrach sie mit einem abermaligen zornigen Kopfschütteln.

»Das meine ich nicht«, sagte sie scharf. »Das Warum ist mir klar. Was mich interessiert, ist das Wie.«

Bast antwortete nicht gleich. Sie fragte sich, warum Mrs Walsh diese Frage stellte. Schließlich kannte sie die Antwort - sie hatte es mit eigenen Augen gesehen. »Warum fragen Sie das?«

»Weil Sie behauptet haben, Sie wären ein Mensch«, erwiderte Mrs Walsh ernst. »Ich frage mich, ob Sie die Wahrheit gesagt haben, oder ob Sie vielleicht ... etwas anderes sind.«

»Und was sollte das sein?«

»Sagen Sie es mir.«

Bast erwog ihre Antwort genau. »Die Unsterblichkeit hat ihren Preis. Leben ist ein empfindliches Gut. Es ... verbraucht sich. Manchmal muss man das Reservoir wieder auffüllen.«

Mrs Walsh sah sie durchdringend an. Sie schwieg.

»Haben Sie sich nie gefragt, warum man es Vereinigung nennt?«, fuhr Bast fort. »Die wenigsten Menschen wissen es, aber es ist weit mehr als ein rein körperlicher Akt. Es ist eine Vereinigung. Aus zwei Leben wird eines. Zwei Seelen verschmelzen. Sie lösen sich auch wieder voneinander, aber manchmal bekommt die eine etwas von der anderen, und umgekehrt.«

»Aber Sie können es nehmen«, vermutete Mrs Walsh. »Ernähren Sie sich so?«

»Wenn Sie es so bezeichnen wollen«, antwortete Bast. »Es ist ein wenig komplizierter, aber man könnte es so nennen.« Sehr behutsam, damit Mrs Walsh es nicht merkte, verlieh sie ihren Worten mehr Glaubwürdigkeit und den entsprechenden Nachdruck. »Wir sind keine Teufel oder Dämonen, wenn Sie das glauben, und auch keine Mörder. Die meisten von uns nehmen nie mehr, als sie zum Überleben brauchen.«

»Sie schlafen mit einem Mann und stehlen ihm dabei seine Lebenskraft.« Mrs Walsh klang erschüttert, und auf einer Ebene empört, die Bast ihre nächsten Worte noch sorgfältiger überlegen ließ.

»So ist es nicht«, sagte sie. »Ich habe nie einen Menschen getötet - außer in Notwehr. Nicht einmal Roy, obwohl er es wahrscheinlich zehnmal verdient gehabt hätte. Sie haben ihn gesehen. Er hätte sich erholt. In ein paar Tagen oder Wochen wäre er wieder ganz der Alte gewesen.« Sie hob die Schultern. »Was immer das auch heißt.«

Mrs Walsh wirkte nicht beruhigt. Ganz im Gegenteil. Aus dem Ausdruck in ihrem Blick war etwas geworden, das weit über Empörung und bloße Entrüstung hinausging, und das selbst Basts überlegener Wille nicht zu besänftigen vermochte. »Das ist ... unnatürlich!«, keuchte sie. »Hören Sie auf damit! Ich will nichts mehr davon hören!«

»Sie haben mich gefragt«, antwortete Bast ruhig. »Und ich kann Ihnen versichern, dass es absolut nicht wider die Natur ist. Ganz im Gegenteil. Es ist die natürlichste Sache der Welt. Warum sonst gäbe es Männer und Frauen?«

»Nicht aus diesem Grund!«, sagte Mrs Walsh. Sie schrie fast. »Gott hat Mann und Frau erschaffen, damit sie sich fortpflanzen und Kinder zeugen, nicht um der Fleischeslust zu frönen! Sie sprechen wie diese verdorbenen Frauen, mit denen sich Jacob manchmal trifft! Er ist ein Mann und weiß es nicht besser. Aber Sie? Sie sind eine Frau, ganz egal, was Sie außerdem noch sein mögen, und wie alt Sie angeblich sind! Sie sollten wissen, wie sich eine Frau von Anstand und Sitte zu benehmen hat! Gottes Wort ist in dieser Hinsicht sehr eindeutig!«

»Gottes Wort - oder das, was Menschen in seinem Namen dafür ausgeben?«, fragte Bast. Eine innere Stimme warnte sie, nicht weiterzusprechen, aber Mrs Walshs Bigotterie ärgerte sie. Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: »Ich kenne Ihren Gott nicht, aber ich habe den Mann gekannt, den Sie Jesus von Nazareth nennen, und ich kann Ihnen versichern, dass er in dieser Hinsicht vollkommen anderer Meinung war.«

Mrs Walsh starrte sie an. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen, aber sie sagte nichts mehr, sondern wandte sich nach einer Weile wortlos und mit einer unendlich müde wirkenden Bewegung um und verließ das Zimmer.



Bast blieb tatsächlich noch eine geraume Weile oben in ihrem Zimmer - nicht weil sie sich wirklich noch schwach gefühlt hätte, oder sich gar noch schonen musste, wie Mrs Walsh anzunehmen schien, sondern weil es ihr im Moment einfach unangenehm gewesen wäre, Mrs Walsh unter die Augen zu treten. Sie war sich ja so klug vorgekommen bei ihrem letzten Satz; ein Totschlag-Argument, gegen das Mrs Walsh absolut nichts mehr einwenden konnte ... aber das genaue Gegenteil war der Fall gewesen. Vielleicht nur eine Winzigkeit, aber eben doch zu spät, hatte sie begriffen, dass sie wahrscheinlich gar nichts Schlimmeres hätte sagen können. Selbstverständlich wusste Mrs Walsh tief in sich, dass sie recht hatte, aber sie selbst hätte es verdammt noch mal besser wissen müssen! Tief in sich drinnen war Gloria Walsh eine Fanatikerin, eine Rolle, in die sie hineingeboren und -erzogen worden war und für die sie absolut nichts konnte, und was konnte man einem Fanatiker Schlimmeres antun, als ihm zu beweisen, dass alles, woran er glaubte, falsch war?

Sie hätte es wirklich besser wissen müssen! Aber nun war der Fehler einmal gemacht, und sie war es leid, einmal Gesagtes wieder zurückzunehmen. Außerdem würde sie dies später ohnehin alles auf einmal bereinigen ...

Eine gute halbe Stunde lang lag sie noch reglos auf dem Bett, starrte die Decke über ihrem Kopf an und haderte mit dem Schicksal, bevor sie es schließlich aufgab und aus dem Bett stieg, um sich anzuziehen. Sie trat ans Fenster, um auf die Straße hinunterzusehen. Es war immer noch nicht richtig hell geworden, obwohl die Dämmerung längst vorüber sein musste. Über der ganzen Stadt schien eine dunstige graue Glocke zu liegen, die das Tageslicht nicht wirklich absorbierte, ihm aber irgendetwas zu nehmen schien, sodass es zwar möglich, aber auf eine sonderbare Weise unangenehm war, richtig zu sehen.

Dennoch erkannte sie natürlich den Bobby, der frierend auf der anderen Straßenseite stand und so tat, als würde er aufmerksam das Haus beobachten. Es war nicht derselbe wie gestern - in diesem Punkt hatte Maistowe die Wahrheit gesagt -, sondern ein jüngerer und deutlich größerer Mann, dessen Unmut über diesen ebenso unangenehmen wie langweiligen Auftrag sie selbst über die Entfernung hinweg zu spüren glaubte. Er war womöglich noch unaufmerksamer als sein Kollege von gestern, und Rast machte sich keine Sorgen darüber, ungesehen an ihm vorbeizukommen, sollte es nötig sein. Worüber sie sich Sorgen machte war der Umstand, dass er überhaupt da war. Warum ließ Monro - oder Abberline - das Haus beobachten? Und wen eigentlich? Mrs Walsh, Maistowe oder sie? Bast war sich mit einem Male gar nicht mehr so sicher, dass es tatsächlich nur darum ging, einen Sündenbock für irgendetwas zu haben ...

Sie schüttelte den Gedanken ab - der Kerl da unten war nicht einmal der Schatten einer Gefahr, und in ein paar Stunden spielte es auch überhaupt keine Rolle mehr, warum er da war oder wer ihn geschickt hatte - und trat an ihren Koffer heran, um sich ein frisches Kleid zu nehmen - wie sich zeigte, das letzte, das sie überhaupt noch besaß. Also gut, das vereinfachte ihre Rückreise. Sie war jetzt nur noch mit kleinem Gepäck unterwegs.

Bevor sie sich anzog, wickelte sie gegen Mrs Walshs Rat den Verband von ihrer Leibesmitte. Es war so, wie Mrs Walsh gesagt hatte: Ihre Wunde war noch nicht vollständig verheilt, befand sich aber auf dem besten Wege dazu. Noch ein paar Stunden, und von der schrecklichen Verletzung würde nicht einmal mehr eine Narbe zu sehen sein.

Trotzdem veranlasste sie dieser Anblick zu einem weiteren, tiefen Stirnrunzeln. Mrs Walsh war mit ihrer Behauptung, sie wäre in der vergangenen Nacht beinahe gestorben, der Wahrheit näher gekommen, als sie zugeben wollte. Es hatte tatsächlich nicht viel gefehlt, und das hätte nicht passieren dürfen. Von Ben einmal abgesehen waren die anderen keine Gegner gewesen, an die sie normalerweise auch nur einen Gedanken verschwenden würde, und doch wäre sie um ein Haar getötet worden - nicht weil ihre Kräfte sie im Stich gelassen hätten oder sie unaufmerksam gewesen wäre, sondern weil sie Rücksicht auf Mrs Walsh und die anderen genommen hatte. Sie wurde weich. Vielleicht die gefährlichste aller möglichen Schwächen.

Bast verscheuchte auch diesen Gedanken, streifte ihr Kleid über und verließ das Zimmer, um nach unten zu gehen.

Sie erlebte eine Überraschung. Sie hatte natürlich damit gerechnet, noch einen Leichnam zu finden, oder auch nur Spuren des Kampfes, aber der Salon blitzte regelrecht vor Sauberkeit. Wären da nicht der beschädigte Kaminsims und das Loch in der Haustür gewesen - im Vorbeigehen registrierte sie, dass Maistowe es offensichtlich von außen mit Brettern vernagelt hatte -, hätte man meinen können, es wäre überhaupt nichts passiert. Mrs Walsh musste die halbe Nacht geschrubbt und aufgeräumt haben. Nirgendwo war auch nur der winzigste Blutfleck zu sehen, und der Gestank nach Schießpulver, Blut und Furcht war Mrs Walshs Lieblingsgeruch gewichen - frischer Kernseife -, und sie hatte die Gelegenheit offensichtlich beim Schopf ergriffen und auch gleich noch ihre Bagage für die Abreise zusammengepackt. Neben der Tür stapelten sich zwei ausgewachsene Schrank-, ein halbes Dutzend normaler, wenngleich ebenfalls großer, Koffer und nahezu ein Dutzend Hutschachteln, Kisten und Reisetaschen. Bast ertappte sich dabei, tatsächlich einen flüchtigen Blick in die Nische neben der Treppe zu werfen, in der die antike Standuhr stand. Aber sie war noch da.

Mrs Walsh und Cindy rumorten hinter der offen stehenden Küchentür, während Maistowe am Tisch saß und in irgendwelchen Papieren blätterte. Als er ihre Schritte hörte, wollte er aufspringen, aber Bast hielt ihn mit einem raschen Kopfschütteln zurück. »Bleiben Sie sitzen, Jacob. Bitte.«

Maistowe war offensichtlich müde genug, um dieses Angebot, gegen die Regeln des Anstandes zu verstoßen, anzunehmen und ließ sich mit einem erschöpften Seufzen wieder zurücksinken. Bast nahm an, dass sie die Einzige im Haus war, die in dieser Nacht geschlafen hatte.

Sie deutete auf die beschädigte Tür. »Wieso hat der Bobby das Loch nicht bemerkt?«

»Das hat er«, antwortete Maistowe. »Er hat mir sogar geholfen, es notdürftig zu reparieren und mir die Adresse eines Tischlers gegeben, der die Reparatur fachgerecht und preiswert ausführen kann ... nachdem er sich köstlich über mein Ungeschick amüsiert hat.« Er lächelte müde. »Ich bin nun einmal Kapitän eines Schiffes, und kein Möbelpacker. Manche Dinge sollte man vielleicht doch besser Leuten überlassen, die wissen, was sie tun. Ein Profi hätte sich kaum so ungeschickt mit diesem schweren Schrankkoffer angestellt, dass er die Tür damit eingeschlagen hätte.«

Bast maß das unregelmäßig gesplitterte Loch mit einem prüfenden Blick. »Und das hat er geglaubt?«, fragte sie skeptisch.

Maistowe nickte. »Die Leute glauben viel, wenn man ihnen ein ganzes Pfund Trinkgeld gibt, nur damit sie einem die Nägel reichen. Wer weiß - für ein weiteres Pfund hilft er meinen Männern vielleicht heute Abend sogar, gewisse schwere Kisten auf den Wagen zu laden.«

»Übertreiben Sie es nicht, Jacob!«, sagte Bast ernst, aber Maistowe hob nur die Schultern und lächelte noch melancholischer.

»Ich bin nicht sicher, ob es da noch viel zu übertreiben gibt«, seufzte er. »Verstehen Sie das jetzt nicht falsch, es geht gewiss nicht gegen Sie - ganz bestimmt nicht. Sie können wahrscheinlich am allerwenigsten für das, was gestern Nacht passiert ist. Schließlich haben Sie es nur gut gemeint - aber ich fürchte, diese Angelegenheit wird mehr Folgen haben, als Gloria jetzt schon ahnt.«

»Es ist nicht damit getan, die Toten wegzuschaffen«, bestätigte Bast.

»Ich bin nicht sicher, ob wir das überhaupt sollten«, sagte Maistowe. »Frederick ist nicht dumm. Er muss nur einmal durch das Haus gehen und wird wissen, was passiert ist.« Er seufzte tief. »Es könnte gut sein, dass wir nie wieder hierher zurückkehren können.«

»Ich weiß«, antwortete Bast. Und das nicht nur wegen Abberline und Monro, dachte sie. Da waren noch Maude und ihre Mädchen und zweifellos etliche von Roys Freunden, die sich irgendwann Gedanken darüber machen würden, wo ihr kleines Rollkommando geblieben war. Sie konnte schließlich nicht ganz Whitechapel auslöschen, nur um die Spuren dieser Nacht zu verwischen. Sie zwang sich zu einem Lächeln.

»Aber war es denn nicht das, was Sie sich insgeheim immer gewünscht haben, Jacob?«, fragte sie. »Zusammen mit Mrs Walsh von hier wegzugehen?«

»Nicht so«, antwortete Maistowe niedergeschlagen.

Bast verzichtete darauf, ihm zu sagen, dass er noch Glück gehabt hatte. Die meisten von denen, die den Fehler begingen, ihr zu helfen, bezahlten dafür mit dem Leben.

