DRITTES Kapitel

Sie träumte von der Jagd. In diesem Traum war sie eine Wildkatze, die lautlos und tödlich durch die Savannen und Wälder ihrer Heimat strich, kaum mehr als ein Schatten in der hereinbrechenden Dämmerung, und doch die unumstrittene Herrscherin dieses Landes, so weit das Auge reichte. Es war Nacht. Sie jagte nur nachts, denn sie war weder auf Augen noch Ohren angewiesen, um ihre Beute zu finden, sondern verfügte über viel feinere, untrüglichere Sinne. Ihre Beute war irgendwo vor ihr, vielleicht noch ein Dutzend kraftvoller Sprünge entfernt, erfüllt von einer scheinbar grundlosen Unruhe, die sie mehr verwirrte als wirklich erschreckte, aber nicht besonders aufmerksam, fühlte sie sich doch sicher und beschützt von der Dunkelheit einer sternenklaren, aber vollkommen mondlosen Nacht. Sie hätte sie mit wenigen beherzten Sprüngen erreichen können, aber sie bewegte sich dennoch unendlich behutsam weiter, um sich erst im allerletzten Moment zu zeigen. Zeigen würde sie sich ihr auf jeden Fall. Es wäre ihr ebenso gut möglich gewesen, sich nahe genug an ihr Opfer anzuschleichen, um es mit einer einzigen, blitzartigen Bewegung zu töten, noch bevor es überhaupt begriff, was geschah, doch damit hätte sie sich selbst um den Lohn der Jagd betrogen. Nahezu ebenso wichtig wie das Blut und das Leben, das sie trinken würde, waren die allerletzten Sekunden im Leben ihres Opfers, das finale Begreifen vor seinem unwiderruflich allerletzten Atemzug, wenn ihm klar wurde, dass es vorbei war und ihm keine Flucht und kein noch so verzweifeltes Wehren mehr helfen würden. Es war dieser Moment, der Anblick der reinen Angst in den Augen ihrer Beute, der Geschmack ihres Schmerzes, der aus der reinen Notwendigkeit der Nahrungsaufnahme einen Rausch machte, eine Explosion der Sinne, die diesen Moment zu etwas Unbeschreiblichem werden ließ.

Sie wusste, dass sie träumte.

Anders als die meisten Menschen - zu denen sie ohnehin nicht gehörte - träumte sie längst nicht in jeder Nacht und - ebenfalls anders als die meisten - erinnerte sie sich nicht nur an nahezu jeden Traum, sondern war sich auch stets des Umstandes bewusst, zu träumen.

Das machte die Jagd nicht weniger aufregend.

Unendlich vorsichtig schlich sie weiter und näherte sich ihrem Opfer in weitem Bogen und von der windabgewandten Seite. Nicht vollkommen. Sie bewegte sich ganz bewusst so, dass ihre Beute einen schwachen Hauch ihrer Witterung wahrnahm; nicht genug, um aus ihrer vagen Beunruhigung echte Furcht zu machen oder gar einen Fluchtreflex auszulösen, sondern gerade genug, um sie zu verunsichern, ihre Furcht auf einer tieferen Ebene zu schüren, die längst nicht ausreichte, bis in ihr bewusstes Denken vorzudringen, aber genug, um die Illusion von Sicherheit zu erschüttern, in der sie sich bisher gewogen hatte. Nur ein zarter Vorgeschmack, kaum mehr als ein Hauch dessen, was folgen würde Etwas ... war nicht richtig. Etwas geschah.

Nicht einmal ihre überscharfen Sinne vermochten im ersten Moment zu erkennen, was es war ... vielleicht ein Schatten, der über den Himmel glitt, ohne dass es ihn wirklich gab, ein eisiger Hauch, der viel mehr ihre Seele als ihren Körper streifte ...

Sie hielt inne. Ihre scharfen Katzenaugen suchten den Himmel ab, und ihr unvorstellbar scharfes Gehör lauschte auf Töne, die schwächer waren als das Atmen einer Grille, und langsamer als die Gespräche der Berge, die seit Anbeginn der Zeit miteinander flüsterten.

Nichts. Sie war so allein wie seit Millennien - und dennoch: Etwas war da. Sie spürte es, mit Sinnen, die nicht einmal sie verstand, vielleicht weil sie älter waren, als selbst ihre Erinnerungen zurückreichten.

Bast war verärgert. Dies war ein Traum, der keinerlei Einfluss auf sie oder ihr wirkliches Leben hatte, aber etwas störte die Erregung der Jagd, dieses unglaubliche Prickeln, das sie so sehr brauchte und im wirklichen Leben so selten bekam.

Sie schüttelte den Gedanken ab und konzentrierte sich wieder auf ihr Opfer. Der kurze Moment der Verwirrung hatte sie nicht daran gehindert, ihren Weg fortzusetzen und sich ihm weiter zu nähern; weit genug, um ihm auch die allerletzte Chance auf eine Flucht zu nehmen, selbst wenn es in diesem Moment und ganz genau gewusst hätte, was auf es zukam. Sie war nach wie vor verärgert, auch wenn sie nicht einmal selbst genau sagen konnte, warum. Etwas stimmte nicht; und was immer dieses Etwas war, es verdarb ihr den Spaß an der Jagd, wie ein sachter, aber bitterer Beigeschmack, der es ihr unmöglich machte, die bevorstehende Mahlzeit in vollen Zügen zu genießen.

Sie schüttelte auch diesen Gedanken ab und schlich weiter an ihre Beute heran. Sie spürte, wie deren Unruhe wuchs und ihr zum ersten Mal der Gedanke an Flucht kam, aber nun war es endgültig zu spät. Sie konnte sie jetzt sehen, ein schlanker, angstvoll in der Dunkelheit zusammengekauerter Schatten mit aufmerksamen Augen, die so voller Angst waren, dass ein fühlbarer Schauer der Erregung ihren kraftvollen Körper durchrieselte. Nur noch ein winziges Stück. Sie spannte sich zum Sprung.

Ein Schatten glitt über den Himmel, und sie hörte den Laut schlagender Flügel, die die Nacht teilten, mit einem Geräusch wie eine Klinge, die durch nasses Fleisch glitt.

Ihre Beute hob mit einem Ruck den Kopf, und auch sie sah auf und erblickte einen riesigen, pfeilflügeligen Schatten, der den Sternenhimmel verdunkelte. Ein schriller, pfeifender Schrei erscholl, und plötzlich wurde es kalt.

Die Antilope sprang auf und verschwand mit gewaltigen Sprüngen in der Dunkelheit. Sie hätte ihr folgen und sie mühelos mit ein paar kraftvollen Sprüngen einholen können, aber sie blieb geduckt und reglos hocken und starrte in den Himmel hinauf. Wut und Enttäuschung ließen ein zischendes Fauchen über ihre Lippen kommen, und ihre Krallen gruben sich in hilfloser Frustration in den Boden, während der Blick ihrer zu schmalen Schlitzen verengten Pupillen dem Schatten am Himmel folgte. Etwas Dunkles, unvorstellbar Drohendes ging von der fliegenden Chimäre aus, und ein Schwall körperloser, grausamer Kälte, der selbst ihren schlafenden Körper in der Wirklichkeit zum Erschauern brachte.

Der Falke antwortete mit einem neuerlichen, krächzenden Schrei auf ihr Fauchen und nahm die Herausforderung an, indem er plötzlich die Flügel anlegte und in einem rasenden Sturzflug auf sie herabstieß.

Bast empfing ihn mit blitzenden Klauen und gebleckten Fängen. Federn und Fell flogen, Blut und Erdreich explodierten in einem Geysir reiner Gewalt und rasender Bewegung, und ein greller Schmerz raste durch ihren Körper, als sich die Fänge des gewaltigen Raubvogels in ihr Fleisch gruben.

Das Schlimmste war die Kälte.

Es war wie Eis, das ihre Seele einhüllte, ein grausam kaltes Feuer, das sie innerlich verbrannte und ihre Menschlichkeit zu verzehren begann.

Trotzdem wehrte sie sich mit verzweifelter Kraft. Auch ihre Krallen und Zähne fanden ihr Ziel. Sie schmeckte Blut und Fleisch, und aus ihrem Hunger wurde pure Raserei, und dann ...

... kippte der Traum, und sie fand sich urplötzlich in nahezu vollkommener Dunkelheit wieder. Die Schreie waren verstummt. Sie war wach, nicht aus dem Traum erwacht, sondern in die Wirklichkeit zurückgefallen, und es war eine Wirklichkeit, die auf ihre Weise kaum minder schlimm war als der Traum.

Sie war wieder in ihrem Zimmer in Mrs Walshs Pension, aber sie konnte sich weder erinnern, wie sie hierhergekommen war, noch wieso es so dunkel und kalt war.

Außerdem war der Falke noch immer da. Er saß auf dem kleinen Schränkchen neben ihrem Bett und starrte aus gelb glühenden Augen auf sie herab.

