VIERTES Kapitel

Obwohl die Tür geschlossen war und vor dem schmalen Fenster noch immer vollkommene Dunkelheit herrschte, drangen gedämpfte Laute und ein gelegentliches Aufblitzen von gelbem Licht nicht nur durch das Fenster, sondern auch durch ihre geschlossenen Lider, sonderbarerweise aber nicht ganz in ihr Bewusstsein. Sie fühlte sich beobachtet und auf eine unangenehme Weise sowohl schwere-, als auch körperlos. Und auf eine grässliche Weise isoliert und so einsam wie nie zuvor. Etwas - jemand? - schien alles, was sie ausmachte, in einen bodenlosen schwarzen Abgrund gestoßen zu haben, in dem nichts anderes Bestand hatte als Einsamkeit. Und da war immer noch das Gefühl, angestarrt zu werden. Auf eine wirklich nicht angenehme Art.

Bast versucht die Augen zu öffnen, aber nicht einmal das gelang ihr im allerersten Moment. Sie fühlte sich ... benommen, aber auf eine sonderbare, schon lange nicht mehr erlebte Art. Matt, aber nicht erschöpft. Aber sehr matt. Wie nach einer ... Unsinn!

Der bloße Ärger über ihre eigenen, vollkommen unsinnigen Gedanken gab ihr die Kraft, die Augen zu öffnen und einen Anblick zu genießen, der fast noch absurder war als das, was sie gerade gedacht hatte: Ein schmales Gesicht, das irgendwie zugleich einer reifen Frau wie einem zornigen Kind zu gehören schien und sie missmutig musterte. Was für ein verrückter Traum!

Wenn es denn ein Traum war.

»War es das, was du wolltest?«, fragte Faye. Bast verstand nicht, was sie meinte.

Jedenfalls nicht, bis sie den Kopf in den zerschlissenen Kissen drehte und in ein feistes, auf einer Seite unförmig angeschwollenes Gesicht blickte, das sie aus halb geöffneten und vollkommen leeren Augen ansah.

Bast fuhr mit einem so plötzlichen Ruck hoch, dass ihr prompt schwindelig wurde und das ganze Zimmer rings um sie herum zu schwanken begann.

Vielleicht war sie es auch, die wankte.

Schlaftrunkenheit war etwas, das sie praktisch nicht kannte; vielleicht empfand sie sie daher als umso schlimmer. Aber vielleicht lag es auch nur an ihrer Schwäche. Wie viel auch immer sie von Roy hatte nehmen können, es konnte kaum gereicht haben, um ihren Hunger auch nur halbwegs zu stillen. Aber immerhin hatte es Schlimmeres verhindert.

Seltsamerweise fühlte sie sich nicht hungrig und auch nicht schwach.

Bast lauschte in sich hinein, aber der wühlende Hunger war nicht mehr da. Er war nicht vollkommen verschwunden, aber er war auch längst nicht mehr so unerträglich und qualvoll wie vergangene Nacht.

Wenn es denn überhaupt schon die vergangene Nacht war.

Sie schüttelte die Benommenheit ab, so gut sie konnte, und setzte sich noch weiter auf. Die dünne Decke, unter der sie aufgewacht war, rutschte endgültig von ihren Schultern und fiel zu Boden, und sie spürte erst jetzt, wie eisig es hier drinnen war. Das Feuer in dem kleinen Ofen war längst erloschen, und es war nicht nur kalt, sondern auch feucht, was es besonders unangenehm machte. Sie war in Roys Arm aufgewacht, der von ihrer Schulter geglitten war, als sie sich aufrichtete, und ihr Oberschenkel berührte noch immer sein Bein, aber auch seine Haut war kalt und fühlte sich so unangenehm an wie nasser Ton.

Vor dem Fenster lastete noch immer vollkommene Schwärze, was bedeutete, dass die Dämmerung noch mindestens eine halbe Stunde entfernt war, aber manchmal brach sich ein vereinzelter Lichtstrahl auf dem gesprungenen Glas, und sie hörte noch immer Stimmen und andere, gedämpfte Geräusche. Rings um sie herum erwachte die Stadt.

»Du hast mir nicht geantwortet.«

Bast drehte mühsam den Kopf und blickte ins Fayes Gesicht - in der ersten Sekunde vollkommen verständnislos, und dann umso erschrockener, als sie erstens begriff, dass Faye schon die ganze Zeit neben dem Bert gestanden und sie angestarrt hatte, und zweitens, dass sie es einfach vergessen hatte, wenigstens für diesen Moment.

»Und ich habe dir beinahe geglaubt«, fuhr Faye fort. »Dieses ganze moralische Gequatsche und dass ich meine Zukunft selbst bestimmen und darauf achten soll, meine Seele nicht zu verletzen, und weißt du was? Beinahe hätte ich dir sogar geglaubt! Dabei willst du auch nichts anderes als all die anderen, die hierherkommen.«

Bast verstand die Bitterkeit in ihrer Stimme nicht, aber sie war eigentlich auch noch viel zu benommen, um wirklich darüber nachzudenken. Schlaftrunken schwang sie die Beine von der schmalen Liege, schauderte sichtbar, als ihre Fußsohlen die eisigen Dielen berührten und reckte sich dann ungeniert und ausgiebig. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass Faye ihren Körper ebenso ausgiebig - und ebenso ungeniert - betrachtete, aber sie empfand keine Scham. Ganz gleich, was sie wirklich sein mochte, spätestens seit dem vergangenen Abend war Faye für sie ein Kind und würde das wahrscheinlich auch immer bleiben, und wenn sie eines Tages achtzig sein würde.

»Haben sie dich im St. Catherine's nicht aufgenommen?«, erkundigte sie sich, während sie sich nach ihrem Kleid bückte.

»Das St. Catherine's House ist nur für Frauen, die keine Wohnung haben«, antwortete Faye. »Aber sie haben mir einen heißen Tee gemacht, und ich konnte ein paar Stunden bleiben. Sie hätten mich noch länger bleiben lassen, aber ich war in Sorge um dich.«

»Also bist du zurückgekommen.« Bast schlüpfte in ihr Kleid, strich es mit beiden Händen glatt und verzog angewidert das Gesicht, als ihre Finger durch schmierige Nässe glitten. Blut? Seltsam - sie hatte eine Menge mit Roy angestellt, aber sie konnte sich nicht daran erinnern, dass er dabei geblutet hatte ... dann wurde ihr klar, dass es eher von Bens zertrümmertem Nasenbein stammte. Ein flüchtiges Gefühl von Bedauern überkam sie, als sie an den hässlichen Zwischenfall vom vergangenen Abend zurückdachte. Ben hatte letztlich nur getan, wofür er bezahlt wurde, und irgendwie ... war er kein wirklich übler Kerl. Sie hoffte, dass sie ihn nicht allzu sehr verletzt hatte.

Rasch und ohne dass Faye es bemerkte, wischte sie sich die Hände an ihrem Gewand ab und fuhr fort, als wäre nichts geschehen: »Und was hättest du getan, wenn ich in Gefahr gewesen wäre? Ihn niedergeschlagen?«

»Wohl kaum«, schnappte Faye. »Aber ich hätte dir ... ach, verdammt, ich weiß es nicht, aber ich hätte versucht, irgendwas zu tun. Aber das war ja nicht nötig, nicht wahr?«

»Nein, war es nicht«, antwortete Bast kühl. Ganz plötzlich, von einem Atemzug auf den nächsten, ging ihr Fayes Benehmen auf die Nerven. Was fiel diesem dummen Kind ein? Sie benahm sich, als wäre sie ihre Mutter, die sie mit dem Kohlenmann im Bett erwischt hatte!

Ärgerlich wandte sie sich um, ging zur Kommode und wusch sich mit dem abgestandenen Wasser in der Schüssel Hände und Gesicht. Es war eiskalt und schon nicht mehr sauber gewesen, als sie gestern Nacht gekommen war, aber an ihren Fingern klebte jetzt wenigstens kein Blut mehr, das Faye Anlass zu weiteren dummen Fragen geben würde.

»Nein, das war wirklich nicht nötig!«, schnaubte Faye. »Verdammt noch mal, was hast du eigentlich mit ihm gemacht? Der Kerl ist ja fast tot!«

»Mit ihm gemacht? Möchtest du Einzelheiten wissen, Kleines, oder ...« Wieso fast? Bast starrte das dunkelhaarige Mädchen eine halbe Sekunde lang verständnislos an, dann fuhr sie herum, war mit einem einzigen Schritt neben dem Bett und beugte sich über die reglose Gestalt darauf.

Roy lag noch immer in vollkommen unveränderter Haltung da, mit offenen Augen und leerem Blick, und sein Atem ging so flach, dass man schon sehr genau hinsehen musste, um überhaupt zu sehen, dass er noch atmete.

Aber er atmete, und das hätte er eigentlich nicht gedurft.

Bast beugte sich weiter vor, zog die Decke zurück und legte die flache Hand auf Roys Brust. Sein Herz schlug sehr langsam, vielleicht zwanzig oder fünfundzwanzig Mal in der Minute, aber es schlug, und seine Haut war warm.

»Er ... lebt?«, murmelte sie.

»Natürlich lebt er ... so gerade noch!«, sagte Faye. »Hast du was anderes erwartet?« Sie kam zornig näher. »Aber hättest du vorher gesagt, was du vorhast, dann hätte ich Miete für das Zimmer verlangt!« Sie klang wütend, so viel wütender, als selbst angesichts dieser Situation erklärbar schien, dass Bast überrascht aufsah. Sie erkannte dieselbe Wut auf ihrem Gesicht, die auch in ihrer Stimme zu hören war, aber darunter verbarg sich auch ein nur noch mühsam beherrschter Schrecken. Sie lachte nervös. »He, einen Moment lang hast du wirklich gedacht, er wäre tot, wie? Also wenn ich es nicht schon vorher gewusst hätte, dass Patsy wirklich deine Freundin ist, dann würd ich dir spätestens jetzt glauben.«

»Wieso?«, fragte Bast. Sie hatte fast Mühe, dieses einzelne Wort auszusprechen. Roy war ganz eindeutig am Leben ... aber das hätte er nicht gedurft! So hungrig, wie sie gewesen war, hätte sie sich nicht einmal mehr gewundert, wenn sie Roy wirklich aufgefressen hätte!

»Warum? Sag nicht, du weißt nichts von Patsys Todesküssen.«

»Patsys ... Todesküssen?«

»Es heißt natürlich nur so«, beeilte sich Faye zu versichern.

Anscheinend war der Schrecken, den dieses Wort Bast eingejagt hatte, deutlich in ihrer Stimme zu hören gewesen. »Ein paar von den Jungs haben es so genannt.«

»Was?«

»Patsy macht das nicht oft, nur wenn sie einen Kerl nicht leiden kann ... oder er ganz besonders aufdringlich ist. Aber ich hab's einmal gesehen. Der Bursche wollte einfach keine Ruhe geben, bis Patsy ihm nicht wenigstens einen Kuss geben würde. Und dann hat sie ihn geküsst.« Sie hob die Schultern. »Der Kerl ist zusammengebrochen wie vom Blitz getroffen. Hat kaum noch geatmet, und es hat über eine Stunde gedauert, bis er wieder zu sich gekommen ist ... und mehr als zwei, bis er auch nur wieder so weit auf den Beinen war, um nach Hause zu wanken. Hab den Kerl seither nie wieder hier im East End gesehen.«

»Ja, das klingt ganz nach ihr«, murmelte Ben.

»Bringst du mir den Trick bei?«, fragte Faye. »Damit könnte ich hier ganz groß rauskommen.« Als sie keine Antwort bekam, beugte sie sich tiefer über Roy, sah ihm aufmerksam ins Gesicht und tastete schließlich mit den Fingerspitzen nach seiner Halsschlagader, wie um sich davon zu überzeugen, dass er auch tatsächlich noch lebte.

»Ich muss jetzt gehen«, sagte Bast. »Es wird schon bald hell.«

»Und du musst vor Tagesanbruch wieder zu Hause sein, weil Sonnenlicht für dich tödlich ist«, vermutete Faye. »Was bist du - so 'ne Art Vampyr?«

»Nein«, antwortete Bast ernst. »Woher kennst du dieses Wort?«

»Stell dir vor, ich kann lesen«, antwortete Faye schnippisch. »Ich liebe diese deutschen Schauergeschichten. Aber ich glaube nicht, dass es so was wirklich gibt.«

»Und damit hast du auch recht«, antwortete Bast. »Aber ich muss jetzt wirklich gehen. Ich bin schon viel zu lange hier. Ich habe meiner Zimmerwirtin versprochen, mich um etwas zu kümmern.«

»Und den lässt du hier ...«, Faye machte eine Kopfbewegung auf Roy, »... damit ich mich mit ihm amüsieren kann, wenn er wach wird?«

»Natürlich nicht!« Bast riss die Decke endgültig herunter und gab Faye zugleich mit einer Kopfbewegung zu verstehen, sich nach Roys Kleidern zu bücken, die überall im Zimmer herumlagen - genauer gesagt, seine Jacke, das zerschlissene Hemd und seine Schuhe. Socken und Hose hatte er nicht mehr ausbekommen, bevor sie ihn auf das Bett hinabgezerrt hatte. Sie schlabberte um seine Knöchel, was einigermaßen lächerlich aussah ... was allerdings auch schon fast alles war, was lächerlich an ihm wirkte. Dass Roy ein außergewöhnlich großer und kräftiger Bursche war, hatte sie schon vorgestern auf den ersten Blick gesehen, aber so, wie er jetzt dalag, vollkommen entspannt ohne den brutalen Ausdruck, den er anscheinend bewusst auf sein Gesicht zwang, war er durchaus gut aussehend und überdurchschnittlich gut gebaut, in jeder Hinsicht.

Bast lauschte einen Moment lang in sich hinein, aber alles, woran sie sich - flüchtig - erinnerte, war seine kurze, aber unerwartet kräftige Umarmung und das unendlich erleichternde Gefühl, ihn zu nehmen, seine Kraft aus ihm herauszureißen und ihr eigenes, immer schneller schwindendes Reservoir damit aufzufüllen. Roy - ohne Roy in seinem Kopf - wäre vielleicht gar kein so übler Kerl gewesen; wäre er in einer anderen Stadt, unter anderen Bedingungen oder in einer anderen Zeit geboren, vielleicht wäre er sogar zu jemandem geworden, den sie hätte mögen können. Für einen Moment empfand sie nichts als Mitleid beim Anblick seines kräftigen Körpers und des entspannten Gesichts, und für denselben Moment sah sie beinahe den Mann vor sich, der er hätte werden können, nicht der, zu dem ein teilnahmsloses Schicksal ihn gemacht hatte.

»Wenn du noch das eine oder andere mit ihm vorhast, kann ich auch gern wieder gehen«, sagte Faye schnippisch.

Bast bedachte sie zur Antwort nur mit einem eisigen Blick und forderte sie mit einer ebenso wortlosen Geste auf, ihr dabei zu helfen, Roy wieder anzuziehen. Er wurde nicht wach und gab noch nicht einmal einen Laut von sich, und Faye hörte zwar nicht auf, sie mit einer Mischung aus Verachtung und stummer Empörung anzusehen, wirkte aber zugleich auch immer besorgter. Bast erging es - fast zu ihrem eigenen Erstaunen - nicht anders, und schließlich legte sie die flache Hand auf Roys Stirn und lauschte einen Moment lang konzentriert in ihn hinein. Roys Herz schlug so langsam und schwach, dass sie sich konzentrieren musste, um seinen Puls überhaupt noch zu spüren. Er lebte, aber wie lange noch? Die Flamme war fast erloschen.

Und dann tat sie etwas, was sie selbst vielleicht am allerwenigsten verstand: Sie gab Roy ein wenig von der geraubten Kraft zurück. Nicht viel; nicht einmal annähernd so viel, wie sie genommen hatte, aber doch genug, um aus dem erlöschenden Funken wieder eine Flamme zu machen, die weiter brennen würde.

Roy gab ein halblautes, seufzendes Stöhnen von sich und bewegte den Kopf, wachte aber nicht auf, und Faye sah sie aus großen Augen an. »Was hast du gemacht?«

»Nichts«, antwortete Bast ebenso abweisend wie wenig überzeugend. »Aber ich schätze, dass er bald aufwacht. Weißt du irgendeine stille Ecke, wo wir ihn ablegen können?«

Faye nickte. »Ja, aber ...«

»Dann geh hinaus und sieh nach, ob die Luft rein ist«, fiel ihr Bast ins Wort. »Bevor es hell wird.«

Faye wirkte zwar beinahe noch verärgerter, wandte sich aber gehorsam zur Tür und verschwand für einen Moment auf dem Hof. Als sie zurückkam, wirkte sie besorgt, gab ihr zugleich aber auch mit einem wortlosen Nicken zu verstehen, dass alles in Ordnung war.

»Dann hilf mir.« Bast hätte Roy ohne Probleme allein tragen können, aber Faye war auch so schon misstrauisch genug. Gemeinsam trugen sie ihn aus der Wohnung und über den kleinen Innenhof, wo Faye ihr für einen Moment Roys Gewicht allein überließ, um einen weiteren, sichernden Blick auf die Straße hinauszuwerfen.

»Alles ruhig«, sagte sie, als sie zurückkam. »Aber beeilen wir uns trotzdem lieber. Es wird gleich hell.«

Und es war auch nicht annähernd so ruhig, wie Faye glaubte. Hinter den meisten Fenstern brannte bereits Licht - zum allergrößten Teil Petroleum - und auch ein paar vereinzelte Gaslampen, nicht der flackernde Kerzenschein, der die ärmlichen Wohngegenden kennzeichnete -, und Bast spürte das erwachende Leben überall ringsum. Und sie spürte auch, dass ihnen zumindest ein Augenpaar ebenso überrascht wie misstrauisch folgte. Aber daran konnte sie nichts ändern. Und vielleicht war der Anblick eines bewusstlosen Mannes, der aus dem Haus getragen wurde, in diesem Viertel ja nicht so außergewöhnlich.

Bevor sie die Toreinfahrt verließen, bedeutete sie Faye, Roy auf die Füße zu stellen und sich seinen Arm um die Schulter zu legen; sie selbst ergriff seinen anderen Arm und legte die freie Hand so um seine Hüften, dass sie den allergrößten Teil seines Gewichts stützen konnte. Sollte jetzt jemand aus dem Fenster sehen oder unversehens in die Straße einbiegen, dann würde er nur zwei Frauen erblicken, die einen Betrunkenen nach Hause brachten. Bast tadelte sich selbst im Stillen dafür, nicht gleich auf diesen Gedanken gekommen zu sein.

»Dort drüben.« Faye machte eine Kopfbewegung zur anderen Straßenseite. Die Häuser dort lagen noch in vollkommener Dunkelheit da - seltsamerweise brannte hinter keinem einzigen Fenster dort drüben ein Licht -, aber sie erspähte eine schmale Gasse, die Faye nun ansteuerte. Wie Faye gesagt hatte, war die Straße vollkommen leer, aber sie spürte eine allgemeine Unruhe, die wie eine knisternde Spannung in der Luft lag.

Sie erreichten ihr Ziel unbehelligt. Faye, die bereits unter Roys Gewicht wankte, obwohl Bast den allergrößten Teil davon trug, wollte ihn unverzüglich zu Boden sinken lassen, doch Bast schüttelte nur den Kopf und deutete tiefer in die Gasse hinein. Selbst ihre scharfen Augen erkannten dort nichts außer vollkommener Schwärze, aber sie hörte das erschrockene Pfeifen einer Ratte und dann das hastige Davonhuschen winziger Pfoten.

Die Gasse erwies sich als kaum meterbreite Baulücke zwischen zwei Häusern, die nach einem knappen Dutzend Schritte vor einer windschiefen Bretterwand endete. Faye ließ Roys Arm mit einem hörbaren Seufzer von der Schulter rutschen und sank selbst zitternd gegen die Mauer, während Bast Roy wenig sanft zu Boden sinken ließ und sich fragte, ob die Ratte wohl zurückkommen und sich an der unerwarteten Mahlzeit gütlich tun würde.

»Und ... jetzt?«, fragte Faye atemlos.

»Jetzt gehst du nach Hause«, antwortete Bast, »und ich auch. Mach dir keine Sorgen«, kam sie Fayes nächster Frage zuvor. »Er wird sich an nichts erinnern, wenn er aufwacht.« Wenn er aufwachte. Ganz sicher war sie immer noch nicht.