»Ah, da sind Sie ja.« Mrs Walsh kam, einen dampfenden Suppenteller in beiden Händen vor sich her balancierend, aus der Küche und steuerte den Tisch an. »Genau noch im richtigen Moment. Viel länger hätte ich die Suppe nicht mehr warm halten können.«

»Das ist sehr freundlich von Ihnen, aber ich bin wirklich nicht hungrig«, sagte Bast. »Und ich fürchte, ich habe auch nicht die Zeit, jetzt in Ruhe etwas mit Ihnen zu essen. Ich muss fort.«

»Um mit dieser Faye zu sprechen, ich weiß«, antwortete Mrs Walsh. »Aber Sie werden mit niemandem reden, wenn Sie vor lauter Schwäche zusammengebrochen sind, glauben Sie mir. Und was, wenn Sie vielleicht auf noch mehr Kerle wie die von vergangener Nacht treffen, und Ihre Kräfte brauchen, um sich zu verteidigen?«

Dann würde ein Teller Suppe ganz bestimmt keinen Unterschied mehr machen, dachte Bast. Aber sie nahm trotzdem am Tisch Platz, nachdem sie einen weiteren Blick auf das Ziffernblatt der großen Standuhr geworfen hatte. Es war gerade neun vorbei. Wenn Faye überhaupt schon zurück war, dann lag sie jetzt vermutlich im Bett und schlief. Auf ein paar Minuten kam es nun wirklich nicht an.

»Und bevor Sie zu dieser Faye gehen und ihr vielleicht noch einmal Ihr Vertrauen schenken«, fuhr Mrs Walsh fort, »möchte ich Sie um einen Gefallen bitten. Wenn Sie ihn mir nicht erweisen wollen, dann tun Sie es um Cindys willen.«

Bast setzte sich widerstrebend und griff noch widerstrebender nach dem Löffel, den Mrs Walsh ihr reichte. Nachdem sie gekostet hatte, musste sie jedoch eingestehen, dass sie wirklich hungrig war, und sie begann mit Appetit zu essen. Mrs Walsh sah ihr eine Weile ganz unverhohlen geschmeichelt zu, bevor sie weitersprach.

»Sie wissen, was ich davon halte, Cindy dieser Frau anzuvertrauen, Bast. Jetzt, wo mir ... gewisse Dinge klar geworden sind, sogar noch mehr als zuvor.«

»Aber Cindy kann nicht hier bleiben«, beharrte Bast. »Maude würde sie finden, früher oder später.«

»Das ist mir klar«, antwortete Mrs Walsh. »Aber es gibt vielleicht noch eine dritte Möglichkeit, an die wir bisher noch gar nicht gedacht haben.«

»Eine dritte Möglichkeit?«, wiederholte Bast. Sie versuchte einen verstohlenen Blick durch die offen stehende Küchentür zu werfen. Cindy war zwar nicht zu sehen, aber sie spürte, dass sie auf der anderen Seite stand und lauschte.

»Warum kommst du nicht herein und setzt dich zu uns, mein Kind?«, fragte Mrs Walsh laut. Bast war nicht ganz sicher, ob ihr forschender Blick vielleicht doch nicht ganz so unauffällig gewesen oder diese kleine Scharade sorgsam einstudiert war.

Cindy tauchte denn auch prompt und geflissentlich auf. Mrs Walsh wartete, bis das Mädchen auf dem einzigen freien Stuhl am Tisch Platz genommen hatte. »Cindy, Jacob und ich hatten in der vergangenen Nacht ein längeres Gespräch«, sagte sie. »Cindy hat sich noch nicht endgültig entschieden, aber sie könnte sich zumindest vorstellen, bei uns zu bleiben. Bei Jacob und mir.«

Es kam selten vor - aber Bast war so überrascht, dass sie zuerst Mrs Walsh und dann Cindy jeweils eine geschlagene Sekunde lang einfach nur fassungslos anstarrte.

»Wie?«, murmelte sie dann.

»Ja, das dachte ich mir, dass Sie so reagieren«, schmunzelte Maistowe. Bast drehte sich zu ihm herum und erkannte an dem amüsierten Funkeln in seinen Augen, dass er ihre Reaktion nicht nur vorausgesehen, sondern sich regelrecht darauf gefreut hatte.

»Du würdest ... wirklich bei Mrs Walsh bleiben?«, fragte sie zögernd.

Cindy reagierte gar nicht, aber Mrs Walsh setzte ein übertrieben verletztes Gesicht auf und fragte: »Was ist daran so erstaunlich, um Ihren Ton zu rechtfertigen, mein Kind? Trauen Sie mir vielleicht nicht zu, mich um ein Kind zu kümmern?«

»Natürlich nicht«, antwortete Bast und verbesserte sich hastig. »Ich meine: Selbstverständlich traue ich Ihnen zu, sich um die Erziehung eines Kindes zu kümmern. Ich war nur ... überrascht, das ist alles.«

»Überrascht?«

»Nach unserem Gespräch gerade, und dem, was Sie über Faye gesagt haben ...«

»Und an meiner Meinung hat sich seither kein Jota geändert«, antwortete Mrs Walsh wie aus der Pistole geschossen. »Umso wichtiger, dass Cindy eine anständige christliche Erziehung genießt. Ich weiß, Sie sind vielleicht der Meinung, ich wäre zu alt, um mir eine solch verantwortungsvolle Aufgabe zu übertragen, doch ich traue mir durchaus zu, mich um dieses arme gestrauchelte Wesen zu kümmern und sie zu einer gottesfürchtigen jungen Frau zu erziehen.«

Cindy, die so saß, dass Mrs Walsh ihr Gesicht zumindest nicht sehen konnte, ohne den Kopf zu wenden, verdrehte die Augen, und Bast musste sich beherrschen, um nicht in ähnlicher Form zu reagieren.

»Und was sagst du dazu?«, wandte sie sich direkt an Cindy.

»Warum nicht?« Das Mädchen hob trotzig die Schultern. »Klingt besser als Vater McNeill.«

»Und Faye?«

»Faye hat uns verraten«, sagte Cindy heftig.

»Das steht noch gar nicht fest«, antwortete Bast. »Und wenn, dann hat Roy sie wahrscheinlich gezwungen.«

»Und wenn sie wieder einer zwingt? Außerdem kann ich sie nicht leiden.«

»Du kennst sie doch gar nicht.«

»Ich kenn sie gut genug«, antwortete Cindy.

Das war nicht das, was sie meinte, das spürte Bast. Cindy sagte die Wahrheit: Sie war tatsächlich bereit, bei Mrs Walsh und Maistowe zu bleiben, aber aus einem anderen Grund. Sie wusste nur nicht, aus welchem.

»Hätten Sie etwas dagegen, wenn Cindy und ich ...?«

»Allein miteinander reden?« Mrs Walsh schüttelte den Kopf. »Selbstverständlich nicht. Kommen Sie, Jacob.« Sie stand auf. »Mir ist gerade eingefallen, dass ich vielleicht doch nicht alles Gepäck für die Reise zusammen habe.«

Bast lächelte ihr dankbar zu und geduldete sich, bis Maistowe und Mrs Walsh den Raum verlassen hatten. Dann aber erlosch ihr Lächeln schlagartig. »Also, was soll das?«, fragte sie.

»Was soll was?«

»Stell dich nicht dumm«, fauchte Bast. »Und behandele mich nicht, als wäre ich dumm. Was ist los? Gestern hättest du mir noch am liebsten die Augen ausgekratzt, weil ich dich hierher gebracht habe, und heute erklärst du mir, du willst hierbleiben?«

»Nicht hier«, antwortete Cindy. »Wir gehen weg. Heute noch.«

»Ich verstehe«, sagte Bast. »Du denkst an das Schiff. Eine große Reise, und ein noch größeres Abenteuer, wie? Aber ganz so ist es nicht. Die Lady ist ein heruntergekommener alter Kahn, und ich fürchte, was Mrs Walsh gesagt hat, war ernst gemeint. Sie wird dich wirklich zu einem gottesfürchtigen jungen Mädchen erziehen ... oder es wenigstens versuchen.«

Cindy grinste nur, und Bast musste sich plötzlich beherrschen, um nicht dasselbe zu tun. Vielleicht hatte Cindy ja sogar recht, und das hier war die bessere Lösung. Selbstverständlich war es Mrs Walsh bitterernst mit ihrem Vorsatz, ihr eine anständige Erziehung angedeihen zu lassen und sie zu einer gottgefälligen jungen Frau zu machen, aber sie machte sich keine allzu großen Sorgen, dass ihr das auch tatsächlich gelingen könnte. Cindy war nicht annähernd so verdorben, wie Mrs Walsh noch gestern behauptet hatte, aber sie war auch kein kleines Kind mehr, das Mrs Walsh nach Belieben formen und mit ihren kruden Ideen von Sittsamkeit und einem Leben nach Gottes Willen vollstopfen konnte. Mrs Walsh würde sich an ihr die wenigen Zähne ausbeißen, die sie noch hatte, daran bestand kein Zweifel - aber sie würde ihr trotzdem helfen, wieder in ein halbwegs normales Leben zurückzufinden ... oder wenigstens ein anderes Leben als das, das ihr hier bevorstand. Es war nicht so, dass sie Faye nicht traute, im Gegenteil - aber ein Leben an Bord der Lady irgendwo auf dem Meer oder auch in einem fremden Land war vermutlich sicherer als eines in Fayes Umgebung, wo London nahe und die Verlockung des leicht verdienten Geldes allgegenwärtig war.

Bast seufzte tief. Das alles kam viel zu schnell und nicht einmal annähernd so gut durchdacht, wie es sein sollte. Sie begann erst jetzt allmählich zu begreifen, was sie eigentlich getan hatte, indem sie sich in Cindys und Fayes Leben einmischte. Sie hatte sich eine Menge Probleme aufgehalst, die sie in der wenigen Zeit, die ihr noch blieb, unmöglich lösen konnte.

Aber sie musste es zumindest versuchen.

»Du solltest nicht den Fehler begehen und Mrs Walsh unterschätzen«, sagte sie ernst. »Und mich auch nicht. Es könnte gut möglich sein, dass ich von Zeit zu Zeit vorbeikomme und nach dem Rechten sehe.«

Cindy machte sich nicht einmal die Mühe, darauf zu antworten.

»Letzten Endes ist es deine Entscheidung«, sagte Bast. Sagte und glaubte sie das nur, weil sie es glauben wollte und es einfach die bequemste Lösung war?

»Sieht so aus«, antwortete Cindy. »Aber ich geh nicht zurück zu Maude. Und zu Faye schon gar nicht.«

»Dann bleibt ja nur noch Mrs Walsh.«

»Oder du«, sagte Cindy. »Warum nicht?« Cindy nickte heftig. »Ich habe gehört, was du vorher zu Mrs Walsh gesagt hast. Du gehst zurück in deine Heimat. Ich könnte mit dir gehen.«

»Wozu?«

»Du könntest mir beibringen, so zu werden wie du.«

»Verzweifelt, auf der Flucht und halb tot?«

»Eine Kriegerin!«, antwortete Cindy. Ihre Augen leuchteten. »Ich habe gesehen, was du gestern Abend getan hast. Ich will das lernen.«

»Menschen zu töten?«

»Mich zu verteidigen«, antwortete Cindy kopfschüttelnd. »Dir kann niemand etwas tun! Ich will so werden wie du! Eine Kriegerin! Bringst du es mir bei?«

»Kein Problem«, antwortete Bast. »Ich kann dich alles lehren, was ich kann ... wenn du ein paar hundert Jahre Zeit hast.«

»Auf den Arm nehmen kann ich mich selbst«, sagte Cindy ärgerlich. »Du willst mich nicht bei dir haben, stimmt's?«

»Das hat nichts mit Wollen zu tun«, sagte Bast traurig. »Ich weiß ja nicht einmal, ob ich morgen um diese Zeit noch lebe.«

»Blödsinn!«, schnaubte Cindy.

Bast sah sie noch einen Herzschlag lang resignierend an, dann rief sie mit nur leicht erhobener Stimme nach Mrs Walsh.

Maistowe und sie tauchten so schnell auf, dass sie nicht einmal darüber nachdenken musste, ob sie gelauscht hatten oder nicht.

»Ich glaube, Cindy hat sich entschieden«, sagte sie. »Dann wäre jetzt nur noch die Frage zu klären, ob sie auch seefest ist.«

Cindy schnaubte wütend, ballte die Fäuste und stampfte davon.

Mrs Walsh fragte nicht, was sie in ihrer angeblichen Abwesenheit besprochen hatten. »Das freut mich aufrichtig«, sagte sie. »Es hätte mir wirklich leidgetan, wenn dieses arme Kind endgültig auf den falschen Weg geraten wäre.«

»Und Sie trauen sich das wirklich zu?«, fragte Bast.

»Ich bin vielleicht nicht mehr die Jüngste«, Mrs Walsh schürzte die Lippen und sah sie schon wieder mit diesem gespielten verletzten Ausdruck an, »aber noch nicht annähernd so alt wie Sie, mein K ... meine Liebe, und Jacob wird mich tatkräftig unterstützen.« Sie sah Maistowe Zustimmung heischend an, gab ihm aber gar keine Gelegenheit, auch nur einen Ton hervorzubringen. »Ich weiß, dass der Moment ungünstig ist, aber ich muss Sie um einen kleinen Gefallen bitten.«

»Wen soll ich umbringen?«, fragte Bast.

Mrs Walsh schien das nicht lustig zu finden, aber sie überging die Bemerkung. »Wir reisen heute Abend ab, und das für eine lange Zeit, jedenfalls für jemanden wie mich, der zeit seines Lebens niemals länger als zwei Tage aus London weg gewesen ist. Ich würde mich gern von einigen meiner Bekannten verabschieden, wenn Sie verstehen.«

»Und Sie möchten, dass ich eine Weile hier bleibe und auf Cindy aufpasse.« Und auf Jacob. Ganz besonders auf Jacob.

»Das wäre sehr freundlich. Ich verspreche, dass ich bald zurück bin. In spätestens ein paar Stunden.«

Bast sah zur Uhr hin, obwohl es nicht nötig war. Sie verspürte nicht die geringste Lust, das Kindermädchen für eine beleidigte Göre zu spielen - aber vermutlich war es ohnehin sinnlos, jetzt nach Whitechapel zu gehen.

»Ich bin nicht begeistert von dieser Vorstellung«, sagte sie ehrlich. »Aber wenn Sie versprechen, nicht zu lange zu bleiben ...«

»Ich bin bis Mittag zurück«, versprach Mrs Walsh. »Allerspätestens bis um eins.«

Mrs Walsh kam, wie versprochen, Punkt eins zurück; sogar einige Minuten vor eins, um genau zu sein, und sie war sonderbar gedrückter Stimmung, obwohl sie sich alle Mühe gab, sich nichts davon anmerken zu lassen. Bast konnte sie verstehen und sparte sich jede entsprechende Frage. Immerhin stand sie im Begriff, allem den Rücken zuzukehren, was ihr Leben bisher ausgemacht hatte, und sich auf ein Abenteuer vollkommen unberechenbaren Ausgangs einzulassen, und natürlich hatte sie Angst davor.