Bast blinzelte und fand nicht nur endgültig in die Wirklichkeit zurück, der Falke verwandelte sich auch in den schwarzen Schattenriss einer Katze, und die Dunkelheit war plötzlich nicht mehr ganz so undurchdringlich wie bisher. Die Kälte - wenn auch nicht mehr ganz so grausam wie zuvor - blieb.

»Du bist mir vielleicht ein schöner Wächter«, sagte sie, während sie die Hand ausstreckte und die schwarze Katze flüchtig zwischen den Ohren kraulte. »Ich dachte, du wolltest auf meine Träume aufpassen, hm?«

Cleopatra antwortete mit einem dunklen Schnurren und stupste sie mit der Nase an, als sie die Hand zurückziehen wollte, und sie fuhr fort, sie zu kraulen. Bast wusste, dass sie ihr unrecht tat. Wahrscheinlich war es die Katze gewesen, die sie aus diesem verstörenden Traum befreit hatte. Aber sie war verwirrt. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals so desorientiert und hilflos aufgewacht zu sein. Sie wusste noch immer nicht, wie sie zurück in dieses Zimmer gekommen war.

Und sie war sich auch nicht im Mindesten der Tatsache bewusst, dass Cleopatra und sie keineswegs allein im Zimmer waren, bis sie ein klapperndes Geräusch auf der anderen Seite des Bettes hörte und eine Stimme in einem Tonfall irgendwo zwischen Amüsiertheit und sanftem Tadel sagte: »Nun geben Sie nicht der armen Katze die Schuld, mein Kind. Sie hat die ganze Zeit über auf Sie aufgepasst. Ich wollte sie wegjagen, aber sie ließ sich nicht verscheuchen. Ich glaube, sie wäre jedem an die Kehle gegangen, der Ihnen auch nur nahe gekommen wäre.«

Bast starrte sie an. Mrs Walsh stand vor dem Fenster - das Klappern war das Geräusch gewesen, mit dem sie es geschlossen hatte - und kramte mit einer Hand in ihrer Schürze herum, während sie mit der anderen den Glaskolben von einer Petroleumlampe hob, die neben ihr auf der Kommode stand. »Also geben Sie dem armen Tier bitte nicht die Schuld, wenn Sie schlechte Träume haben.«

Bast starrte sie nur weiter wortlos an. Sie hatte Mühe, dem zu folgen, was Mrs Walsh sagte, und sie hatte noch mehr Mühe, zu begreifen, wo sie überhaupt herkam. Wieso hatte sie ihre Anwesenheit nicht sofort gespürt, gleich nachdem sie aufgewacht war?

Mrs Walsh hatte endlich gefunden, wonach sie gesucht hatte, und zog ein Päckchen Streichhölzer aus der Kitteltasche. Rasch entzündete sie die Lampe, setzte das Glas wieder ein und wandte sich mit einem gleichermaßen besorgten wie mütterlichen Tonfall wieder an sie. »Wie geht es Ihnen, mein Kind?«

Irgendwann, dachte sie, würde sie Mrs Walsh vielleicht sagen, wie lächerlich es war, ständig von ihr mein Kind genannt zu werden. Aber nicht heute. Sie war immer noch vollkommen verwirrt. Und sie spürte eine sonderbar gestaltlose Furcht, die ganz allmählich in ihr heranwuchs. Sie wusste nicht, wovor ... aber vielleicht wollte sie es auch einfach nur nicht wissen.

»Gut«, sagte sie.

Mrs Walsh hob zweifelnd eine Augenbraue, was Bast eine Menge über die Glaubwürdigkeit dieser Antwort verriet. Sie widerstand der Versuchung, in den Spiegel zu sehen, und ein zweiter Blick in Mrs Walshs Gesicht machte das auch überflüssig. Wenn sie so aussah, wie sie sich fühlte, dann war ein Blick in den Spiegel wahrscheinlich auch keine besonders gute Idee.

Abgesehen von allem anderen fror sie immer noch, was zum einen sicher daran lag, dass es im Zimmer empfindlich kalt war, zum anderen aber auch daran, dass sie unter der dünnen Häkeldecke nackt war. Ein wenig erschrocken hob sie die Decke an und warf einen Blick an sich hinab. Sie konnte sich auch nicht erinnern, sich ausgezogen zu haben. Aber eigentlich konnte sie sich an gar nichts erinnern, seit sie das Museum verlassen hatten ...

»Keine Sorge«, sagte Mrs Walsh. »Es ist alles noch dran und vollkommen unversehrt.« Die letzten beiden Worte, fand Bast, sprach sie auf eine sehr sonderbare Weise aus.

»Haben Sie ...?«, begann sie.

»... Sie ausgezogen?« Mrs Walsh nickte. »Und jetzt sparen Sie sich alles Weitere! Ich könnte Ihre Mutter sein, mein liebes Kind, und stellen Sie sich vor, ich habe tatsächlich schon einmal ein nacktes Hinterteil gesehen.« Sie legte den Kopf auf die Seite, und ihr Blick wurde taxierend. »Sie müssen hungrig sein. Wenn Sie sich ankleiden und ein wenig frisch machen, dann warten Jacob und ich mit einem kleinen Abendessen unten auf Sie.«

»Ich bin eigentlich nicht ...«, begann Rast, nur um sofort und in jeden Widerspruch im Keim erstickenden Ton von Mrs Walsh unterbrochen zu werden:

»Unsinn. Sie haben gestern Abend kaum etwas gegessen, und heute den ganzen Tag über auch nicht. Sie müssen halb verhungert sein. Und erzählen Sie mir nicht, Sie müssten auf Ihre Figur achten! Das weiß ich besser!«

Bast resignierte, schon weil sie diesen Tonfall zu gut kannte, um nicht zu wissen, wie vollkommen sinnlos jeder weitere Widerspruch sein musste. Und so ganz nebenbei: Sie war hungrig; wenn auch auf eine vollkommen andere Art.

Sonderbarerweise - und auch das fiel ihr auch jetzt erst auf - nicht annähernd so sehr, wie sie es erwartet hätte. Sie spürte die Gier der Bestie noch immer tief in sich, ein beständiges Wühlen und Verlangen, das niemals ganz aufgehört hatte und niemals ganz aufhören würde. Aber es war nicht mehr so unerträglich wie bisher. Das war seltsam und auch ein wenig beunruhigend.

Aber vielleicht hatte das Ungeheuer seine Kraft während ihres Kampfes mit Horus und dem Drachen verbraucht und schlief.

Wenn auch sicher nicht für lange.

»Also gut«, seufzte sie. »Ich komme.«

»Eine andere Antwort hätte ich auch nicht akzeptiert«, sagte Mrs Walsh. »Ich gehe dann und koche uns frischen Tee.« Sie bewegte sich zur Tür, blieb aber auf halbem Wege noch einmal stehen und sagte: »Und lassen Sie das Fenster zu. Frische Luft ist ja etwas Wunderbares, aber es ist bitterkalt. Sie holen sich den Tod.«

Kaum, dachte Bast amüsiert, schwieg aber, und das ohnehin nur angedeutete Lächeln verschwand augenblicklich von ihren Lippen, kaum dass Mrs Walsh das Zimmer verlassen und die Tür hinter sich geschlossen hatte. Mit einem Ruck schlug sie die Decke zur Seite und stand auf. Sie erschauerte, als die eisige Luft ihre nackte Haut wie eine unsichtbare prickelnde Hand berührte. Es war wirklich bitterkalt hier drinnen.

Nackt ging sie zum Spiegel, drehte ihn ein wenig, um das Licht der Petroleumlampe aufzufangen, und betrachtete sich kritisch im Spiegel. Auf den ersten Blick wirkte sie makellos, schlank und auf eine zeitlose Art schön, wie sie es seit Ewigkeiten gewohnt war, aber sie sah auch sofort, was Mrs Walsh so offensichtlich irritiert hatte: Sie mochte äußerlich dieselbe sein, aber sie hatte sich verändert; auf eine unsichtbare und dennoch unübersehbare Art. Es war, als wäre ... etwas nicht mehr da.

Sie schüttelte den Gedanken ab und konzentrierte sich ganz auf das, was sie sah: eine Frau in jenem schwer zu definierenden Alter zwischen dreißig und fünfzig, die trotzdem etwas ungemein Jugendliches ausstrahlte; nicht jene Art oberflächlicher Jugendlichkeit, wie sie die Männer in jenem Viertel suchten, in dem sie gestern Nacht gewesen war und hinter dem sich nur zu oft eine vorzeitig gealterte Seele und ein gebrochener Geist verbargen, sondern etwas wortwörtlich Zeitloses, die Aura eines Menschen, dem der ewige Wechsel der Jahreszeiten und Äonen nichts anzuhaben vermochte ... auch wenn dieses Bild nicht ganz den Tatsachen entsprach. Sie war nicht unsterblich. Gewalt - wenn auch nur extreme Gewalt - vermochte sie zu töten, und sie alterte, doch auch das nur sehr, sehr langsam. Weder sie noch einer der anderen wusste, wie alt sie wirklich werden konnten. Sie waren jünger gewesen, als sie sich das erste Mal zusammengefunden hatten, halbe Kinder noch. Heute waren sie erwachsen, und die Zeit hatte Spuren in ihrer aller Gesichter hinterlassen. Doch seitdem waren Jahrtausende vergangen. Sie hatte Kulturen entstehen und wieder verschwinden sehen, hatte den Aufstieg und den Fall von Imperien miterlebt - und nur zu oft selbst herbeigeführt - und das feurige Sterben eines Kontinents. Und sie würde weitere Kulturen erwachen und wieder verschwinden sehen, manche still und in Würde entschlummernd, manche mit einem Schrei und mit Feuer und Tod; weitere Weltreiche würden aufstehen und wieder fallen, und vor ihr lagen noch weitere, viele Jahrtausende, bevor sie wirklich alt wurde und irgendwann starb.