»Und du?« Faye sah unsicher auf den bewusstlosen Roy hinab. »Ich meine: Kommst du zurück?«

»Ganz bestimmt«, versicherte Bast. »Ich muss immer noch mit Patsy reden.«

»Du hast mit ihr geredet.«

»Aber sie nicht mit mir«, antwortete Bast. »Jedenfalls nicht so, wie ich es mir vorgestellt hätte. Ich muss sie finden und mich eingehend mit ihr unterhalten - und nicht nur für fünf Minuten.« Sie schnitt Faye mit einer Handbewegung das Wort ab, als sie widersprechen wollte. »Geh jetzt. Ich finde dich schon.«

Das war ganz offensichtlich nicht das, was Faye hatte hören wollen, aber Bast gab ihr keine Gelegenheit, noch einmal zu widersprechen, sondern wandte sich rasch um und ging, blieb aber schon nach zwei oder drei Schritten wieder stehen und wandte sich noch einmal zu ihr um. »Wo finde ich einen Wagen?«

»Gleich rechts in der Goulsten Street«, antwortete Faye, »aber ...«

Bast ging weiter, ohne hinzuhören, bog nach rechts ab und gleich an der nächsten Kreuzung abermals nach rechts - und blieb wie angewurzelt wieder stehen. Einen Moment lang überlegte sie ernsthaft, ob sie sich verirrt hatte, oder sie ihre Erinnerungen narrten, denn der Anblick unterschied sich kaum von dem, der sich ihr gestern Abend geboten hatte. Am anderen Ende der Straße hatte sich ein regelrechter Menschenauflauf gebildet. Fackeln und der hektisch hin und her tastende Lichtschein zahlreicher Karbidlampen verhalfen dem Morgen zu einer vorzeitigen Dämmerung, und selbst die kleine Flotte aus Fuhrwerken und Droschken war wieder da, als hätte sie jemand genommen und in exakt gleicher Konstellation hier abgestellt: Jeweils zwei quer gestellte Wagen blockierten die Straße vor und hinter der Menschenmenge, und wer vielleicht diese Barrikade passieren wollte, musste an mindestens zwei von einem guten Dutzend Bobbys vorbei, die peinlich genau seine Personalien notierten, bevor sie ihn gehen ließen; was übrigens längst nicht immer der Fall war. Einer der zahlreichen Wagen war eine massive vierspännige Kutsche mit vergitterten Fenstern, hinter denen sie die Umrisse von mindestens zwei Männern ausmachte, und drei oder vier weitere standen ein Stück abseits und wurden von einer gut doppelt so großen Anzahl missmutig dreinblickender Bobbys bewacht. Anscheinend war es an diesem Abend wirklich nicht ratsam, das East End aufzusuchen, ob mit oder ohne gültige Ausweispapiere.

Zumindest nicht für sie. Bast war ebenso beunruhigt wie neugierig, was dort passiert war, aber sie hatte nicht vergessen, wie es ihr am vergangenen Abend ergangen war, und sie konnte kaum damit rechnen, abermals in letzter Sekunde Beistand von unerwarteter Seite zu bekommen. Etwas war da geschehen, was mindestens genau so schlimm zu sein schien wie der Mord an Liz, wenn nicht schlimmer, und der Anblick dieses gewaltigen Polizeiaufgebotes und der nervösen Menschenmenge beunruhigte sie ebenso sehr, wie er schlicht und einfach ihre Neugier weckte - aber ihre Vorsicht und ihre Instinkte rieten ihr auch nachdrücklich, auf der Stelle kehrtzumachen und zu verschwinden. Und vermutlich hätte sie auch auf ihre innere Stimme gehört, wäre nicht in diesem Moment über den Köpfen der Menschenmenge ein grelles, kalkweißes Licht aufgeflammt; ein gleißender Blitz, der im gleichen Sekundenbruchteil auch schon wieder erlosch, in dem er die Nacht endgültig verjagte, alle Farben auslöschte und die Zuschauer zu tiefenlosen schwarzen Silhouetten werden ließ.

Eine davon war nicht die eines Menschen.

Es war der Schatten eines riesigen Vogels, schwarz, grausam, mit gewaltigen, schimmernden Flügeln, einem grausamen Schnabel und fürchterlichen Fängen, die ...

Das grelle Licht erlosch, und die Dinge wurden wieder zu dem, was sie waren. Der unheimliche Schatten verschwand, aber so unendlich kurz der Moment auch gewesen sein mochte - Bast wusste, was sie gesehen hatte.

Aus ihrem unguten Gefühl wurde Gewissheit, und auch wenn die warnende Stimme ihrer Vernunft keinen Deut leiser geworden war, setzte sie ihren Weg nun doch fort; statt kehrtzumachen und sich zurückzuziehen, bevor irgendjemand auf sie aufmerksam wurde. Sollte das geschehen, würde sie eben zu anderen Mitteln greifen müssen.

Ihr Blick tastete aufmerksam über die zusammengelaufene Menschenmenge, während sie - langsamer werdend - näher kam. Es war genau die Zusammenstellung, die sie erwartet hatte: Männer in derben Kleidern und mit müden Gesichtern, die auf dem Weg zur Arbeit hier vorbeigekommen waren, Neugierige, die der Lärm und die Aufregung angelockt hatten, ein paar übrig gebliebene Zecher oder Freier aus den nahe gelegenen Etablissements und die üblichen Gaffer, die aus den umliegenden Häusern herbeigeeilt waren ... es gab anscheinend nichts, was Menschen mehr erschreckte und zugleich anzog als Gewalt und Tod; vorausgesetzt, sie stießen anderen zu.

Was sie nicht sah, war die unheimliche Gestalt von gerade. Wären die Umstände nur ein bisschen anders gewesen, hätte sich Bast möglicherweise eingestanden, einer simplen Täuschung erlegen zu sein. Auch ihre Sinne waren nicht unfehlbar, und sie hatte wahrlich jeden Grund, nervös zu sein. Sie räumte sogar die Möglichkeit ein, sich tatsächlich getäuscht und in Wahrheit einen Menschen gesehen zu haben, statt eines riesigen Falken; einen Mann in einem schwarzen Mantel und mit Turban und Schwert, aber auch von einem solchen war keine Spur zu sehen.

Bast blieb stehen und lauschte mit allen Sinnen und so konzentriert, wie sie nur konnte, doch alles, was sie empfing, war eine nervöse Mischung aus Entsetzen und morbider Faszination, nur hier und da vielleicht eine Spur von echtem Mitgefühl oder Trauer, aber nicht das, worauf sie wartete.

Das bedeutete nichts. Noch vor wenigen Tagen hätte sie über die bloße Vorstellung gelacht, aber Horus hatte ihr bewiesen, dass er unmittelbar vor ihr stehen konnte, ohne dass sie imstande war, hinter seine Maske zu blicken. Sie wussteeinfach, dass er da war.

»Miss?«

Bast war so sehr in ihre Gedanken versunken gewesen, dass sie den Bobby nicht einmal bemerkt hatte, der sich ihr von hinten genähert hatte. Und es verging noch eine weitere, geschlagene Sekunde, bis sie ihn erkannte.

»Oh, hallo, Konstabler ... Stowe?« Der Bobby nickte, und Bast fuhr mit einem perfekt geschauspielerten nervösen Lächeln fort: »Es tut mir leid, Konstabler, aber ich fürchte, ich habe meine Papiere noch immer nicht ...«

»Darum geht es nicht, Ma'am«, unterbrach Stowe sie höflich, aber entschieden. »Wenn Sie mich freundlicherweise begleiten würden?«

»Begleiten? Wohin?« Für einen Moment überkam sie beinahe so etwas wie Panik. Was um Ras willen wollte Stowe von ihr? Woher wusste sie überhaupt, dass er Stowe war? Was, wenn ...

»Der Inspektor würde Sie gerne sprechen, Ma'am«, antwortete er. Gleichzeitig machte er eine Handbewegung hinter sich, von der Bast nicht sagen konnte, ob sie nun einfach erklärend war oder sich ein Befehl dahinter verbarg. So oder so deutete er auf Abberline, der nur ein kleines Stück entfernt dastand und sich gerade über etwas beugte, das mit einem weißen Tuch abgedeckt war. Es hätte der hässlichen, dunkelbraun eingetrockneten Flecken darauf nicht bedurft, um Bast zu sagen, was sich darunter verbarg.

»Inspektor Abberline?«, erkundigte sie sich überflüssigerweise - und aus keinem anderen Grund als dem, Zeit zu gewinnen. Ihre Gedanken rasten. Irgendetwas stimmte hier nicht. Irgendetwas war hier ganz und gar nicht so, wie es zu sein vorgab. Sie wusste nicht, was, aber eines wusste sie mit jeder Sekunde mehr: Sie sollte nicht hier sein.

»Ich fürchte, er wird darauf bestehen, Ma'am«, antwortete Stowe. »Also kommen Sie bitte mit!«

Bast fragte sich flüchtig, was er wohl tun würde, wenn sie sich weigerte, mit ihm zu kommen, dachte diesen Gedanken aber vorsichtshalber nicht zu Ende. Weder Stowe noch sein Dutzend Kollegen stellten irgendeine Bedrohung für sie dar - nicht mehr, wo ihre Schwäche überwunden und sie nahezu im Vollbesitz ihrer Kräfte war -, aber sie war nicht hierhergekommen, um einen Kleinkrieg mit ihm und der kompletten Londoner Polizei zu beginnen ... und außerdem war sie schlicht und einfach neugierig, was Abberline von ihr wollte. Sie wartete vielleicht noch einen Atemzug länger, als gut war, aber dann nickte sie. »Ganz wie Sie wünschen, Konstabler.«

Stowe starrte eine Sekunde lang verständnislos auf die Hand, die sie ihm hinhielt, dann zuckte er mit den Schultern und wandte sich um, um vorauszugehen. Bast fragte sich, ob er das genaue Gegenteil eines typischen englischen Gentlemans war oder schlichtweg Angst hatte, sie zu berühren. Zu seinen Gunsten nahm sie Letzteres an.

Immerhin sorgte die Autorität seiner Uniform dafür, dass die Gaffer ihnen Platz machten. Die Vorstellung, einen von ihnen auch nur zu berühren, wäre ihr im Moment schon beinahe unerträglich gewesen.

Abberline richtete sich ächzend auf, als sie näher kamen, und drehte sich mit einer unendlich müde wirkenden Bewegung herum. Er sah erschöpft aus, unendlich müde und am Ende seiner Kräfte, nicht nur in körperlicher Hinsicht. Unter seinen Augen lagen schwere, fast schwarze Ringe, und sein Haar war stumpf geworden und hing ihm in Strähnen in die Stirn.

»Miss Bast«, sagte er müde.

»Bast reicht«, antwortete Bast. »Das Miss klingt so offiziell.«

»Bast, gut«, sagte Abberline müde. »Ich fürchte jedoch, dass wir uns leider auch ganz offiziell hier sehen. Ich dachte, Jacob wollte Sie zurück in die Pension begleiten?«

»Das hatte er auch vor«, antwortete Bast. »Aber ich wurde ... aufgehalten.«

»So lange?«

Bast hob zur Antwort nur die Schultern, und zu ihrer Überraschung gab sich Abberline mit dieser Antwort sogar zufrieden; wenigstens für den Moment. Zwei oder drei Atemzüge lang starrte er sie nur an, genauer gesagt einen Punkt ungefähr zwei Handbreit unterhalb ihres Gesichts, und einen Moment lang fragte sie sich ganz ernsthaft - auch wenn das eigentlich nicht zu ihm passte -, ob er ihre Brüste anstarrte.

Dann wurde ihr klar, was es wirklich war.

»Sie sehen recht, Inspektor«, sagte sie kühl. »Das ist Blut. Aber nicht meines.«

»Es stammt von Ben, ich weiß«, unterbrach sie Abberline. Er klang beinahe noch müder. »Maudes Rausschmeißer.«

»Sie sind gut informiert«, sagte Bast anerkennend.

»Das ist mein Beruf«, antwortete Abberline. »Hier im East End geschieht nicht viel, von dem ich nicht weiß. Außerdem kommt es nicht jeden Tag vor, dass jemand dem stärksten Burschen des ganzen Viertels eine blutige Nase verpasst - und das noch dazu mit bloßen Händen. So etwas spricht sich schnell herum.« Er seufzte noch einmal, und noch tiefer, und etwas in seinem Blick ... änderte sich. Bast konnte nicht sagen, was, aber es gefiel ihr nicht.

»Wie gesagt: Sie sind gut informiert«, wiederholte sie.

»Leider nicht gut genug«, erwiderte Abberline. »Sie wissen, was hier passiert ist?«

Bast antwortete mit einer Mischung aus einem Nicken und einem Kopfschütteln - was der Wahrheit auch ziemlich nahekam. Abgesehen von den hässlichen braunroten Flecken auf dem Tuch, unter dem sich deutlich die Umrisse eines menschlichen Körpers abzeichneten, stieg ihr mittlerweile ein deutlicher Blutgeruch in die Nase, und auf einer tieferen Ebene das nur langsam verblassende Echo brutal explodierender Gewalt und sehr großer Angst. Im Stillen bedankte sie sich noch einmal bei Roy. Ohne das, was er ihr gegeben hatte, wäre es vielleicht mehr gewesen, als sie ertragen konnte, und möglicherweise - wahrscheinlich - hätte sie etwas getan, das ... nicht gut war.

Abberline wartete einen Moment lang vergebens auf eine andere Antwort, dann ließ er sich erneut in die Hocke sinken und schlug das Tuch gerade weit genug zur Seite, dass sie das Gesicht darunter erkennen konnte.

»Kate«, murmelte sie. Seltsam - sie war nicht einmal überrascht. Nicht wirklich.

»Sie kennen diese Frau«, stellte Abberline fest. Er klang noch weniger überrascht.

»Das ist Kate, ja«, antwortete Bast. Sie war nicht überrascht, aber sie fühlte sich, als hätte ihr jemand ins Gesicht geschlagen. Und sie glaubte Horus' Blick geradezu zwischen den Schulterblättern zu spüren. Den Spott in seinen Augen.

»Catherine Eddowes, um genau zu sein, ja«, sagte Abberline. »Jeder hier in Whitechapel kennt Kate, genau wie ihre Freundinnen. Polly, Dark Anny, Liz, Marie-Jeanette und Faye. Wie es aussieht, sind nicht mehr viele von ihnen übrig. Wissen Sie, was ich mich frage, Bast? Woher kennen Sie diese Frauen? Soweit ich weiß, sind Sie erst seit zwei oder drei Tagen in diesem Land.«

»Ich kenne sie nicht wirklich«, antwortete Bast. »Eigentlich so gut wie gar nicht. Ich bin gestern kurz mit ihr und den anderen ins Gespräch gekommen, das ist alles.«

»Während Sie auf der Suche nach Ihrer Freundin waren«, nickte Abberline.

»Ja.«

»Waren Sie erfolgreich?«

»Ja und nein«, antwortete Bast ausweichend. »Ich habe sie gefunden, aber unser Gespräch ist leider nicht ganz so verlaufen, wie ich gehofft habe.« Sie runzelte die Stirn. »Was genau wird das, Inspektor? Ein Verhör?«

»Gäbe es denn einen Grund, Sie zu verhören?«, fragte Abberline.

»Sie glauben nicht ernsthaft, dass ich etwas mit diesen Morden zu tun habe, oder?«, fragte sie.

Abberline dachte eindeutig länger über diese Frage nach, als ihr lieb war, aber dann schüttelte er den Kopf. »Nein«, sagte er. »Es sei denn, Sie wären zu so etwas fähig.« Und damit schlug er mit einem Ruck das Tuch endgültig zur Seite.

Irgendwo hinter ihr schrie eine Frau entsetzt auf, und ein mehrstimmiges, erschrockenes Keuchen erklang. Selbst Bast gelang es nicht vollends, ein erschrockenes Zusammenzucken zu unterdrücken. Sie hatte in ihrem Leben eine Menge gesehen, und manches davon war schlimmer gewesen als das, was man Kate angetan hatte ... aber hier in dieser kalten, heruntergekommenen Gasse, umringt von Neugierigen, die aus keinem anderen Grund als dem gekommen waren, sich an dem schrecklichen Bild zu ergötzen und in dem festen Wissen, dass der Mensch, der für all das verantwortlich war, irgendwo ganz in der Nähe war und sie beobachtete, war der Anblick beinahe mehr, als sie ertragen konnte.

Kate war nicht einfach nur tot. Jemand hatte ihr die Kehle durchgeschnitten, aber das hatte ihm ganz offensichtlich noch nicht gereicht. Sie war regelrecht geschlachtet worden.

Und ihr Kopf und ihre Schultern lagen in einer Lache ihres eigenen, erst halb eingetrockneten Blutes, aber ein ungleich größerer, nass glitzernder roter See hatte sich unter ihrem Körper gebildet. Ihr Leib war vom Brustbein bis hinab zur Scham - und durch sie hindurch - säuberlich aufgeschlitzt worden, und so präzise und glatt dieser Schnitt auch war, war zumindest sein oberer Rand brutal ausgefranst, weil jemand die Wunde mit roher Gewalt auseinandergezerrt hatte, sodass der Blick ungehindert in Kates Bauchhöhle und auf ihre Gedärme und ihre inneren Organe und Unmengen von Blut und brutal zerfetztem Gewebe und Muskeln fiel. Bast spürte, wie sich bittere Galle unter ihrer Zunge zu sammeln begann, aber sie beging nicht den Fehler, sie herunterzuschlucken, was alles nur viel schlimmer gemacht hätte. Trotzdem begannen ihre Eingeweide immer heftiger zu rebellieren.

»Haben ... Sie das getan?«, fragte sie mit bebender Stimme.

»Um nachzusehen, was noch da ist?« Abberline schüttelte den Kopf. Er war noch immer sehr blass, aber Bast war jetzt nicht mehr sicher, ob es tatsächlich nur an seiner Müdigkeit lag. Aber ihr entging auch nicht, wie aufmerksam er sie trotz allem im Auge behielt. »Das war nicht notwendig, fürchte ich. Er hat ihre ... inneren Organe entnommen. Wenigstens einige. Welche und wie viele genau, wird uns morgen der Arzt sagen, aber das ist eindeutig seine Handschrift.« Er seufzte matt, schlug die Decke wieder über den schrecklich zugerichteten Leichnam und richtete sich mit einer Bewegung auf, die wie die eines uralten, gebrechlichen Mannes wirkte. »Was für ein Ungeheuer. Aber wenigstens hat er ihr vorher die Kehle durchgeschnitten. Sie dürfte nicht allzu viel gespürt haben.«

Bast schluckte den bitteren Speichel nun doch herunter, atmete hörbar ein und fragte dann mit belegter Stimme: »Warum zeigen Sie mir das, Inspektor?«

»Damit Sie sehen, womit wir es zu tun haben«, antwortete Abberline.

»Und warum sollte ich das sehen?«

»Ich dachte, es würde Ihnen vielleicht helfen, gewisse ... Entscheidungen zu treffen.«

»Was für Entscheidungen sollten das sein?«

Statt sofort zu antworten, wandte sich Abberline um und bedeutete ihr mit einer stummen Geste, ihm zu folgen.

Sie gingen nur wenige Schritte weit, bis sie vor einer brüchigen Ziegelsteinmauer stehen blieben. Abberline winkte einen Konstabler herbei - Bast registrierte beiläufig, dass es Stowe war - und wies ihn mit einer immer noch wortlosen Handbewegung an, seine Lampe einzuschalten und auf die Mauer zu richten. Der weiße Strahl war so gleißend, dass Bast im ersten Moment Mühe hatte, die mit präzisen weißen Kreidebuchstaben gemalten Worte zu entziffern, die jemand auf den nassen Stein geschrieben hatte.

Und als es ihr gelungen war, verstand sie sie nicht.

»›Die Juwes sind nicht die Menschen, die für nichts beschuldigt werden‹«, murmelte sie. »Was hast das zu bedeuten?«

Abberline hob die Schultern. »Ich hatte gehofft, dass Sie vielleicht eine Idee dazu haben könnten«, sagte er.

»Ich?«

»Nein, nicht dass ich auch nur im Entferntesten glauben würde, Sie hätten irgendetwas mit dieser schrecklichen Sache zu tun«, versicherte Abberline hastig; und sehr ehrlich, wie sie spürte. »Jacob Maistowe hat mir erzählt, dass Sie eine weit gereiste Frau mit einer großen Erfahrung in fremden Kulturen und arkanen Bräuchen sind. Bitte verzeihen Sie. Es war ... eine dumme Idee.«

Für Bast hörte es sich eher nach einer verzweifelten Idee an; was ihr wiederum eine Menge darüber sagte, wie sich Abberline wirklich fühlte. Sie wusste nicht viel über diesen Mann, aber er machte einen ehrlichen Eindruck, und sie vermutete, dass er unter alledem hier weit mehr litt, als er nach außen hin eingestand.

Immerhin konnte sie ihm den Gefallen tun, sich die kryptische Inschrift noch einmal anzusehen und nach irgendeinem verborgenen Sinn darin zu suchen. Aber sie fand ihn nicht.

»Es tut mir leid«, sagte sie ehrlich. »Aber für mich ergibt das keinen Sinn. Ich weiß nicht einmal, was das Wort Juwes bedeutet ... allerdings bin ich des Englischen auch nicht so mächtig, wie ich es gerne wäre.«

»Sie sprechen besser Englisch als die meisten Briten, die ich kenne«, versicherte Abberline lächelnd, wurde aber auch sofort wieder ernst und schüttelte den Kopf. »Außerdem kenne ich dieses Wort auch nicht.«

»Es könnte Jews heißen, Sir«, mischte sich Stowe ein. »Juden.«

Abberline sah nicht so aus, als wäre er erbaut über diese ungefragte Hilfe, aber er dachte trotzdem einen Moment angestrengt über diese Möglichkeit nach. Anschließend sah er noch weniger begeistert aus.