Vielleicht spürte etwas in ihr auch, dass sie niemals zurückkehren würde.

Bast hätte ihr diese Furcht nehmen können, um ihr wenigstens die letzten Stunden hier in London zu erleichtern, aber sie verzichtete ganz bewusst darauf. Auch Schmerz war etwas, worauf Menschen einen Anspruch hatten - und was sie heute Nacht und im Moment ihrer Abreise tun musste, das würde schwierig genug werden. Es war niemals ohne Risiko, die Erinnerungen eines Menschen zu manipulieren, und es war sehr leicht, dabei großen und nicht wiedergutzumachenden Schaden anzurichten.

Es war vielleicht drei, und Bast stellte gerade die Schachfiguren auf dem Brett vor sich auf, um Cindy zu einer dritten Partie herauszufordern. Zwei vorausgegangene hatte sie verloren - was ihr ziemliche Mühe bereitet hatte, um es nicht zu deutlich werden zu lassen -, und Cindy zappelte auf ihrem Stuhl herum und konnte es gar nicht erwarten, den ersten Zug zu machen. Trotz ihrer inneren Unruhe lag ein Ausdruck höchster Konzentration auf ihrem Gesicht.

»Und?« Maistowe kam aus der Küche geschlurft und warf einen neugierigen Blick auf das Schachbrett. Der weiße Verband um seine Stirn ließ ihn noch blasser erscheinen, und unter seinen Augen lagen dunkle Ringe. Die schlaflose Nacht hatte Spuren hinterlassen. Trotzdem lächelte er und war spürbar gelösterer Stimmung als gestern. »Wie schlägt sie sich?«

»Gut«, antwortete Bast wahrheitsgemäß. »Sogar sehr gut. Sie ist ein Naturtalent.«

»Das ist gelogen«, behauptete Cindy.

»Dass du ein Naturtalent bist?«

»Dass ich mich gut schlage.« Cindy stülpte beleidigt die Unterlippe vor und sah dadurch aus wie ein albernes Kind, das sie in diesem Augenblick auch war. »Sie lässt mich gewinnen. Und sie glaubt auch noch, ich merke es nicht!«

Maistowe legte fragend die Stirn in Falten, und Bast machte gehorsam ein ertapptes Gesicht. »Das ändert nichts daran, dass du gut spielst«, sagte sie. »Vor allem, wenn man bedenkt, dass ich dir die Regeln vor kaum einer Stunde erst beigebracht habe.«

Jetzt war Maistowe ehrlich beeindruckt. »Als ich das Schachspielen gelernt habe, hat es zwei Tage gedauert, bis ich die Figuren auch nur richtig aufstellen konnte«, sagte er.

»Ist doch leicht«, antwortete Cindy. »Bast ist eben eine gute Lehrerin.« Sie machte ein gewichtiges Gesicht. »Sie hat mir erzählt, dass dieses Spiel über zweitausend Jahre alt ist.«

»Ich weiß«, sagte Maistowe. »Und es ist immer noch gut.«

»Aber wusstest du auch, dass ihr Volk es erfunden hat?«, fragte Cindy triumphierend.

»Nein«, sagte Maistowe.

»Ist aber so!« Cindy nickte heftig. »Kein Wunder, dass sie es so gut kann, nicht wahr? Aber ich lerne es schon, keine Sorge.« Sie machte ihren ersten Zug, kaum dass Bast die letzte Figur auf das Brett gestellt hatte, und sah sie herausfordernd an. »Wehr dich, wenn du dich traust!«

Als Bast nach ihrem Königsbauern greifen wollte, schüttelte Maistowe den Kopf. »Vielleicht später«, sagte er. »Ich fürchte, im Moment muss ich euer Spiel leider unterbrechen.«

»Wieso?«, fragte Bast.

»Weil Cindy und ich noch einmal fortmüssen«, sagte Mrs Walsh, die in diesem Moment ebenfalls aus der Küche kam. »Nicht für lange, keine Sorge. Wir sind in einer Stunde zurück.«

»Warum?«, fragte Cindy misstrauisch. »Und wohin?«

Mrs Walsh kam lächelnd näher und zupfte an ihrem Ärmel. »Wenn ich mich nicht täusche, ist das das einzige Kleid, das du besitzt, mein Kind«, sagte sie. »Etwas wenig für eine so lange Reise, wie sie uns bevorsteht, meinst du nicht? Ich fürchte, wir werden dich neu einkleiden müssen.« Sie seufzte übertrieben. »Und nachdem ich das letzte Mal so sehr danebengelegen habe, was deine Größe angeht ...«

»Und meinen Geschmack«, sagte Cindy.

Mrs Walsh ignorierte den Einwurf und fuhr unbeeindruckt fort: »... halte ich es für das Beste, wenn du mich dieses Mal begleitest.«

»Sie wollen mit ihr in die Stadt?«, fragte Bast. Der Gedanke gefiel ihr nicht.

Mrs Walsh schüttelte jedoch den Kopf. »Nur zwei Straßen weiter, zu Vater McNeill.«

»Dem Pfaffen?«, entfuhr es Cindy. Das brachte ihr einen strafenden Blick Mrs Walshs ein, zu Basts Überraschung jedoch keinen dazu passenden Kommentar.

»Er ist ein alter Freund«, sagte sie, »und der Anstand gebietet es, dass man sich von seinen Freunden verabschiedet, wenn man auf Reisen geht, mein Kind. Ich bin nicht ganz sicher, ob du weißt, was dieses Wort bedeutet, aber wenn wir uns erst ein wenig besser kennen, dann wirst du es sicher lernen.«

Cindy verdrehte die Augen, und Mrs Walsh fuhr, nun direkt an Bast gewandt, fort: »Außerdem verfügt Vater MacNeill über eine wohl sortierte Kleiderkammer, in der wir bestimmt das eine oder andere passende Teil für sie finden. Mitglieder seiner Gemeinde geben dort Kleider ab, aus denen sie herausgewachsen sind oder die sie aus dem einen oder anderen Grund nicht mehr brauchen.«

»Ich soll gebrauchte Kleider tragen?«, ächzte Cindy.

»Daran ist nichts auszusetzen«, sagte Bast rasch. »Ich bin sicher, sie sind sauber und in gutem Zustand.«

»Selbstverständlich«, sagte Mrs Walsh in einem Ton, als wäre allein die Vermutung, es könne anders sein, schon eine Beleidigung. »Überdies verlangt Vater MacNeill nur eine kleine Spende, wenn man sich aus seiner Kleiderkammer bedient - wenn überhaupt etwas. Ich bin keine reiche Frau.«

Cindy wollte erneut widersprechen, aber diesmal kam ihr Maistowe zuvor. »Sobald wir an unserem Ziel angekommen sind, kaufe ich dir das schönste Kleid, das wir finden«, versprach er. »Aber für die Reise wäre das keine gute Idee. Ein Schiff ist kein sehr sauberer Ort.«

Bast dachte an die winzige, schmuddelige Kabine an Bord der Lady of the Mist, in der sie die Reise hierher hinter sich gebracht hatte, und gab ihm in Gedanken recht. Sie stand auf. »Ich begleite Sie.«

»Aber das ist doch nicht nötig!«, wehrte Mrs Walsh ab. »Es sind nur zwei Straßen, und es ist helllichter Tag. Bleiben Sie ruhig und ruhen Sie sich noch etwas aus. Außerdem ist es mir ganz lieb, wenn jemand Jacob Gesellschaft leistet - und auf ihn aufpasst, damit er nicht etwa Dummheiten macht.«

»Dummheiten?«, fragte Maistowe.

»Versuchen Sie gar nicht erst, es zu leugnen, Jacob«, sagte Mrs Walsh streng. »Ich sehe Ihnen doch an, dass Sie meine Abwesenheit gar nicht abwarten können, um sich eine Ihrer schrecklich stinkenden Zigarren anzuzünden.«

»So etwas würde ich nie tun!«, antwortete Maistowe mit dem treuesten Gesicht der Welt. Mrs Walsh bedachte ihn nur mit einem noch strengeren Stirnrunzeln, schüttelte dann fast resignierend den Kopf und gab Cindy einen Wink, ihr zu folgen. Cindy gehorchte schweigend; allerdings erst, nachdem sie einen fragenden Blick mit Bast getauscht und diese fast unmerklich genickt hatte.

Kapitän Maistowe wartete immerhin, bis die beiden das Haus verlassen hatten, ehe er sich ein Zigarillo anzündete und einen tiefen, genießerischen Zug nahm.

»Sie sind ziemlich verwegen«, sagte Bast lächelnd. »Gloria wird Ihnen den Kopf abreißen.«

»Vermutlich«, bestätigte Maistowe, während er sein Streichholz auswedelte und zielsicher wie üblich zwei Fuß neben den Kamin schnippte. »Aber uns bleibt ja Zeit genug, das Zimmer zu lüften.«

Bast lächelte zwar weiter, aber ihr Blick wurde ernst. »Sie wissen, dass Sie wahrscheinlich nicht zurückkehren werden«, sagte sie.

»Das ... ist möglich«, sagte Maistowe zögernd. »Aber wäre das so schlimm?«

»Sie glauben, Gloria würde all das hier aufgeben?«, fragte Bast. »Es ist alles, was sie hat.«

»Ich weiß«, antwortete Maistowe. »Aber ich bin nicht so unvermögend, wie Gloria glaubt. Ich besitze ein kleines Haus in der Nähe Kairos und verfüge auch über einige Ersparnisse. Ich bin kein reicher Mann, aber wenn ich die Lady verkaufe und wir nicht mehr als einen normalen Lebenswandel pflegen, dürfte es für einen geruhsamen Lebensabend zu zweit ausreichen.«

»Sie würden Ihr Schiff aufgeben?«, fragte Bast überrascht.

»Warum nicht?« Maistowe setzte sich, nahm Cindys ersten Zug zurück und eröffnete das Spiel unkonventionell mit seinem rechten Springer. Er war entweder ein ganz besonders talentierter, oder ein ganz außergewöhnlich miserabler Schachspieler, dachte Bast. »Um ehrlich zu sein, habe ich schon mehrmals daran gedacht, mich zur Ruhe zu setzen. Und in letzter Zeit immer häufiger. Ich wusste nur nie, wie ich ... Gloria dazu bringen konnte, mich zu begleiten.« Er lächelte. »Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich Ihnen zu großem Dank verpflichtet bin.«

Bast machte einen Gegenzug und sah ihn dabei stirnrunzelnd an. »Und Sie würden das alles aufgeben? Das Leben auf See, die Freiheit ...?«

Maistowe schnaubte. »Wenn man es lange genug gemacht hat, dann verliert dieses freie Leben doch eine Menge von seinem Reiz«, sagte er und machte einen Zug, der Bast endgültig davon überzeugte, dass er gerade die Wahrheit gesagt hatte, als er von seiner Mühe berichtet hatte, die Züge zu lernen. Wie es aussah, hatte er auch heute noch so seine Schwierigkeiten damit. »Die meiste Zeit besteht es aus Arbeit und Mühe. Und die viel gelobte Freiheit entpuppt sich irgendwann als der Kampf gegen die See und das Wetter, und wenn man das alles übersteht, hat man es mit den Bürokraten und den Banken zu tun. Ich weiß nicht, was schlimmer ist. Hat Ihnen Gloria erzählt, wie wir uns kennen gelernt haben?« Bast nickte, aber Maistowe fuhr trotzdem fort: »Vor einigen Jahren war ich beinahe ruiniert, und es war nicht meine Schuld, das können Sie mir glauben. Nein.« Er schüttelte heftig den Kopf und machte einen weiteren Zug, ohne dass Bast ihre Figuren auch nur angerührt hätte. Sie sagte nichts dazu. »Das Beste, was mir noch passieren kann, ist, dass mir nichts passiert, und das ist es nicht, was ich mir von weiteren zehn oder zwanzig Jahren auf See erträume.«

Er sog an seiner Zigarre, und sein Ton und seine Gestik änderten sich. »Aber so weit ist es noch nicht, nicht wahr? Ich habe nicht vor, Gloria zu irgendetwas zu zwingen - einmal davon abgesehen, dass keine Macht der Welt Gloria zu etwas zwingen könnte, was sie nicht will -, aber vielleicht gefällt ihr ja das, was ich ihr zu bieten habe.«

»Ich gönne es Ihnen«, sagte Bast.

Er wedelte mit seiner Zigarre herum und machte den dritten Zug hintereinander. »Aber wir reden immer nur über mich, nicht über Sie.«

»Da gibt es auch nicht viel zu reden.« Bast verschob unbemerkt zwei ihrer Figuren, damit es nicht ganz so auffiel. »Vielleicht sehen wir uns ja, wenn Sie tatsächlich in Kairo leben.«

»Das ist gelogen«, sagte Maistowe. »Nett gemeint, aber gelogen. Sie haben das nicht vor.«

»Das ist wahr«, bekannte Bast. »Aber es ist besser so, glauben Sie mir.«

»Besser für uns«, vermutete Maistowe. Er sah auf das Schachbrett hinab, blinzelte und legte einen Moment lang die Stirn in Falten, deutete aber dann nur ein Achselzucken an und verschob seinen Bauern nach rechts. Bast sparte es sich, ihn darauf hinzuweisen, dass dieser Zug nicht erlaubt war. »Ich mache mir eher Sorgen um Sie.«

Und das zu recht. Aber es gab nichts, was er für sie tun konnte - außer sein Leben vollkommen sinnlos wegzuwerfen. »Ich kann schon auf mich aufpassen.«

»Das ist mir aufgefallen«, sagte Maistowe, blieb dabei aber vollkommen ernst. »Ich frage mich nur, ob Sie die richtigen Prioritäten setzen.«

»Inwiefern?«

»Sie sind hier«, antwortete Maistowe. »Irgendwo dort draußen ist jemand, der Ihnen nach dem Leben trachtet. Aber statt sich um Ihre eigenen dringenden Angelegenheiten zu kümmern«, fuhr Maistowe ungerührt fort, »sitzen Sie hier und bringen Cindy das Schachspielen bei. Halten Sie das für klug?«

»Nein«, antwortete Bast. »Ich sollte es lieber Ihnen beibringen. Cindy wird Sie niedermetzeln, wenn Sie sich mit ihr einlassen.«

»Und Sie werden auch hier bleiben, bis wir abgereist sind, habe ich recht? Nicht um Cindy Schachunterricht zu erteilen, sondern um auf uns aufzupassen. Sie riskieren Ihr eigenes Leben, um unsere zu beschützen.«

»Unsinn!«, widersprach Bast, eindeutig zu hastig. »Ich bin nicht in Gefahr. Jedenfalls nicht so, wie Sie glauben. Haben Sie mir heute Morgen nicht zugehört? Horus würde mir nie etwas antun!«

»Sie gestatten, dass ich in diesem Punkt anderer Meinung bin«, antwortete Maistowe. »Frederick hat mir erzählt, was in der Tube passiert ist. Wenn dieser Horus, wie Sie sagen, das Inferno überlebt hat, dann ist er bestimmt ziemlich sauer auf Sie.«

»Damit haben Sie sogar recht, Jacob«, antwortete Bast. »Aber ich kann Sie beruhigen. Ich weiß, wie ich mit ihm umzugehen habe. Und wenn Sie die Wahrheit wissen wollen: Ich bin tatsächlich hier geblieben, um auf Sie, Gloria und Cindy aufzupassen ... aber aus einem anderen Grund. Wäre ich eine Anhängerin Ihrer Religion, dann würde ich drei Kreuze schlagen, sobald die Lady abgelegt hat.«

Maistowe wirkte ein bisschen beleidigt. »Wieso?«

»Horus würde mir tatsächlich niemals etwas antun, Jacob«, sagte Bast ernst. »Aber er hat kein Problem damit, allen etwas anzutun, die mir etwas bedeuten. Er würde Gloria oder auch Sie töten, nur um mich zu treffen. Sie sehen also, es ist durchaus in meinem eigenen Interesse, dafür zu sorgen, dass Sie unbeschadet an Bord Ihres Schiffes gehen.«

»Sie wollen mich vor den Kopf stoßen, um mir den Abschied leichter zu machen«, sagte Maistowe. »Aber das funktioniert nicht.« Er zog seinen Turm, indem er ihn unverfroren über den Bauern davor hinwegsetzte, und diesmal konnte Bast ein entsetztes Ächzen nicht mehr unterdrücken.