Bast bezweifelt, dass sie diesen Tag erleben würde. Längst nicht alle von denen, die damals zusammengekommen waren, um eine Welt zu erschaffen, waren heute noch am Leben. Es gab ... Unfälle. Manche waren ermordet, einige beinahe aus Versehen getötet worden, und manche einfach verschwunden. Es war nicht leicht, ein Gott zu sein, und ihre Gemeinschaft hatte einen grausamen Preis für diese simple Erkenntnis bezahlt.

Irgendwann würde es auch ihr so ergehen, das wusste sie. Wahrscheinlich würde keiner von ihnen eines natürlichen Todes sterben. Wesen wie sie waren nicht dazu erschaffen, an Altersschwäche einzugehen.

Das intensive Gefühl, beobachtet zu werden, riss sie auf unangenehme Weise in die Wirklichkeit zurück. Alarmiert sah sie auf, konnte im ersten Moment nichts entdecken und begegnete dann dem Blicke zweier gelb leuchtender Katzenaugen, die sie durch den Spiegel anstarrten. Bildete sie es sich nur ein, oder funkelten sie in unverhohlenem Spott?

»Du hast ja recht«, seufzte Bast. »Ich bin eine eitle Ziege. Aber wenn du erst einmal die ersten paar tausend Jahre hinter dir hast, dann fängst du auch an, aufmerksamer nach Falten zu suchen, wenn du vor einem Spiegel stehst. Wirst schon sehen.«

Cleopatra maß sie mit einem weiteren, noch spöttischeren Blick und begann sich dann lautstark schnurrend zu putzen. Bast setzte ihre Inspektion gewissenhaft fort, verbot ihren Gedanken aber dieses Mal abzuschweifen, sondern inspizierte ihr Spiegelbild mit akribischer Gründlichkeit. Ohne einen Vergleichsmaßstab fiel ihre enorme Größe nicht auf, denn ihr Körper war so perfekt proportioniert wie ein Kunstwerk, nicht wie ein lebendes Wesen, ein Anblick, den keiner rasch vergaß. Allein die Kombination ihrer pechschwarzen Haut mit den fast aristokratisch anmutenden, kaukasischen Zügen war ungewöhnlich genug, und hätte sie ihr Haar wie üblich rückenlang und offen in seiner feuerroten Farbe getragen, wäre sie noch auffälliger gewesen.

Nichts davon interessierte sie im Augenblick. Sie musterte ihr Spiegelbild kritisch und Zentimeter für Zentimeter, und nach einigen Augenblicken wurde sie fündig: Unter ihren Fingernägeln klebte Blut; vermutlich ihr eigenes. Es war nicht leicht zu entdecken, denn auch ihre Fingernägel waren schwarz, doch Mrs Walsh hatte scharfe Augen, und einen weiteren Lapsus wie den von heute Morgen sollte sie sich besser nicht leisten. Mrs Walsh - und auch Maistowe - hatte ohnehin schon zu viel gesehen. Sie würde etwas unternehmen müssen, dachte sie betrübt, während sie zur Waschschüssel ging und sich die Fingernägel so lange schrubbte, dass sie beinahe schon wieder zu bluten begonnen hätten. Bald. Am besten noch heute.

Aber ganz gleich, was sie ihr und Maistowe auch antun musste, es würde nicht annähernd so schlimm sein wie das, was Horus und Sobek mit ihnen machen würden.

Auch das war etwas, was sie sehr bitter hatte lernen müssen: Menschen wie sie waren nicht nur für die Ewigkeit geschaffen, sondern auch für die Einsamkeit. Einen Sterblichen zu lieben hatte sie sich schon vor Jahrtausenden verboten, und selbst ihre Freundschaft brachte nur zu oft den Tod.

Sie beendete ihre Maniküre, indem sie Mrs Walshs Rasiermesser benutzte, um ihren Schädel von dem bereits wieder sichtbaren Haarflaum zu befreien, nahm ein neues, ebenfalls schwarzes Kleid aus ihrem Koffer und wählte anschließend wieder den roten Turban von gestern; das schwarze Tuch, das sie am Morgen getragen hatte, war ebenso verschwunden wie das dazugehörige Kleid.

Zusammen mit Cleopatra, die ihr auf dem Fuß folgte, verließ sie das Zimmer und blieb am oberen Ende der Treppe stehen, um einen Moment zu lauschen. Mrs Walsh und Kapitän Maistowe unterhielten sich leise unten im Erdgeschoss. Bast machte sich nicht die Mühe, auf die Worte zu achten, denn allein der Tonfall und die gelöste Stimmung, die sie von unten auffing, machten ihr klar, dass sie nur über Belanglosigkeiten redeten. Plötzlich bekam sie ein schlechtes Gewissen, hier oben zu stehen und zu lauschen, und ging mit schon fast hastigen Schritten weiter.

Die beiden saßen auch jetzt wieder am Kamin, in dem ein behagliches Feuer prasselte, aber der kleine Schachtisch war einem größeren Tisch gewichen, der Platz für drei Personen bot. Mrs Walsh hatte bereits für drei gedeckt, und Bast registrierte erst jetzt den verlockenden Bratenduft, der aus der Küche herüberwehte. Sie war nicht auf diese Art hungrig, denn sie benötigte nur sehr wenig körperliche Nahrung. Trotzdem ließ ihr der Geruch das Wasser im Mund zusammenlaufen. Es hätte Mrs Walshs einladenden Nickens nicht einmal mehr bedurft, um sie auf dem einzigen freien Stuhl am Tisch Platz nehmen zu lassen.

»Ah, da sind Sie ja schon, meine Liebe!« Mrs Walsh stand auf. »Dann werde ich jetzt das Essen holen. Ich weiß ja nicht, wie es mit euch ist, aber ich für meinen Teil sterbe vor Hunger.«

Während sie sich herumdrehte und in die Küche enteilte, registrierte Maistowe Basts Eintreten erst jetzt, mit einiger Verspätung, und machte Anstalten, sich höflich zu erheben. Aber Bast winkte hastig ab, und Maistowe war perplex - oder auch müde - genug, um dieses Angebot anzunehmen und sich mitten in der Bewegung wieder zurücksinken zu lassen.

»Ich bin froh, Sie unversehrt wiederzusehen, Bast«, begann er mit einem nervösen Lächeln und einem noch viel nervöseren Blick, mit dem er sie von Kopf bis Fuß musterte. Fast schon ein bisschen ängstlich. Seine Finger spielten nervös mit einem silbernen Zigarettenetui, aber Bast entdeckte weder einen Aschenbecher noch Streichhölzer, und ihr feiner Geruchssinn verriet ihr auch, dass seit dem gestrigen Abend hier drinnen nicht mehr geraucht worden war. Anscheinend war es gestern wirklich die große Ausnahme gewesen, und Bast nahm an, dass Mrs Walsh ihm den Kopf abreißen würde, wenn er versuchte, aus diesem Sonderfall eine Regel zu machen.

»So schlimm war es nun auch wieder nicht«, sagte sie ausweichend. »Mrs Walsh hat vermutlich hoffnungslos übertrieben.«

»Das habe ich gehört, meine Liebe«, hallte Mrs Walshs Stimme aus der Küche herüber. Bast machte ein ertapptes Gesicht, und Cleopatra ließ ein Geräusch hören, das sich fast wie ein spöttisches Lachen anhörte.

Maistowe ging diskret über beides hinweg, nahm einen Zigarillo aus seinem Etui, drehte es ein paar Mal nervös in den Fingern und steckte es dann wieder zurück. Man hätte nicht über ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten verfügen müssen, um zu erkennen, dass ihm etwas auf der Seele brannte. Wahrscheinlich wollte er warten, bis Mrs Walsh zurück war, bevor er begann. Und da war noch etwas: Er sagte nichts mehr, aber sein Blick irrte vier- oder fünfmal zur Tür, und dieselbe Bewegung unterdrückte er mindestens noch einmal doppelt so oft.

»Erwarten Sie jemanden, Kapitän?«, fragte sie schließlich.

»Um ehrlich zu sein, ja«, antwortete er verlegen. »Ich fürchte nur, dass er nicht mehr kommt. Er ist schon mehr als eine Stunde über die Zeit, und normalerweise ist Abberline die Pünktlichkeit in Person.«

»Über eine ...«, begann Bast und brach dann erstaunt mitten im Satz ab, als ihr Blick auf die mannshohe Standuhr fiel.