»Dann ergäbe es wenigstens so etwas wie einen Sinn«, sagte er düster. »Aber dann hätten wir ein noch größeres Problem, fürchte ich.«

»Wieso?«

Statt zu antworten, dachte Abberline einen weiteren Augenblick lang angestrengt nach, bevor er sich - plötzlich sehr entschlossen - direkt an Stowe wandte. »Holen Sie einen Lappen und entfernen Sie diese Schmiererei, Konstabler«, sagte er.

Stowe riss ungläubig die Augen auf. »Aber Sir! Das ist ...«

»Habe ich mich irgendwie unklar ausgedrückt, Konstabler?«, fiel ihm Abberline ins Wort. Plötzlich klang seine Stimme schneidend.

»Nein, Sir«, antwortete Stowe. »Es ist nur, weil ...«

»Dann tun Sie, was ich gesagt habe, und entfernen Sie das«, unterbrach ihn Abberline erneut. »Und danach nehmen Sie einen Wagen und bringen Sie diese Lady nach Hause. Miss Bast - ich bringe das hier zu Ende und komme dann zu Ihnen. Ich möchte Sie bitten, solange in der Pension auf mich zu warten.«



Insgeheim war sie doch froh gewesen, nicht allein und zu Fuß zur Pension zurückgehen zu müssen; nicht weil sie Angst davor gehabt hätte, allein durch die Straßen dieser verrufenen Gegend zu gehen, oder gar Angst vor der Dunkelheit oder etwas noch Alberneres, sondern weil sie sich schlichtweg selbst nicht traute. Dass die quälende Gier in ihrem Inneren nicht mehr zu spüren war, bedeutete ganz und gar nicht, dass das Ungeheuer auch tatsächlich schlief. Sie wagte nicht zu sagen, was passiert wäre, wäre sie im Morgengrauen einem einsamen Wanderer begegnet.

Was ihr weniger gefiel, war die Art, auf die Stowe sie zurück in Mrs Walshs Obhut brachte - zwar tatsächlich mit einem Wagen, wie Abberline es ihm aufgetragen hatte, aber nicht mit irgendeinem, von denen nun wahrlich genug zur Auswahl standen, sondern mit einem Gefängniswagen, einem der beiden klobigen schwarzen Monster mit den vergitterten Fenstern, die sie vorhin schon bewundert hatte. Zumindest hatte er darauf verzichtet, die Tür von außen zu verriegeln.

Damit hörte seine Rücksichtnahme dann aber auch schon auf.

Bast hatte ihn gebeten, eine Straße vorher anzuhalten, um ihr die Peinlichkeit zu ersparen, in Begleitung eines uniformierten Bobbys aus einem Gefangenentransporter zu steigen, aber er tat nichts dergleichen, sondern lenkte den Wagen ganz im Gegenteil bis unmittelbar vor den Eingang der Pension, und als wäre das allein noch nicht genug, begleitete er sie noch bis zur Tür.

»Das war sehr freundlich von Ihnen, Konstabler«, sagte sie. Sie rührte keinen Finger, um die Tür zu öffnen, obwohl sie wusste, dass sie unverschlossen war. »Aber von hier aus finde ich den Weg allein.«

»Daran zweifle ich nicht, Ma'am«, antwortete Stowe unbehaglich. Er wich ihrem direkten Blick aus. »Aber Inspektor Abberline hat mir ausdrücklich aufgetragen, Sie ... ähm ...«

»Zu bewachen«, half Bast aus, als er nicht weitersprach, sondern plötzlich etwas ungemein Interessantes auf seinen Schuhspitzen entdeckt zu haben schien. »Wozu genau? Um mich vor irgendetwas zu beschützen, vor dem ich nicht beschützt werden muss, oder um sicherzugehen, dass ich nicht verschwinde?«

»Das hat er nicht gesagt, Ma'am«, erwiderte Stowe kühl. »Mein Befehl lautet nur, hier bei Ihnen zu warten, bis der Inspektor nachkommt.«

Bast dachte einen ganz kurzen Moment lang daran, ihn trotzdem fortzuschicken. Sie hätte es gekonnt, ohne die geringste Mühe - aber damit hätte sie nicht nur Abberlines Misstrauen neue Nahrung gegeben, sondern auch Stowe Schwierigkeiten bereitet, und beides wollte sie nicht.

Die Tür ging auf, und Mrs Walsh, die offensichtlich jedes Wort gehört hatte, sagte kühl: »Dann sollten Sie Ihre Pflicht auch tun, Konstabler. Aber tun Sie auch mir einen Gefallen und parken Sie dieses schreckliche Gefährt nicht direkt vor meiner Tür. Meinen Gästen dürfte das nicht gefallen, und ich möchte auch kein Gerede in der Nachbarschaft.«

Stowe wirkte für einen Moment unentschlossen und fast ein wenig hilflos, dann aber drehte er sich schon beinahe hastig um und eilte davon, um den Wagen anderswo zu parken.

»Wir müssen uns unterhalten, meine Liebe«, sagte Mrs Walsh kühl. »Jacob und ich haben Ihnen zwar unsere Hilfe angeboten, aber ich fürchte, Sie legen dieses Angebot ein wenig zu großzügig aus.«

»Das mit dem Konstabler tut mir leid«, sagte Bast. »Es lag nicht in meiner Absicht ...«

»Das meine ich nicht«, antwortete Mrs Walsh. Sie trat einen Schritt zurück und zog die Tür dabei weiter auf, um Bast an sich vorbeizulassen, und sie gehorchte schweigend.

In dem kleinen Salon brannte Licht, obwohl es draußen mittlerweile hell geworden war, und im Kamin brannte ein behagliches Feuer. Der kleine Tisch davor war verwaist, aber das Teeservice darauf bewies, dass Maistowe und Mrs Walsh in dieser Nacht offenbar ebenso wenig Schlaf gefunden hatten wie sie. Mrs Walsh geleitete sie wortlos zum Tisch, bedeutete ihr mit einer fast befehlenden Geste, Platz zu nehmen und verschwand mit schnellen Schritten in der Küche, um einen Augenblick später mit einer sauberen Tasse zurückzukommen.

»Wie geht es Cindy?«, fragte Bast.

Mrs Walsh hob die Teekanne, sah sie fragend an und ignorierte Basts ablehnendes Kopfschütteln, indem sie ihr dennoch einschenkte. Erst dann antwortete sie: »Das Mädchen, meinen Sie? Es schläft. Es war nicht leicht, es zu beruhigen, aber am Ende ist es mir schließlich gelungen. Jacob ist jetzt oben bei ihr und passt auf.« Sie seufzte. »Wir hätten Sie früher zurückerwartet, meine Liebe.«

»Ich weiß, und es tut mir auch leid«, sagte Bast. »Ich wollte Kapitän Maistowe und Ihnen bestimmt keine Schwierigkeiten bereiten, aber ich ... wurde aufgehalten.«

»Ja, das scheint mir auch so.« Mrs Walsh warf einen bezeichnenden Blick zur Tür. »Hat Sie dieser Gentleman wegen des Mädchens begleitet?«

»Cindy?« Bast schüttelte den Kopf. »Nein. Keine Sorge, Mrs Walsh. Es hat nichts damit zu tun. Ich fürchte, es hat einen weiteren Mord gegeben.«

»Ich weiß«, antwortete Mrs Walsh. »Jacob hat mir davon erzählt.«

»Nein, das meine ich nicht«, sagte Bast. »Noch einen Mord. Vor vielleicht einer Stunde.«

»Einen zweiten Mord? Den zweiten in nur einer Nacht?« Mrs Walsh riss die Augen auf. »Großer Gott! In was für Zeiten leben wir nur? Aber, wenn Sie mir die Frage verzeihen, was haben Sie damit zu tun?«

»Nichts«, versicherte Bast hastig. »Vielleicht kam es Inspektor Abberline einfach nur seltsam vor, dass er mich zweimal in einer Nacht getroffen hat, noch dazu unter solchen Umständen. Aber es wird sich alles aufklären, keine Sorge. Der Inspektor hat versprochen, noch vorbeizukommen.«

»Das will ich hoffen«, sagte Mrs Walsh ernst. »Es tut dem Ruf meines Hauses nicht gut, wenn die Polizei hier ein- und ausgeht.«

Das Klappen einer Tür hielt Bast davon ab, zu antworten. Sie sah zur Treppe und erblickte Maistowe, der mit hängenden Schultern die Stufen herunterkam. Er sah müde aus und sehr erschöpft, und Bast erschrak ein bisschen. Manchmal vergaß sie, dass normale Menschen regelmäßig in jeder Nacht Schlaf brauchten.

»Ah, Bast, da sind Sie ja.« Er sparte es sich, ein endlich hinzuzufügen, aber es klang trotzdem so, als hätte er es getan.

»Wie geht es der Kleinen?«, fragte Bast rasch und stand auf, doch Maistowe schüttelte den Kopf und hob die Hände, während er mit schleppenden Schritten weiter die Treppe herunterkam.

»Sie schläft jetzt, und Sie sollten sie auch schlafen lassen«, sagte er. »Es war nicht leicht.«

»Das Opium?«, fragte Bast. Maistowe schüttelte den Kopf, und sie sah aus den Augenwinkeln, wie Mrs Walsh die Stirn runzelte und plötzlich noch besorgter aussah; und auch ein wenig verärgert. Offensichtlich hatte Maistowe ihr alles erzählt.

»Nein«, antwortete Maistowe »Die Wirkung hat schon vor Stunden nachgelassen. Danach wollte sie unbedingt weg.«

»Weg?«

»Zurück zu Maude«, seufzte Maistowe. »Man mag es kaum glauben.«

»Dann möchte ich sie trotzdem sehen«, sagte Bast entschieden. »Keine Sorge - ich wecke sie nicht auf. Ich möchte sie nur sehen.«

»Um was zu tun?«, fragte Mrs Walsh. »Verzeihen Sie, meine Liebe, aber ich halte es trotzdem für besser, wenn wir uns zuerst einmal unterhalten.«

Bast zögerte zwar noch einen Moment, nahm dann aber wieder Platz. Sie würde es spüren, wenn Cindy erwachte, auch durch die geschlossene Tür hindurch. Auch Maistowe setzte sich und griff mit einer leicht zitternden Hand nach seiner Teetasse, und Mrs Walsh sah sie mit einer Mischung aus Sorge und leisem Vorwurf an.

»Ich nehme an, Sie wollen zu ihr, um sie von ihrem närrischen Entschluss abzubringen, wieder in dieses grässliche Haus zurückzugehen.« Mrs Walsh machte eine unwillige Geste, obwohl Bast gar nicht hatte widersprechen wollen. »Ich bin ziemlich sicher, dass Sie Mittel und Wege haben, auch wenn ich mir nicht einmal vorzustellen vermag, wie ... und es ehrlich gesagt auch gar nicht will. Ich will Ihnen auch gar keine Vorwürfe machen. Jacob hat mir alles erzählt. Ich an Ihrer Stelle hätte vielleicht dasselbe getan - wenn ich dazu in der Lage gewesen wäre, natürlich, heißt das. Aber wie soll es nun weitergehen mit diesem Mädchen? Ich meine: Haben Sie darüber nachgedacht, was nun mit ihr geschehen soll?«

Die ehrliche Antwort auf diese Frage lautete nein, und Bast sagte das auch.

»Ja, das dachte ich mir.« Mrs Walsh seufzte tief und kam ihrem Widerspruch mit einem abermaligen Kopfschütteln zuvor. »Um es noch einmal zu sagen: Ich mache Ihnen keinen Vorwurf. Aber die Lage ist leider sehr kompliziert. Natürlich mussten Sie das arme Kind da wegholen, kein Zweifel, aber was soll nun mit ihr geschehen?«

»Ich hatte gehofft, dass sie erst einmal hierbleiben könnte«, antwortete Bast.

»Das kann sie selbstverständlich«, antwortete Mrs Walsh. »Aber für wie lange? Dies ist ein anständiges Haus. Ich bin gerne bereit, mich ein paar Tage um sie zu kümmern und sie ein wenig zu bemuttern und aufzupäppeln. Aber irgendwann ...« Sie machte eine hilflose Geste.

»Ich verstehe«, seufzte Bast. »Sie kann nicht auf Dauer hierbleiben, das ist mir klar.«

»Nein«, bestätigte Mrs Walsh. »Ich fürchte nicht. Zumindest nicht auf unbegrenzte Zeit. Für ein paar Tage vielleicht ... aber nicht auf Dauer, nein.«

»Sie müssen Gloria verstehen, Bast«, sagte Maistowe. »Sie ist keineswegs herzlos oder egoistisch, aber sie ist ...«

»... eine anständige Frau, die versucht, ein anständiges Leben zu führen«, fiel ihm Mrs Walsh ins Wort. »Ich weiß, dass die Welt da draußen schlecht ist, Miss Bast, und ich tue, was in meinen bescheidenen Kräften liegt, die Schlechtigkeit einzudämmen. Aber ich kann mein Haus nicht auch noch zu einem Heim für gefallene Mädchen machen, deren unsittlicher Lebenswandel vielleicht erzwungen sein mag, aber ...«

»Schon gut«, unterbrach sie Bast. »Sie haben vollkommen recht, Mrs Walsh. Ich habe nicht nachgedacht. Mein Fehler. Es tut mir leid.«

Mrs Walsh lächelte milde. »Das muss es nicht. Wie gesagt: Ich an Ihrer Stelle hätte wahrscheinlich nicht anders gehandelt, aber ...«

Die Tür ging auf, und Konstabler Stowe kam herein. Mrs Walsh brach mitten im Wort ab und sah beinahe verärgert aus, aber Bast war über das plötzliche Auftauchen des Bobbys geradezu erleichtert.

Maistowe hatte sich überrascht von seinem Stuhl erhoben. »Konstabler?«

»Konstabler Stowe - Kapitän Maistowe.« Bast machte eine erklärende Geste. »Sie kennen sich ja bereits.«

»Ja, sicher«, antwortete Maistowe verstört. »Aber ...«

»Der Konstabler war so freundlich, mich nach Hause zu begleiten«, erklärte Bast. »Anscheinend war Inspektor Abberline der Meinung, dass es so sicherer sei.« Sie winkte Stowe herbei, stand auf und bot ihm aus der gleichen Bewegung heraus ihren Platz an, während sie sich zugleich wieder an Mrs Walsh wandte. »Lassen Sie uns später darüber reden. Wir sind alle müde und könnten etwas Schlaf gebrauchen ... sobald Inspektor Abberline wieder gegangen ist, heißt das.«

»Abberline?«, fragte Maistowe überrascht.

»Wir warten auf ihn«, bestätigte Bast. »Er wollte nachkommen, sobald seine Untersuchungen abgeschlossen sind, und ich vermute, es wird auch nicht mehr allzu lange dauern.« Sie warf Stowe einen fragenden Blick zu, auf den dieser allerdings nur mit einem hilflosen Schulterzucken reagierte. Er rührte sich jedoch auch nicht von der Stelle, um ihrer Einladung zu folgen.

»Inspektor Abberline kommt her?«, fragte Maistowe.

Bast gab keine weitere Erklärung ab, sondern trat im Gegenteil nur vollends vom Tisch zurück und wandte sich zur Treppe. »Konstabler Stowe, seien Sie doch so freundlich und erklären Sie Kapitän Maistowe, was passiert ist. Ich möchte nach dem Mädchen sehen und ein wenig ausruhen. Bitte rufen Sie mich, wenn der Inspektor eintrifft.«



Abberline kam erst kurz vor Mittag, aber damit hatte Bast insgeheim auch gerechnet. Sie war auch nicht überrascht gewesen, als ihre feinen Sinne ihr verraten hatten, dass Mrs Walsh und nur eine kleine Weile später auch Maistowe friedlich in ihren Sesseln vor dem Kamin eingeschlafen waren; vielleicht schon etwas mehr, als gar nicht lange danach auch Stowe der behaglichen Wärme und Stille erlag und wegzudämmern begann - schließlich war auch er nur ein Mensch und die ganze Nacht auf den Beinen gewesen.

Sie selbst schlief nicht, sondern hielt die ganze Zeit neben Cindys Bett Wache, obwohl es nicht einmal nötig gewesen wäre. Sie hatte tatsächlich getan, was Mrs Walsh ihr unterstellt hatte, und nicht nur dafür gesorgt, dass Cindy ihren Wunsch vergaß, in Maudes Bordell zurückzukehren, sondern auch dafür, dass sie mindestens bis zum Abend durchschlafen würde. Aber sie war sehr behutsam dabei vorgegangen. Statt dem Mädchen die Erinnerungen an die letzten drei oder vier Monate komplett zu nehmen - was sie gekonnt hätte, aber mit dem Risiko, ihm einen ernsthaften geistigen Schaden zuzufügen -, hatte sie nur dafür gesorgt, dass sie ein wenig verblassten und so verschwommen wie die an einen vielleicht schlimmen, aber überstandenen Albtraum wurden, und selbst das nicht auf Dauer. Aber wenn sie erst einmal ein wenig Abstand gewonnen und Zutrauen zu Mrs Walsh und ihr gefasst hatte, dann würde sie auch mit dieser schrecklichen Episode fertig werden. In diesem Punkt kam es ihr zugute, dass sie noch ein Kind war. Kinder waren sehr verwundbar, aber zugleich unglaublich stark. Bast nutzte die Zeit, um ebenfalls ein wenig zu entspannen - Schlaf brauchte sie nicht. Sie fühlte sich nach der Nacht mit Roy so erfrischt und stark und konnte Tage, wenn es sein musste Wochen ohne Schlaf auskommen - und über ihr begonnenes Gespräch mit Mrs Walsh nachdenken. So ungern sie es zugab: Mrs Walsh hatte recht. Sie hatte nicht eine Sekunde lang darüber nachgedacht, was mit dem Mädchen geschehen sollte, wenn sie sie erst einmal Maudes Zugriff entzogen hatte. Sie konnte nicht hierbleiben; das hätte sie nicht einmal gekonnt, wenn Mrs Walsh sich so vehement gegen diese Idee gewehrt hätte. Sie selbst würde in wenigen Tagen oder spätestens Wochen nicht mehr hier sein, um sie zu beschützen, und das East End war keine halbe Stunde zu Fuß entfernt. Selbst wenn Maistowe dort nicht bekannt gewesen wäre, wäre die Gefahr einfach zu groß, dass irgendjemand sie zufällig sah und Maude oder einem ihrer Handlanger davon erzählte. Bast erwog einen Moment lang den Gedanken, die alte Vettel zu töten und damit zumindest ein Problem aus der Welt zu schaffen, entschied sich aber dann dagegen. Sie konnte Maude beseitigen, nicht aber das Problem. Wenn sie nicht mehr da war, würde sofort jemand anders Maudes Platz einnehmen. Vielleicht ein Schlimmerer.

Die große Standuhr unten im Salon hatte bereits zwölf geschlagen, als sie das Geräusch einer Droschke hörte, die in die Straße einbog. Rasch verließ sie das Zimmer, eilte die Treppe hinab und kam gerade noch zurecht, um Stowes Sessel im Vorbeigehen einen kleinen Stupser zu versetzen, der ihn erschrocken hochfahren und sie im allerersten Moment verständnislos anblinzeln ließ. Als sie weiter zur Tür ging, hörte sie, wie er hinter ihr aufstand und sich mit den Händen über die Uniform fuhr, um die ärgsten Falten zu glätten.

Abberline sah genauso müde und übernächtigt aus wie alle anderen, aber sein Gesicht war zusätzlich noch von tiefen Sorgenfalten gezeichnet, die aller Schlaf der Welt nicht glätten konnte und die ihn um mindestens zehn Jahre älter erscheinen ließen, als er war. Als Bast ihm die Tür öffnete, bedankte er sich nur mit einem müden Lächeln und trat dann wortlos an ihr vorbei ins Haus. Bast warf einen raschen Blick auf die Straße hinaus und stellte fest, dass er nicht allein gekommen war. Sein Wagen war zwar deutlich dezenter als der, mit dem Stowe sie zurückgebracht hatte, aber direkt daneben hatte ein weiterer Bobby Aufstellung genommen und beobachtete die Straße in beide Richtungen. Mrs Walsh würde begeistert sein.

»Miss Bast«, sagte Abberline. »Es tut mir leid, dass es so lange gedauert hat, aber ich hatte noch eine längere Unterredung mit meinem Vorgesetzten.«

»Sie war hoffentlich nicht zu unangenehm.«

Abberline verzichtete darauf, etwas dazu zu sagen und wandte sich stattdessen an Stowe. »Konstabler. Sie können jetzt Schluss machen. Bringen Sie den Wagen zurück zum Präsidium und gehen Sie nach Hause. Für den Rest des Tages haben Sie dienstfrei.«

Stowe bedankte sich mit einem Kopfnicken, klaubte seinen Helm vom Tisch und ging. Als er an ihr vorbeikam, schenkte er ihr ein stummes, aber sehr dankbares Lächeln.