»Und Sie sind sicher, dass Sie Schach gelernt haben, und nicht Dame?«



Die Stunde, von der Mrs Walsh gesprochen hatte, verging, und auch noch eine weitere halbe, aber Bast gestattete sich nicht, wirklich besorgt zu sein. Wahrscheinlich hatte sich Mrs Walsh einfach festgeredet, oder es gab größeren Diskussionsbedarf bei der Auswahl der Kleidungsstücke, die Vater McNeills Kammer enthielt. Außerdem hatte sie andere Probleme. Mit ein bisschen unfairem Nachdruck war es ihr gelungen, die unangenehm werdende Diskussion abzuwürgen. Maistowe jedoch wenigstens die Grundbegriffe des Königlichen Spieles beizubringen entpuppte sich als eine Aufgabe, an der selbst sie zu scheitern drohte.

Hufschlag näherte sich, zuerst weit entfernt und leise, sodass sie kaum darauf achtete, aber er wurde rasch lauter und hektischer, und nach einem Augenblick mischte sich auch das Geräusch schnell rollender, eisenbeschlagener Räder hinein. Bast sah auf und blickte stirnrunzelnd zur Tür, und auch Maistowe riss seinen Blick von dem aus vierundsechzig Feldern bestehenden, unlösbaren Rätsel zwischen ihnen los.

»Da scheint es aber jemand eilig zu haben«, sagte er.

Bast nickte abwesend und konzentrierte sich. Es war aber nicht nur ein Wagen, der da in eiligem Tempo näher kam, sondern mindestens zwei, und sie bewegten sich nicht einfach schnell, sondern in geradezu halsbrecherischem Tempo. Sie hörte noch einen Atemzug lang beunruhigt zu und beschloss dann, aufzustehen und wenigstens einen Blick aus dem Fenster zu werfen, aber sie kam nicht mehr dazu. Das Droschkengeräusch kam rasend schnell näher und brach dann abrupt ab, und nach einer eigentlich unmöglich kurzen Zeitspanne wurde die Tür aufgestoßen, und Inspektor Abberline stürmte herein, dicht gefolgt von gleich drei uniformierten Polizeibeamten, die nicht nur äußerst aufgeregt - und ein bisschen ängstlich - wirkten, sondern auch ausnahmslos bewaffnet waren. Bast rührte sich nicht.

Maistowe hingegen sehr wohl, indem er aufsprang und einen zornigen Schritt machte, dann jedoch unvermittelt zur Salzsäule erstarrte, als gleich zwei der Polizeibeamten ihre Revolver auf ihn richteten und Abberline eine rasche, warnende Handbewegung machte. »Setz dich wieder hin, Jacob. Sofort!«

Wahrscheinlich lag es zum allergrößten Teil an seinem scharfen Ton, dass Maistowe tatsächlich wieder zurückwich und sich in seinen Stuhl plumpsen ließ. »Bist du ... verrückt geworden, Frederick?«, murmelte er. »Was soll das?«

»Schweigen Sie, Kapitän«, antwortete Abberline. Er gab den drei Männern hinter sich einen Wink, der Bast klarmachte, dass sie ihr Vorgehen offensichtlich genau abgesprochen hatten: Einer von ihnen postierte sich so, dass er Maistowe und Bast mit seiner Waffe in Schach halten konnte, die beiden anderen machten Anstalten, die Treppe hinaufzueilen.

»Durchsucht das Haus!«, befahl er. Maistowe fuhr sichtlich zusammen, und Bast sagte rasch:

»Aber das ist doch nicht nötig.«

Abberline staunte nicht schlecht, als die beiden Bobbys tatsächlich mitten im Schritt erstarrten und plötzlich irgendwie ratlos aussahen. Eigentlich staunte er nicht, sondern wirkte ein bisschen entsetzt.

»Und Sie können auch Ihre Waffen wegstecken, meine Herren«, fuhr Bast fort. »Es sei denn, Sie wollen uns auf der Stelle erschießen.«

Die drei Männer gehorchten, und Abberlines Gesicht verlor auch noch das allerletzte bisschen Farbe. »Was ...?«

»Genau dieselbe Frage wollte ich Ihnen auch gerade stellen, Inspektor«, unterbrach ihn Bast kühl. »Was soll dieser Überfall?«

Abberline starrte sie noch eine weitere Sekunde lang an, aber er fand seine Fassung erstaunlich schnell wieder. »Wo sind Mrs Walsh und das Mädchen?«, fragte er.

»Nicht hier«, antwortete Bast, bevor Maistowe es tun konnte. »Aber wir erwarten sie jeden Augenblick zurück.« Innerlich atmete sie vorsichtig erleichtert auf. Wenn Abberline nach Mrs Walsh und Cindy fragte, dann bedeutete das mit ziemlicher Sicherheit, dass den beiden nichts passiert war. »Und jetzt wäre ich Ihnen wirklich dankbar, wenn Sie uns erklären würden, was dieser Überfall zu bedeuten hat.«

Abberline sah die drei Bobbys, die mit ihm hereingekommen waren, noch immer zutiefst verwirrt an, aber er ging nicht auf das schier unglaubliche Bild ein, das sich ihm bot. Er beantwortete auch ihre Frage nicht, sondern stellte seinerseits eine.

»Wo waren Sie heute, Bastet?«

»Was soll denn das?«, murmelte Maistowe.

»Heute? Hier!«, antwortete Bast. »Den ganzen Tag. Ich habe das Haus nicht verlassen.«

»Und dafür gibt es Zeugen, nehme ich an?«

»Jacob, Mrs Walsh und Cindy«, antwortete Bast. Irgendetwas war passiert. Etwas Schlimmes. Aber sie wagte es nicht, sich wirklich zu fragen, was. »Und der Beamte, den Sie auf der anderen Straßenseite postiert haben. Warum fragen Sie?«

Abberline wandte sich an Maistowe. »Ist das wahr? Sie hat das Haus nicht verlassen? Auch nicht kurz?«

»Weder heute noch vergangene Nacht«, antwortete Maistowe. Er klang noch immer verwirrt, aber auch in zunehmendem Maße wütend. »Sie hat die ganze Nacht in ihrem Bett gelegen und es nicht einmal verlassen. Das kann ich bezeugen.«

Abberline runzelte ob dieser ungefragten Information irritiert die Stirn. Normalerweise hätte auch Bast das nicht besonders komisch gefunden, aber im Moment war es ihr ziemlich egal, was Abberline sich dabei dachte.

»Also, Inspektor - was ist passiert? Was sollen diese Fragen ... und die Waffen?«

»Ich fürchte, ich habe eine schlechte Nachricht für Sie, Miss Bast«, antwortete Abberline unbehaglich. »Es ist mir nicht angenehm, und es war ganz sicher nicht meine Idee, aber ich habe den Auftrag, Sie zu verhaften und nach Whitehall zu bringen.«

»Verhaften?«, ächzte Maistowe. »Haben Sie den Verstand verloren?«

Bast machte eine besänftigende Geste. »Munro?«, vermutete sie. Abberline nickte. Sein Blick irrte immer wieder zu den drei Bobbys hin, und Bast war fast sicher, dass er ganz allmählich zu begreifen begann, was geschah. Nur nicht, was er damit anfangen würde. »Was genau ist passiert? Vermisst er seinen Kanopendeckel?«

»Es ist wieder passiert«, antwortete Abberline ernst. »Diesmal am hellen Tag. Er wird immer dreister.«

»Der Ripper?«, fragte Maistowe erschrocken.

»Nicht nur das. Diesmal hat der Mistkerl seine Tat angekündigt«, antwortete Abberline. »Er hat einen weiteren Brief an die Presse geschickt. Nach dem Poststempel zu schließen, wurde er gestern aufgegeben, aber da war das Opfer nachweislich noch am Leben.« Zorn spiegelte sich in seinem Blick, aber Bast hatte das Gefühl, dass das noch nicht alles war.

»Wer ist das Opfer?«, fragte Maistowe.

»Das wissen wir noch nicht«, sagte Abberline. »Ich habe Männer vor Ort, aber die Leiche ist noch nicht eindeutig identifiziert. Es dürfte ... eine Weile dauern, fürchte ich. Ich komme gerade von dort, und es ist kein schöner Anblick.«

»Und Sie sind sicher, dass es der Ripper war?«, fragte Bast.

»Wenn Sie die Tote gesehen hätten, würden Sie diese Frage nicht stellen«, antwortete Abberline.

»Und das ist für Sie Grund genug, hier gleich mit einem Haftbefehl und einer kleinen Armee aufzutauchen?«, fragte Maistowe empört.

Bast brachte ihn mit einer raschen Bewegung zum Schweigen. Das war nicht der Grund, aber es interessierte sie im Moment nicht. Irgendetwas sehr Schlimmes war passiert, dessen war sie sich mittlerweile sicher. »Wo ist es passiert?«, fragte sie. »Wieder in Whitechapel?«

»Ja, wenn auch am Rande. Eine kleine Wohnung in einem schäbigen Hinterhof, die ...«

»Mit nur einem Zimmer?«, fiel ihm Bast ins Wort. Sie sprang auf. »Nur ein Bett, ein kleiner Ofen und eine Kiste?«

»Und eine Leiche«, bestätigte Abberline. Er klang plötzlich hörbar misstrauisch. »Darf ich fragen, woher Sie das wissen?«

Faye. Bei Ra, sie hatten Faye getötet! »Weil ich diese Wohnung kenne!«, antwortete sie mühsam beherrscht. »Und ich fürchte, auch das Mädchen, von dem Sie sprechen. Bringen Sie mich hin!«

»Es tut mir leid, aber ich habe Befehl, Sie ...«

»Sofort!«



Der Wagen war in so halsbrecherischem Tempo durch die schmaler werdenden Straßen geprescht, dass es Bast im Nachhinein fast wie ein kleines Wunder vorgekommen war, dass sie niemanden überfahren hatten, oder in einer der scharfen Kurven einfach umgekippt waren.

Und zugleich hatte sie das Gefühl gehabt, dass die Fahrt einfach kein Ende nehmen wollte.

Jetzt hatten sie ihr Ziel erreiht, und Bast sah ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt: Die Straße, in der Fayes winzige Hinterhof-Wohnung lag, war an beiden Enden abgesperrt, und eine kleine Armee von Bobbys bildete nicht nur einen grimmigen Absperr-Ring vor der schmalen Toreinfahrt, sondern versuchte auch - mit mäßigem Erfolg - der immer größer werdenden Masse der Schaulustigen und Gaffer Herr zu werden, die sie belagerte.

Aber es waren nicht einfach nur Schaulustige. Etwas hatte sich geändert seit jener Nacht, als sie vor Liz' Leichnam gestanden hatte. Auch diese Leute hier waren von der bloßen Neugier und der morbiden Faszination der Gewalt, die anderen angetan wurde, angezogen worden, aber das war nicht alles. Etwas Neues war dazugekommen. Diese Leute hier hatten Angst. Und sie suchten einen Schuldigen.

Der Wagen hielt mit einem klirrenden Ruck und dem protestierenden Schnauben und Hufeschlagen der Pferde an, die viel zu brutal abgebremst worden waren, und Abberline stieß die Tür auf und gebot ihr mit einer hastigen Geste, zurückzubleiben. Bast beobachtete, wie er mit wenigen raschen Gesten dafür zu sorgen versuchte, dass die Beamten eine Gasse durch die Menschenmenge für sie bahnten. Offensichtlich gingen seine Überlegungen in eine ganz ähnliche Richtung wie ihre eigenen.

Sie ging dennoch kein Risiko ein. Im gleichen Augenblick, in dem sie den Wagen verließ, schlüpfte sie in eine andere Gestalt, und jedermann, der jetzt in ihre Richtung blickte, sah nichts als einen weiteren Bobby mit Cape und hohem Helm, der Abberline folgte. Jeder außer Abberline selbst - und möglicherweise der Linse einer Kamera, die vielleicht in diesem Moment auf sie gerichtet war.

Abberline wedelte ungeduldig mit der Hand, ihm zu folgen, wirkte aber zugleich auch schon wieder verblüfft und ein wenig misstrauisch. Er sah sie so, wie sie wirklich aussah, und er konnte auch nicht wissen, was alle anderen in seiner Umgebung wahrnahmen, aber er spürte zweifellos, dass etwas Sonderbares vorging.

Bast ging so schnell weiter, dass ihm gar keine Zeit zum Nachdenken blieb. Die Beamten vor dem Tor wichen respektvoll vor dem Inspektor und ihrem unbekannten Kollegen zur Seite, und Bast trat in den Schatten des Torbogens. Ihr Herz begann mit jedem Schritt über das Kopfsteinpflaster schneller zu schlagen. Licht drang aus einer Türöffnung in das Dunkel des Hinterhofs. Es war Fayes Wohnung, und Bast fühlte sich plötzlich elend, zugleich aber unglaublich zornig. Sie hatte es ja gewusst. Es war noch keine zwei Stunden her, da hatte sie Maistowe gesagt, dass Horus ganz genau das tun würde: alles und jeden vernichten, der ihr auch nur irgendetwas bedeutete. Und doch fühlte sie sich jetzt, als hätte sie selbst Faye getötet. Faye, die ...