Es war nach elf. Sie konnte sich nicht nur nicht erinnern, wie sie hierhergekommen war ... sie hatte mehr als zwölf Stunden geschlafen? Aber das war doch unmöglich!

»Ich fürchte, er wird nicht mehr kommen«, seufzte Maistowe. »Das ist wirklich bedauerlich, aber ich bin sicher, er hat einen guten Grund dafür.«

Bast starrte immer noch die Uhr an. Sie fühlte sich wie ins Gesicht geschlagen. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal zwölf Stunden ununterbrochen geschlafen hatte - oder ob überhaupt jemals. Was bei Ra hatten Horus und Sobek mit ihr gemacht?

»Nun ja, er ... ähm ... wird seine guten Gründe haben«, sagte Maistowe noch einmal und räusperte sich unecht. Anscheinend deutete er ihr beharrliches Schweigen vollkommen falsch, aber Bast war nicht in der Stimmung, dieses Missverständnis aufzuklären. Zwölf Stunden? Zwölf Stunden!

»Darf ich Ihnen eine vielleicht etwas persönliche Frage stellen?«, fuhr Maistowe unbehaglich fort.

»Warum nicht?«, erwiderte Bast. »Solange Sie nicht erwarten, dass ich ehrlich antworte.«

Maistowe blieb ernst, aber Bast war auch nicht sicher, dass er ihre Worte überhaupt gehört hatte. »Also, es geht mich nichts an, ich weiß, aber ich frage mich trotzdem seit gestern schon, warum Sie sich Ihr wunderschönes Haar abgeschnitten haben.«

Bast sah ihn einfach nur stirnrunzelnd an, und hinter ihr sagte Mrs Walsh in tadelndem Tonfall: »Sie haben vollkommen recht, Jacob. Es geht Sie nichts an. Man fragt eine Dame nicht, warum sie ihr Aussehen verändert hat. Man sagt allerhöchstens, dass es einem gefällt.«

»Ob es die Wahrheit ist oder nicht«, pflichtete ihr Bast bei. Sie stand auf, um Mrs Walsh zu helfen, die mit einem hoch beladenen Tablett aus der Küche kam, aber genau wie gestern schüttelte Mrs Walsh nur den Kopf und scheuchte sie mit einem entsprechenden Blick aus dem Weg, um das Tablett ebenso schnell wie geschickt selbst abzuräumen. Der Duft, der aus den Terrinen und Schüsseln aufstieg, ließ ihr abermals das Wasser im Mund zusammenlaufen, und dann - es war ihr ein wenig peinlich - hörte sie, wie ihr Magen knurrte.

»Verzeihen Sie«, sagte sie rasch.

Maistowe tat so, als hätte er nichts gehört, aber Mrs Walsh lächelte nur flüchtig. »Es ist doch keine Schande, hungrig zu sein«, sagte sie. »Vor allem nicht nach einem Tag wie diesem.« Sie wedelte mit der Hand. »Nun setzen Sie sich schon und greifen Sie zu.«

Bast gehorchte, zumindest was das Setzen anging, rührte ihr Besteck aber nicht an. »Wegen heute Morgen ...«, begann sie.

»... habe ich tatsächlich die eine oder andere Frage an Sie«, fiel ihr Mrs Walsh ins Wort, »das ist wahr. Aber nichts kann so wichtig sein, dass es nicht Zeit bis nach dem Essen hätte. Ich bin jedenfalls sehr hungrig, und Sie wissen ja, was man sagt: Ein leerer Bauch studiert nicht gern.«

»Ich dachte immer, es hieße genau andersherum«, schmunzelte Bast.

»Das ist eine Lüge, die die Studenten in die Welt gesetzt haben, um sich selbst etwas vorzumachen«, behauptete Mrs Walsh, während sie zuerst Maistowe und dann ihr eine gewaltige Portion Stew auftat.

Bast musste sich beherrschen, mit der angemessenen Ruhe nach ihrem Besteck zu greifen und nicht zu schlingen. Mit einem leisen Gefühl von Erstaunen registrierte sie, dass sie tatsächlich hungrig war - rein körperlich hungrig -, und das war wirklich ungewöhnlich. Vielleicht versuchte irgendetwas in ihr, auf diese Weise einen anderen, viel dunkleren Hunger zu kompensieren, den sie im Moment nicht stillen konnte.

Genau wie am vergangenen Abend aßen sie schweigend, und genau wie am vergangenen Abend lehnte sich Maistowe anschließend mit einem durch und durch zufriedenen Seufzen zurück und zog sein Zigarettenetui hervor, ließ es aber fast hastig wieder verschwinden, als Mrs Walsh ihm einen Blick zuwarf, der vermutlich selbst Horus und Sobek mitsamt ihrem Drachen in die Flucht geschlagen hätte. Aus der gleichen Bewegung heraus sah er wieder auf das Ziffernblatt der Standuhr, und Bast tat dasselbe. Es ging auf halb zwölf zu.

»Anscheinend kommt Ihr Bekannter nicht mehr«, sagte sie.

»Ja, so sieht es aus«, antwortete Mrs Walsh an seiner Stelle.

»Das ist bedauerlich, zumal Inspektor Abberline im Grunde nur Ihretwegen herkommen wollte.«

Es dauerte fast eine Sekunde, aber dann machte es tatsächlich und hörbar Klick hinter Basts Stirn. »Inspektor Abberline?«, fragte sie alarmiert.

Mrs Walsh hob besänftigend die Hand. »Keine Sorge, mein Kind«, sagte sie. »Es ist nicht so, wie Sie denken.«

»So?«, fragte Bast. »Was denke ich denn?«

Mrs Walsh überging die Frage. »Ich habe Ihnen doch erzählt, dass Jacob über gute Verbindungen zu den Behörden verfügt«, sagte sie, »und dass wir Ihnen helfen können, Ihre Verwandte zu finden. Inspektor Frederick Abberline ist der für Whitechapel zuständige Kriminalbeamte, und wie es der Zufall will, ist er auch ein guter Freund von Jacob. Wenn es außerhalb von diesen ... Kreisen jemanden gibt, der etwas über Ihre ... Schwester weiß, dann er. Aus diesem Grunde hat Jacob ihn gebeten, hierherzukommen und mit Ihnen zu reden. Ganz inoffiziell«, fügte sie hastig hinzu.

»Warum?«, fragte Bast. »Ich meine: Warum tun Sie das für mich?«

»Sie meinen, weil Sie eine Fremde für uns sind und wir eigentlich keinen Grund haben, uns um Sie zu sorgen, mein Kind?« Mrs Walsh schenkte ihr einen tadelnden Blick. »Gottlob denkt nicht jeder so. Und außerdem«, fügte sie mit einem diesmal eindeutig spöttischen Augenzwinkern hinzu, »bin ich neugierig. Eine durchaus weibliche Eigenschaft, nicht wahr?«

»Aber manchmal auch eine gefährliche«, antwortete Bast ernst.

»Aber ich bitte Sie«, erwiderte Mrs Walsh. »Was sollte mir schon passieren, mit jemandem wie Ihnen an meiner Seite?«

»Ich meine es ernst, Mrs Walsh«, sagte Bast ruhig. Sie warf einen raschen Seitenblick auf Maistowe und erkannte, dass es nicht notwendig war, ihre Worte mit Bedacht zu wählen. Mrs Walsh hatte ihm alles erzählt. Was hatte sie denn erwartet? »Ich bin Ihnen wirklich dankbar, dass Sie mir helfen wollen, aber ...«

»Geholfen haben, meine Liebe«, unterbrach sie Mrs Walsh. »Wahrscheinlich erinnern Sie sich nicht - so wenig wie ich verstehe, wie es uns überhaupt möglich war, das Museum zu verlassen -, aber Sie sind zusammengebrochen, kaum dass wir in der Droschke saßen. Ich hatte meine liebe Mühe, den Kutscher dazu zu überreden, überhaupt loszufahren.«

»Das tut mir leid«, sagte Bast ehrlich. »Ich wollte nicht, dass ...«

»... Sie mir etwas schuldig sind? Also, ich schon.« Mrs Walsh lächelte flüchtig, aber Maistowe wurde immer nervöser und begann unruhig in seinem Sessel hin und her zu rutschen, ohne dass er etwas gegen die Bewegung tun konnte. »Finden Sie nicht, dass Sie uns ein paar Erklärungen schulden?«, fuhr Mrs Walsh fort.

»Zum Beispiel?«

»Zum Beispiel über das, was heute Morgen geschehen ist«, antwortete Mrs Walsh. »Was ich gesehen habe.«

»Was haben Sie denn gesehen, Mrs Walsh?«, fragte Bast. Sie hob die Hand. »Nein, ich meine diese Frage ernst. Was man sieht, muss nicht unbedingt das sein, was wirklich ist.«

»Sie sprechen in Rätseln«, antwortete Mrs Walsh, leicht verstimmt. »Also gut, wenn Sie darauf bestehen, Spielchen zu spielen, dann muss ich mich wohl oder übel ...«

»So ist es nicht, Mrs Walsh«, fiel ihr Bast ins Wort. »Ich kann mir gut vorstellen, wie Sie und Kapitän Maistowe sich fühlen, und ich könnte gut verstehen, wenn Sie jetzt verärgert oder auch zornig auf mich sind, aber ...«

»Das bin ich keineswegs«, fiel ihr nun Mrs Walsh ins Wort. »Ich bin ein wenig enttäuscht.«

»Weil ich Ihnen nicht vertraue«, vermutete Bast.