»Stowe ist ein guter Mann, der ohnehin mehr tut, als er müsste«, sagte Abberline, nachdem er gegangen war. Er runzelte die Stirn, als er Maistowe und Mrs Walsh schlafend in ihren Sesseln entdeckte, sagte aber nichts dazu. »Ich wollte, ich hätte mehr Männer wie ihn.«

Er räusperte sich, streckte die Hand aus, wie um Maistowe an der Schulter zu berühren, tat es dann aber doch nicht und beließ es bei einem abermaligen, allerdings lauteren Räuspern, und Maistowe riss fast erschrocken die Augen auf. »Was ...?«

»Ich bin es nur, Jacob«, sagte Abberline rasch. »Ich wollte Sie nicht erschrecken. Verzeihen Sie.«

»Das haben Sie auch nicht«, log Maistowe. »Ich bin nur ... ich muss wohl kurz eingenickt sein.«

»Sie haben geschnarcht wie eine Säge, mein Lieber«, sagte Mrs Walsh, die ebenfalls aufgewacht war und mit wenig Erfolg versuchte, ein Gähnen zu unterdrücken. Sie hatte zwar auch geschlafen - und zwar deutlich tiefer als Maistowe -, bewies aber ebenso viel Geistesgegenwart wie Würde, indem sie aufstand und sagte: »Dann werde ich uns einen frischen Tee aufbrühen, damit wir alle erst einmal richtig wach werden. Es war eine lange Nacht.«

»Ja, und ich ... ähm ... mache mich ein wenig frisch«, fügte Maistowe hinzu. Er stand so hastig auf, dass er schwankte und sich an der Sessellehne festhalten musste, fing sich aber auch sofort wieder und wandte sich mit einem nervösen Lächeln an Abberline. »Nehmen Sie doch Platz, Frederick«, sagte er. »Ich bin gleich zurück.«

»Nur keine Eile«, antwortete Abberline. »Gottlob habe ich jetzt auch endlich Feierabend.«

Maistowe verschwand, zwar nicht annähernd so würdevoll wie Mrs Walsh, aber dafür deutlich schneller, und Abberline ließ sich mit einem erschöpften Seufzer in den Sessel sinken, den er gerade freigegeben hatte. Bast zögerte einen Moment, seinem auffordernden Blick zu folgen, aber dann nahm sie doch ihm gegenüber Platz. Abberline wollte ihr irgendetwas sagen, das spürte sie, aber er fand entweder nicht die richtigen Worte oder traute sich nicht.

Sie machte es ihm leichter. »Was genau wollte Ihr Vorgesetzter von Ihnen, Inspektor?«, fragte sie.

»Es war in der Tat eine sehr aufregende Nacht im East End, Miss Bast«, antwortete Abberline. »Nicht nur wegen dieser beiden grässlichen Morde.«

»So?«, fragte Bast.

»Es kam zu ... etlichen Gewalttätigkeiten«, fuhr Abberline fort. Seine Stimme und sein Gesicht waren so müde wie zuvor, aber er sagte das nicht nur so. Sein Blick war plötzlich sehr aufmerksam.

»Ist das so außergewöhnlich in dieser Gegend?«, fragte Bast.

»Leider Gottes nicht«, gab Abberline zu. »Aber es war doch ... anders. Einer von Maude Frankeis Schlägern ist ziemlich übel verprügelt worden, wie man mir berichtet hat.«

»Ich kenne mich in diesem Milieu nicht besonders gut aus«, antwortete Bast, »aber fällt so etwas nicht unter den Begriff Berufsrisiko?«

»In gewissem Sinne ja.« Abberline lächelte matt und wurde sofort wieder ernst. »Leider Gottes war das nicht alles. Es gab noch einen weiteren Zwischenfall. Ein ... angesehener Gentleman wurde überfallen und aufs Schlimmste misshandelt und ausgeraubt.«

»Ein angesehener Gentleman?«

Abberline lächelte, hielt sie aber weiter aufmerksam im Auge. »Ich bin nicht befugt, seinen Namen zu nennen, aber es handelt sich um ein Mitglied des Parlaments. Ein Mann mit Familie und einem tadellosen Ruf.«

»Und ein solcher Mann treibt sich in einer Gegend wie dem East End herum?«, fragte Bast.

»Er hat wohl von diesem schrecklichen Mord gehört und wollte sich an Ort und Stelle davon überzeugen, dass die Polizei auch alles in ihrer Macht Stehende tut, um dieses grässliche Verbrechen aufzuklären«, antwortete Abberline. »Unglücklicherweise beging er den Fehler, einen Teil der Strecke zu Fuß zurücklegen zu wollen. Dabei wurde er überfallen - von zwei riesigen Kerlen, von denen einer vollkommen schwarz gekleidet gewesen sein soll, und angeblich auch schwarze Haut gehabt haben soll. Ihnen ist nicht zufällig ein solcher Mann aufgefallen?«

»Nein«, antwortete Bast. »Und der einzige Gentleman, den ich gesehen habe, trug nur seine Socken und war gerade damit beschäftigt, ein Kind zu verprügeln. Dabei kann es sich ja wohl kaum um denselben gehandelt haben, oder?«

»Gewiss nicht«, antwortete Abberline. »Verzeihen Sie die Frage. Sie war dumm. Ich bin anscheinend auch etwas müde. Und das Gespräch mit Monro war tatsächlich nicht gerade angenehm.«

»Monro?«, wiederholte Bast. Sie hatte das Gefühl, dass dieser Name ihr etwas sagen sollte, kam aber im ersten Moment nicht darauf.

»Mr James Monro«, bestätigte Abberline. »Ein Beamter des Innenministeriums. Allmählich zieht die Angelegenheit immer größere Kreise, fürchte ich. Noch nicht bis nach ganz oben, aber für meinen Geschmack weit genug. Man ist ... beunruhigt.«

»Warum?«, fragte Bast.

Abberline sah sie stirnrunzelnd an. »Warum?«

»Warum?«, bestätigte Bast. »Verstehen Sie mich nicht falsch. Es ist gewiss nicht meine Meinung, aber bisher hatte ich das Gefühl, dass man sich in dieser Stadt keine allzu großen Sorgen um das Schicksal einiger Prostituierter macht.«

Abberline wirkte ein bisschen verletzt, doch bevor er antworten konnte, hörte Bast das Geräusch einer Tür, und Maistowes Stimme sagte: »Das ist auch so. Aber dafür umso mehr um die öffentliche Meinung und die Presse ... komme ich der Wahrheit damit einigermaßen nahe, Frederick?«

»Ich fürchte, ja«, gestand Abberline. »Vor allem die Presse macht uns zu schaffen. Seit diesen Briefen.«

»Was für Briefe?«

»Die Ripper-Briefe.« Maistowe ließ sich schwer in den letzten freien Stuhl am Tisch sinken. Er sah noch immer ziemlich erschöpft aus, aber sein Gesicht glänzte frisch und rosig, und seine Augen waren einigermaßen klar. »Aber das kann Frederick Ihnen vermutlich besser erklären.«

»Der ›Ripper‹«, hakte Bast nach. Irgendwo hatte sie dieses Wort schon gehört. »Das ist der Mann, der die vier Frauen getötet hat?«

»Vielleicht noch mehr«, seufzte Abberline. »Genau wissen wir das noch nicht.«

»Und wieso nennt man ihn den Ripper?«

»Er nennt sich selbst so«, antwortete Abberline. »Und vor allem nennt ihn die Presse so ... aber vielleicht auch nur die Presse.«

Bast sah zuerst Maistowe, dann ihn fragend an, und Abberline hob abermals die Schultern und fuhr sich mit einer müden Handbewegung durch das Gesicht.

»Das britische Empire ist zu Recht stolz auf die Freiheit seiner Presse, Miss Bast - aber manchmal ist sie auch ein Fluch. Sie hatten gerade völlig recht, als Sie meinten, dass der Tod einer Prostituierten aus dem East End leider Gottes nichts Außergewohnliches ist. Um ehrlich zu sein, ist es leider fast schon an der Tagesordnung. Aber diese Ripper-Morde sind etwas Besonderes.«

»Wieso?«

»Weil der Kerl Briefe an die Polizei und die Presse geschickt hat, in denen er sich mit seinen Untaten brüstet«, antwortete Maistowe an Abberlines Stelle.

»Und nicht nur das«, fügte Abberline düster hinzu. »Nach dem Mord an Dark Annie hat er mir ein Päckchen zukommen lassen, in dem sich ein Teil einer menschlichen Niere befand. Angeblich stammt sie von Annie, und in diesem Brief behauptet er, er hätte die andere Hälfte gebraten und verspeist.«

»Das ist grässlich«, murmelte Bast.

»Das ist nicht grässlich, meine Liebe«, sagte Mrs Walsh, die in diesem Moment mit einer Kanne frisch aufgebrühtem Tee und einer einzelnen sauberen Tasse aus der Küche kam, »das ist obszön. Ich möchte so etwas in meinem Hause nicht hören, Inspektor!«

»Verzeihen Sie, Mrs Walsh«, sagte Abberline.

»Was haben Sie gerade gemeint, als Sie sagten, dass ihn vielleicht nur die Presse so nennt?«, fragte Bast rasch, bevor Mrs Walsh antworten konnte.

»Weil ich nicht sicher bin, ob es diesen Kerl wirklich gibt«, antwortete Abberline. »Und wenn, ob er diese Briefe wirklich geschrieben hat.«

»Wer sonst?« Mrs Walsh goss ihnen allen Tee ein und kam Maistowe zuvor, indem sie sich selbst einen Stuhl heranzog und Platz nahm.

»Vielleicht irgendein Journalist, der eine besonders zugkräftige Schlagzeile braucht und diese Briefe schlichtweg erfunden hat«, antwortete Abberline. »Es gibt in diesen Briefen gewisse ... Unstimmigkeiten. Ich kann es nicht beweisen, und ich werde mich hüten, mich mit der Presse anzulegen, aber ich werde den Eindruck nicht los, dass der Verfasser dieser sogenannten Ripper-Briefe nicht mit dem wirklichen Mörder identisch ist.«

»Wieso?«

»Nun, er weiß offensichtlich eine Menge«, antwortete Abberline, »aber ebenso offensichtlich nicht alles. Ich will jetzt nicht ins Detail gehen, aber in dem einen oder anderen Punkt ... weichen die Tatsachen und die Briefe voneinander ab. Es ist entweder jemand, der sehr viel über den Ripper weiß, aber eben nicht alles, oder ...« Er zögerte. »Oder es gibt zwei Mörder.«

»Zwei?«, wiederholte Mrs Walsh zweifelnd.

»Warum nicht?« Abberline hob die Schultern und blies in seinen Tee. »So grausam es klingt, Mrs Walsh, aber solche Verbrechen stiften leider oft genug zur Nachahmung an. Es wäre nicht das erste Mal, dass ich so etwas erlebe.«

»Und deshalb versuchen Sie nun mit aller Kraft, diesen Ripper zu fassen«, vermutete Bast.

»Ich versuche jeden Mörder zu fassen«, erwiderte Abberline, hörbar kühler. »Aber in gewissem Sinne haben Sie auch wieder recht. Man legt an höherer Stelle ganz besonderen Wert darauf, dass dieser Ripper umgehend gefasst wird. Die Bevölkerung wird allmählich unruhig. Die Menschen haben Angst, nicht nur im East End. Letzte Woche kam es beinahe zu einem Lynchmord, als der Mob auf einen jüdischen Fleischer losgegangen ist.« Er nippte an seinem Tee. »Deshalb habe ich Konstabler Stowe heute Morgen auch befohlen, diese Worte abzuwaschen.«

»Aber das war doch nur ... Unsinn«, sagte Bast fragend.

»Vielleicht«, antwortete Abberline. »Was mir Sorgen bereitet, ist das Wort Juwes. Stowe ist vielleicht nicht der Einzige, der es mit Juden übersetzen würde.«

»Und Sie haben ein Problem mit Juden?«

»Ich persönlich gewiss nicht«, antwortete Abberline. »Aber in gewissen Kreisen der Bevölkerung gibt es leider immer noch große Vorurteile gegen die Juden. So ist das leider immer schon gewesen - wenn irgendetwas geschieht, wofür man einen Schuldigen braucht, dann bieten sich die Juden geradezu dafür an. Hier ist es nicht anders. Die Menschen haben Angst, und sie suchen einen Schuldigen. Und das Allerletzte, was wir jetzt noch bräuchten, wäre ein Pogrom.«

»So etwas kann leicht außer Kontrolle geraten«, sagte Mrs Walsh.

Bast sparte sich die Frage, wie es eigentlich zu einem Pogrom kommen konnte, wenn nicht schon längst alles außer Kontrolle war, aber sie sah, dass Abberline dieselbe Frage auf der Zunge lag. Bevor er sie jedoch möglicherweise aussprechen konnte, fuhr Mrs Walsh fort: »Das alles mag ja ganz unzweifelhaft schrecklich sein, Inspektor, aber es ist nicht der Grund für Ihren Besuch hier, habe ich recht?«

»Sie haben mich durchschaut, Gnädigste«, seufzte Abberline. Er sah Bast an und schwieg.

»Wenn Sie vielleicht allein mit Miss Bast reden möchten ...«, begann Mrs Walsh.

»Das wird nicht nötig sein«, sagte Bast rasch. »Ich habe keine Geheimnisse vor Mrs Walsh und Kapitän Maistowe.«

»Wie Sie wünschen.« Abberline hob die Schultern. »Es ist auch nichts Schlimmes. Ich hätte nur gerne ein paar Auskünfte von Ihnen. Sie kommen aus Ägypten, hat mir Jacob erzählt?«

»Ja.«

»Und Sie sind seit ... zwei Tagen in England?«

»Drei«, korrigierte ihn Bast mit einem demonstrativen Blick auf die Uhr. »Und bevor Sie fragen, Inspektor: Ich war schon einmal in London, aber das ist lange her. Viele Jahre.«

»So ... ähm ... war das nicht gemeint«, sagte Abberline hastig. Natürlich war es so gemeint. Die Verlegenheit troff ihm geradezu aus allen Poren.

»Doch, das war es«, sagte Bast sanft. »Es muss Ihnen nicht peinlich sein, Inspektor. Sie tun nur Ihre Pflicht, und ich bin sicher, Sie tun sie gut. Und da ich mir nichts vorzuwerfen habe, nehme ich es Ihnen auch nicht übel. Aber seien Sie ehrlich zu mir: Was genau interessiert Sie an mir?«

Diesmal zögerte Abberline eindeutig zu lange, um noch irgendetwas anderes als die Wahrheit sagen zu können. »Nun, wie ich bereits angedeutet habe«, begann er, »steht in der Zeitung nicht die volle Wahrheit. Es gibt da gewisse Details, die wir der Öffentlichkeit wohlweislich verschwiegen haben.«

»Zum Beispiel?«

»Zum Beispiel die Aussage zweier Zeugen, die eine ... sonderbare Gestalt in der Nähe der Tatorte gesehen haben wollen. Schon damals, als die ersten beiden Morde geschahen. Sie haben von einem dunkelhäutigen Riesen mit sonderbarer Kleidung erzählt. Ein Riese mit einem Turban und einem Schwert.«

»Und natürlich kam Ihnen diese Beschreibung ... bekannt vor, als Sie mich das erste Mal gesehen habe«, sagte Bast lächelnd. Aber es war ein Lächeln, hinter dem sich ein tiefer Schrecken verbarg - und auch eine kalte, allmählich aufkeimende Wut. Die Zeugen, von denen Abberline sprach, hatten sich nicht geirrt. Aber sie hatten nicht sie gesehen.

»Ich kann mich nur noch einmal entschuldigen, Miss Bast«, sagte Abberline, nachdem sich das Schweigen eine geraume Weile lang dahingezogen hatte. »Aber Sie müssen verstehen, dass ...«

»Das verstehe ich nur zu gut«, unterbrach ihn Bast. »Aber ich kann Ihnen nicht helfen, fürchte ich - wenn Sie das erwartet haben. Ich weiß nicht, wer dieser andere Schwarze sein könnte.«

»Ich hatte es in der Tat gehofft«, gestand Abberline. Sie las in seinem Gesicht, dass er ihr kein Wort glaubte. »Aber vielleicht gibt es trotzdem den einen oder anderen Punkt, in dem Sie mir behilflich sein könnten. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich Ihnen gern ein paar Fragen stellen ... aber nicht jetzt. Vielleicht sollten wir alle erst einmal ein wenig zur Ruhe kommen und unsere Gedanken ordnen.«

»Jederzeit«, sagte Bast. Ihre Gedanken jagten sich noch immer. Es gab keinen Zweifel daran, auf wen Abberlines Beschreibung zutraf - aber sie verstand nicht, warum Isis ihr nichts davon erzählt hatte.

»Gut, dann ... werde ich Ihre Zeit nicht noch länger unnötig in Anspruch nehmen.« Abberline stand auf. »Es gibt da nur noch eines: Ich habe mit Mr Monro gesprochen.«

»Über mich?«

»Genau genommen war er es, der mich angesprochen hat«, antwortete Abberline. »Auch er kennt natürlich diese Zeugenaussagen, und er hat auch von Ihnen gehört. Selbstverständlich werden Sie nicht im Geringsten verdächtigt. Wie auch? Sie waren ja nicht einmal in diesem Land, als diese schreckliche Mordserie begonnen hat. Dennoch würde er gern mit Ihnen reden.«

»Warum?«, fragte Maistowe.

»Weil es gewisse ... Parallelen gibt, die nicht einmal ein stellvertretender Polizeidirektor übersehen kann, nicht wahr, Inspektor?«, fragte Bast, bevor Abberline antworten konnte.

Abberline zog es vor, auch dazu nichts zu sagen; zumindest nicht direkt. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, heute Nachmittag nach Whitehall zu kommen?«, fragte er. »Es ist ganz leicht zu finden. Jeder Droschkenfahrer kennt das neue Polizeipräsidium. Sagen wir, um vier ... oder vielleicht besser um fünf. Selbst ich brauche dann und wann etwas Schlaf.«

»Fünf ist gut«, sagte Bast. »Ich nehme an, dieses ... Whitehall liegt zentral?«

»Mitten in der City«, bestätigte Abberline. »Warum?«

»Weil ich ohnehin noch einmal in die Stadt wollte, um mir die Nadel der Kleopatra anzusehen«, antwortete Bast.

»Die Nadel der ...« Abberlines Gesicht hellte sich auf. »Oh, ich verstehe. Sie meinen den großen Obelisken auf dem Victoria Embankment. Das liegt direkt am Themseufer. Es ist sehr schön dort und lohnt auf jeden Fall einen Besuch. Und von dort aus brauchen Sie nicht einmal mehr einen Wagen nach Whitehall. Sie erreichen es zu Fuß bequem in fünf Minuten.«

Ohne ein weiteres Wort wandte er sich zum Gehen und verließ das Haus, ohne sich auch nur verabschiedet zu haben. Maistowe blickte ihm kopfschüttelnd nach, wenngleich auch eher hilflos, während sich Mrs Walshs Miene zusehends verdüsterte.

»Das ist doch wieder einmal typisch!«, ereiferte sie sich. »Sie haben nicht die mindeste Ahnung und stürzen sich jetzt blindlings auf alles, was auch nur nach einer Spur aussieht! Geben Sie nur acht, meine Liebe, dass Sie sich am Ende nicht doch auf der Anklagebank wiederfinden.«

»Sie war nicht einmal auf diesem Kontinent, Gloria«, erinnerte sie Maistowe.

»Und?«, spöttelte Mrs Walsh. »So eine Kleinigkeit kann schon einmal in Vergessenheit geraten, wenn es darum geht, den Pöbel zu beruhigen.«

»Sie tun dem armen Frederick unrecht, Gloria«, sagte Maistowe.

»Ich kann nur hoffen, dass das so ist«, seufzte Mrs Walsh. »Aber sicher bin ich mir dessen leider nicht.« Sie wandte sich mit einem ebenso erschöpften wie besorgten Lächeln an Bast. »Sie wollen tatsächlich heute noch dorthin?«

»Was spricht dagegen?«, erwiderte Bast. »Ich habe eine Menge darüber gehört und will mir einen Besuch dort keineswegs entgehen lassen ... und wenn ich ohnehin in diese Richtung muss ...«

»Was schon einmal die erste Unverschämtheit ist.« Mrs Walsh gelang es, sich zu ereifern und dabei immer noch genauso matt und erschöpft zu klingen wie zuvor. »Wenn doch so außer Zweifel steht, dass Bast nichts mit dieser grässlichen Geschichte zu tun hat, wieso zitiert er sie dann zu sich?«

»Aber Sie haben Frederick doch gehört«, sagte Maistowe. »Es geht nur um ein paar Fragen.«

»Dann sollte er sich gefälligst hierher bequemen, statt eine unbescholtene Bürgerin wie einen Verbrecher zu sich zu zitieren!«

»Monro?«, fragte Maistowe. »Der im letzten Jahr das Attentat auf Königin Victoria vereitelt hat! Ich bitte Sie!«

»Und?«, fragte Mrs Walsh. »Ist er etwas Besseres als wir? Solange niemandem eine Schuld nachgewiesen ...«

»Es ist schon gut, Mrs Walsh«, unterbrach Bast sie. »Ich wollte tatsächlich den Obelisken sehen. Da macht ein so kleiner Umweg nichts aus. Und wer weiß? Vielleicht kann ich ja tatsächlich helfen.«

»Aber doch nicht heute!«, widersprach Mrs Walsh. »Sie müssen ebenso müde sein wie wir alle. Und was ist, wenn Cindy wach wird?«

»Das wird sie nicht«, beruhigte sie Bast. »Jedenfalls nicht vor dem späten Abend. Und bis dahin bin ich längst zurück, das verspreche ich.«



Sie hatte sich zu Fuß auf den Weg gemacht, obwohl Maistowe und Mrs Walsh sie davor gewarnt hatten. Selbst für jemanden, der wie sie lange Fußmärsche gewohnt war, war es ein Weg von mehr als einer Stunde, und die Temperaturen waren im Laufe des Tages zwar ein wenig gestiegen, aber nicht so weit, wie sie es eigentlich sollten. Allerdings hatte der geringe Anstieg im Gegenzug gereicht, den Nebel von der Themse heraufziehen zu lassen.