... sich gleichen Moment herumdrehte, in dem Bast das hoffnungslos überfüllte Zimmer betrat, und sie aus leeren, vom Weinen verquollenen Augen anblickte.

»Faye?«, murmelte sie verwirrt.

»Kennen wir ...« Faye brach ab, und ihre Augen weiteten sich, als Bast mit einiger Verspätung endlich daran dachte, ihre Tarnung aufzugeben und wieder in ihre wirkliche Gestalt zu schlüpfen.

»Bast?«, flüsterte sie verstört.

Bast war im allerersten Moment nicht weniger sprachlos als sie. Sie war in der festen Überzeugung hierhergekommen, Fayes geschändeten Leichnam identifizieren zu müssen, aber jetzt stand Faye unversehrt und nur zu Tode erschrocken vor ihr.

Bast überwand endlich ihre Überraschung und sah sich aufmerksam um. Außer Faye und ihr selbst befanden sich noch fünf weitere Personen in dem winzigen Kämmerchen. Vier davon waren uniformierte Polizisten, der fünfte niemand anderes als James Monro höchstselbst. Er trug einen eleganten schwarzen Frack, Rüschenhemd und Fliege und einen Zylinder, der hoch genug war, um beinahe gegen die Decke zu stoßen. Und er starrte sie mindestens ebenso verblüfft an wie sie gerade Faye.

Dann schlug seine Verwirrung urplötzlich in Zorn um. »Was, zum Teufel, tun Sie denn hier?«, fauchte er. »Hatte ich nicht angeordnet, dass diese Person unverzüglich in Gewahrsam genommen wird?«

Bast begriff erst mit einer Sekunde Verspätung, dass Monros Zorn nicht wirklich ihr galt, sondern Abberline, der halb hinter, halb neben ihr stand und vergeblich versuchte, sich in ein Zimmer zu quetschen, in dem einfach kein Platz mehr für ihn war.

»Ich weiß, Monro«, antwortete er rasch, aber in keineswegs devotem Ton. »Aber Miss Bast kann uns möglicherweise dabei behilflich sein, das Opfer zu identifizieren, und da dachte ich ...«

»Das Denken haben Sie gefälligst mir zu überlassen, Inspektor«, unterbrach ihn Monro schneidend. Im nächsten Moment schon erlosch sein Ärger ebenso plötzlich, wie er aufgekommen war, und machte einem neuen, fast verschlagenen Ausdruck Platz. »Auf der anderen Seite ... vielleicht ist es gar nicht das Schlechteste, dass Sie da sind, Madam. Möglicherweise können Sie uns ein paar Fragen beantworten. Kommen Sie. Schauen Sie sich um, was wir gefunden haben!«

Er wedelte auffordernd mit der Hand und scheuchte gleichzeitig mit der anderen den größten Teil der Bobbys aus dem Raum, sodass Bast näher an das Bett herantreten und auch Abberline endgültig hereinkommen konnte.

Sie hatte geahnt, dass sie Schlimmes sehen würde, und sie war Schlimmes gewohnt, doch nicht einmal ihr gelang es, vollkommen unbewegt zu bleiben.

Die Tote auf dem Bett war Marie-Jeanette, das rothaarige Mädchen aus dem Ten Bells, aber Bast hatte Mühe, sie zu erkennen. Nicht weil ihr Gesicht verunstaltet gewesen wäre. Ihr Mörder hatte ihre wunderschönen Züge unversehrt gelassen, aber was er mit ihrem Körper getan hatte, war so entsetzlich, dass es ihren Blick fast magisch anzog und es ihr beinahe unmöglich machte, irgendetwas anderes wahrzunehmen. Es dauerte eine Weile, bis sie überhaupt etwas sagen konnte. Und auch dann war es nicht sonderlich originell.

»Das ... das ist ...«

»Ein schrecklicher Anblick, nicht wahr?« Monro kam näher und wedelte mit einem spitzenbesetzten weißen Taschentuch vor dem Gesicht herum; vermutlich um den furchtbaren Geruch nach Blut und Innereien zu verscheuchen, der von dem ausgeweideten Leichnam ausging. »Da fragt man sich doch, welcher Mensch so etwas fertig bringt ... oder ob es überhaupt ein Mensch war.«

Rast drehte sich halb herum und warf Abberline einen verstohlen fragenden Blick zu, den dieser mit einem ebenso verstohlenen Kopfschütteln beantwortete. Nichts davon entging Monro.

»Aber ich nehme an, dass Sie dieser Anblick auch nicht besonders überrascht«, fuhr Monro fort.

»Was genau wollen Sie damit sagen?«, fragte Bast kühl.

»Erinnert Sie das nicht daran, wie Ihr bedauernswerter Kutscher ausgesehen hat, als man ihn fand?«, fragte Monro mit gespielter Unschuld.

Bast nickte nur. Tatsächlich hatte man Marie-Jeanette auf ähnliche Weise zugerichtet wie den armen Arthur - nur sehr, sehr viel schlimmer. Ihr Gesicht war so ziemlich das Einzige an ihr, was unversehrt geblieben war. Und nicht nur der für alle Zeiten erstarrte Ausdruck von Qual darauf sagte Bast, dass sie die ganze Zeit über bei vollem Bewusstsein gewesen war ...

»Ich habe es überprüft, Sir«, sagte Abberline ungefragt. »Miss Bast war den ganzen Tag über in der Pension. Kapitän Maistowe und Mrs Walsh, die Pensionswirtin, haben das bestätigt, und die Konstabler, die das Haus bewacht haben, ebenfalls.«

»Das ist erfreulich für Ihre ... ähm ... für Miss Bast«, antwortete Monro. »Immerhin beweist es, dass sie diesen Mord nicht selbst begangen hat ... aber das habe ich auch niemals angenommen. Das hier ist nicht die Tat einer Frau, ganz gleich, woher sie auch kommen mag.«

»Warum wollen Sie mich dann verhaften?«, fragte Bast.

»Vorladen wäre der korrektere Ausdruck«, sagte Monro kühl. »Hat Inspektor Abberline das nicht erwähnt? Wenn ja, entschuldige ich mich für dieses Versäumnis, aber es ändert nichts daran, dass Sie sich als in Gewahrsam genommen betrachten müssen. Es tut mir leid.«

»Und warum?« Bast drehte sich halb um, sodass ihr wenigstens der grässliche Anblick der geöffneten Leiche auf dem Bett erspart blieb.

»Nun, aus zwei Gründen«, antwortete Monro. »Der eine ist, dass ich sicher bin, dass Sie etwas mit dieser ganzen Geschichte zu tun haben. Sie haben diese Morde gewiss nicht selbst begangen, aber ich weiß, dass Sie etwas damit zu tun haben. Sie wissen, wer sie begangen hat, oder zumindest doch warum, und Sie werden mir sagen, was Sie wissen.«

»Was zu beweisen Ihnen schwerfallen dürfte«, sagte Bast kühl.

»Vielleicht«, antwortete Monro ungerührt. »Vielleicht auch nicht. Aber das ist im Moment zweitrangig. Ich sagte Ihnen doch, dass ich Sie aus zwei Gründen ... hergebeten habe. Interessiert Sie der zweite Grund?«

Bast verschwendete keine Zeit damit, überhaupt zu antworten, und Monro hatte damit wohl auch gar nicht gerechnet, denn er schob sich an ihr vorbei, beugte sich mit einem leisen Ächzen vor und hob etwas auf, das bisher unter dem Bett gelegen hatte. »Können Sie mir vielleicht sagen, was das ist?«

Bast runzelte die Stirn, griff aber gehorsam nach der gesprungenen Glasplatte, die Monro ihr reichte und hatte im nächsten Moment Mühe, ein erschrockenes Zusammenzucken zu unterdrücken.

»Ah, ich sehe, Sie wissen, was das ist«, sagte Monro. Sein triumphierender Ton gefiel Bast nicht.

»Woher ... haben Sie das?«, fragte sie stockend. Es war die Photoplatte. Das photographische Negativ, das sie gestern in ihrem Gepäck gefunden hatte.

Sie war sich sicher, dass sie die Glasplatte wieder in den Mantel gesteckt hatte, nachdem sie sie Isis gezeigt hatte. Sie musste sie mit zurück in die Pension genommen haben. Oder etwa nicht? Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie die Photographie das letzte Mal in der Hand gehabt hatte. Es war so viel passiert in der Zwischenzeit. Der Überfall der Männer, ihr eigener todesähnlicher Schlaf ...

»Es lag unter dem Bett«, hörte sie Monro sagen. »Einer der Konstabler hat es gefunden, als er sich auf die Knie begeben hat, um sich zu übergeben - was ich ihm ehrlich gesagt nicht verübeln kann. Aber keine Sorge, es wurde selbstverständlich gereinigt.« Er steckte sein Tuch ein und begann seinen gewaltigen Schnauzbart zu zwirbeln. »Die eigentliche Frage von Belang jedoch ist, Miss Bast - wer hat es hier verloren? Und wen zeigt dieses Bild?«

Auf jeden Fall nicht sie - aber auch das sagte Bast nicht. Niemand außer Isis und sie wusste, wer auf diesem Bild wirklich zu erkennen war, und selbstverständlich würde Monro ihr nicht glauben. So, wie die Dinge lagen, konnte er das gar nicht.

»Ich finde, diese Person hat große Ähnlichkeit mit Ihnen, Gnädigste«, fuhr Monro denn auch prompt fort. »Oder zumindest mit jemandem, der wiederum große Ähnlichkeit mit Ihnen hat.«

»Ja, das könnte sein«, antwortete Bast. »Aber verzeihen Sie, Sir. Ich kenne die britischen Gesetze natürlich nicht so gut wie Sie, aber ... ist es in diesem Land verboten, photographiert zu werden?«

»Keineswegs«, antwortete Monro. »Hat Inspektor Abberline Ihnen eigentlich gesagt, dass man heute Morgen Sapersteins Leiche aus der Themse gefischt hat?«

»Nein«, antwortete Bast. »Wer soll das sein?«

»Israel Saperstein, der Pressephotograph, der manchmal für mich arbeitet«, antwortete Abberline, ohne sie dabei anzusehen. »Ich hatte Ihnen davon erzählt. Er bekommt von mir dann und wann einen kleinen Tipp, wo eine interessante Geschichte zu holen ist, und ich erhalte im Gegenzug von ihm Photographien von Tatorten. Jemand hat ihn umgebracht.«

»Nachdem er dieses Bild gemacht hat«, sagte Monro. »Ein Bild, auf dem Sie zu sehen sind.«

»Jemand, der mir ähnlich sieht«, antwortete Bast. Ihre Gedanken überschlugen sich. Natürlich wusste sie, dass ihre Antwort nichts anderes als lächerlich war, aber sie konnte plötzlich kaum noch klar denken, und für einen Moment drohte sie ernsthaft in Panik zu geraten. Sie erkannte die gesprungene Glasplatte ebenso zweifelsfrei wieder wie die schwarz verhüllte Gestalt darauf - aber sie konnte sich beim allerbesten Willen nicht erklären, wie sie hierherkam!

Monro sah sie nahezu verächtlich an. »Ich bitte Sie, Gnädigste. Ich weiß nicht sehr viel über die Gesetze Ihres Heimatlandes, aber selbst dort dürften diese Beweise zumindest für eine vorläufige Festnahme reichen. Es sei denn, Sie hätten mir etwas zu sagen. Jetzt.«

Bast sah ihn nur an, und Monro nickte, als hätte er nichts anderes erwartet. »Mortensen! Nowes!«, rief er mit erhobener Stimme. Ein zweiter Uniformierter betrat den Raum, und auch der andere Bobby spannte sich. »Verhaften Sie diese Frau!«, befahl Monro. »Legen Sie ihr Handschellen an, und bringen Sie sie nach Scotland Yard. Ich werde später nachkommen und das Verhör persönlich leiten.«

Die beiden Konstabler traten auf sie zu, und Bast zwang sie mit einem einzigen, eisigen Blick stehen zu bleiben. »Das werden Sie nicht tun.«

Die beiden Männer erstarrten mitten in der Bewegung und wirkten gleichermaßen verblüfft wie erschrocken, und Monro ächzte hörbar.

»Konstabler Nowes! Konstabler Mortensen! Sind Sie wahnsinnig geworden? Sie sollen sie in Ketten legen, habe ich gesagt!«

»Es ist alles in Ordnung«, sagte Bast ruhig, an die beiden Konstabler gewandt. »Sie können gehen. Schließen Sie die Tür und warten Sie draußen. Und vergessen Sie, dass Sie mich gesehen haben.«

Die beiden wandten sich gehorsam um und gingen, und Monro starrte ihnen aus hervorquellenden Augen nach. Faye sah aus, als würde sie jeden Moment in Ohnmacht fallen, und Abberline ... sah sie einfach nur an, bar jeden Gesichtsausdrucks. Er sah aus wie jemand, fand Bast, den nichts mehr erschüttern konnte, weil er ohnehin zu dem Schluss gekommen war, längst den Verstand verloren zu haben.

»Was ... was soll das ... was geht hier vor?«, stammelte Monro. »Was ...?«

»Halten Sie die Klappe«, sagte Bast müde.

Monro verstummte. Seine Augen wurden noch größer, und nun erschien eindeutig Furcht darin. Er wollte etwas sagen, aber er bekam kein Wort heraus.

»Ich habe keine Zeit für diesen Unsinn«, sagte Bast, »und auch keine Lust mehr. Sie werden mir jetzt zuhören, und ich werde Ihnen auch gestatten, mir zu antworten - und nur, wenn Sie mir Ihr Wort geben, vernünftig zu sein und nicht nach Ihren Leuten zu rufen oder irgendetwas ähnlich Dummes zu tun. Habe ich Ihr Wort?«

Monro starrte sie mit immer größerem Entsetzen an, aber schließlich nickte er, und Bast entließ ihn vorsichtig aus ihrem geistigen Würgegriff, noch immer jederzeit bereit, ihn erneut zum Schweigen zu bringen.

»Bast, was ... was tust du?«, stammelte Faye. »Was bedeutet das?«

Bast brachte sie mit einer Geste zum Schweigen. »Ich gebe Ihnen mein Wort, Mr Monro, dass ich mit diesen Morden nichts zu tun habe, so wenig wie mit dem Verschwinden dieses Photographen. Aber es könnte sein, dass ich ... weiß, wer dahinter steckt. Ich werde dieser Spur nachgehen, und sollte sich mein Verdacht als berechtigt erweisen, dann werde ich die Sache beenden. Das versichere ich Ihnen.«

Monro zog sein Taschentuch wieder heraus, diesmal allerdings, um sich damit über die Stirn zu tupfen, auf der plötzlich Schweißperlen glitzerten, obwohl es hier drinnen empfindlich kalt war. »Was ... was geht hier vor?«, stammelte er. »Was fällt Ihnen ein? Wissen Sie nicht, wer ich bin?«

»Doch«, antwortete Bast. »Aber Sie wissen ganz offensichtlich nicht, wer ich bin. Seien Sie froh, dass es so ist. Ach ... nebenbei - was macht Ihr Herz?«

»Mein Herz?« Monro sah sie verständnislos an. »Was soll der Unsinn? Es ist vollkommen in Ordnung.«

»Jetzt nicht mehr«, sagte Bast.