»Weil Sie mich für dumm zu halten scheinen«, versetzte Mrs Walsh, nun doch hörbar verärgert, »und sich nicht einmal die Mühe machen, es irgendwie zu verhehlen.«

Bast seufzte. »Bitte, Mrs Walsh! Ich kann Ihre Reaktion verstehen, und glauben Sie mir, es tut mir aufrichtig leid, dass es so kommen musste. All das heute Morgen ... Sie hätten nichts davon sehen sollen.«

»Weil es gefährlich für mich sein könnte?«, fragte Mrs Walsh spöttisch.

»Für Sie und den Kapitän, ja«, antwortete sie ernsthaft. Maistowe fuhr bei diesen Worten sichtbar zusammen und sah plötzlich noch nervöser aus, aber Mrs Walsh lachte nur noch einmal, und diesmal klang es beinahe schon verächtlich.

»Wie kommt es nur, dass mich diese Antwort nicht überrascht?«, fragte sie spöttisch. »Vielleicht, weil ich sie erwartet habe?«

»Das mag sein, aber es ändert nichts daran, dass es die Wahrheit ist«, sagte Bast. »Heute Morgen habe ich Ihnen gesagt, dass ich mir eine andere Unterkunft suchen werde, und ich hätte es besser sofort getan, statt mit Ihnen in dieses Museum zu gehen. Dann wäre Ihnen eine Menge erspart geblieben ... und mir auch.«

»Eine ziemlich unangenehme Begegnung zum Beispiel.«

»Und dieses Gespräch, ja«, bestätige Bast ungerührt. So wie ihr und Maistowe die mindestens ebenso unangenehme Erfahrung, für den Rest ihres Lebens mit der Erinnerung an zwei komplette Tage herumzulaufen, an die sie sich eben nicht erinnerten. Bast fragte sich, warum sie es nicht gleich tat; Mrs Walsh und Maistowe zwang, ihr einfach zuzuhören, ihre Erinnerungen auslöschte und ging. Es wäre möglich. Sie hatte so etwas schon oft getan. Sehr oft. Früher war sie den komplizierten, aber auch eleganteren Weg gegangen und hatte die Erinnerungen ihrer Opfer nicht einfach nur ausgelöscht, sondern durch neue und unverfängliche ersetzt; Mrs Walsh und Kapitän Maistowe beispielsweise hätten sich sehr wohl an einen Gast erinnert, allerdings an einen Mann mit vielleicht heller Haut und eher unauffälligem Aussehen, und auch nur insofern, dass an ihm rein gar nichts Außergewöhnliches gewesen war und sie eher froh gewesen waren, als er auszog. Aber irgendwann hatte sie begriffen, wie tückisch ein solches Vorgehen war. Falsche Erinnerungen waren wie vermeintlich harmlose Wege voller heimtückischer Fallgruben, in denen sich der arglose Wanderer hoffnungslos verstricken und manchmal auch verirren konnte. Sie konnte keine Erinnerungen an Dinge fälschen, von denen sie nichts wusste. Menschen wurden von Bekannten und Nachbarn auf Begebenheiten und Gespräche angesprochen, an die sie sich nicht mehr erinnerten, oder bezogen sich auf Vorfälle, die es nie gegeben hatte. Sie hielten Dinge für erledigt, ohne sie getan zu haben, oder taten sie doppelt, und irgendwann begannen sie nervös zu werden und Nachforschungen anzustellen, die niemals zu einem Ergebnis führten. Manche zerbrachen daran. Der menschliche Geist war ungeheuer belastbar und zu geradezu unvorstellbaren Leistungen fähig, aber zugleich auch so zerbrechlich wie feinstes chinesisches Porzellan. Letzten Endes hatte sich die uneleganteste und direkteste Methode als am besten erwiesen: Sie löschte die entsprechenden Erinnerungen aus und hinterließ nichts als Leere, über die sie sich den Kopf zerbrechen konnten, bis sie schwarz waren. Brutal, aber effizient.

Bast setzte dazu an, genau das zu tun, und Mrs Walsh sagte: »Aber wir sind doch bereits in Gefahr, man Kind.«

Die unsichtbare Faust, die bereits zum Hieb ausgeholt hatte, verharrte mitten in der Bewegung. Bast blinzelte. »Wie?«

Mrs Walsh lächelte. »Sie vergessen anscheinend, dass ich dabei war, mein Kind. Sie mögen ja tapfer sein, und außerordentlich stark, und ganz zweifellos verfügen Sie noch über eine Menge anderer Fähigkeiten, von denen ich nichts weiß, aber wenn Sie mir meine Offenheit verzeihen: Sonderlich klug scheinen Sie mir nicht zu sein.«

»Wie meinen Sie das?« Bast spürte selbst, dass ihr Lächeln ziemlich verunglückte.

»Nun, ich weiß nicht, welchen Streit Sie mit Professor Renouf haben, oder ob das überhaupt sein richtiger Name ist, aber er hat mich gesehen. Sie haben ihm meinen Namen genannt. Wenn er tatsächlich so gefährlich ist, wie Sie anzunehmen scheinen, dann wird er meinen Aufenthaltsort rasch herausfinden und hierherkommen.«

»Nein, Mrs Walsh«, sagte Bast beruhigend. »Das wird er nicht. Dafür habe ich gesorgt.«

Aber hatte sie das wirklich? Ganz plötzlich war da ein Gefühl in ihr, das sie nur sehr selten verspürte: Zweifel. Da war etwas, etwas, das sie - beunruhigend genug - vergessen hatte, und das wichtig war. Hing es mit Horus zusammen - oder mit Gloria Walsh?

»Wer sind Sie wirklich?«, fragte Mrs Walsh geradeheraus.

»Das habe ich Ihnen gesagt«, antwortete Bast.

»Ja, das haben Sie«, sagte Mrs Walsh. »Ich beginne mich allerdings zunehmend zu fragen, ob Sie nicht tatsächlich die Wahrheit gesagt haben, Bastet.«

»Ich fürchte, ich ... verstehe nicht ganz, worauf Sie hinauswollen, Mrs Walsh«, sagte Bast steif »Sie sind Bastet, habe ich recht?«, fragte Mrs Walsh.

Bast starrte sie viel zu lange und viel zu erschüttert an, um ihrer Antwort noch irgendeine Glaubwürdigkeit zu verleihen. »Sie wissen selbst, wie sich das anhört, nicht wahr?«

Mrs Walsh schwieg, aber sie hielt ihrem Blick auch so unerschütterlich stand, dass Bast sich ernsthaft zu fragen begann, ob es ihr überhaupt möglich sein würde, ihren Willen zu brechen, und Maistowe sagte: »Ich habe mich gestern Abend nicht geirrt, habe ich recht?«

»Womit?«

»Als Sie dem Kerl das Messer aus der Hand geschlagen haben, da war ich sicher, Sie hätten sich dabei verletzt«, antwortete er. »Später war Ihre Hand unversehrt, aber als ich Sie darauf angesprochen habe, haben Sie behauptet, ich hatte mich wohl getäuscht.«

Bast fragte sich immer mehr, warum sie dieses Gespräch nicht einfach beendete - aber da war auch noch immer das verstörende Gefühl, etwas sehr Wichtiges vergessen zu haben. Sie schwieg beharrlich weiter.

»Und Ihr kleiner Zusammenstoß mit Professor Renouf heute Morgen ist auch nicht ganz folgenlos geblieben, nicht wahr?«, fügte Mrs Walsh hinzu. »Sie wurden verletzt. Vor meinen Augen.«

Daher also ihre so sonderbar betonten Worte vorhin, dachte Bast. Sie gestand sich ein, dass sie nicht nur Maistowe, sondern auch Mrs Walsh unterschätzt hatte. Und sich selbst überschätzt. Sie begann nachlässig zu werden, und sie begann Fehler zu machen; immer mehr und immer schlimmere Fehler.

»Sie haben recht«, sagte sie leise, hob aber auch sofort die Hand und zwang ein knappes Lächeln auf ihre Lippen. »Nicht mit dem, was Sie über meinen Namen gesagt haben. Aber Sie glauben doch wohl nicht im Ernst, dass ich eine Göttin bin. Götter findet man heute nur noch im Museum. Aber ich - ich und die anderen -, wir sind auch keine Menschen wie der Kapitän oder Sie.«

»Oder irgendjemand sonst hier in London«, stellte Mrs Walsh fest. »Und was genau sind Sie?«

Und dann wusste sie es. Horus kannte Mrs Walsh. Er kannte auch Maistowe, und er musste nur wie ein ganz normaler Mensch zwei und zwei zusammenzählen, um dieses Haus und damit auch Mrs Walsh zu finden. Deine grauhaarige Freundin, hatte er unten in der Kanalisation zu ihr gesagt. Wie hatte sie das nur vergessen können?