Sie bereute ihren Entschluss schon nach wenigen Minuten. Bast war in ihrem Leben schon an Orten gewesen, die weitaus kälter und unwirtlicher waren, aber sie hatte selten eine so unangenehme Mischung aus Kälte und feuchtem Nebel erlebt, der nicht nur alle Umrisse verwischte und den Lauten ihre Tiefe und Lebendigkeit nahm, sondern auch unaufhaltsam unter ihre Kleidung kroch und sich wie ein eisiger Film auf ihre Haut legte, um ihr langsam, aber auch ebenso unerbittlich jedes bisschen Wärme zu entziehen. Sie hatte wohlweislich ihr wärmstes Kleid angezogen, bevor sie das Haus verlassen hatte, aber es nutzte nichts. Sie fror noch nicht so sehr, dass es wirklich unerträglich gewesen wäre, und sie machte sich erst recht keine Sorgen um ihre Gesundheit, aber sie begann allmählich zu begreifen, warum Spukgeschichten und unheimliche Erzählungen in diesem Land so überaus beliebt waren. Dieser Nebel hatte etwas Unheimliches. Er narrte sogar ihre scharfen Sinne, und sie vielleicht sogar ganz besonders. Sie nahm kaum irgendetwas wirklich scharf wahr, das weiter als zehn oder zwölf Schritte entfernt war, und auf eine an den Nerven zerrende Art machte der Nebel es auch fast unmöglich, die Richtung zu bestimmen, aus der die Geräusche kamen. Auf der Straße bewegten sich nur sehr wenige Menschen, und schon bei denen, die auf dem gegenüber liegenden Trottoir gingen, hätte es sich ebenso gut um Gespenster handeln können, lautlos und blass und mit Umrissen, die genau dann wieder auseinandertrieben, wenn ihr Blick sie beinahe erfasst hatte.

Dann drang ein scharfer, sonderbar klarer Schrei an ihr Ohr, ein Geräusch, das so wenig in diesen Nebel passte wie sie selbst in diese Stadt, denn es schnitt so klar und scharf wie ein Messer durch das dichter werdende Meer aus grauer Watte, das sie durchwatete: der schrille Schrei eines Vogels.

Bast warf mit einem erschrockenen Ruck den Kopf in den Nacken, sah einen schwarzen, pfeilflügeligen Schatten auf sich herabstoßen und sprang im allerletzten Moment und halb geduckt zur Seite. Krallen, die härter waren als Stahl und schärfer als ein Barbiermesser, fuhren nur eine Handbreit neben ihrem Gesicht durch die Luft, und aus dem aggressiven Kreischen wurde ein fast enttäuschter Pfiff - und dann ein erschrockener Schrei, als sie instinktiv nach dem Falken schlug und ihn auch tatsächlich am Flügel erwischte; nicht einmal besonders fest, und schon gar nicht hart genug, um ihn zu verletzten, aber immerhin reichte es, um ihn aus der Bahn zu werfen und einen Moment wild mit den Flügeln schlagen zu lassen. Unverzüglich setzte Bast ihm nach, und einen normalen Vogel hätte sie auch zweifellos erwischt, aber ein normaler Vogel hätte wohl auch kaum mit einem Schnabel nach ihr gebissen, der ganz so aussah, als könnte er ihr nicht nur einen Finger, sondern mit der gleichen Leichtigkeit auch gleich die ganze Hand abbeißen, und seine Federn wären vermutlich auch nicht scharf genug gewesen, um wie ein Skalpell in ihr Fleisch zu schneiden und ihren Handballen bis zum Knochen hinab aufzureißen.

Bast prallte mit einem überraschten Schrei zurück, presste die verletzte Hand an den Leib und zog instinktiv den Kopf ein, als der Falke nicht nur in einer ganz und gar unmöglich erscheinenden Bewegung herumfuhr, sondern auch augenblicklich mit den Flügeln nach ihr schlug und versuchte, dasselbe mit ihrem Gesicht zu tun. Bast schleuderte ihn mit einem zweiten, noch heftigeren Hieb zurück, griff mit der unversehrten Hand unter ihren Mantel und zog das Schwert, das sie wider besseres Wissen mitgenommen hatte. Noch vor wenigen Atemzügen war sie ganz und gar nicht sicher gewesen, ob es eine gute Idee war, bewaffnet zu einem Treffen mit dem stellvertretenden Chef der Londoner Polizei zu gehen, aber nun war sie froh, die Klinge bei sich zu tragen - auch wenn es im Grunde nicht einmal ein richtiges Schwert war, sondern eher ein zu groß geratener Dolch mit doppelseitig geschliffener Klinge.

Immerhin reichte sie, um den Falken auf Abstand zu halten. Ihr erster Hieb verfehlte den schwarzen Riesenvogel, der zweite traf dafür umso besser. Federn stoben, ein jetzt eindeutig schmerzerfülltes Pfeifen erscholl, und das Blut auf dem Schwertgriff war plötzlich nicht mehr ihr eigenes.

Der Falke taumelte davon; verletzt, aber keineswegs tödlich getroffen. Bast setzte ihm mit einer entschlossenen Bewegung nach, doch ihr nächster Schwerthieb ging ins Leere. Nur eine einzelne, abgetrennte Schwanzfeder segelte mit hin und her schaukelnden Bewegungen zu Boden, dann stieß der Vogel ein letztes, wütendes Krächzen aus und verschmolz so lautlos und schnell mit dem Nebel, wie er daraus aufgetaucht war.

Bast schlug noch einmal ebenso sinnlos wie wütend in die ungefähre Richtung, dann ließ sie die Waffe sinken und sah sich wild um. Ihre Hand pochte, und allein bei der bloßen Vorstellung, was diese schrecklichen Flügel ihrem Gesicht hätten antun können, lief ihr ein Schauer über den Rücken. Aber Flügel aus Stahl und ein Schnabel wie eine Bärenfalle hin oder her - es war letzten Endes nur ein Vogel, und er hatte sie beinahe erwischt! Sie mochte sich seit heute Morgen wieder einigermaßen in Form fühlen, aber sie war es nicht.

Sie registrierte aus den Augenwinkeln, wie zwei der schemenhaften Gestalten auf der anderen Straßenseite stehen blieben und neugierig die Köpfe in ihre Richtung drehten. Wenn sie genauso schlecht sahen wie sie, konnten sie nur eine hektische Bewegung wahrgenommen haben, wenn überhaupt irgendetwas, aber vielleicht war selbst das schon zu viel. Wenn es in ihrem Leben so etwas wie eine oberste Maxime gab, dann lautete sie, kein Aufsehen zu erregen ... und auf dieser war sie seit ihrer Ankunft hier herumgetrampelt wie der sprichwörtliche Elefant in der Porzellanmanufaktur. Hastig schlug sie den Mantel zurück, um das Schwert einzustecken ...

... und erstarrte mitten in der Bewegung.

Es war nicht der Falke, der zurückkam, sondern etwas ungleich Größeres und Gefährlicheres. Sie konnte nicht genau erkennen, was; ein riesiger, verzerrter Schemen mit unsagbar fremden und doch zugleich vertrauten Umrissen, der rasend schnell herankam, ohne sich indes wirklich zu nähern und immer gerade eine Winzigkeit tiefer in den Nebelschwaden verborgen zu sein schien, als ihr Blick die grauen Schlieren zu durchdringen vermochte. Aber sie hatte trotzdem einen vagen Eindruck von schnaubenden Nüstern, unheimlich glühenden Augen und trommelnden Hufen, die Funken auf dem nassen Kopfsteinpflaster schlugen und gewaltigen, klingenbesetzten Rädern, über denen eine riesige Gestalt aufragte, das Schwert in der Linken und den rechten Arm, der einen tödlichen Speer hielt, wurfbereit hoch über dem Kopf erhoben. Bast trat instinktiv einen halben Schritt zurück und zur Seite, suchte mit leicht gespreizten Beinen und geduckt nach festem Stand, um sich gegen den Anprall zu wappnen. Der Streitwagen raste heran. Die rotierenden Klingen an seinen Rädern blitzten vor mörderischer Schärfe. Flammender Dampf schoss aus den Nüstern der beiden riesigen Schlachtrösser, und ihre Augen loderten wie glühende Kohlen am Grund eines bodenlosen schwarzen Sees, und der riesige Krieger über ihnen riss den Arm zurück, um seinen Speer zu schleudern. Basts Gedanken rasten, und etwas wie Verzweiflung begann sich in ihr breitzumachen. Sie hatte keine Chance. Wenn der Speer sie nicht traf, dann würden sie die beiden Schlachtrösser zertrampeln, die gegen all ihre Instinkte ein Leben lang darauf trainiert worden waren, Hindernissen nicht auszuweichen, sondern sie im Gegenteil gezielt niederzurennen, und wenn nicht das, so würden sie die mörderischen Klingen an den fast mannshohen Rädern in Stücke schneiden; aber spätestens das Schwert des unheimlichen Wagenlenkers, oder ...

Die Illusion erlosch so abrupt wie das Bild einer Laterna magica, deren Kerzenflamme der Sturm ausgeblasen hatte, und aus dem heranrasenden Streitwagen wurde eine zweispännige, leicht schäbige Kutsche, von deren erhöhtem Bock aus sie ein faltiges, von schütterem grauem Haar und einem gewaltigen Backenbart beherrschtes Gesicht aus aufgerissenen Augen anstarrte. Eines der beiden Pferde stieß ein erschrockenes Wiehern aus, während das andere instinktiv zur Seite auszuweichen versuchte; mit dem Ergebnis, dass das gesamte Gefährt bedrohlich zu schwanken begann und der Mann auf dem Kutschbock plötzlich alle Hände voll damit zu tun hatte, die beiden scheuenden Tiere wieder in seine Gewalt zu bekommen.

Bast steckte hastig ihr Schwert weg, griff nach dem Zaumzeug des scheuenden Pferdes und brachte es mit einem harten Ruck zum Stehen, war mit einem einzigen Satz auf der anderen Seite und beruhigte auch das andere Tier, bevor sie sich dem Führer zuwandte. Erst jetzt erkannte sie ihn. Es war der Kutscher, der sie vom Hafen aus hierhergebracht hatte.

»Arthur?«, murmelte sie überrascht. Für einen Moment schien sich alles um sie zu drehen, und sie hatte das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Plötzlich wurde ihr klar, dass der Nebel nicht annähernd so dicht war, wie sie bisher geglaubt hatte, kaum mehr als ein sachter Hauch, der in der Luft lag, und es gab auch keinen Streitwagen mit einem riesigen Krieger, der mit einem Speer auf sie zielte.

»Ma'am?« Arthur ließ die Zügel fahren und begann so hastig vom Wagen zu klettern, dass er beinahe den Halt verloren hätte und sich an einem der Räder festhalten musste, um nicht zu stürzen. »Ist Ihnen was passiert? O Gott, o Gott, das war alles meine Schuld! Ich hab Sie nicht gesehen und ...«

»Schon gut!« Bast brachte den alten Mann mit einer raschen Geste zum Verstummen, ein weiterer Fehler, denn Arthurs Augen wurden groß, als er das Blut an ihrer Hand sah. Nicht alles, was sie in den letzten Augenblicken erlebt hatte, war offensichtlich eine Illusion gewesen.

»Großer Gott, Sie sind ja verletzt!«, entfuhr es ihm. »Was ist passiert? Haben Sie ...?«

»Es ist nichts«, unterbrach ihn Bast abermals, während sie hastig den Arm sinken ließ und die Hand zur Faust ballte. Gleichzeitig sorgte sie dafür, dass er den Anblick vergaß. »Nur ein Kratzer. Machen Sie sich keine Sorgen.«

Vielleicht machte er das wirklich nicht - dank ihrer Mithilfe -, aber sie selbst wurde immer nervöser. Sie hatte noch immer das Gefühl, auf eine grässliche Weise den Halt in der Wirklichkeit zu verlieren, und ihr war, als wäre die nebelverhüllte Straße voller Menschen, die alle in ihre Richtung starrten.

»Es ist alles in Ordnung, Arthur«, wiederholte sie, indem sie sich mühsam wieder auf den greisen Kutschfahrer konzentrierte. »Ich habe mich nur erschrocken, das ist alles.«

»Ich ... ich versteh das nich'«, stammelte er. »Ich hab Sie einfach nich' gesehn, und ...«

»Das ist Unsinn, Arthur«, sagte sie mit etwas mehr Nachdruck. »Ich war es, die nicht achtgegeben hat. Ich bin einfach auf die Straße hinausgetreten, ohne mich umzusehen.« Sie machte eine entsprechende Geste mit beiden Händen. »Immerhin stehe ich mitten auf der Straße, und nicht Sie mit Ihrem Wagen auf dem Gehsteig, oder?«

Arthurs Blick folgte ihrer Bewegung, aber er wirke kein bisschen überzeugt, oder auch nur beruhigt. »Trotzdem«, stammelte er. »Ich ... ich hätte Sie um ein Haar umgebracht!«

»Es ist ja nichts passiert.« Bast zwang sich zu einem Lächeln. »Aber sagen Sie mir doch, wo Sie so plötzlich herkommen, Arthur. Das ist doch bestimmt kein Zufall, oder?«

»Sie haben mich bestellt, Ma'am«, antwortete Arthur unsicher. »Sie haben doch gesagt, ich soll auf Sie warten.«

»Das stimmt«, antwortete Bast überrascht. »Aber das war gestern.«

»Ich weiß«, sagte Arthur. Er klang ein wenig verlegen. »Ich habe auf Sie gewartet, und als Sie nicht gekommen sind ...«

»Haben Sie die ganze Zeit auf mich gewartet?«, fragte Bast ungläubig.

»So schlimm war es nicht«, antwortete Arthur verlegen. »Ich meine: Eigentlich ist es doch egal, wo ich stehe, oder?«

Bast sparte es sich, darauf zu antworten. Sie wollte Arthur nicht noch mehr in Verlegenheit bringen. »Und als Sie gerade gesehen haben, dass ich losgegangen bin ...?«

»Ich war wohl einen Moment unaufmerksam«, gestand Arthur. »Muss wohl für eine Sekunde weggedöst sein. Ich hab versucht, Sie einzuholen, und ... es tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe.«

»Jetzt sind Sie ja hier«, sagte Bast leichthin. »Und Sie kommen wie gerufen, wenn ich ehrlich sein soll.« Jetzt war sie es, die verlegen die Schultern hob. »Eigentlich wollte ich zu Fuß gehen, aber ich habe das Londoner Wetter wohl unterschätzt. Ich bin diese Temperaturen nicht gewohnt, fürchte ich.«

»Da sind Sie nicht die Einzige«, pflichtete ihr Arthur bei. »Sogar ich spüre diesen verdammten Nebel in allen Knochen. Wohin wollen Sie denn?«

»Whitehall«, antwortete Bast. »Genauer gesagt wollte ich mir Kleopatras Nadel ansehen. Sie wissen, wo das ist?«

»Kleopatras Nadel?« Arthurs Blick spiegelte völliges Unverständnis.

»Der Obelisk.«

»Oh, sicher.« Arthur nickte heftig. »Das ist gleich bei Whitehall, an der Themse. Und Sie wollten das ganze Stück zu Fuß gehen?«

Bast sah demonstrativ in den niedrig hängenden grauen Himmel hinauf. »Nicht wirklich«, gestand sie mit einem schiefen Lächeln.

»Dann steigen Sie ein, Ma'am«, sagte Arthur. »Natürlich fahre ich Sie umsonst. Das ist das Mindeste, was ich tun kann.«

»Kommt überhaupt nicht in Frage«, sagte Bast entschieden. Sie blinzelte ihm zu. »Aber ich habe nichts dagegen, wenn Sie mir einen Freundschaftspreis machen.«

Arthur beeilte sich, ihr den Wagenschlag aufzureißen, aber Bast machte nur einen einzelnen Schritt, bevor sie wieder stehen blieb und nachdenklich den Kopf schüttelte. »Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich oben bei Ihnen mitfahre?«

»Auf dem Kutschbock?«, fragte Arthur überrascht. »Nein, natürlich nicht. Aber es ist kalt und unbequem und ...«

»Nicht annähernd so kalt und unbequem, wie zu Fuß zu gehen«, beharrte Bast. »Außerdem möchte ich etwas von der Stadt sehen, nicht nur einen kleinen Ausschnitt aus dem Fenster. Wer weiß, wann ich wieder einmal nach London komme.« Sie wartete Arthurs Antwort gar nicht erst ab, sondern stieg mit einer raschen Bewegung auf den Kutschbock hinauf, wobei sie peinlich darauf achtete, nichts zu berühren, was sie mit ihrem Blut verschmieren konnte. Sie verstand immer noch nicht genau, was passiert war. Die Wunde hatte längst aufgehört zu bluten und tat kaum noch weh, und in spätestens einer Stunde würde sie vollkommen verschwunden sein - aber wie hatte sie sie sich überhaupt zugezogen?

»Sie können gerne oben mitfahren, Ma'am«, sagte Arthur, während er ihr ächzend und deutlich weniger elegant als sie gerade hinterherkletterte. »Aber es ist sehr unbequem und reichlich kalt.«

Das eine war so wahr wie das andere, stellte Bast fest. Die Bank war ungepolstert und hart, nicht mehr als ein schmales Brett, das nicht viel Platz für zwei Personen bot, und es war empfindlich kalt. Zugleich fühlte sie sich aber neben dem Kutscher deutlich sicherer; eine vollkommen grundlose Illusion, die aber ihren Dienst tat.

»Wie lange brauchen wir bis Whitehall?«, fragte sie.

»Mit dem Wagen?« Arthur nahm ächzend auf der ungepolsterten Bank Platz und griff nach den Zügeln. Die Pferde waren noch immer unruhig und schüttelten schnaubend die Köpfe, als sie den Zug der Trense spürten. »Nicht sehr lang. Keine halbe Stunde, Kommt drauf an, wie schnell ich fahre.«

»Und zu Fuß?«

»Lange.« Arthur überlegte einen Moment. »Bestimmt zwei Stunden. Vielleicht mehr. Warum?«

»Dann habe ich gerade eine Menge Zeit gewonnen«, sagte Bast »Was halten Sie davon, wenn wir sie für eine kleine Stadtrundfahrt nutzen?«



Arthur hielt nicht nur, was er versprochen hatte, er übertraf es bei weitem. Letzten Endes brauchten sie gute zwei Stunden, um den von Bäumen und sorgsam gestutzten Büschen und zu kleinen Kunstwerken geschnittenen Heckengewächsen umsäumten Platz am Ufer der Themse zu erreichen, aber Bast wurde die Zeit wahrlich nicht lang. Wie durch ein Wunder hatte sich der Nebel etwas gelichtet, oder vielleicht war er auch oben auf dem Kutschbock nicht ganz so deutlich spürbar wie auf der Straße. Arthur zeigte ihr in diesen zwei Stunden mehr von der Stadt, als so manch anderer es in zwei Tagen gekonnt hätte: den Buckingham-Palast, Trafalgar Square und das Parlament, aber auch andere, düsterere und obskurere Plätze, wie den berüchtigten Galgenhügel, auf dem Tausende von Schuldigen - und vermutlich ebenso viele Unschuldige - ihr Leben ausgehaucht hatten, und Speaker's Corner im Hyde Park, wo jedermann ungestraft seine Meinung kundtun - oder auch nur Unsinn reden - konnte. Er wusste auch eine Menge interessanter Anekdoten über die Stadt und ihre Geschichte zu erzählen, von denen vermutlich die Hälfte pure Erfindung waren - was sie nicht minder interessant machte -, und Bast schwirrte schon bald der Kopf von allem, was sie gehört und gesehen hatte; das aber auf eine durchaus angenehme Weise.

Vielleicht lag es schlichtweg an Arthurs Gesellschaft. Nachdem er seine anfängliche Befangenheit und den Schrecken über den Beinahe-Unfall überwunden hatte, begann er nicht nur zu reden, sondern gewann auch sichtlich an Freude an der ungewohnten Aufgabe, und Bast ihrerseits begann seine Gesellschaft in zunehmendem Maße zu genießen. Vor allem, nachdem sie ihre eigenen Hemmungen überwunden und vorsichtig in ihn hineingelauscht hatte. Arthur war genau das, als was sie ihn von Anfang an eingeschätzt hatte: ein einfacher, aber aufrechter Mann, der ein langes und mühsames Leben voller Arbeit und ohne jegliche Chance hinter sich hatte und doch zu Recht stolz darauf war, es in Ehren bewältigt zu haben, ohne vom rechten Weg abgekommen zu sein oder auch nur mit dem Schicksal zu hadern.