Monro setzte zu einer zornigen Entgegnung an, aber plötzlich riss er den Mund auf, presste die linke Hand gegen die Brust und griff sich mit der anderen an die Kehle. Ein sonderbarer, gurgelnder Laut kam über seine Lippen, während er immer verzweifelter - und vergeblich - nach Luft rang. Er begann ganz langsam in die Knie zu brechen.

»Bast!«, sagte Abberline scharf.

Bast machte noch eine Sekunde weiter, dann aber gestattete sie Monros Herz, weiterzuschlagen und half ihm sogar behutsam dabei, in seinen normalen Rhythmus zurückzufinden. Monro hatte gelogen oder es nicht gewusst - aber mit seinem Herzen stand es wirklich nicht zum Besten.

»Können wir jetzt vernünftig miteinander reden?«, fragte sie.

Monro rang japsend nach Luft. Die rechte Hand hatte er immer noch am Hals, mit der anderen stützte er sich auf der Bettkante ab, ohne von dem blutigen Leichnam darauf Notiz zu nehmen. »Abberline, verhaften Sie sie!«, japste er. »Nehmen Sie diese Frau fest! Das ist ein Befehl!«

»So gerne ich das täte, Sir«, antwortete Abberline, »doch ich fürchte, das ist mir im Moment unmöglich.«

Bast unterdrückte einen überraschten Blick in seine Richtung. »Monro, bitte«, sagte sie. »Lassen Sie mich erklären, und ...«

»Sie ... Sie verdammte Hexe!«, keuchte Monro.

Bast resignierte. Mit Vernunft und logischen Argumenten kam sie in diesem Fall offensichtlich nicht weiter. »Damit haben Sie sogar recht, Mr Monro«, sagte sie. »Wenn auch in völlig anderer Hinsicht, als Sie glauben. Aber das ist nicht der Punkt. Die Frage ist, wollen Sie mir zuhören und vernünftig mit mir reden, oder möchten Sie, dass Ihre Leute Sie tot auffinden, weil Ihr Herz versagt hat?«

Monro starrte sie wutentbrannt an, und Bast - obwohl sie wusste, dass es wahrscheinlich ein Fehler war - fügte hinzu: »Ich kann auch dafür sorgen, dass man Sie mit einem Messer in der Hand und heruntergelassener Hose über die Leiche gebeugt findet.«

Aus dem Hass in Monros Augen wurde etwas anderes, Schlimmeres. Aber Bast fühlte auch, wie groß seine Angst war. Er nickte widerwillig.

»Ich wusste, dass Sie ein vernünftiger Mann sind, Onkel Munro«, sagte Bast lächelnd.

Monro wirkte einen halben Atemzug lang verwirrt, dann blitzte neue und noch viel größere Wut in seinen Augen auf, und er fuhr zu Faye herum. »Was hast du ihr ...«

»Erzählt?«, unterbrach ihn Bast. »Nichts. Überhaupt nichts. Glauben Sie mir, ich bin nicht darauf angewiesen, dass mir irgendjemand etwas erzählt. Ich weiß von Ihnen und Faye, aber das geht mich nichts an.«

»Warum sagen Sie es dann?«, fragte Monro.

»Vielleicht, weil ich mich frage, ob Ihre Frau ebenfalls davon weiß«, antwortete Bast, »und was sie wohl dazu sagen würde ... von der Königin und der feinen Londoner Gesellschaft ganz zu schweigen. Aber Sie haben recht, es geht mich nichts an. Sie sollten sich Mühe geben, damit ich meine Meinung nicht ändere.«

»Sie wollen mich erpressen«, konstatierte Monro. Seltsamerweise schien ihn diese Erkenntnis eher zu beruhigen; vielleicht, weil das etwas war, was er verstand. Ganz im Gegenteil zu dem, was er gerade am eigenen Leib erlebt hatte.

»Unsinn!«, widersprach Bast scharf. »Ich glaube, wir haben im Moment größere Probleme.« Ernst deutete sie auf das Bett. »Das da ist es, worüber Sie sich den Kopf zerbrechen sollten, nicht Ihr Ruf als Gentleman. Ich weiß, wer das getan hat, und er wird es wieder tun, wenn ich ihn nicht aufhalte. Ich kann es mir nicht leisten, Zeit mit Ihnen und Ihren albernen Verdächtigungen zu verschwenden - es sei denn, Sie legen Wert auf noch ein paar Tote. Haben Sie das verstanden?«

»Ja«, antwortete Monro - obwohl Bast nicht den Eindruck hatte, dass das wirklich so war.

»Dann hören Sie mir zu«, fuhr sie fort. »Ich werde diejenigen suchen, die das getan haben, und ich werde dafür sorgen, dass es aufhört - auf die eine oder andere Weise. Von mir aus können Sie den ganzen Ruhm für sich beanspruchen, den Ripper unschädlich gemacht zu haben. Das ist mir egal. Ich verlange nur eine einzige Gegenleistung dafür.«

»Und welche?«, erkundigte sich Monro. Sein Blick irrte immer unsteter zwischen ihr, Abberline und Faye hin und her, und sie konnte regelrecht sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Er trug eine Waffe unter seinem schwarzen Frack, eine lächerliche kleine Pistole, und er überlegte verzweifelt, wie er sie schnell genug erreichen konnte. Ein Teil von ihr wünschte sich fast, er würde es tatsächlich versuchen.

»Faye«, sagte sie.

»Faye?«

Bast deutete auf das tote Mädchen auf dem Bett. »Das da sollte eigentlich Faye sein«, sagte sie. »Man wollte sie töten, um mich zu treffen.«

»Wie bitte?«, murmelte Faye erschüttert. Dann lachte sie, ebenso nervös wie unecht. »Das ... das kann nicht sein. Du musst dich irren - oder du erlaubst dir einen bösen Scherz, habe ich recht?«

»Du hat mir selbst erzählt, dass sie erst gestern hier bei dir eingezogen ist«, antwortete Bast traurig. »Sie haben sie für dich gehalten.«

»Aber ... aber das kann nicht sein«, protestierte Faye. Sie klang fast hysterisch. »Sie ... sie sieht mir ja noch nicht einmal ähnlich!«

»Weil der Mörder wahrscheinlich nicht einmal weiß, wie du aussiehst«, sagte Bast traurig. »Nur, wo er dich findet.«

»Und das hat dir wahrscheinlich das Leben gerettet«, sagte Abberline ernst.

»Aber das ergibt doch überhaupt keinen Sinn!«, begehrte Faye auf. Plötzlich füllten sich ihre Augen mit Tränen. »Warum sollte mich jemand umbringen, der mich nicht einmal kennt?«

»Weil sie eigentlich mich damit gemeint haben«, sagte Bast.

Faye starrte sie an, aber Monro lachte plötzlich, und sehr böse. »Was denn nun? Erst galt es Faye, dann Ihnen, und wer kommt als Nächster? Ich?«

Bast sinnierte eine halbe Sekunde lang darüber nach, dass das eigentlich nach einer ziemlich guten Idee klang, aber sie antwortete sehr ernst: »Das ist ihre Art, Monro. Sie zerstören jeden, mit dem ich zu tun habe, um mich zu quälen.«

»Das wird ja immer verrückter!«, fauchte Monro.

»Ja, wenn Sie das glauben.« Bast zuckte beiläufig die Achseln. »Auf jeden Fall ist Faye in Gefahr, solange ich nicht mit ihnen ... gesprochen habe. Sie könnten es wieder versuchen. Solange diese Geschichte nicht vorbei ist, ist sie in Gefahr. Ich möchte, dass Sie sich um sie kümmern und sie beschützen. Nicht für lange. Wahrscheinlich nur für diese Nacht.«

»Und dann?«, fragte Monro misstrauisch.

»Ist es vorbei«, antwortete Bast. »Sie werden nie wieder etwas von mir hören - oder von Faye, darauf gebe ich Ihnen mein Wort.«

»Was immer das wert ist.«

»Warum sollte ich Sie belügen?«, fragte Bast. Sozusagen nur der Ordnung halber, stieß sie einen Pfeil aus dünnem, aber stechendem Schmerz direkt durch sein Herz. Monro japste vor Schrecken und griff sich an die Brust, und Bast ließ den Schmerz wieder erlöschen. »Ich könnte Sie zwingen, alles zu tun, was ich von Ihnen verlange, und auch noch Freude daran zu empfinden. Aber das will ich nicht. Bringen Sie Faye von hier weg und sorgen Sie dafür, dass sie bis morgen früh in Sicherheit ist, und ich sorge dafür, dass diese Morde aufhören. Faye und ich werden London verlassen, und Sie hören nie wieder von uns. Das ist mein Angebot. Sind Sie damit einverstanden?«

»Habe ich denn eine Wahl?«, fragte Monro wütend.

»Selbstverständlich«, antwortete Bast. Sie drehte sich zu Abberline um. »Wie hieß doch gleich die Zeitung, für die dieser Photograph gearbeitet hat? Ich nehme doch an, sie hat auch einen Gesellschafts- und einen Klatschteil?«

»Schon gut!«, sagte Monro rasch. »Ich habe verstanden. Wir bringen Faye in Sicherheit. Ich werde persönlich dafür sorgen.« Er überlegte einen Moment. »Das Beste wird sein, ich bringe sie in den Yard. Dort ist sie vollkommen sicher.«

»Nach Scotland Yard?« Faye klang regelrecht entsetzt. »Ins Gefängnis? Aber wieso denn? Ich habe doch gar nichts getan!«

Bast spürte, wie nahe sie daran war, einfach zusammenzubrechen, und legte ihr sanft die Hände auf die Schultern. »Es ist nur für eine Nacht«, sagte sie sanft. »Und niemand spricht vom Gefängnis. Es gibt dort ein paar sehr behaglicher Büros. Ich bin sicher, dass Onkel Munro dafür sorgen wird, dass es dir dort gut geht. Und ich komme später und hole dich ab. Also - sind wir uns einig?«

Natürlich waren sie das nicht. Faye war weder in der Lage noch willens, vernünftig zu sein, aber Bast half mit sanftem Druck nach, und nach ein paar Augenblicken nickte sie.

»Dann sind wir uns einig.« Diesmal galten die Worte Monro, der sie beinahe mit so etwas wie Mordlust in den Augen anstarrte, nach einem Moment aber trotzdem nickte.

»Gut.« Bast seufzte tief. »Dann gibt es keinen Grund, noch mehr Zeit zu verschwenden. Räumen Sie hier auf und kümmern Sie sich um Faye, und ich erledige den Rest. Und versuchen Sie erst gar nicht, mir Ihre Männer hinterherzuschicken. Sie würden mich nicht einmal sehen. Glauben Sie mir das, oder brauchen Sie noch einen Beweis?«

Sie hatte absolut nichts getan, aber Monro zuckte deutlich zusammen und hob die Hand ans Herz. Er hatte es sehr eilig zu nicken.

»Dann gehe ich jetzt«, sagte Bast. »Ich nehme doch an, dass Sie nichts dagegen haben, wenn Inspektor Abberline mich begleitet?«



Es begann zu dämmern, als sie wieder in den Wagen stiegen. Es war dieselbe Kutsche, die sie hergebracht hatte, nur dass sie diesmal nicht von einem halben Dutzend grimmig dreinblickender Bobbys eskortiert wurden und Bast dafür sorgte, dass absolut niemand von ihnen Notiz nahm. Darüber hinaus sorgte sie dafür, dass sich die inzwischen noch einmal deutlich angewachsene Menschenmenge auf fast geheimnisvolle Weise vor ihnen teilte, weil die Männer und Frauen von einem plötzlichen und für sie selbst unerklärlichen Unbehagen ergriffen wurden und das dringende Bedürfnis verspürten, zur Seite zu treten. Dieses Phänomen konnte Abberline gar nicht entgehen, aber er sagte nichts dazu. Vielleicht war sein Fassungsvermögen für Unerklärliches auch einfach erschöpft.

Erst, als sie wieder im Wagen saßen und nachdem Abberline dem Fahrer Anweisung gegeben hatte, wieder zurück zur Pension zu fahren, wandte er sich wieder direkt an sie und brach das Schweigen.

»Sie glauben nicht wirklich, dass Sie damit durchkommen, oder?«

Bast hatte eine Menge Fragen erwartet, aber ganz gewiss nicht diese. »Womit?«

»Monro«, antwortete Abberline ernst. »Sie glauben vielleicht, diesen Mann zu kennen, aber das stimmt nicht. Er ist nicht der Gentleman, als den er sich so gerne ausgibt, und er ist schon gar niemand, den ich ›Onkel‹ nennen würde.«

»Umso weniger dürfte ihm daran gelegen sein, dass alle Welt erfährt, wer ihn so genannt hat und warum«, antwortete Bast, aber Abberline schüttelte nur den Kopf und sah plötzlich noch besorgter aus.

»Sie haben ihn erschreckt«, sagte er, »aber das bedeutet nichts. Er ist vieles, aber ganz gewiss nicht dumm. Wahrscheinlich überlegt er jetzt schon, wie er aus dieser Situation herauskommt, und wem er die Schuld an allem geben kann. Und er wird einen Weg finden.«

»Wo ist das Problem?«, fragte Bast. »Ich habe es ernst gemeint. Faye wird die Stadt verlassen, und Monro wird nie wieder etwas von ihr hören, dafür werde ich sorgen - schon um Fayes willen.«

»Und Sie glauben ernsthaft, dass ihm das reicht?«

»Nein«, gestand Bast.

»Das ist gut«, sagte Abberline. »Ansonsten hätte ich nämlich angefangen, mir ernsthafte Sorgen darüber zu machen, ob Sie vielleicht ein wenig zu naiv sind.«

»Das bin ich nicht, keine Angst«, versicherte Bast. »Was glauben Sie denn, was er tun wird?«

»Glauben? Nichts.« Abberline schüttelte überzeugt den Kopf. »Ich weiß, was er tun wird.«

»Und was wäre das?«

»Heute Abend? Gar nichts. Er wird Faye in Sicherheit bringen und in aller Ruhe abwarten, ob Sie wirklich seine Arbeit für ihn erledigen, und ganz wie sie es gesagt haben, wird er hinterher den Ruhm dafür einstreichen. Und sollte es Ihnen nicht gelingen, wird er mir oder irgendeinem anderen armen Dummkopf die Schuld zuschieben. Und er wird Faye ganz gewiss nicht einfach gehen lassen und darauf vertrauen, dass sie ihr Wort hält und er niemals wieder etwas von ihr hört. Er wird sie finden, ganz egal, wo sie sich versteckt, und wie lange es dauert. Vergessen Sie nicht, wer er ist. Er ist der Leiter der Spezialabteilung des Innenministeriums, und ihm steht der gesamte Polizeiapparat des britischen Empire zur Verfügung, wenn es sein muss.«

»Und dann?«

Abberline hob die Schultern. »Manchmal geschehen schreckliche Dinge«, sagte er. »Menschen haben Unfälle, oder sie landen unschuldig im Gefängnis oder im Irrenhaus. Oder sie verschwinden einfach.«

»Ja, das deckt sich so ungefähr mit meinen Überlegungen«, sagte Bast.