»Miss Bast?«, fragte Mrs Walsh.

Bast fuhr leicht zusammen, als ihr klar wurde, dass sie sekundenlang einfach dagesessen und ins Leere gestarrt hatte.

»Oh ja, bitte entschuldigen Sie«, sagte sie hastig. »Wie schon gesagt, wir sind keine Menschen wie die meisten anderen. Und wir verfügen über gewisse ... Fähigkeiten.«

»Und welche wären das?«, fragte Mrs Walsh.

Bast sah sie traurig an. Nun blieb ihr wirklich keine Wahl mehr. Sie würde Mrs Walsh und Kapitän Maistowe jede Erinnerung an sie und alles, was mit ihr zusammenhing, nehmen. Aber nicht jetzt. Das würde nichts nutzen. Sie könnte aufstehen und gehen, und alles, woran sie sich erinnern würden, wäre ein Gefühl sonderbarer Leere und verlorener Zeit, aber das würde sie nicht retten, denn Horus würde kommen. Und er würde sie töten, denn er war nie der sanftmütige und verzeihende Gott gewesen, als den die Menschen ihn zu kennen glaubten. Sie musste hierbleiben, ob sie wollte oder nicht, und sie musste sie zumindest bis zu einem gewissen Punkt einweihen, wollte sie ihre Leben retten. Plötzlich war alles furchtbar kompliziert geworden.

Statt Mrs Walshs Frage zu beantworten, zeigte sie es ihr.



Sie selbst war in die Küche gegangen, um Tee aufzubrühen, auf die Art ihrer Heimat, süß und stark und so heiß, wie es gerade noch ging, ohne sich ernsthaft zu verbrühen.

Sowohl Mrs Walsh als auch Maistowe hatten ihn getrunken, ohne zu protestieren, und Maistowe hatte sogar nach einer zweiten Tasse verlangt und sie kommentarlos heruntergestürzt. Seine Hände hatten noch immer gezittert, als er die geleerte Tasse auf den Unterteller zurückstellte, und hätte es noch irgendeines Beweises dafür bedurft, wie sehr sie das Gesehene erschreckt hatte, so wäre es wohl die Tatsache gewesen, dass Mrs Walsh keinerlei Einwände erhob, als er sich mit zitternden Fingern einen Zigarillo anzündete.

Und es war auch Mrs Walsh, die als Erste ihre Fassung wiederfand - nach guten fünf Minuten, in denen sich Bast immer wieder vergebens fragte, ob sie nicht gerade einen weiteren und vielleicht sogar den bisher schwersten Fehler gemacht hatte.

»Das war ... wirklich beeindruckend«, sagte sie mit belegter Stimme. »Ich war richtig erschrocken. Dabei sollte ich es nicht sein, nicht wahr?« Sie versuchte zu lächeln, brachte aber nur ein nervöses Verziehen der Lippen zustande. »So haben Sie es also bewerkstelligt, uns aus dem Museum herauszuholen, nicht wahr? Ich habe mich die ganze Zeit über gefragt, wie Sie es geschafft haben. Ich hatte schon fast angefangen, an Zauberei zu glauben.«

Sie lachte nervös, und auch Bast lächelte zurück, zollte Mrs Walsh in Gedanken zugleich aber auch abermals Respekt. Diese grauhaarige Frau war offenbar härter im Nehmen, als es den Anschein hatte. Immerhin hatte sich Bast gerade vor ihren Augen in einen grauhaarigen, missmutig dreinblickenden Mann in der dunkelblauen Uniform eines Museumswächters verwandelt, dieselbe Gestalt, die sie auch angenommen hatte, um unter den Augen ihrer vermeintlichen Kollegen aus dem Museumsgebäude herauszuspazieren. So mancher wäre bei diesem Anblick schreiend zusammengebrochen. Maistowe machte übrigens ganz den Eindruck, als stünde er kurz davor.

»Mit Zauberei hat das rein gar nichts zu tun«, antwortete sie, ebenso sanft wie unrichtig. »Wenn man es genau nimmt, dann ist es nicht viel mehr als ein Taschenspielertrick.«

»Sie nehmen mich auf den Arm«, antwortete Mrs Walsh.

»Vielleicht vereinfache ich es ein wenig«, räumte Bast ein. »Aber eigentlich läuft es genau darauf hinaus: Illusion.«

»Illusion?«, wiederholte Mrs Walsh zweifelnd ... aber vielleicht auch nicht nur zweifelnd. Da war noch etwas. Etwas, das sie immer noch nicht greifen konnte.

»Der Mensch sieht nur das, was er sehen will«, erklärte sie. »Die menschlichen Sinne sind sehr leicht zu täuschen, wenn man weiß, wie es geht. Ich gebe zu, es ist ein bisschen mehr als das, was Sie vielleicht von einem Ihrer Jahrmarktszauberer geboten bekommen.«

»Oder in einem Varieté«, fügte Mrs Walsh hinzu.

»Oder in einem Varieté«, bestätigte Bast, äußerlich ungerührt. »Aber im Prinzip ist es dasselbe. Nur dass wir es ... ein wenig besser können.«

»Wir?«, hakte Mrs Walsh nach.

»Die Männer, die ... meine Freundin und mich verfolgen ...«, begann sie und verfluchte sich selbst für ihr plötzliches Ungeschick, auch nur die simpelsten Worte zu finden. »Die Männer, vor denen ich Sie warnen muss«, fuhr sie unbeholfen fort, »beherrschen diese Kunst leider ebenso gut wie ich. Sehr wenig von dem, was Sie gesehen zu haben glauben, ist wirklich passiert.«

»Sie wollen behaupten, er hätte Sie nicht mit einem Schwert angegriffen?«, fragte Mrs Walsh.

»Nicht so, wie es ausgesehen hat«, behauptete Bast. »Ich weiß, es ist schwer zu glauben, aber gerade das ist es, was sie so gefährlich macht.«

»Sie haben nicht mit ihm gekämpft?«, fragte Mrs Walsh, und sie klang kein bisschen überzeugt.

»Nicht so, wie Sie es vielleicht gesehen haben«, antwortete Bast ausweichend. Sie konnte spüren, wie Maistowe sie anstarrte. Irgendwie konnte sie sein missbilligendes Stirnrunzeln beinahe hören. »Er war nicht einmal der Mann, für den Sie ihn gehalten haben - und ich auch, in diesem Moment. Oh, ich bin sicher, dass der Direktor der ägyptischen Abteilung des Britischen Museums Peter Renouf heißt, und dass er auch ganz genau so aussieht, wie sie ihn gesehen haben, und dasselbe Gehabe hat und die gleichen Worte benutzt ...«

»Aber er war es nicht«, sagte Mrs Walsh. »Wollen Sie das damit sagen?«

Bast nickte. »Ja.«

Mrs Walsh sah sie immer noch unverwandt an. Sie wirkte ... enttäuscht. Nach einer kleinen Ewigkeit sagte sie: »Ich habe mir das also alles nur eingebildet?«

»Sie haben gesehen, was man Sie sehen lassen wollte«, antwortete Bast.

Mrs Walsh sah sie weiter an. Zehn Sekunden, dann zwanzig ... eine Minute. Sie wirkte enttäuscht. Schließlich seufzte sie tief und stemmte sich mit einer sehr mühsam wirkenden Bewegung aus ihrem Sessel hoch.

»Warum lügen Sie, mein Kind?«, fragte sie, ohne dass in ihren Worten auch nur die allermindeste Spur von Vorwurf zu hören war.

»Lügen?« Bast war verwirrt. Und alarmiert. Hier ging etwas vor, das sie nicht verstand, und das ihr beinahe Angst machte.

Mrs Walsh antwortete nicht darauf, sondern stand vollends auf und verschwand in einem der angrenzenden Zimmer, allerdings nur, um einen Augenblick später zurückzukommen, und auch das nicht mit leeren Händen. Etwas wie eine unsichtbare eisige Hand berührte Bast im Nacken, als sie erkannte, was sie über den Armen trug.

»Es war also alles nur Einbildung?«, fragte sie kühl. »Sie meinen damit, dass es nur so etwas wie eine Illusion gewesen ist. Sie haben weder mit diesem vermeintlichen Renouf gekämpft, noch hat er die Lampe nach Ihnen geworfen und Ihre Kleidung damit in Brand gesetzt.« Sie seufzte. Es klang enttäuscht und irgendwie traurig. »Dann nehme ich an, Ihr Kleid ist derselben Illusion erlegen und hat sich nur eingebildet, zu verbrennen?« Bast sagte gar nichts darauf, sondern starrte nur weiter die verkohlten Fetzen des Kleides an, das sie am Morgen getragen hatte. Auf den ersten Blick war kaum zu erkennen, wie sehr die Flammen dem schwarzen Kleidungsstück zugesetzt hatten, aber die zahllosen Schnitte und Risse waren ebenso wenig zu übersehen wie das eingetrocknete Blut.