Die wenigen Jahre, die noch vor ihm lagen, würden schlimmer werden. Bast hatte tief genug in ihn hineingeschaut, um zu wissen, wie es weitergehen würde. Seine Knochen waren verschlissen, sein Herz schwach, und jeder weitere Tag, den er auf dem zugigen Bock verbrachte, verkürzte seine verbleibende Lebenserwartung. Außerdem war eines seiner beiden betagten Pferde krank und allerhöchstens noch drei Monate von der Schlachtbank entfernt, und seine bescheidenen Ersparnisse reichten nicht einmal annähernd aus, um ein neues Tier zu kaufen. Bast nahm sich vor, etwas für ihn zu tun, bevor sie wieder an Bord der Lady ging und dieses Land verließ.

Trotz dieses Wermutstropfens genoss sie die Fahrt in vollen Zügen. Es tat einfach gut, eine Weile in der Gesellschaft eines Menschen zu verbringen, der ihr nicht nach dem Leben trachtete, eine Intrige gegen sie spann oder sonst irgendetwas anderes im Schilde führte. Sie empfand ein deutliches Bedauern, als Arthur schließlich erklärte, dass sie ihr Ziel jetzt beinahe erreicht hatten.

»Ich fürchte, jetzt muss ich mich doch bei Ihnen entschuldigen, Ma'am«, fügte er hinzu. »Wir waren länger unterwegs, als ich vorher gesagt habe. So ist das nun mal, wenn man ins Reden kommt.«

»Ich habe jede Sekunde genossen, Arthur«, versicherte Bast. »Sie sind ein ausgezeichneter Fremdenführer, wissen Sie das eigentlich?«

Arthur lächelte zwar geschmeichelt, blickte aber trotzdem leicht schuldbewusst. »Ich hoffe doch, Sie kommen jetzt nicht zu spät zu Ihrer Verabredung.«

»Das kommt ganz darauf an, wie spät es ist.« Bast konnte sich nicht erinnern, irgendetwas von einer Verabredung gesagt zu haben, aber sie nahm an, dass Arthur das einfach voraussetzte, da sie zu einer bestimmten Stunde an einem bestimmten Ort sein wollte. »Und selbst wenn, ist es auch nicht schlimm. Es war nicht besonders wichtig.«

Sie drehte sich dennoch auf dem Kutschbock herum, um einen Blick auf den Zeiger von Big Ben zu werfen, den sie vor einer Weile passiert hatten.

Stattdessen blieb ihr Blick an der kantigen Silhouette des Tower hängen, der sich wie eine drohend emporgereckte Faust über die Dächer der umliegenden Gebäude erhob.

»Was haben Sie, Ma'am?«, fragte Arthur. Seine Stimme klang leicht alarmiert und Bast begriff, dass sich der Schrecken, den sie empfand, deutlich auf ihrem Gesicht widerspiegelte.

»Nichts«, antwortete sie. »Es war nur ...« Sie hob die Hand und deutete auf drei winzige Punkte, die die Spitze des düsteren Wahrzeichens Londons umkreisten. Bedachte man die Entfernung, dann waren sie vermutlich alles andere als winzig. »Was ist das?«

Arthur ließ die Pferde in gemütlichem Trab weiterlaufen, während er sich ebenfalls herumdrehte und mit den kurzsichtigen alten Augen knibbelte. »Oh, das«, sagte er. »Das müssen die Tower-Raben sein.«

»Die Tower-Raben?«

»Hab ich vergessen zu erzählen«, antwortete Arthur. Er konzentrierte sich wieder auf die Straße. »Das Königshaus hält seit Jahrhunderten drei Raben im Tower. Immer nur drei. Nicht mehr und nicht weniger.«

Raben! »Und warum?«

»Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht«, antwortete er. »Aber es heißt, dass das Königshaus so lange Bestand hat, wie diese drei Raben im Tower leben. Sie haben eigenes Personal, das sich um sie kümmert, und sogar eine eigene Wache vor der Tür.«

»Und dann lassen sie sie einfach so herumfliegen?«, wunderte sich Bast. »Wo doch die Existenz des Königshauses von ihnen abhängt?«

»Wenn Sie mich fragen, ist das sowieso nur Unsinn. Eine alte Geschichte eben. Und die Raben fliegen nie sehr weit. Es sind kluge Tiere. Sie wissen genau, wo es ihnen gut geht, und wo sie immer etwas zu fressen finden. So, da wären wir.«

Der Wagen kam mit einem letzten Zügelknallen am Rande eines weitläufigen, sauber mit präzise geschnittenen Granitplatten gepflasterten Platzes zum Stehen, in dessen Mitte sich ein steinerner Sockel mit einem gewaltigen, beeindruckende siebzig Fuß hohen Obelisken erhob.

»Der Obelisk«, erklärte Arthur, mit einem Stolz in der Stimme, als wäre es ganz allein seine Entdeckung. Seine Hand wanderte weiter und wies auf einen Komplex aus klobigen weißen Gebäuden, die sich über die Wipfel der sorgsam gestutzten Bäume erhoben, die den Platz säumten. »Und das da ist Whitehall.«

»Beeindruckend«, sagte Bast.

»Ich find's scheußlich«, antwortete Arthur. »Es ist groß, aber nicht alles was groß ist, muss deswegen auch schön sein.« Er seufzte tief, wartete einen Moment lang vergebens auf eine Reaktion und ließ seinen Blick dann demonstrativ über den Bereich vor dem Obelisken schweifen. Sie waren nicht die Einzigen, die gekommen waren, um das gestohlene Heiligtum zu besichtigen, aber keiner von ihnen sah auch nur in ihre Richtung.

»Sieht so aus, als hätten Sie Ihre Verabredung nun doch verpasst«, sagte er.

»Ich bin nicht hier verabredet«, sagte Bast, »sondern drüben in Whitehall. Ich wollte die Gelegenheit nur ausnutzen, um das hier zu besichtigen.«

»Ist wirklich beeindruckend«, sagte Arthur, wenngleich in einem Tonfall, der es ihr unmöglich machte zu entscheiden, ob er diese Worte ernst meinte oder ihr nur schmeicheln wollte.

»Ja, das ist es«, bestätigte Bast. Ihr Stolz war echt. »Wissen Sie, woher er kommt?«

»Aus Arabien, glaub ich«, antwortete Arthur. »War schon ein paar Mal hier, aber ehrlich gesagt weiß ich nicht viel darüber. Ich hab nur gehört, dass sie extra ein Schiff umgebaut haben, um das Ding hierher zu bringen. Und dass es ein paar Tote dabei gegeben haben soll.«

»Interessiert Sie seine Geschichte, Arthur?«, fragte Bast. »Wenn Sie wollen, erzähle ich sie Ihnen. Auf diese Weise kann ich mich wenigstens ein bisschen bei Ihnen revanchieren.«

Das Thema interessierte Arthur nicht wirklich, das spürte sie, aber er nickte schon aus reiner Höflichkeit, und Bast kletterte rasch vom Wagen hinab, bevor er es sich anders überlegen konnte. Der alte Droschkenfahrer folgte ihr gehorsam, wenn auch erst nach spürbarem Zögern, und Bast beruhigte ihr schlechtes Gewissen damit, dass sie ihm auf diese Weise vielleicht tatsächlich etwas gab, womit er später bei seinen Fahrgästen angeben konnte.

Immerhin legte sie das kurze Stück bis zum Sockel der gewaltigen steinernen Nadel langsam genug zurück, dass er bequem mit ihr Schritt halten konnte und nicht etwa in die Verlegenheit kam, außer Atem zu geraten - auch wenn sie spürte, dass er nicht mehr allzu weit entfernt davon war. Auf seinem Kutschbock hatte er die Strecke um den gesamten Erdball vermutlich bereits mehrmals zurückgelegt, aber zu Fuß gehen war ganz offensichtlich nicht gerade seine Stärke.

»Das ist ... wirklich beeindruckend«, sagte er leicht kurzatmig, als sie am Sockel des gewaltigen steinernen Pfeilers angekommen waren. Er legte den Kopf in den Nacken und blinzelte in den niedrig hängenden Abendhimmel hinauf. »Aus dieser Perspektive habe ich ihn noch gar nicht gesehen. Jetzt verstehe ich auch, warum man ihn so nennt. Sieht tatsächlich ein bisschen aus wie eine Nadel, von hier aus betrachtet.«

»Früher war der Anblick noch viel beeindruckender«, sagte Bast. »Ihre Spitze war vergoldet, und wenn sich zur Mittagszeit das Sonnenlicht darauf gespiegelt hat, dann war es so grell, dass es unmöglich war, sie anzusehen.«

»Damit die Leute glauben, sie kämen direkt von ihren Göttern?«

Bast sah den alten Mann erstaunt an. »Sie haben also doch schon von den Obelisken gehört?«

»Nein«, antwortete Arthur. »Hab ich mir so gedacht. Ist aber eigentlich das Einzige, was Sinn macht.«

Bast nickte anerkennend. »Eine kluge Überlegung«, sagte sie. »Ganz so war es nicht. Jedenfalls war es von ihrem Erbauer nicht so geplant ... aber es hat tatsächlich nicht allzu lange gedauert, bis viele geglaubt haben, der Sonnengott selbst hätte sie aufgestellt, um die Menschen mit seinem Licht zu erhellen.«

»Kann man fast glauben, wenn man das Ding so sieht«, sagte Arthur. »Aber wieso sagen Sie immer sie?«

»Weil es zwei Obelisken sind«, antwortete Bast. »Sehen Sie die Hieroglyphen? Das ist die alte ägyptische Bildschrift. So ähnlich wie Ihre Buchstabenschrift, nur dass man damals eben keine einzelnen Buchstaben benutzt hat, sondern jedes Wort ein eigenes Zeichen hatte.«

»Muss eine Menge Zeichen gewesen sein«, sagte Arthur.

»Ziemlich viele«, bestätigte Bast. »Und die meisten davon hatten mehrere Bedeutungen, manchmal zwei oder drei, manchmal aber auch ein Dutzend oder mehr, je nachdem, in welchem Zusammenhang man es gerade benutzt hat.«

»Das klingt kompliziert«, sagte Arthur.

»Auch nicht komplizierter als so manche Schrift, die es heute noch gibt«, antwortete Bast. »Sie wissen doch, wie es heißt: Nichts ist wirklich kompliziert, wenn man es kann.«

»Und Sie können das lesen?« Arthurs Stimme klang geradezu ehrfürchtig, und Bast hätte um ein Haar geschmeichelt genickt, besann sich dann aber im letzten Moment eines Besseren.

»Die Schrift der Pharaonen ist mit ihnen untergegangen. Erst mühsam beginnen die Menschen heute, sie wieder zu enträtseln. Aber ich weiß, was sie bedeuten.« Sie machte eine übertriebene Geste zu den verwitterten Zeichen und Symbolen hinauf, die so vielen Jahrtausenden getrotzt hatten, nur um jetzt von den Blicken ungebildeter Barbaren besudelt zu werden. »Sie erzählen die Geschichte des ägyptischen Reiches, vom Jahr seiner Gründung an bis zu dem Tag, an dem sie vor dem Tempel des Sonnengottes in Heliopolis aufgestellt wurden. Dieser hier allerdings nur die letzten achthundert Jahre. Der Rest steht auf den beiden anderen. Thutmosis III. hat sie damals zu Ehren des Sonnengottes aufstellen lassen.«

»Dann waren es drei?«, sagte Arthur erstaunt.

»Ja«, antwortete Bast. »Das hier ist der kleinste. Ein zweiter wurde nach New York gebracht, und der dritte ist schon vor langer Zeit verschollen. Niemand weiß, wohin. Tatsächlich weiß kaum noch jemand, dass es überhaupt einen dritten Obelisken gab. Die Forscher heute glauben, dass es nur zwei waren, und vielleicht ist das auch gut so.«

»Warum?«, fragte Arthur.

Bast deutete ein Schulterzucken an. Sie bedauerte es schon fast, diesen letzten Satz überhaupt ausgesprochen zu haben. Trotzdem fuhr sie fort: »Vielleicht sollten manche Dinge lieber in der Zeit bleiben, die sie hervorgebracht hat, Arthur. Manche glauben, dass ein Fluch auf diesen Obelisken liegt. Thutmosis starb lange vor seiner Zeit, und das Reich der Pharaonen ging unter. Später haben die Römer die beiden übrig gebliebenen Obelisken gestohlen, und Sie wissen, was dem Römischen Reich widerfahren ist?«

»Und jetzt glauben Sie, das britische Empire würde auch untergehen?«

»Die Menschen haben viele Imperien gegründet«, antwortete sie. »Manche waren größer als das Empire, und viele haben Jahrtausende überstanden. Aber am Ende sind sie alle untergegangen. Nichts, was Menschen erschaffen, hält für die Ewigkeit.« Plötzlich lachte sie. »Aber so schnell wird es nicht gehen, keine Sorge. Das Pharaonenreich hat noch anderthalb Jahrtausende überdauert, nachdem diese Obelisken aufgestellt wurden, und auch das römische Weltreich hielt noch viele Jahrhunderte. Sie haben also noch ein bisschen Zeit.«

Arthur blinzelte verwirrt. Einen Moment lang sah er so ratlos aus, dass er Bast fast ein wenig leidtat, aber dann zwang auch er sich zu einem - sehr nervösen - Lachen. »Sie können wirklich gut erzählen, Ma'am«, sagte er. »Man könnte fast meinen, Sie wären dabei gewesen.«

»So wie Sie, wenn Sie von der Geschichte Ihrer Heimatstadt erzählen«, antwortete Bast. »Ich bin in Ägypten aufgewachsen, vergessen Sie das nicht.« Genau genommen war sie dabei gewesen, als dieser Obelisk mit dem Blut und Schweiß Tausender aus dem Fels herausgemeißelt und aufgestellt worden war - aber das verriet sie Arthur vorsichtshalber nicht.

»Wenn Sie das Thema wirklich interessiert, erzähle ich Ihnen gerne mehr«, sagte sie. »Aber nicht jetzt. Wie gesagt - ich bin noch verabredet.«

»In Whitehall, ich weiß«, antwortete Arthur. »Ich fahre Sie hin.«

»Die paar Schritte?« Bast schüttelte den Kopf. »Das ist wirklich nicht nötig. Die paar Schritte laufe ich gern.«

»Ins Verteidigungsministerium?«

»Das Verteidigungsministerium?« Bast zog nachdenklich die Stirn kraus. »Aber warum sollte Abberline ...?« Dann verstand sie. »Whitehall ist kein Gebäude«, vermutete sie.

»Nein, natürlich nicht«, antwortete Arthur amüsiert. »Es ist eine Straße.« Er wedelte erneut in die Richtung, in die er gerade gedeutet hatte. »Ich dachte, Sie wüssten das. Ist immerhin die berühmteste Straße der Stadt. Sie führt in der einen Richtung bis zum Parlament und in der anderen bis zum Tower. Wo genau sind Sie denn verabredet? Die Straße ist ziemlich lang.«

»Das weiß ich nicht«, gestand Bast. Sie fühlte sich ein wenig hilflos. »Abberline hat nur von Whitehall gesprochen ... aber er meinte, es wäre von hier aus nicht weit zu Fuß.«

»Abberline?«

»Inspektor Abberline«, antwortete Bast.

»Dann meint er wahrscheinlich die Metropolitan Police«, antwortete Arthur nach kurzem Überlegen. »Scotland Yard. Das ist wirklich nicht weit von hier. Ein paar Minuten, wenn Sie langsam gehen.«

»Aber wenn es Ihnen nichts ausmacht, könnten Sie hier auf mich warten. Bis ich zurück bin, ist es vermutlich bereits dunkel, und wahrscheinlich wird es dann noch kälter.«

»Ganz bestimmt sogar«, bestätigte Arthur. Er sah einen Moment lang unschlüssig aus, dann aber deutete er zu seinem Wagen zurück und sagte: »Ich warte einfach hier auf Sie, Ma'am. Vor Scotland Yard kann ich nicht stehen. Dort wird immer noch gebaut, und die Bobbys jagen jeden weg, der keine Steine oder Holz oder andere Baumaterialien bringt. Lassen Sie sich ruhig Zeit.«

»Es wird nicht lange dauern«, versprach Bast. Nach einem letzten, fast wehmütigen Blick die mit Hieroglyphen bedeckte Flanke des Obelisken hinauf wandte sie sich um und ging mit raschen Schritten in Richtung des riesigen weißen Gebäudes los, blieb aber schon einen Moment darauf wieder stehen und betrachtete nachdenklich ihre rechte Hand. Die Schnittwunde war so spurlos verschwunden, als hätte es sie nie gegeben, ganz wie sie erwartet hatte, aber ihre Hand war voll eingetrocknetem Blut. Auf ihrer nachtschwarzen Haut fiel es kaum auf, aber Abberline war ein aufmerksamer Beobachter, und sie musste ihn ja jetzt nicht mit der Nase darauf stoßen, dass sie tatsächlich nicht ganz die harmlose Touristin war, als die sie sich ausgab.

Sie hielt nach irgendetwas Ausschau, wo sie sich waschen konnte, entdeckte einen kleinen Zierbrunnen nur wenige Schritte entfernt und steuerte ihn an. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Arthur zu seinem Wagen ging, aber nicht auf den Kutschbock hinaufkletterte, sondern den Wagenschlag öffnete und einstieg; vermutlich, um sich die Wartezeit mit einem kleinen Nickerchen zu verkürzen. Bast gönnte es ihm. Sie konnte seine Müdigkeit selbst über die Entfernung hinweg spüren; eine Erschöpfung, die nichts mit diesem Tag oder den zurückliegenden Stunden zu tun hatte, sondern weit tiefer ging.

Sie erreichte den Brunnen, wusch sich gründlich die Hände, ohne auf die verwunderten und zum Teil missbilligenden Blicke zu achten, die ihr nicht wenige Passanten zuwarfen - das Wasser war ganz eindeutig zum Trinken gedacht, nicht zu irgendeinem anderen Zweck -, und schaufelte sich anschließend noch eine gehörige Portion des eiskalten Wassers ins Gesicht.

Als sie die Hände herunternahm, sah sie die Spiegelung einer nachtschwarzen Gestalt auf dem bewegten Wasser vor sich.

Bast fuhr blitzartig herum, doch so schnell sie auch war, es reichte nicht einmal annähernd. Eiskalter, skalpellscharfer Stahl berührte ihre Kehle, und Bast erstarrte mitten in der Bewegung.

»Das ist sehr vernünftig von dir«, sagte Horus lächelnd. »Ich würde dich ungern verletzen.«

»Warum tust du es dann?«, fragte Bast. Ein einzelner Blutstropfen lief an ihrem Hals hinab und versickerte in ihrem Kleid. Vielleicht, dachte sie sarkastisch, sollte sie in Zukunft nur noch Kleider in der Farbe getrockneten Blutes tragen.

»Noch weniger gern würde ich mich von dir verletzen lassen«, antwortete Horus. »Versprichst du mir, vernünftig zu sein?«

»Dazu müssten wir uns vielleicht erst über die Bedeutung des Wortes vernünftig einigen«, grollte Bast. »Irgendwie habe ich das Gefühl, dass wir beide etwas grundsätzlich Verschiedenes darunter verstehen. Nimm das verdammte Ding weg!«

Horus schüttelte lachend den Kopf, steckte sein Schwert aber trotzdem ein und trat einen halben Schritt zurück. Er wirkte vollkommen entspannt, ein Mann, der zufällig eine alte Bekannte getroffen hatte und sich darüber freute. Aber er war es nicht. Bast erwog den Gedanken, sich trotz allem auf ihn zu stürzen, verwarf ihn aber auch fast augenblicklich wieder. Sie fühlte sich besser als gestern, aber sie war dennoch nicht sicher, dass sie Horus gewachsen wäre.

»Du kommst spät«, sagte Horus, nachdem er in ihren Augen gelesen hatte, dass sie ihn nicht angreifen würde. »Ich warte schon eine ganze Weile auf dich. Was hat dich aufgehalten?«

Bast sah ihn fragend an.

»Ich habe dich gerufen«, sagte Horus. »Oder glaubst du wirklich, du bist ganz allein plötzlich auf die Idee gekommen, den Obelisken zu besichtigen?« Er schüttelte seufzend den Kopf. »Sollte ich anfangen, mir ernsthafte Sorgen um dich zu machen, Bastet? Anscheinend verbringst du zu viel Zeit mit deinen menschlichen Freunden.«

»Ich dachte, wir wären auch menschlich«, antwortete Bast. »Wenigstens ein paar von uns.«

»Du weißt genau, was ich meine«, erwiderte Horus leicht verärgert.

»Ja«, gestand Bast. »Aber was ich nicht weiß ist, was du hier willst. Du hast mich gerufen? Warum?«

»Aus demselben Grund, aus dem du nach Isis gesucht hast, aber hoffentlich mit mehr Erfolg«, antwortete Horus. »Um noch einmal mit dir zu reden.« Er zuckte die Achseln. »Ich kenne dich ja wirklich gut genug, um zu wissen, dass es wahrscheinlich sinnlos ist, aber ich appelliere trotzdem noch einmal an deine Vernunft: Komm zurück zu uns, Bastet. Du gehörst nicht hierher. Weder in dieses Land noch zu diesen Menschen. Du weißt das.«

»Und wenn nicht?«, fragte Bast. »Fährst du dann fort, sie umzubringen?« Sie machte eine zornige Geste, als er antworten wollte. »Warum hast du das getan, Horus? Nur weil ich sie zufällig gekannt habe?«

»Was getan?«, fragte Horus. Er spielte perfekt den Ahnungslosen.