»Und trotzdem ...«

Bast unterbrach ihn. »Bleiben Sie ruhig, Inspektor. Monro wird nichts von alledem tun. Er würde es vielleicht tun, wenn er sich morgen um diese Zeit noch an unser Gespräch oder überhaupt an den heutigen Abend erinnert. Aber das wird er nicht.«

Diesmal starrte sie Abberline eine geraume Weile an, und zum allerersten Mal glaubte sie so etwas wie echtes Entsetzen in seinen Augen zu erkennen. »Das können Sie?«

»Er wird nicht einmal mehr wissen, dass es mich gibt«, sagte Bast ernst. »Und Faye auch nicht.«

Abberline schwieg noch länger. Seine Miene war wieder so gut wie ausdruckslos, aber Bast konnte sich gut vorstellen, wie er über das nachdachte, was er gerade gehört hatte, und dadurch zu eigenen Schlussfolgerungen gelangte.

Sie ließ ihn ganz bewusst eine Zeitlang mit seinen vermutlich nicht besonders angenehmen Überlegungen allein. Sie mochte Abberline - soweit sie es sich gestattete, Sympathie für einen Sterblichen zu empfinden -, aber ein bisschen Furcht war in diesem Moment vermutlich nicht das schlechteste Geschenk, das sie ihm machen konnte. Zumindest würde es seine Neugier dämpfen.

Für eine Weile sah sie nur stumm aus dem Fenster und beobachtete die vorüberziehenden Häuser und Menschen. Obwohl die Droschke nicht mehr in so halsbrecherischem Tempo fuhr wie auf dem Hinweg, bewegte sie sich doch schnell, aber sie würden trotzdem erst nach Dunkelwerden zurück in der Pension sein; und vermutlich würden sie nicht nur Maistowe, sondern auch Mrs Walsh und vor allem Cindy in heller Aufregung vorfinden.

Hoffentlich nur das, dachte Bast. Sie traute Cindy durchaus zu, etwas Unbedachtes oder auch Dummes zu tun - was im Zweifelsfall dasselbe war -, und schalt sich in Gedanken dafür, so überhastet aufgebrochen zu sein, ohne Maistowe entsprechende Anweisungen gegeben zu haben. Andererseits, sagte sie sich selbst, wäre es vermutlich ohnehin sinnlos gewesen. Wenn Cindy sich einmal in den Kopf gesetzt hatte, etwas zu tun, dann tat sie es auch, basta.

»Sie sehen besorgt aus«, sagte Abberline plötzlich.

Bast verzog das Gesicht. »Sieht man es mir so deutlich an?«

»Würde ich sonst fragen?«

»Nein«, antwortete Bast einsilbig. Sie sah demonstrativ weiter aus dem Fenster; es wurde jetzt immer rascher dunkel, und die wenigen Menschen, die noch auf der Straße waren, begannen zu flachen, verwaschenen Schatten zu verblassen. Es war empfindlich kalt geworden, und selbst hier drinnen im Wagen kondensierte ihr Atem mittlerweile zu grauem Dunst. Ein sonderbarer und Bast nicht vertrauter Geruch lag in der Luft, den sie erst nach einigen Augenblicken identifizierte: Schnee. Noch war nicht eine einzige Flocke zu sehen, aber er kündigte sein Kommen bereits an. Vielleicht würde sie ihn noch sehen, bevor sie dieses Land verließ.

»Es hat nichts mit mir zu tun«, fuhr sie nach einer Weile unaufgefordert und ohne Abberline dabei anzusehen fort. »Aber Sie haben recht, was Monro angeht. Er ist ein schlechter Mensch. Es ist zwar unwahrscheinlich, aber sollte ich ... nicht zurückkommen ...«

»Kümmere ich mich um Faye«, versprach Abberline. Er wurde noch ernster. »Sie rechnen damit, dass Ihnen etwas zustößt?«

»Nicht so, wie Sie glauben«, antwortete Bast rasch. »Horus würde mir nie etwas antun.«

Sein Blick wurde skeptisch. »Als ich ihm das letzte Mal begegnet bin, hatte ich einen anderen Eindruck.«

»Ich habe nicht gesagt, dass er Ihnen nichts antun würde, Inspektor«, sagte Bast lächelnd. »Aber wir töten einander nicht.«

»Niemals?«

»Niemals«, bestätigte Bast. »Trotzdem könnte es sein, dass es mir nicht möglich sein wird, zurückzukommen. Sollte das geschehen, bringen Sie Faye fort, möglichst weit, am besten in ein anderes Land. Versprechen Sie mir das?«

»Sie sind eine seltsame Frau, Bast«, sagte Abberline, nickte aber dabei. »Manchmal könnte man den Eindruck gewinnen, dass Ihnen ein Menschenleben rein gar nichts bedeutet. Und dann wieder sorgen Sie sich um das Schicksal einer Hure, die Sie praktisch nicht kennen, als wäre es Ihre eigene Tochter. Wie kommt das?«

Bast hätte ihm gerne eine Antwort auf diese Frage gegeben, aber das konnte sie nicht. Sie stellte sie sich ja selbst seit Tagen.

»Und Sie sind ein sehr mutiger Mann, Inspektor«, sagte sie stattdessen.

»Wieso?«

»Wenn Sie wirklich glauben, dass Monro so gefährlich und nachtragend ist, dann war das, was Sie vorhin getan haben, ziemlich wagemutig ... oder dumm.«

»Ihm zu widersprechen?« Abberline grinste. »Aber was hätte ich tun sollen? Ich war nicht Herr meines Willens, so wenig wie die beiden Konstabler.« Er machte ein unschuldiges Gesicht, aber sein Grinsen wurde noch breiter. »Und außerdem habe ich mir schon lange gewünscht, ihm einmal in aller Öffentlichkeit widersprechen zu können.« Er wurde schlagartig ernst. »Kann ich Ihnen irgendwie helfen? Irgendetwas für Sie tun?«

Bast schüttelte den Kopf. »Mir versprechen, nichts zu tun«, sagte sie. »Das wäre mir Hilfe genug ... Oder doch: Sorgen Sie dafür, dass Mrs Walsh und die beiden anderen sicher an Bord des Schiffes gelangen. Die Lady legt um Mitternacht ab. Es wäre mir recht, wenn Sie bis dahin ... nicht behelligt würden.«

»Das ist kein Problem«, versprach Abberline. »Ich stelle eine Eskorte für sie ab und ...«

»Sie missverstehen mich, Inspektor«, unterbrach ihn Bast. »Gerade das möchte ich nicht. Ganz im Gegenteil. Ich möchte, dass man das Haus in Ruhe lässt.«

Abberline sagte nichts, aber sie konnte sehen, wie es schon wieder hinter seiner Stirn arbeitete. Erst nach einer geraumen Weile sagte er: »In Whitechapel macht das Gerücht die Runde, dass die fette Maude ein paar Leute losgeschickt hat, um ... etwas zurückzuholen, das ihr abhanden gekommen ist. Seither hat niemand mehr etwas von diesen Männern gehört.«

»London ist eine große Stadt«, antwortete Bast. »Da kann schon einmal ein Mann verloren gehen. Oder auch mehrere.«

»Sie verlangen eine Menge von mir, Bast«, seufzte Abberline, hob aber auch die Hand, als sie antworten wollte. »Aber vermutlich sollte ich Ihnen noch dankbar sein, dass Sie mir die Wahl lassen. Und ich tröste mich damit, dass ich mich morgen sowieso an nichts erinnern werde.«

»Möchten Sie das denn?«, fragte Bast.

Abberline zögerte. »Ehrlich gesagt, weiß ich es nicht«, seufzte er schließlich. »Ich würde mir wünschen, manche Dinge gar nicht erfahren zu haben, aber nun, wo ich sie weiß..«

Bast war nahe daran, ihm zu verraten, dass sie ihm das Geschenk des Vergessens nicht machen konnte, aber sie schluckte die Bemerkung im letzten Moment herunter. Auch um dieses Problem würde sie sich später kümmern müssen. Nachdem er eine Weile vergeblich auf eine Antwort gewartet hatte, sagte Abberline: »Also gut, ich ziehe die beiden Konstabler ab, die die Pension bewachen. Unter einer Bedingung.«

Bast zog die linke Augenbraue hoch. »Bedingung?«

»Sie versprechen mir, dass ich Sie besuchen darf, sollte ich jemals nach Ägypten kommen. Und dann erzählen Sie mir alles.«

»Gar kein Problem«, antwortete Bast. »Wenn Sie von Kairo aus losreiten, ist es gleich hinter der ersten Düne links.«

»Das kann ich mir merken«, sagte Abberline ernst. »Vielleicht.«

Bast verzichtete auf eine Antwort. Ihr war nicht nach Scherzen zumute, auch wenn sie begriff, wie dringend Abberline ein Ventil brauchte, um mit dem ungeheuren Druck fertig zu werden, der auf ihm lastete. Abberline war ein intelligenter Mann, der zweifellos imstande war, über den Tellerrand hinauszusehen und auch Dinge zu akzeptieren, die nicht in sein festgefügtes Weltbild passten. Aber er war auch ein sehr logischer Mensch, das erforderte schon sein Beruf, und das, was er in den letzten Tagen erlebt und erfahren hatte, musste dieses Weltbild bis in die Grundfesten erschüttert haben.

Zu ihrer eigenen Überraschung hörte sie sich plötzlich sagen: »Wenn Sie mehr über uns wissen wollen, Frederick, dann gehen Sie ins Museum. Schauen Sie sich die Geschichte unserer Götter an, und versuchen Sie sich vorzustellen, wie es gewesen wäre, wären sie Menschen gewesen. Dann wissen Sie eigentlich schon alles. Nun ja«, fügte sie mit einem flüchtigen Lächeln hinzu, »das meiste.«

Abberlines Augenbrauen hoben sich kurz, als sie ihn »Frederick« nannte statt wie bisher Inspektor. Dann schüttelte er den Kopf. »Eigentlich würde ich gerne mehr über Sie erfahren. Über Bastet und wer sie wirklich ist.«

»Es würde Ihnen nicht gefallen«, antwortete sie. »Und es wäre nicht gut für Sie.«

»Sie lassen sich nie mit Sterblichen ein, habe ich recht?«

Bast schwieg.

»Das muss ein sehr einsames Leben sein.«

»Versuchen Sie zufällig, mit mir zu flirten, Frederick?«, fragte Bast. »Das wäre ein sehr ... ungünstiger Augenblick.«

»Für so etwas gibt es keine ungünstigen Augenblicke«, behauptete Abberline. »Aber Sie haben meine Frage nicht beantwortet.«

»Nein«, sagte Bast. »Ich meine, die Antwort ist Nein. Schon seit sehr lange Zeit nicht mehr.«

»Weil es nicht gut ist für Sie.«

»Auch das. Aber es ist ... zu schmerzhaft. Sie sterben. Es gab einen Mann in meinem Leben.«

»Einen Mann wie mich?«

»Einen forschen Inspektor bei Scotland Yard, der Freude daran hat, seinem Vorgesetzten angespitzte Bambussplitter unter die Fingernägel zu treiben?« Bast schüttelte lachend den Kopf. »Nein. Einen König. Er war ein wirklicher Herrscher, vielleicht der größte Mensch, der jemals gelebt hat. Sein Name war Ramses. Ich war fast ein Jahrhundert mit ihm verheiratet.«

Abberline blickte zweifelnd, aber Bast nickte sofort und bekräftigend mit dem Kopf. »Das Leben muss nicht mit sechzig oder siebzig Jahren enden, Frederick. Es gibt ... Wege. Wir können nicht nur nehmen, sondern auch geben. Aber irgendwann endet es. Nur der Schmerz bleibt. Er endet nie.«

»Alles endet irgendwann, Bastet«, sagte Abberline sanft. »Ist es wirklich besser, etwas erst gar nicht zu beginnen, nur weil man Angst davor hat, es irgendwann wieder zu verlieren?«

»Können Sie diesen Satz noch einmal sagen?«, fragte Bast.

»Ich meine es ernst«, sagte Abberline. »Viele Beziehungen enden irgendwann.« Er hob die Schultern. »Auch in meinem Leben gab es schon Frauen.«

»Das will ich hoffen.«

»Mehrere«, fuhr Abberline unbeeindruckt von ihrem spöttischen Lächeln fort. »Es hat niemals allzu lange gehalten, aber ich habe diese Zeit genossen. Und ich werde es wieder tun, wenn sich mir die Gelegenheit bietet.«

Und natürlich hatte er recht, dachte Bast traurig. Aber es gab einen Menschen in ihrem Leben - nur wusste sie spätestens seit gestern, dass er für sie ebenso unerreichbar bleiben würde, wie sie es für Abberline war. Und für eine sehr, sehr viel längere Zeit.

»Ich hoffe, dass Sie das tun, Frederick«, sagte sie sanft. »Und ich wünsche Ihnen von Herzen Erfolg dabei. Aber jetzt wäre es mir recht, wenn wir dieses Gespräch beenden würden.«

»Wie Sie wünschen«, antwortete Abberline enttäuscht. »Wir sind ohnehin fast da. Ich werde noch mit hineinkommen, um mich von Jacob zu verabschieden, und danach schicke ich die Konstabler weg - wenn Sie einverstanden sind.«

Bast war ihm dankbar für diesen Vorschlag. Um die beiden Konstabler hätte sie sich zur Not auch selbst kümmern können - sobald sie den zweiten gefunden hatte, hieß das -, aber vermutlich war Abberline sehr viel besser als sie imstande, Maistowe und Mrs Walsh zu beruhigen.

Außerdem ertappte sie sich dabei, die Vorstellung gutzuheißen, Abberline noch für einige weitere Augenblicke in ihrer Nähe zu haben.

Der Wagen bog in die Straße ein, in der Mrs Walshs Pension lag, und Bast registrierte beiläufig, dass der Konstabler noch immer auf der anderen Straßenseite stand und das Haus beobachtete - auch wenn sie sehr wohl spürte, dass er eher im Stehen schlief, als wirklich seine Pflicht zu tun - und im ganzen Haus Licht brannte. Angesichts ihrer bevorstehenden Abreise schien Mrs Walsh wohl ihrer normalen Sparsamkeit abgeschworen zu haben.

Aber vielleicht gab es auch einen anderen Grund ...

Der Wagen hielt an, und Abberline machte Anstalten, sich von seinem Sitz zu erheben und nach der Tür zu greifen, doch Bast hielt ihn mit einer fast erschrockenen Bewegung zurück.