»Sie sollten uns wirklich nicht anlügen, Bastet«, seufzte Mrs Walsh.

Bast schüttelte nur den Kopf. Mrs Walsh sah sie einen Moment lang an, dann warf sie das Kleid ohne viel Federlesens ins Feuer und nahm wieder Platz. Der Stoff fing mit einem einzigen Schlag Feuer und brannte mit einer so enormen Hitze, dass sie alle drei ein kleines Stück vom Kamin wegrückten.

Für eine ganze Weile waren das Prasseln der Flammen und das leise Zischen, mit dem der schwarze Stoff zu Asche zerfiel, die einzigen Laute, die zu hören waren.

»Ich verstehe«, sagte Mrs Walsh. »Sie wollen meine Frage nicht beantworten.«

»Das kann ich nicht, Mrs Walsh«, antwortete sie ernst. »Bitte glauben Sie mir - Sie wissen schon viel mehr, als Sie wissen dürften. Aber ich verspreche Ihnen, dass weder Kapitän Maistowe noch Ihnen etwas geschehen wird. Ich werde dieses Land verlassen, sobald ich getan habe, weshalb ich hergekommen bin.«

»Ihre Schwester zu finden«, vermutete Mrs Walsh.

»Um sie vor den Männern zu warnen, auf die wir heute Morgen getroffen sind, ja«, sagte Bast. »Sie ist in Gefahr. In noch weitaus größerer Gefahr, als ich bisher angenommen habe, fürchte ich.«

»Die Männer von heute Morgen ...«

»Sie sind viel mehr auf der Suche nach ihr als nach mir, fürchte ich«, sagte Bast. »Ich muss sie finden. Und das möglichst schnell.«

»Dann sollten wir Ihnen umso mehr dabei helfen«, sagte Maistowe. »Wenn es tatsächlich so ist, wie Sie sagen, und wir uns in Gefahr befinden, solange Sie bei uns sind.«

Bast musste gegen ihren Willen lachen. Maistowe war hartnäckig, das musste sie ihm lassen. Dennoch schüttelte sie den Kopf. »Ich weiß Ihr Angebot zu schätzen. Kapitän Maistowe«, sagte sie. »Aber ich fürchte, dass ich es ausschlagen muss.«

»Weil ich Ihnen nur zur Last fallen würde«, vermutete Maistowe säuerlich.

»Ich würde Sie nur in noch größere Gefahr bringen«, sagte Bast sanft, »und das kann ich nicht verantworten.« Maistowe wollte etwas sagen, doch Bast schüttelte rasch den Kopf und fuhr mit leicht erhobener Stimme fort: »Gestern Abend wären Sie fast getötet worden, und auch ich bin keineswegs unbesiegbar. Glauben Sie mir, es ist sicherer, wenn ich mich allein auf die Suche mache.«

»Ich verstehe«, sagte Maistowe. Er begann die Stelle an seinem Hinterkopf zu massieren, wo ihn gestern der Schlag getroffen hatte. »Und Sie müssten nicht nebenbei noch das Kindermädchen für mich spielen.«

»Jetzt stellen Sie sich nicht so mimosenhaft an, Jacob«, sagte Mrs Walsh spöttisch. »Ich nehme doch an, dass Sie nicht zum ersten Mal in Ihrem Leben verprügelt worden sind.«

»Das ist richtig«, seufzte Maistowe. »Aber es war das erste Mal, dass mich eine Frau gerettet hat. Gegen fünf Kerle.«

»Was mich zu der Frage bringt, ob es wirklich klug ist, sich ganz allein mit fünf Whitechapel-Schlägern anzulegen«, versetzte Mrs Walsh spitz. Aber im nächsten Moment wurde sie dafür umso ernster und sah Bast stirnrunzelnd an. »Sie haben vollkommen recht, meine Liebe, und ich hoffe zumindest, dass der gute Jacob aus seinem gestrigen Fehler etwas gelernt hat. Aber Tatsache ist, dass Sie seine Hilfe brauchen werden.«

»Wieso?«

Mrs Walsh tauschte einen raschen Blick mit Maistowe, bevor sie antwortete. »Sie mögen über eine Menge außergewöhnlicher Fähigkeiten verfügen, Bast, aber Sie kennen sich sicher nicht in Whitechapel aus.« Der Gedanke schien sie zu amüsieren.

»Was genau wollen Sie damit sagen?«, fragt Bast.

»Man redet bereits über Sie, mein Kind«, antwortete Mrs Walsh lächelnd. Sie deutete auf Maistowe. »Jacob hat sich ein wenig umgehört. Ich fürchte, bisher hat er noch nichts über Ihre Freundin in Erfahrung bringen können ... aber dafür umso mehr über Sie.«

»Was genau meinen Sie damit?«, fragte Bast. Als ob sie das nicht wüsste.

»Nicht diese fünf Kerle, mit denen Sie zusammengestoßen sind, meine Liebe«, antwortete Mrs Walsh amüsiert, während sie Bast mit einem neuerlichen, noch spöttischeren Blick maß. »Man erzählt sich etwas von einem geheimnisvollen Fremden, der plötzlich aufgetaucht ist und die Kerle in die Flucht geschlagen haben soll. Sie würden niemals zugeben, dass eine Frau sie so zugerichtet hat ...« Sie wurde übergangslos wieder ernst. »Aber man redet auch über Sie, meine Liebe.«

»Und ... was?«, fragte Bast zögernd.

»Sie stellen Fragen, Bast«, antwortete Mrs Walsh. »Die Leute dort mögen es nicht, wenn man Fragen stellt. Und Sie stellen viele Fragen, und Sie stellen sie den falschen Leuten.«

Bast sagte nichts dazu, aber sie gestand sich im Stillen ein, dass Mrs Walsh recht hatte. Sie war nie sonderlich gut in solchen Dingen gewesen, und sie hatte sich auch jetzt nicht gerade geschickt angestellt.

»Sie sollten Jacobs Angebot annehmen«, fuhr Mrs Walsh fort. »Auch wenn er es in meiner Anwesenheit niemals zugeben würde, so kennt er sich in diesem Viertel doch ziemlich gut aus, und er kennt eine Menge Leute.« Sie warf Maistowe einen so zuckersüßen Blick zu, dass dieser hastig an seinem Zigarillo sog und eine dicke Rauchwolke paffte, hinter der sein Gesicht nahezu verschwand. »Er kann Ihnen helfen.«

Das Schlimme war, dachte Bast, dass sie vermutlich recht hatte. So, wie es aussah, würde sie Hilfe brauchen, und vermutlich waren Maistowe und Mrs Walsh sogar genau die Richtigen für diese Rolle. Aber statt ihr Angebot anzunehmen, schüttelte Bast nur abermals den Kopf, und ein Gefühl von Trauer überkam sie. Es wäre ihr Untergang. Nicht weil sie es wollte, oder weil Horus und Sobek außergewöhnlich grausam wären, sondern weil es immer so war. Im Krieg der Götter wurden Menschen zermalmt, selbst wenn es gnädige Götter waren.

»Es tut mir leid«, sagte sie sanft, »aber es geht nicht.«

»Ich glaube nicht, dass ...«, begann Mrs Walsh, und Bast fiel ihr eine Spur schärfer und mit leicht veränderter Betonung ins Wort:

»Ich sagte: Nein. Und bitte verzeihen Sie mir.«

»Was?«, fragte Mrs Walsh.

»Das, was ich jetzt tun muss.« Sie ließ Mrs Walsh nicht einmal die Zeit, über diese Worte nachzudenken, sondern tat endlich das, was sie gleich hätte tun sollen.

Vielleicht für die Dauer eines halben Atemzuges erschien so etwas wie Schrecken in Mrs Walshs Augen, dann wurden sie leer. »Vergessen Sie alles, Gloria«, sagte Bast sanft. »Und Sie ebenfalls, Jacob. Vergessen Sie dieses Gespräch, ebenso wie«, sie deutete auf den Kamin und das schon nahezu vollkommen verbrannte Kleid, »das da. Vergessen Sie alles, was Sie heute Abend gesehen haben. Vergessen Sie, was ich Ihnen über mich und meinesgleichen erzählt habe. Und tun Sie diese Nacht nichts anderes als das, was Sie immer tun - oder immer schon tun wollten. Und jetzt wachen Sie auf!«

Mrs Wash schüttelte irritiert den Kopf und sah sie aus nun wachen, aber verständnislosen Augen an. Sie warf einen Blick auf Maistowe, der in seinem Sessel saß, als wäre er nur kurz eingenickt und hätte Mühe, wieder zu sich zu kommen.

»Ich ... ich glaube, Sie sollten zu Bett gehen, Jacob«, sagte sie, nahm ihm mit einem missbilligenden Stirnrunzeln den Zigarillo aus der Hand und schnippte ihn in die Flammen. »Wir alle sollten zu Bett gehen. Ich räume das hier weg.«

Genau das tat sie, nahm das benutzte Geschirr, stapelte es zusammen und trug es in die Küche.