»Kate und Liz«, antwortete Bast zornig. »Du hast sie getötet - und versuch erst gar nicht, es zu leugnen. Ich habe dich gesehen. Dich oder Sobek, aber wahrscheinlich wart ihr es ohnehin gemeinsam. Habt ihr auch die beiden anderen umgebracht?«

»Ich weiß nicht, wovon du sprichst«, behauptete Horus. »Und es interessiert mich auch nicht. Ich bin gekommen, um dich ein letztes Mal zu warnen. Du begehst einen schlimmen Fehler, wenn du dich zu sehr mit diesen Sterblichen einlässt. Du gehörst nicht zu ihnen. Du kannst so wenig unter ihnen leben wie einer von ihnen unter uns.«

»Und dann?«, fragte Bast. »Was genau habt ihr vor?«

»Wir werden uns zurückziehen und warten, bis all das hier vorbei ist und wir unseren angestammten Platz wieder einnehmen können«, antwortete Horus ernst. »Auch dieses Reich wird fallen, so wie alle anderen zuvor.«

Bast lachte nur. »Du irrst dich, Horus«, sagte sie. »Die Zeit der Götter ist vorbei. Endgültig. Vielleicht hat es sie nie gegeben.«

Horus setzte zu einer sichtlich scharfen Antwort an, beließ es aber dann bei einem Seufzen und einem langsamen Kopfschütteln und drehte sich halb herum, um zu Arthurs Wagen zu blicken. »Ich sehe, du hast dir ein neues Haustier zugelegt«, sagte er. »Dein Geschmack war auch schon einmal besser. Wie ich es sage: Du verbringst zu viel Zeit mit diesen Sterblichen.«

»Wenn das alles ist, was du mir mitteilen wolltest, kann ich ja jetzt gehen«, erwiderte Bast kühl. »Ich habe noch eine Verabredung.«

Horus bedachte sie mit einem sonderbaren Blick, in dem sie Herablassung und Verachtung las, aber auch noch etwas anderes, das sie nicht genau einordnen konnte. »Sobek und ich reisen in einer Woche ab«, sagte er. »Wir hoffen, dass du mit uns kommst.«

»Und wenn nicht?«, fragte Bast. »Tötet ihr mich dann? Oder bringt ihr nur jeden um, der das Pech hat, mich zu kennen?«

»Das ist vielleicht gar keine so schlechte Idee«, sagte Horus kalt. »Ich werde darüber nachdenken ... auch wenn es gar nicht nötig ist.«

»Was soll das heißen?«, fragte Bast.

Aber sie bekam keine Antwort. Horus lächelte nur geheimnisvoll, nickte ihr noch einmal zu und ging dann mit langsamen Schritten davon. Diesmal ersparte er ihr den billigen Effekt, einfach zu verschwinden, sondern ging einfach gemessenen Schrittes davon, aber Bast ärgerte sich über den Anblick mindestens ebenso sehr. Niemand nahm von der riesigen, vollkommen schwarzen Gestalt mit Turban und Mantel auch nur Notiz, weil außer ihr niemand hier Horus so sah wie sie, sondern vermutlich nur einen ganz normalen Passanten wahrnahm, der sich in nichts von irgendeinem der anderen hier unterschied; eine vielleicht subtilere, zugleich aber noch plattere Zurschaustellung seiner Macht, über die der Unsterbliche gebot. Bast war nicht sicher, ob sie dazu imstande gewesen wäre; nicht einmal im Vollbesitz ihrer Kräfte.

Sie verscheuchte den Gedanken und ging.



Scotland Yard hatte nichts mit einem Hof zu tun und wirkte zumindest auf Bast nicht im Geringsten schottisch oder gar irgendwie beeindruckend, sondern einfach nur groß, klobig und ziemlich planlos. In ihren Augen bestand der Komplex aus nichts anderem als einer Anhäufung monströser steinerner Würfel, die jemand ohne den mindesten Sinn für Ästhetik über- und nebeneinandergestapelt und mit einem in den Augen schmerzenden Konglomerat erbeuteter, nachgemachter oder auch schlecht neu geschaffener Kunstwerke verziert hatte.

Darüber hinaus hatte Arthur recht: Die offizielle Eröffnung des Gebäudes mochte kurz bevorstehen, aber es war trotzdem noch immer eine einzige große Baustelle. Trotz der schon fortgeschrittenen Stunde wimmelte die Straße vor dem Gebäude von Fuhrwerken, die Arbeiter und die verschiedensten Baumaterialien ankarrten. Die Fenster in den oberen Stockwerken hatten noch kein Glas, und aus allen Richtungen drang hektisches Hämmern und Sägen, Hantieren und Rufen und Werkeln an ihr Ohr. Ein durchdringender Geruch nach Kalk und frischer Farbe schlug ihr entgegen, als sie sich dem weit offen stehenden schmiedeeisernen Tor näherte, und obwohl die Sonne noch nicht untergegangen war, brannte bereits hinter jedem einzelnen Fenster in den unteren Stockwerken Licht.

Bast steuerte einen der beiden Bobbys an, die frierend, aber nichtsdestotrotz sehr aufmerksam rechts und links des Tores standen und misstrauisch jeden beäugten, der sich dem Gebäude näherte oder auch nur mehr als einen flüchtigen Blick in seine Richtung warf. Sie kam jedoch nicht einmal dazu, etwas zu sagen, denn der Mann trat ihr auf dem letzten Stück seinerseits entgegen und sprach sie an.

»Sie müssen Miss Bast sein«, sagte er. »Man erwartet Sie bereits.«

Bast konnte ihn im ersten Moment nur verwirrt ansehen. Sie hatte deutlich länger für den Weg hierher gebraucht als erwartet und war nun zu spät - wenn auch nur wenige Minuten -, was den leisen Tadel in seiner Stimme erklären mochte, aber woher wusste er, wer sie war?

»Sie kennen mich?«, fragte sie überrascht.

»Inspektor Abberline hat Sie avisiert, Ma'am«, antwortete er. »Und nichts für ungut, aber ...«

»Ich verstehe schon«, seufzte Bast. »So leicht bin ich nicht zu verwechseln.« Vielleicht hatte Isis ja gar nicht so unrecht mit ihrem Entschluss gehabt, nicht in ihrer eigenen Gestalt aufzutreten. »Dann bringen Sie mich jetzt freundlicherweise zu ihm.«

»Selbstverständlich, Ma'am. Wenn Sie mir bitte folgen würden.« Der Beamte wandte sich gehorsam um, blieb aber schon nach zwei Schritten wieder stehen und maß sie mit einem unsicheren Blick von Kopf bis Fuß. »Es ist mir zwar unangenehm, Ma'am, aber wir haben neue Vorschriften, nach denen ich Sie eigentlich nach Waffen durchsuchen müsste.«

»Das ist nicht nötig«, sagte Bast sanft.

»Natürlich nicht, Ma'am«, antwortete er automatisch. »Bitte verzeihen Sie. Wenn Sie mir bitte folgen.«

Vorbei an zwei weiteren Polizisten, die eine im Vergleich zu dem protzigen Gebäude geradezu bescheiden wirkende Treppe flankierten, gingen sie zu einer zweiflügeligen Tür, die in einen ebenso bescheidenen Eingangsbereich führte. Auf einen knappen Wink ihres Führers hin blieb Bast stehen und sah sich unverhohlen neugierig um, während der Bobby zu einem seiner Kollegen eilte, der hinter einem vergitterten Schalter saß und eifrig Eintragungen in einen überdimensionalen aufgeschlagenen Folianten machte. Weitere Beamte saßen an einer Anzahl scheinbar wahllos im Raum verteilter Plätze, und neben der großen Tür am anderen Ende des Raumes stand ein weiterer Posten, der sie weit weniger freundlich beäugte als sein Kollege, der sie hereingeführt hatte. Eine Anzahl moderner Gaslampen an den Wänden und unter der Decke verbreitete nahezu schattenloses Licht, und auch hier drinnen roch alles neu und frisch. Kostbares Holz und goldgerahmte Bilder, die ausnahmslos irgendwelche Würdenträger oder Adelige zeigten - welche Bast ausnahmslos nicht kannte -, beherrschten die Wände, und auch das Mobiliar war neu und noch so gut wie unbenutzt. Alles wirkte ... steril, obwohl die Beamten eine Atmosphäre stiller Hektik verbreiteten. Dieses Gebäude war noch nicht lange genug bewohnt, um eigenes Leben entwickelt zu haben.

Bast sah sich weiter unverhohlen neugierig um, wobei sie sich der nicht minder neugierigen und verwunderten Blicke, mit denen die Anwesenden sie verstohlen musterten, in jeder Sekunde bewusst war, und wollte sich gerade mit einer belanglosen Frage an einen der Männer ringsum wenden, und sei es nur, um das immer betretener werdende Schweigen zu brechen, das sich in ihrer unmittelbaren Umgebung breitzumachen begann, als sie eine Bewegung am anderen Ende des Raumes wahrnahm. Etwas daran alarmierte sie, ohne dass sie sagen konnte, was. Verwundert wandte sie den Kopf - und hätte fast einen erschrockenen Schrei ausgestoßen.

Am gegenüber liegenden Ende des Raumes hatte sich eine Tür geöffnet, und drei Männer waren herausgetreten. Zwei von ihnen trugen dieselbe Art von schmuckloser schwarzer Uniform wie der Beamte, der sie hereingebracht hatte, nur mit etlichen Messingknöpfen und blitzenden Abzeichen mehr, der dritte einen eleganten schwarzen Cut samt Zylinder und Gehstöckchen. Noch auffälliger als seine geckenhafte Kleidung allerdings war der gezwirbelte Schnauzbart, der sein Gesicht zierte ... und der Umstand, dass selbiges auf einer Seite unförmig angeschwollen und zum Teil blauschwarz verfärbt war.

Bast erkannte ihn trotzdem auf Anhieb wieder, und das, obwohl er bei ihrem letzten Zusammentreffen nichts weiter als schwarze Socken getragen hatte ...

Sie war dennoch im allerersten Moment so verblüfft, dass es um ein Haar zu einem Unglück gekommen wäre. Die drei Männer kamen ohne Eile näher, und der Schnauzbärtige unterhielt sich gelassen mit seinen beiden Begleitern - die ihn überdies mit unübersehbarem Respekt behandelten - und schien dabei allerbester Laune zu sein; dann und wann ließ er eine offensichtlich scherzhafte Bemerkung fallen, auf die die beiden mit einem gehorsamen Lächeln reagierten, und einmal lachte er sogar laut; was ihm zweifellos nicht leicht fiel, denn seine Lippen waren geschwollen und seine Mundwinkel mit verschorftem Blut verkrustet. Bast starrte ihn so verblüfft an, dass sie beinahe zu spät reagiert hätte, als er näher kam und dabei beiläufig in ihre Richtung sah.

Im buchstäblich allerletzten Moment begriff sie die Gefahr, in der sie schwebte, machte einen halben Schritt zurück und verschmolz gleichzeitig mit den Schatten, und für einen winzigen Moment erschien ein Ausdruck von Verwirrung in den blutunterlaufenen Augen des Schnauzbärtigen. Er stockte, runzelte die Stirn und schien sich selbst in Gedanken eine Frage zu stellen, auf die er aber ganz offensichtlich keine Antwort fand.

»Mylord?« Einer der beiden Beamten in seiner Begleitung sah ebenfalls - besorgt - in ihre Richtung, erblickte aber ganz offensichtlich nichts Außergewöhnliches. Trotzdem fuhr er fort: »Stimmt irgendetwas nicht?«

Bast hielt instinktiv den Atem an. Sie war vollkommen sicher, sich seinen Blicken entzogen zu haben, und trotzdem starrte der Schnauzbärtige verunsichert und ganz eindeutig zu lange in ihre Richtung. Dann aber schüttelte er fast hastig den Kopf und zwang ein ebenso übertriebenes wie unechtes Lächeln auf seine verunstalteten Lippen. »Es ist alles in Ordnung«, sagte er hastig und ging weiter; so dicht an Bast vorbei, dass sie ihn mühelos mit der ausgestreckten Hand hätte berühren können. »Bitte verzeihen Sie mir. Wie es scheint, fange ich schon an, Gespenster zu sehen.«

»Was ja auch kein Wunder ist, Mylord«, versicherte der Beamte hastig. »Ein solches Erlebnis hinterlässt seine Spuren, selbst bei unseren Männern, und die sind ... äh ... solcherlei Zwischenfälle gewohnt.«

»Was schlimm genug ist«, antwortete der Schnauzbärtige. »Wir müssen etwas gegen die Gewalttätigkeit in diesen Vierteln unternehmen, Superintendent. Wo kommen wir hin, wenn ein unbescholtener Bürger nicht einmal mehr über die Straße gehen kann, ohne grundlos überfallen zu werden.«

Die drei verließen das Gebäude, und Bast trat ihrerseits wieder in die Wirklichkeit zurück und begegnete dem vollkommen fassungslosen Blick ihres Führers, der gerade im richtigen Moment zurückgekommen war, um zu sehen, wie sie wortwörtlich aus dem Nichts heraus erschien. Rasch sorgte sie dafür, dass er die letzten Sekunden schlichtweg vergaß und schenkte ihm das freundlichste Lächeln, das sie im Moment nur zustande brachte.

»Das ging ja schnell.«

Der Beamte starrte sie noch eine halbe Sekunde lang verwirrt an, bedeutete ihr dann aber mit einer Geste, ihr zu folgen. »Bitte entschuldigen Sie die Umstände, aber im Moment geht hier alles noch ein wenig drunter und drüber.« Er klang leicht verstört.

»Weil alles noch neu ist.«

»Ein neues Gebäude, neue Vorschriften und Regeln ... und jeder nimmt alles furchtbar ernst.« Der Mann lächelte flüchtig - und immer noch irgendwie verwirrt, als frage er sich insgeheim, was gerade eigentlich passiert war -, während er sie vorbei an seinen Kollegen und einen langen Flur hinabführte, von dem zahlreiche Türen abzweigten. Die allermeisten Zimmer dahinter waren leer, wie Bast spürte, aber trotzdem brannte in jedem einzelnen Licht. »Aber das gibt sich, wenn hier erst einmal so etwas wie Alltag eingekehrt ist.«

Da Bast spürte, was er von ihr erwartete, tat sie ihm den Gefallen und sagte: »Ein wirklich beeindruckendes Gebäude. Die Polizeistationen in meiner Heimat sehen ein wenig anders aus.«

»London ist auch die größte Stadt der Welt«, antwortete ihr Führer stolz. »Und wir sind hier fast für die gesamte Stadt zuständig. Natürlich nicht für die kleinen Ganoven - mit Taschendieben und kleinen Betrügern werden die anderen Reviere schon ganz gut allein fertig -, sondern nur für Kapitalverbrechen, aber London hat leider auch davon mehr als genug.«

Bast fragte sich amüsiert, was die Belegschaften der anderen Reviere wohl von dieser wenig schmeichelhaften Meinung halten würden. »Wieso nennt man es Scotland Yard?«, fragte sie. »Ich finde, es sieht hier nicht besonders schottisch aus.« Mittlerweile gingen sie eine lange, mit einem dicken Läufer bedeckte Treppe hinauf, die eher in ein königliches Schloss zu gehören schien als in ein Polizeihauptquartier. Auch hier hingen kostbare Gemälde an den Wänden. Die darauf abgebildeten Personen schienen ausnahmslos auf die Besucher hinabzusehen, wodurch sich jeder, der diese Treppe hinaufging, ganz unwillkürlich klein und unbedeutend vorkam, und ganz zweifellos war dieser Effekt auch durchaus beabsichtigt. Bast vermutete sogar, dass diese Bilder zu keinem anderen Zweck gemalt worden waren.

»Das hier ist New Scotland Yard«, antwortete ihr uniformierter Begleiter. »Bisher lag es am anderen Ende von Whitehall. Great Scotland Yard - der schottische Hof - war vor der Vereinigung von England Residenz der schottischen Könige, wenn sie in London waren, oder ihrer Botschafter. Aber das ist schon über zweihundert Jahre her. Eine lange Zeit. Heute arbeiten wir hier mit den modernsten Methoden der Welt. Wussten Sie, dass Scotland Yard bisher jeden Fall gelöst hat?« Er nickte heftig, obwohl es Bast nicht einmal in den Sinn gekommen war, seine kühne Behauptung zu hinterfragen. »Bisher haben wir noch jedes Verbrechen aufgeklärt.«

Bast vermutete eher, dass sie für jedes Verbrechen einen Schuldigen gefunden hatten, was ganz und gar nicht dasselbe war, aber der Stolz in seiner Stimme war zu groß, dass sie ihm lieber nicht widersprach. Wahrscheinlich war das bisschen Ruhm, das von diesem Gebäude und seinem Ruf auf ihn abstrahlte das Einzige, was sein tristes Dasein als Wachtposten aufhellte. Sie sagte nichts mehr, während sie eine zweite, von mindestens genauso beeindruckenden Gemälden flankierte Treppe hinauf und dann einen langen Korridor entlanggingen, was ihn allerdings nicht davon abhielt, fröhlich weiterzuplappern und sie mit historischen Details, Daten und Fakten zu überschütten, von denen die Hälfte vermutlich nicht stimmte und die andere Hälfte sie nicht interessierte. Sie war dennoch mehr als erleichtert, als sie endlich eine zweiflügelige Tür mit kunstvoll geschnitzter Füllung erreichten. Ihr Führer klopfte, wartete einen höflichen Augenblick ab und drückte dann die Klinke herunter, ohne dass irgendeine Reaktion erfolgt wäre.

»Ich warte hier auf Sie, Ma'am«, sagte er.

Bast bedankte sich mit einem artigen Nicken, trat an ihm vorbei und gelangte in einen weitläufigen, anders als der Rest des Gebäudes nur schwach erhellten Raum, der von einem überdimensionalen Kamin und einem nicht minder riesigen Schreibtisch beherrscht wurde. Ein durchdringender Geruch nach Tabakqualm lag in der Luft, und die Wände wurden fast zur Gänze von - allerdings nahezu leeren - Bücherregalen beherrscht. An dem wuchtigen Schreibtisch saßen drei Männer, von denen zwei bei ihrem Eintreten höflich aufstanden - Abberline und zu Basts nicht geringer Überraschung kein anderer als Jacob Maistowe -, während der dritte, ein Herr mittleren Alters mit einem Schopf dunklen Haares und weißem Schnauz- und Backenbart, gekleidet in einen hoch geknöpften Anzug mit Stehkragen, ungerührt sitzen blieb und sie kühl, aber sehr aufmerksam musterte, während er an einer silbernen Zigarettenspitze sog.

»Miss Bast!« Abberline trat ihr entgegen. »Sie sind ...«

»... zu spät, ich weiß«, unterbrach ihn Bast. »Es tut mir leid. Ich fürchte, ich habe den Weg wohl doch ein wenig unterschätzt.«

»Ich bin es, der sich entschuldigen muss«, widersprach Abberline. »Ich habe Sie nach Whitehall bestellt und zu spät begriffen, dass das nur für mich dasselbe ist wie Scotland Yard. Das war unverzeihlich. Ich bin zurückgekommen, um dieses Missverständnis aufzuklären, aber da waren Sie leider Gottes schon unterwegs.«

»Ich habe die Gelegenheit genutzt, um mir London anzusehen«, antwortete Bast. »Was man an einem halben Tag davon sehen kann, heißt das.«

»Es gibt Menschen, die ihr halbes Leben in London verbringen und es noch nicht kennen«, sagte Abberline lächelnd. Er zog einen Stuhl zurück und deutete auf den Weißhaarigen hinter dem Schreibtisch, dessen Blick Bast die ganze Zeit über nicht losgelassen hatte. »Wenn ich vorstellen darf: Mr James Monro, Leiter der Spezialabteilung. Mr Monro - Miss Bast.«

Monro? Bast hatte das Gefühl, dass ihr dieser Name etwas sagen sollte, aber der Gedanke entschlüpfte ihr, bevor sie ihn richtig zu fassen bekam. Monro nickte, immer noch schweigend, legte aber zumindest seine Zigarettenspitze aus der Hand und bedeutete Bast mit einer wortlosen Geste, Platz zu nehmen. Sein scharfer Blick war ihr auf Anhieb unsympathisch.

»Ich bin überrascht, Sie hier zu sehen, Kapitän«, wandte sich Bast an Maistowe, nachdem sie Platz genommen und sich auch Abberline und Maistowe wieder gesetzt hatten. »Was genau haben Sie mit dieser Angelegenheit zu tun?«

»Dasselbe wie Sie, Verehrteste«, antwortete Maistowe. »Nichts. Aber nachdem Frederick zurückkam und mir gebeichtet hat, Sie versehentlich auf eine kleine Odyssee geschickt zu haben, habe ich darauf bestanden, ihn zu begleiten und Sie nötigenfalls zu suchen.«

»So schnell gehe ich nicht verloren, keine Sorge«, antwortete Bast lächelnd. Sie spürte, dass er log. Oder ihr zumindest etwas verschwieg.