Abberlines Blick sprach Bände. Bast schüttelte nur wortlos den Kopf, stieg als Erste aus dem Wagen und legte die Hand auf den Schwertgriff, während sie sich der Haustür näherte. Etwas stimmte nicht. Sie spürte ... Schmerz. Grenzenloses Leid und Furcht und das Echo vergangener Qualen. Ihre Hand schmiegte sich fester um den Schwertgriff, und gleichzeitig lauschte sie so konzentriert, wie sie konnte.

Im allerersten Moment schien das Haus vollkommen still zu sein, aber dann vernahm sie ein leises Rascheln und Rumoren und Stöhnen. Vielleicht etwas wie ein Weinen, aber da war sie sich nicht sicher.

Abberline wollte ihr folgen, und obwohl er hinter ihr war, spürte sie, wie er unter sein Cape griff und eine Waffe zog. Vielleicht spürte er es ja auch, wahrscheinlicher aber war, dass er ihre Reaktion beobachtete und die richtigen Schlüsse daraus zog.

Sie hob rasch die freie Hand. »Nicht«, sagte sie halblaut. »Wo ist der zweite Mann? Auf der Rückseite? Dann sehen Sie nach ihm, aber unauffällig. Kommen Sie nach, wenn alles in Ordnung ist.«

Abberline bewies, dass er immerhin gelernt hatte, ihren Instinkten zu vertrauen, indem er sich wortlos umdrehte und im Laufschritt in die Richtung verschwand, aus der die Droschke gerade gekommen war. Bast zählte in Gedanken langsam bis zwanzig - nur um sicherzugehen, dass er tatsächlich außer Sichtweite war -, konzentrierte sich kurz auf den Konstabler auf der anderen Straßenseite und lenkte seine Aufmerksamkeit auf die Kälte und seine halb abgestorbenen Zehen und streckte die Hand nach dem Türknauf aus, zog den Arm aber dann noch einmal zurück und tat dasselbe mit dem Kutscher. Was immer dort drinnen auch passiert war, das Allerletzte, was sie jetzt gebrauchen konnte, waren noch mehr Zeugen.

Unendlich behutsam öffnete sie die Tür. Wie sie es schon von draußen gesehen hatte, brannten sämtliche Lampen im Salon, als härte Mrs Walsh möglichst viel Licht gemacht, um die bösen Geister zurückzuhalten, die das Haus belagerten.

Genutzt hatte es nichts.

Maistowe lag lang ausgestreckt vor dem Kamin. Zwei der vier Stühle neben ihm waren umgefallen, und der ehemals blütenweiße Verband um seine Stirn hatte jetzt dieselbe, dunkelrot-feuchte Färbung angenommen wie die langsam größer werdende Lache, in der sein Gesicht lag. Er war noch am Leben - Bast konnte das rasende Hämmern seines Herzens hören, und das gedämpfte Stöhnen, das sie schon draußen gewarnt hatte, stammte eindeutig von ihm.

Sie warf einen raschen, sichernden Blick in beide Richtungen, ehe sie mit drei, vier schnellen Schritten neben Maistowe war und sich auf ein Knie herabsinken ließ. Er war bewusstlos, schlug aber mit einem neuerlichen und noch lauteren Stöhnen die Augen auf, als sie ihn auf den Rücken drehte, und versuchte vermutlich, sie mit trüben Blicken zu erkennen.

»Es ist alles in Ordnung, Jacob«, sagte Bast rasch. »Ich bin es, Bast. Was ist passiert?«

»Weiß nich'«, nuschelte Maistowe. »Da waren ... Schritte. Jemand ... ist gekommen. Großer Gott, mein Kopf!«

Bast legte ihm rasch die Hand auf die Stirn, linderte seinen Schmerz und überzeugte sich gleichzeitig davon, dass er nicht wirklich schwer verletzt war. Er hatte eine üble Platzwunde am Hinterkopf, die heftig blutete und wahrscheinlich höllisch wehtat, aber nicht wirklich gefährlich war.

»Jemand hat Sie niedergeschlagen«, sagte sie. »Wer?«

Maistowe richtete sich mühsam in eine halbwegs sitzende Position auf. Bast hatte ihm seine Schmerzen genommen, sodass er wieder halbwegs klar denken konnte, aber er bewegte sich trotzdem am Rande einer neuerlichen Bewusstlosigkeit. Seine Stimme klang schleppend.

»Ich weiß nicht«, murmelte er. »Jemand ist gekommen und ... hat mich niedergeschlagen. Von hinten. Ich weiß nicht wer. Es ... tut mir leid.«

Die Küchentür flog auf, und Abberline kam herein, einen Revolver in der rechten Hand. »Seien Sie froh, dass Sie noch leben, Jacob«, sagte er. An Bast gewandt fügte er hinzu: »Der Konstabler ist tot. Jemand hat ihm die Kehle durchgeschnitten.«

Bast fragte sich beiläufig, wieso er eigentlich nicht einmal außer Atem war. Er musste das Haus in Rekordzeit umrundet und über die Mauer gestiegen sein. Er war besser in Form, als sie angenommen hatte.

»Wo sind Mrs Walsh und das Mädchen?«, fragte er. »Noch unterwegs, hoffe ich?«

Maistowe verbarg das Gesicht in den Händen und musste sich anstrengen, um nicht vor Schwäche auf die Seite zu kippen. »Sie sind ... kurz vorher zurückgekommen«, murmelte er. »Cindy war oben, und ...«

Bast hatte genug gehört. Etwas in ihr schien zu Eis zu erstarren, während sie aufstand und das Schwert zog. »Bleiben Sie bei ihm, Inspektor.«

Sie rechnete nicht wirklich damit, dass er das tat, nahm aber auch keine Rücksicht auf ihn, sondern sprang mit gewaltigen Sätzen die Treppe hinauf und lief praktisch durch die erste Tür hindurch, ohne auch nur langsamer zu werden. Es gab keinen Grund mehr, vorsichtig zu sein. Wenn Horus tatsächlich noch im Haus war, wartete er ohnehin auf sie.

Der Raum war jedoch leer; sah man von fünf Toten ab, die säuberlich nebeneinander auf dem blutgetränkten Doppelbett lagen.

Bast versetzte der Tür einen zweiten, wütenden Tritt, der sie gegen die Wand krachen und in Stücke brechen ließ.

»Horus, du verdammter Feigling!«, schrie sie. »Zeig dich! Ich bin hier! Das wolltest du doch!«

Sie bekam keine Antwort. Als sie das Zimmer verließ, kam Abberline mit gezogener Waffe am oberen Ende der Treppe an. Er wollte an ihr vorüber eilen, doch Bast stieß ihn mit einer groben Bewegung zurück, trat an die nächste Tür heran und sprengte sie mit einem Fußtritt auf.

Das Geräusch, mit dem die Tür gegen die Wand prallte und von oben nach unten riss, ging in dem hellen Klirren unter, mit dem das Schwert ihren Fingern entglitt und zu Boden fiel.

Horus wartete auch hier nicht auf sie, doch auch dieses Zimmer war nicht leer, und Mrs Walsh hatte auch hier sämtliche Lampen entzündet, den Gespenstern, die sie zu fürchten schien, damit aber ebenso wenig Einhalt gebieten können wie unten im Haus. Bast konnte sogar erkennen, auf welchem Weg sie hereingekommen waren: Das Fenster stand offen, und es war inzwischen auch hier drinnen empfindlich kalt geworden; kalt genug, um Mrs Walshs Atem, die auf dem Bett saß und Cindy wie einen Säugling in den Armen hielt, in grauen Dunst zu verwandeln. Auch von ihren Händen, die voll waren mit Cindys Blut, stieg ein feiner, dunstiger Nebel auf, ebenso wie von der klaffenden Wunde an Cindys Kehle.

»Großer Gott, was ... was ist ... passiert?«, stammelte Abberline. An ihr vorbei wollte er das Zimmer betreten, doch Bast rührte sich nicht - sie konnte es nicht. Etwas in ihr war ... einfach erstarrt. Tot. Sie stand einfach nur da und starrte Mrs Walsh und das tote Mädchen an, unfähig, sich zu rühren, zu denken, sodass Abberline sie schließlich fast mit Gewalt aus dem Weg schieben musste, um zum Bett zu gelangen. Auf dem Weg dorthin steckte er seinen Revolver ein, um mit beiden Händen nach Mrs Walsh oder dem Mädchen greifen zu können, doch einen halben Schritt, bevor er das Bett erreichte, schienen ihn alle seine Kräfte zu verlassen. Er blieb stehen, und seine Arme sanken kraftlos herunter.

»Großer Gott«, murmelte er. »Mrs Walsh ...«

»Er ... er hat sie einfach ... umgebracht«, flüsterte Mrs Walsh. Ihre Stimme war nur ein Hauch, so dünn wie das Weinen eines verwundbaren kleinen Vogels. Sie hatte geweint - Bast erinnerte sich plötzlich an das gedämpfte Schluchzen, das sie draußen auf der Straße gehört hatte, und sie sah auch die Spuren der Tränen auf ihrem Gesicht -, aber jetzt waren ihre Augen trocken. »Einfach so. Sie hat gar nichts gesagt. Sie hat nicht einmal Angst gehabt. Er hat ihr einfach ... die Kehle durchgeschnitten. Einfach so.«

»Wer?«, fragte Abberline.

Mrs Walsh antwortete ihm nicht. Mühsam, als laste ein unsichtbares Tonnengewicht auf ihren schmalen Schultern, hob sie den Kopf und sah Bast an. Auch Abberline drehte den Kopf und warf ihr einen eher schon verzweifelten als fragenden Blick zu, doch Bast reagierte auf nichts davon. Sie starrte Cindy an und wartete darauf, dass sie etwas empfand. Aber da war ... nichts.

Abgesehen von der dünnen Wunde an ihrem Hals war das Mädchen vollkommen unversehrt. Ihr Mörder hatte darauf verzichtet, sie zu verstümmeln oder gar auszuweiden, wie er es mit Arthur und Marie-Jeanette getan hatte, sondern ihr einen fast barmherzigen, auf jeden Fall aber schnellen Tod gewährt - aber irgendwie machte das alles beinahe nur noch schlimmer. Warum empfand sie nichts?

»Wer war das, Mrs Walsh?« Abberlines Stimme blieb leise, fast sanft, nahm zugleich aber auch einen irgendwie ... amtlichen Ton an, der kein bisschen verletzend oder auch nur einschüchternd wirkte, aber seinen Zweck erreichte. Glorias Blick löste sich von Basts Gesicht und suchte den Abberlines, ohne dass das Leben wirklich in ihre Augen zurückzukehren schien.

»Bitte erzählen Sie mir, was passiert ist«, sagte Abberline sanft.

»Und keine Sorge um Jacob. Es geht ihm gut.« Er nickte auffordernd. »Also, Was ist passiert'«

»Er ist einfach aufgetaucht«, antwortete Mrs Walsh, noch immer mit dieser sonderbar hellen, zerbrechlichen Stimme, die an ein Weinen erinnerte, ohne es zu sein. Ihre Hand strich über Cindys blasses Gesicht, ohne dass sie sich der Bewegung auch nur bewusst zu sein schien. »Wie aus dem Nichts. Er stand einfach da und ... und hat sie umgebracht. Ich konnte nichts tun. Ich wollte es, bitte, das müssen Sie mir glauben! Ich habe versucht, mich zu wehren, aber er ...«

»War viel zu stark für Sie, das ist mir klar«, unterbrach sie Abberline. »Sie müssen sich keine Vorwürfe machen. Was hätten Sie tun sollen?«

Etwas in Bast ... spannte sich. Da war plötzlich ein sanfter Druck, der allmählich zunahm, langsam, aber so unerbittlich wie eine Stahlfeder, die immer mehr zusammengepresst wurde. Sie sah Cindy an und empfand noch immer nichts, aber sie begann zu ahnen, dass vielleicht genau dieses Nichts der schrecklichste aller Schmerzen war, die sie hätte empfinden können.

»Erinnern Sie sich, wie er ausgesehen hat?«, fragte Abberline.

Darauf sagte Mrs Walsh nichts, aber sie sah zu Bast hin, und das war Antwort genug. Abberline nickte.

»Und Sie haben gar nichts gesagt?«, fragte Abberline.

»Nein«, antwortete Mrs Walsh. »Nichts. Kein Wort.«

Bast schloss die Augen, aber es nutzte nichts. Sie sah Cindys blasses Gesicht noch immer ebenso deutlich vor sich wie Mrs Walshs blutverschmierte Hände und die Tränenspuren auf ihren Wangen. Sie wünsche sich, sie hätte an ihrer Stelle weinen können.

Das konnte sie nicht. Doch sie konnte etwas anders tun. Etwas, das sie schon vor langer, vor sehr langer Zeit hätte tun sollen.

Sie schloss die Augen, konzentrierte sich und stellte sich das Bild einer Kette vor. Es wäre nicht nötig gewesen, aber es erschien ihr angemessener als ein einfaches Loslassen, und es war vielleicht das letzte Mal, dass sie etwas wirklich selbst entscheiden konnte. Es war eine sehr schwere, massive Kette, alt und mit Rost und Grünspan überzogen, aber gemacht für die Ewigkeit und unzerstörbar, außer für sie.

Bast zerriss die Kette, und in ihrer Seele hallte ein tiefes, unendlich erleichtertes Seufzen wider.

»Ich rufe meine Leute, damit sie auf Jacob und Sie aufpassen«, sagte Abberline. »Und dann ...«

»Sie werden nichts dergleichen tun, Inspektor.« Langsam bückte sie sich nach ihrem Schwert, hob es auf und schob es unter ihren Gürtel. »Sie werden dafür sorgen, dass Mrs Walsh und Jacob an Bord der Lady gelungen und sicher das Land verlassen. Das ist alles, was Sie tun werden. Alles andere ist meine Sache.«

»Aber das kann ich nicht, Bast!«, sagte Abberline. »Wissen Sie denn nicht, wer ...«

»Sie werden genau das tun«, fiel sie ihm ins Wort. Gleichzeitig legte sie die Hand auf den Schwertgriff, aber sie glaubte nicht, dass es das war, was Abberline nicht nur verstummen, sondern nach einem weiteren Augenblick sogar nicken ließ. Es war wohl viel mehr die Kälte, die plötzlich in ihrer Stimme lag, ein Ton, der neu war und sogar ihr selbst ein flüchtiges, eiskaltes Schaudern über den Rücken laufen ließ.

»Wenn Sie Ihren Freunden noch einen Gefallen erweisen wollen, dann sorgen Sie dafür, dass hier keine Spuren zurückbleiben, und lassen Sie Cindy anständig begraben«, sagte sie, während sie sich bereits herumdrehte, um das Zimmer zu verlassen.

»Und hören Sie auf, mich Bast zu nennen«, fügte sie hinzu. »Mein Name ist Sachmet.«

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