»Ich habe Inspektor Abberline gebeten, Kapitän Maistowe zu diesem Gespräch mitzubringen«, sagte Monro ruhig. Er hatte eine überraschend kraftvolle und zugleich sanfte Stimme, fand Bast. Aber auch sie machte ihr diesen Mann nicht wirklich sympathischer. Nun ja, zumindest schien er nicht viel von Smalltalk zu halten.

»Darf ich fragen, warum?«, gab sie ebenso offen zurück.

»Aus dem gleichen Grund, aus dem ich Sie hierher gebeten habe, gnädige Frau«, antwortete er. »Ich habe mir vom Hafenmeister die Papiere der Lady of the Mist kommen lassen und seine Angaben überprüft. Das Schiff ist tatsächlich erst vor drei Tagen in England angekommen, und die Papiere bestätigen seine Abfuhr in Kairo acht Tage zuvor. Sie sind dort an Bord gegangen?«

»Wie Sie zweifellos ebenfalls überprüft haben«, antwortete Bast kühl. »Darf ich fragen, warum Sie mein Alibi überprüfen, Mr Monro?«

»Das geht nicht gegen Sie persönlich«, versicherte Abberline hastig. Die Situation war ihm sichtlich peinlich. »Es ist reine Routine. Mr Monros Abteilung berät uns im Fall der so genannten Ripper-Morde.«

»Nachdem Sie mit Ihren Ermittlungen nicht weitergekommen sind, vermute ich«, meinte Bast.

Abberline wurde blass, und Monro machte sich nun nicht einmal mehr die Mühe, Freundlichkeit zu heucheln. Er griff wieder nach seiner Zigarettenspitze und nahm einen tiefen Zug, atmete den Rauch aber nicht wirklich ein. »Es besteht kein Grund zur Beunruhigung für Sie, Miss Bast«, sagte er. »Es ist so, wie Inspektor Abberline sagt: Ein solches Vorgehen ist reine Routine, in einem Fall wie diesem. Und wer ein gutes Gewissen hat, der hat schließlich auch nichts zu befürchten. Ich gehe im Moment nicht davon aus, dass Sie irgendetwas mit diesen schrecklichen Verbrechen zu tun haben.«

Bast ignorierte das »im Moment«. »Und warum bin ich dann hier?«, fragte sie.

»Ich habe Mr Monro von Ihnen erzählt, Bast«, sagte Abberline rasch, »und er ist genau wie ich der Meinung, dass Sie uns vielleicht bei der Aufklärung dieser Morde behilflich sein könnten.«

Auch das war zumindest nicht die ganze Wahrheit, wie Bast spürte, aber sie runzelte trotzdem nur die Stirn und fragte: »Wieso ich?«

»Sie stammen aus Ägypten, gnädige Frau?«, fragte Monro, bevor Abberline antworten konnte. Er wartete ihre Antwort auch gar nicht ab, sondern fuhr unmittelbar fort. »Nun, wie Sie vielleicht gehört haben, gnädige Frau, ist Scotland Yard für seine modernen Ermittlungsmethoden bekannt. Kluge Männer wie zum Beispiel Inspektor Abberline hier sind dafür bekannt, auch mit unkonventionellen Mitteln an einen Fall heranzugehen, und die Fakten aus ... sagen wir: ungewöhnlichen Blickwinkeln zu hinterfragen.« Er warf Abberline einen Blick zu, der Bast beinahe drohend vorkam. »Inspektor Abberline hat Ihnen berichtet, dass es da gewisse Fakten gibt, über die wir die Presse und die Öffentlichkeit bisher nicht informiert haben?«

Bast unterdrückte den Impuls, Abberline einen fragenden Blick zuzuwerfen. Sie konnte spüren, wie unwohl er sich fühlte. »Sie meinen die Männer in Schwarz?«, fragte sie. »Die so aussehen wie ich?« Sie schüttelte den Kopf. »Nicht mehr, als dass sie gesehen wurden ... angeblich. Ich wüsste nicht, inwiefern ...«

»Nicht angeblich«, unterbrach Monro sie kühl. »Sie wurden gesehen, von mehreren Zeugen. Man könnte sich nun durchaus fragen, ob es tatsächlich ein Zufall ist, dass Sie ausgerechnet jetzt hier auftauchen, gnädige Frau. Wie es der Zufall will, war ich früher in Indien und bin auf dem Rückweg durch Ihr Heimatland gereist; die Menschen dort sind mir also nicht gänzlich unbekannt. Eine Erscheinung wie die Ihre ist auch dort zumindest ungewöhnlich, stimmen Sie mir da zu?«

»Worauf wollen Sie hinaus?«, fragte Bast.

»Inspektor Abberline hat mir erzählt, dass Sie nach England gekommen sind, um nach einem Bekannten zu suchen?«, fragte Monro.

»Einer Bekannten«, verbesserte ihn Bast betont. »Genauer gesagt, meiner Schwester. Und ich kann Ihnen versichern, dass sie bestimmt nicht herumläuft und Menschen aufschlitzt.«

»Das glaube ich Ihnen gern«, antwortete Monro. »Ich würde Sie trotzdem bitten, Inspektor Abberline die Adresse dieser Dame zu geben.«

»Sobald ich sie herausgefunden habe«, antwortete Bast. »Ich bin hierhergekommen, um sie zu suchen.«

»Das heißt, Sie haben sie noch nicht ausfindig gemacht«, seufzte Monro. Und wissen also auch nicht, wo sie zu den fraglichen Zeitpunkten war. »Das ist bedauerlich. Dennoch ...« Sein Blick wurde nachdenklich. »Lassen Sie mich noch einmal auf Ihre Kleidung zurückkommen, Miss Bast. Sie ist recht ... ungewöhnlich. Symbolisiert sie möglicherweise die Zugehörigkeit zu einer Gruppe oder Kaste?«

Bast sah ihn fragend an.

»Vielleicht einer religiösen Gruppierung?«

»Einer Sekte, meinen Sie?«

Monro wedelte unwillig mit seiner Zigarettenspitze. »Ich wollte damit keinerlei Wertung abgeben«, sagte er. »Nur sind diese Morde ... recht bizarr. Sie könnten durchaus religiös motiviert sein. Sie wissen, dass dieser Wahnsinnige seine Opfer regelrecht ausgeweidet hat?«

»Er hat ihnen die inneren Organe entfernt, ja.« Bast nickte. »Inspektor Abberline hat so etwas erwähnt.«

Monros Blick wurde durchdringend. »Gab es diese Sitte in Ihrem Land nicht ebenfalls?«

»Vor langer Zeit, ja«, bestätigte Bast. »Zur Zeit der Pharaonen. Tatsächlich hat man den toten Pharaonen die inneren Organe entnommen, bevor sie einbalsamiert wurden ... aber das ist dann doch ein kleiner Unterschied.«

»Das sehen Sie so, gnädige Frau, und ich, weil wir beide vernünftige und logisch denkende Menschen sind«, antwortete Monro. »Wenn man es mit, sagen wir, religiösen Fanatikern zu tun hat, verliert das Wort Logik leider Gottes manchmal nur zu schnell seine Bedeutung.«

»Religiöse Fanatiker?«

»Vielleicht auch einfach nur Verrückte«, sagte Monro. »Ich muss gestehen, dass wir im Moment ziemlich im Dunkeln tappen, aber wir gehen allen Hinweisen nach. Verstehen Sie mich nicht falsch. Sie werden in keiner Weise verdächtigt. Doch im Augenblick sind wir für jede Hilfe dankbar. Ganz gleich von welcher Seite.«

Das war es, was er sagte. Was er dachte, war etwas vollkommen anderes. Bast musste seine Gedanken nicht einmal lesen, um das zu begreifen. Dass dieser Mr Monro, obwohl er angeblich für das Innenministerium arbeitete, hier als Berater in Scotland Yard residierte, war schon suspekt genug. Es ging ihm gar nicht wirklich um die Aufklärung der Morde, es war alles nur ein Teil eines Machtspiels. Monro brauchte einfach einen Schuldigen, den er der Öffentlichkeit präsentieren konnte, um sich selbst zu profilieren und womöglich dem amtieren Polizeichef, der in diesem ganzen Fall bislang keine sehr glückliche Figur abgegeben hatte, eins auszuwischen und sich selbst als Nachfolger ins Gespräch zu bringen. Wahrscheinlich dachte er insgeheim schon über einen Weg nach, sie trotz ihrer Alibis auf die Liste der möglichen Verdächtigen zu setzen.

»Wo immer ich Ihnen helfen kann, tue ich es gern«, antwortete sie. »Aber ich fürchte, ich weiß noch sehr viel weniger über die schreckliche Angelegenheit als Sie.«

»Und einen Photographen namens Saperstein kennen Sie auch nicht«, vermutete Monro.

Bast schüttelte wahrheitsgemäß den Kopf. »Wer soll das sein?«

»Ein Journalist, der mir dann und wann einen Gefallen tut«, antwortete Abberline an Monros Stelle. »Sie müssten ihn eigentlich gesehen haben. Er hat heute Morgen Photographien gemacht, in der Goulsten Street.«

»Und?«

»Er hatte mir zugesagt, die Abzüge bis spätestens Mittag in meinem Büro abzugeben«, sagte Abberline. »Seither hat niemand mehr etwas von ihm gesehen oder gehört.«

»Was nichts bedeuten muss«, fügte Monro düster hinzu. »Diese Presseleute zählen nicht unbedingt zu den Menschen, die ich kenne.«

Und nicht unbedingt zu denen, die er am meisten mochte, fügte Bast in Gedanken hinzu. »Sie mögen die Presse nicht besonders.«

»Nein«, gestand Monro unumwunden. »Und seit heute sogar noch ein bisschen weniger.«

Bast runzelte fragend die Stirn, und Monro warf Abberline einen ebenso missmutigen wie auffordernden Blick zu, woraufhin dieser unter seine Jacke griff und einen zusammengefalteten Zettel herauszog, den er Bast reichte. »Das wurde heute der Central News Agency zugestellt«, sagte er. »Eine Postkarte, angeblich vom Ripper persönlich abgeschickt.«

Bast faltete das Blatt auseinander. Es war keine Postkarte, sondern eine in einer fast unleserlichen Handschrift ausgeführte Abschrift derselben, die selbst Bast in dem schwachen Licht nur mühsam entziffern konnte.

Abberline nahm ihr die Arbeit ab. »Das meiste sind die üblichen Beschimpfungen und Angebereien«, sagte er. »Der Kerl verhöhnt die Polizei, wie üblich ...« Er hob die Schultern. »Wortwahl und Diktion ähneln den anderen Briefen, aber leider liegt uns die originale Postkarte nicht vor, sondern nur diese Kopie, die mir zugespielt wurde, sodass ich die Handschrift nicht vergleichen kann, aber ich bin dennoch sicher, dass der Verfasser dieser Karte und der der vorherigen Ripper-Briefe identisch sind.«

Er hatte nicht gesagt »der Ripper«, dachte Bast, sondern »der Verfasser der Ripper-Briefe«. »Sie glauben nicht, dass diese Briefe von dem wirklichen Mörder stammen?«, fragte sie.

»Vielleicht ja, vielleicht will sich auch nur einer dieser Schmieranten wichtig machen«, antwortete Monro. »Das Ergebnis bleibt sich gleich.« Er nahm Bast das Blatt aus der Hand, legte es mit der Schrift nach unten vor sich auf den Tisch und warf Abberline einen zornigen Blick zu.

»Und welches wäre das?«

»Panik«, sagte Monro finster. »Allmählich beginne ich mich zu fragen, ob der wahre Grund für diese Morde nicht darin besteht, Unruhe und Panik unter der Bevölkerung Londons zu schüren.«

»Vier Tote sind schlimm«, sagte Bast ernst, »aber doch kaum schlimm genug, um gleich einen Aufruhr zu verursachen, oder?«

»Es sind vermutlich weit mehr als vier«, sagte Abberline. »Das ist unser Problem. Es gibt vier Bekennerbriefe, dieses ... Pamphlet von heute mitgerechnet, und die Unruhe unter der Bevölkerung wächst mit jedem einzelnen, aber wir haben eine ganze Anzahl weiterer Toter, von denen wir ... vermuten, dass sie demselben Täter zuzuschreiben sind. Sollte das bekannt werden ... nun ... Whitechapel ist ein Pulverfass, Miss Bast. Und die Zündschnur wird mit jedem Mord kürzer, den wir nicht aufklären. Die Presse macht es uns nicht unbedingt leichter, fürchte ich.« Er deutete mit einem tiefen Seufzen auf den Brief vor Monro. »Mein Vertrauensmann bei der Presse riskiert seine Anstellung, indem er mir diese Abschrift zukommen ließ. Die Presse ist in diesem Fall leider nicht besonders kooperativ. Normalerweise hätten wir aus der Zeitung von morgen Kenntnis von dieser Postkarte erhalten.«

»Aber warum?«

»Das ist möglicherweise meine Schuld«, sagte Monro. »Ich war und bin der Meinung, dass diese Bekennerbriefe nichts als Fälschungen sind, geschrieben von einem sensationslüsternen Journalisten, der auf diese Weise die Auflage seiner Gazette in die Höhe zu treiben versucht. Und ich habe aus dieser Einstellung nie einen Hehl gemacht.«

»Der Verfasser dieser Karte weiß immerhin, dass es in der vergangenen Nacht zwei Morde gegeben hat«, gab Abberline zu bedenken. »Und er wusste auch von der Kreideschrift an der Wand.«

»Wie jeder, der dort war«, sagte Monro.

»Aber die Karte wurde vor den beiden Morden abgeschickt«, sagte Abberline. »Sie muss bereits gestern Abend aufgegeben worden sein, denn sie kam bereits heute Mittag in der Redaktion an.«

»Das behaupten Ihre Freunde von der Presse«, schnaubte Monro. »Sie können diese Karte ebenso selbst geschrieben haben ... wer weiß - vielleicht war es am Ende sogar dieser Saperstein selbst, auf den Sie ja so große Stücke halten?« Abberline wollte etwas dazu sagen, aber Monro brachte ihn mit einem eisigen Blick zum Verstummen, noch bevor er überhaupt den Mund aufmachen konnte, und fuhr stirnrunzelnd und weiter direkt an Bast gewandt fort: »Also gut. Leider ist meine Zeit begrenzt. So sehr ich es auch genieße, mit Ihnen zu plaudern, rufen mich doch leider auch andere, weitaus unerfreulichere Pflichten. Ich kann mich also darauf verlassen, dass Sie Inspektor Abberline auf dem Laufenden halten, was die Suche nach Ihrer Freundin angeht?«

Bast konnte sich nicht erinnern, irgendetwas in dieser Art gesagt zu haben und starrte Monro nur verblüfft an, was diesem als Antwort aber vollkommen zu genügen schien. »Und Sie informieren den Inspektor auch, falls Sie vorhaben, die Stadt zu verlassen.«

Bast schluckte ihren Ärger zwar mühsam herunter, konnte sich aber nicht verkneifen, in scharfem Ton zu sagen: »Und auch, wenn mir zwei Hobby-Einbalsamierer über den Weg laufen sollten, die sich um ein paar tausend Jahre in der Zeit geirrt haben. Selbstverständlich.«

Abberline sog hörbar die Luft zwischen den Zähnen ein, und auch Maistowe wurde deutlich blasser. Monro sagte eisig: »Das ist nicht im Geringsten komisch, Gnädigste. Wir haben es hier mit einem Irren zu tun, der offenbar wahllos Frauen abschlachtet, und es ist meine Aufgabe, die nationale Sicherheit zu bewahren. Ich weiß nicht, wie es dort ist, wo Sie herkommen, aber von mir erwartet man, dass ich diese Aufgabe ernst nehme. Und genau das werde ich tun. Ich werde jeder Spur in diesem Fall nachgehen, und sei sie noch so abwegig oder absurd.«

»Bin ich denn eine Spur?«, fragte Bast kühl.

Monro blieb vollkommen unbeeindruckt. »Das weiß ich nicht«, antwortete er. »Ganz offensichtlich haben Sie zumindest für die ersten Morde ein Alibi. Aber irgendetwas sagt mir, dass Sie etwas mit dieser Geschichte zu tun haben, und sei es nur, dass Sie mir etwas verschweigen. Und solange ich dieses Gefühl habe, werde ich Sie im Auge behalten. Ich kann nur hoffen, dass Sie Verständnis dafür haben.«

Das hatte Bast sogar. So sehr sie seine überhebliche Art auch ärgerte, spürte sie zugleich auch die Entschlossenheit dahinter: Er wollte diesen Fall zu einem Abschluss bringen, und er war nicht zu unterschätzen. Ein Mann mit einem klaren Ziel vor Augen, der notfalls über Leichen ging.

»Sicher«, sagte sie. »Bitte verzeihen Sie, wenn ich mich im Ton vergriffen hatte. Sollte ich irgendetwas herausfinden oder mir noch etwas einfallen, gebe ich Inspektor Abberline Bescheid.« Sie stand auf. »War das dann alles?«

»Für den Moment, ja.« Monro machte sich auch jetzt nicht die Mühe, sich zu erheben oder auch nur ein freundliches Gesicht aufzusetzen, sondern griff - Bast war sicher, vollkommen wahllos - nach einer Akte und begann darin zu lesen. Bast ließ noch eine Sekunde verstreichen, aber dann wandte sie sich mit einem Ruck um und ging nach draußen.

Der Beamte, der sie hergeführt hatte, wartete noch immer auf sie, trollte sich aber gehorsam, als Maistowe und Abberline ihr folgten und Letzterer ihn mit einer unwilligen Geste davonscheuchte. Deutlich langsamer als er machten sie sich ebenfalls auf den Rückweg, aber Abberline wartete, bis der Mann auch sicher außer Hörweite war, dann sagte er mit besorgtem Gesicht und in noch weit besorgterem Ton:

»Sie sollten Mr Monro nicht so reizen, Miss Bast. Wenn Sie mir die Bemerkung gestatten: Das war nicht sehr klug.«

»Er war auch nicht gerade höflich«, sagte Maistowe, bevor Bast antworten konnte. »Hätten Sie mich nicht vorher gebeten, mich zurückzuhalten, hätte ich diesen Burschen in seine Schranken verwiesen! So spricht man nicht mit einer Lady! Großer Gott, und so etwas ist Mitglied des Badeordens.«

»Des was?«, fragte Bast entgeistert.

»Des Höchst Ehrenvollen Ordens vom Bade. Das ist der viertwichtigste Orden der britischen Krone.«

»Ihr Engländer seid schon ein merkwürdiges Volk«, meinte Bast. »Ich wusste gar nicht, dass englische Männer überhaupt baden, aber auch noch einen Orden dafür zu verleihen ...«

»Ich kann mich für Mr Monros Verhalten nur entschuldigen«, ging Abberline über das Geplänkel hinweg. »Ich kenne ihn als einen recht kompetenten Mann. Erst im letzten Jahr hat er beim goldenen Thronjubiläum ein Attentat der irischen Nationalisten vereitelt. Er steht unter einem enormen Erfolgsdruck, müssen Sie wissen!«

»Trotzdem kein Grund, seine guten Manieren zu vergessen!«, knurrte Maistowe. »Schon gar nicht einer Lady gegenüber!«

»Bitte!«, mischte sich Bast ein. »Niemandem ist gedient, wenn Sie sich jetzt auch noch streiten, meine Herren. Ich kann Monro ja sogar verstehen.« Vor allem, wo er gar nicht einmal so weit von der Wahrheit entfernt ist. »Ich an seiner Stelle hätte vielleicht ganz ähnlich reagiert.«

»Ich auch«, räumte Maistowe ein. »Aber ich hätte es anders ausgedrückt.«

Abberline lächelte, aber er gab sich nicht einmal die Mühe, den Ausdruck tiefer Sorge zu verhehlen, die sich hinter diesem Lächeln verbarg.

Wortlos legten sie den restlichen Weg nach unten zurück. Obwohl sie diesmal in Begleitung eines Kriminalinspektors war, musste Abberline sie penibel aus demselben Buch austragen lassen, in das der Konstabler sie bei ihrem Kommen eingetragen hatte, bevor sie das Gebäude endgültig verlassen durfte. Maistowe runzelte missbilligend die Stirn, hielt sich aber zu Basts Erleichterung mit jeglichem Kommentar zurück, und schließlich waren sie wieder im Freien.

»Soll Ihnen der Konstabler einen Wagen holen?«, fragte Abberline.

»Das ist nicht nötig«, antwortete Bast. »Arthur hat mich hergefahren. Er wartet mit dem Wagen unten beim Obelisken auf mich.«

»Victoria Embankment.« Abberline nickte. »Das ist nicht besonders weit. Trotzdem sollten Sie nicht allein gehen. Nicht bei Dunkelheit. Ich würde Sie gern begleiten, aber leider habe ich noch zu tun. Einer der Konstabler kann Sie ...«

Maistowe räusperte sich übertrieben, und Abberline sah ihn eine Sekunde lang verwirrt an. »Also gut«, sagte er. »Dann verlasse ich mich darauf, dass Sie Miss Bast sicher zurück in die Pension bringen.«

»Ich werde mich bemühen«, sagte Maistowe beleidigt.

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