Bast überlegte einen Augenblick lang, ob sie ihr vielleicht helfen sollte, entschied sich dann aber doch dagegen. Besser, alles so zu lassen, wie es immer war - das Abspülen und Entsorgen der Reste sollte sie doch lieber Mrs Walsh überlassen. Sie gähnte und streckte sich katzenhaft.

»Gute Nacht«, sagte sie zu niemandem Bestimmten, bevor sie sich daranmachte, die Treppe zu ihrem Zimmer hinaufzusteigen.

»Gute Nacht«, hörte sie Maistowe noch sagen. »Schlafen Sie gut.«

Aber an Schlaf war nicht zu denken. Zu viel war heute geschehen, und viel von dem Geschehenen hatte sie noch nicht verarbeitet. Sie legte sich angekleidet auf ihr Bett und starrte gegen die Decke. Irgendwie hatte sie das Gefühl, nach den Ereignissen des heutigen Tages mit mehr Glück als Verstand noch einmal davongekommen zu sein. Sie begann Fehler zu machen, und das störte sie am meisten, Fehler, die ihr früher nicht unterlaufen wären, und sie hatte ihre verbliebenen Kräfte dazu einsetzen müssen, diese Fehler auszubügeln, anstatt dazu, bei dem, weshalb sie überhaupt hierhergekommen war, irgendwelche Fortschritte zu erzielen.

Sie lauschte mit ihren Sinnen in die Stille des Hauses hinein. Mrs Walsh hatte aufgehört, in der Küche zu werkeln, und sie konnte sie überhaupt nicht mehr spüren, als wäre sie gar nicht im Haus. Vielleicht schlief sie wirklich den Schlaf der Gerechten. Maistowe dagegen hörte sie in seinem Zimmer rumoren; er schien einen unregelmäßigen Schlaf zu haben, denn hin und wieder quietschten seine Bettfedern.

Schließlich hielt sie es nicht länger aus. Sie brauchte Antworten, und morgen mochte es bereits zu spät sein. Sie stand auf, nahm ihren Mantel vom Haken, und nur einen Augenblick später öffnete sie das Fenster, schlüpfte hinaus und verschwand so lautlos wie ein Schatten in der Nacht.



Mitternacht war längst vorüber, es musste auf eins zugehen, als sie Whitechapel erreichte. Sie hatte sich nicht sonderlich beeilt und zu allem Überfluss unterwegs auch noch zwei- oder dreimal die falsche Abzweigung genommen - irgendwie sahen die Straßen hier alle gleich aus, und gestern Nacht war sie einfach zu aufgeregt gewesen, um auf den Weg zu achten -, und sie erlebte eine weitere Überraschung, kurz bevor sie die Straße erreichte, in der das Ten Bells lag: In einem Land, in dem die Gasthäuser und Pubs um zehn schlossen, hatte sie erwartet, das Viertel still und schlafend vorzufinden, aber das genaue Gegenteil war der Fall. Schon von Weitem sah sie Licht - den flackernden roten Schein von Fackeln, aber auch das ruhigere gelbe Licht von Petroleumlampen und die unruhig umhersuchenden bleichen Finger der Karbidlaternen, mit denen die Londoner Bobbys ausgerüstet waren - und hörte Stimmen, und noch bevor sie in die Straße einbog, roch sie Blut.

Für einen Moment hielt sie inne, schloss die Augen und ließ all ihre Sinne aufmerksam umhertasten. Da waren Furcht und Erregung, Sensationslust und pure Neugier und Angst und Zorn, alles was sie von der Menschenmenge erwartet hatte, die ganz offensichtlich hinter der nächsten Straßenbiegung zusammengelaufen war, aber auch noch mehr. Der Geruch nach Blut - menschlichem Blut - war stärker geworden, und darunter erspürte sie nun noch etwas, das allen anderen hier verborgen bleiben musste: den Geruch von Gewalt und Angst und Tod - und großer Furcht. Nichts von alledem war den Menschen in diesem Viertel fremd. Gewalt und Angst und auch der Tod gehörten zu ihrem Leben wie die täglichen Mahlzeiten und die allabendlichen Alkoholexzesse und die käufliche Liebe. Aber das hier war ... anders.

Etwas regte sich, tief in ihr. Bast lauschte einen Moment in sich hinein und dachte einen noch kürzeren Moment ganz ernsthaft daran, kehrtzumachen und in die Pension zurückzukehren oder doch zumindest diese Straße und die Menschenansammlung hinter der nächsten Biegung zu meiden. Die Nähe so vieler Menschen mit ihrer Furcht und Gier und vor allem der intensive Blutgeruch begannen das Ungeheuer bereits wieder aus seinem Schlummer zu erwecken. Es regte sich, es begann zu erwachen, und Bast war ganz und gar nicht sicher, dass es ihr noch ein weiteres Mal gelingen würde, es wieder in seinen Käfig zu sperren.

Oder ob sie das überhaupt wollte.

Statt auf ihre innere Stimme zu hören, straffte sie die Schultern, ging weiter und bog mit festen Schritten in die Straße ein, an deren anderen Ende das Ten Bells lag; und ein Stück davor Maudes modernes Sklavenhaus. Sie war ein wenig überrascht - ohne es zu merken, hatte sie offensichtlich einen großen Bogen geschlagen und kam nun aus der entgegengesetzten Richtung, was eine Menge über ihren Orientierungssinn und damit über ihren Allgemeinzustand aussagte, aber der Gedanke entglitt ihr auch fast augenblicklich wieder, als sie die Menschenmenge sah, die nur ein paar Schritte vor ihr auf der rechten Straßenseite zusammengelaufen war. Der größte Teil davon bestand aus demselben Publikum, das sie schon aus der vergangenen Nacht kannte, Männer und Frauen, die hier wohnten oder arbeiteten oder auch anderen, zweifelhaften Beschäftigungen nachgingen, und es schienen auch etliche übrig gebliebene Zecher darunter zu sein, obwohl die Kneipen schon seit Stunden geschlossen hatten, und sicher auch der eine oder andere Neugierige, den der Aufruhr hergetrieben hatte. Mit alledem hatte sie gerechnet - aber sie sah auch eine überraschend große Anzahl uniformierter Polizisten - mindestens ein Dutzend - und gleich vier oder fünf Droschken, von denen zwei quer zur Fahrbahn abgestellt worden waren, dass ein Durchkommen so gut wie unmöglich war; jedenfalls nicht, ohne von einem der Bobbys bemerkt zu werden, die die Straße und jeden, der kam oder ging, im Auge behielten.

Aus ihrem unguten Gefühl wurde Gewissheit. Was immer hier passiert war, schien weit über das normale Maß an Gewalttätigkeiten und Mord hinauszugehen, an das die Menschen hier gewöhnt waren. Sie spürte Neugier und Sensationslust und genau jene erleichterte Schadenfreude, die sie erwartet hatte, aber da waren auch Furcht und ein tief sitzendes, nagendes Erschrecken, das beinahe jedermann hier ergriffen hatte. Nahrung für ihre dunkle Schwester.

Da es zu spät war, um umzukehren, ohne damit noch mehr Aufsehen zu erregen, ignorierte sie den bohrenden Blick des ihr am nächsten stehenden Bobbys und steuerte die schmale Lücke zwischen den beiden quer gestellten Droschken an, während sie zugleich versuchte, einen Blick über die Köpfe der Gaffer hinweg zu erhaschen. Allzu viel konnte sie nicht erkennen; gerade, dass ein ausgestreckter regloser Körper auf dem Boden lag, und dass es offensichtlich eine Frau war. Aber der Blutgeruch wurde für einen Moment so stark, dass sie es kaum noch ertrug. Wenn sie nicht bald Nahrung fand, würde das Ungeheuer schlichtweg seine Ketten zerreißen und sie überwältigen.

»Sir?«

Bast war so in ihre Gedanken versunken gewesen, dass sie fast gegen den Bobby geprallt wäre, der ihr unversehens den Weg vertrat. Erschrocken prallte sie einen halben Schritt zurück, und ihr Gegenüber wirkte für den Moment mindestens ebenso verwirrt wie sie, denn er blinzelte ein paar Mal und schien im allerersten Moment nicht zu wissen, was er sagen sollte.

»Ahm ... Misses?«

»Miss«, verbesserte ihn Bast und fing sich wieder. »Was kann ich für Sie tun, Konstabler?«

»Miss, gut.« Der Mann schien sich endlich daran zu erinnern, was für eine Uniform er trug, und straffte nicht nur die Schultern, sondern bemühte sich auch, einen möglichst offiziellen Ausdruck auf sein Gesicht zu zwingen, wenn auch mit mäßigem Erfolg.

Wahrscheinlich war es nur ihr ungewöhnliches Äußeres, das ihn irritierte, denn Bast spürte auch, dass er im Grunde seines Herzens ein gutmütiger Mensch war und weder hierher noch in diese Uniform gehörte. Aber er nahm seine Pflicht ernst. Ihr Anblick verwirrte ihn nach wie vor, doch er unterdrückte seine Furcht und sagte: »Darf ich Sie nach Ihrem Namen und dem Grund Ihres Hierseins fragen, Ma'am?«

»Warum?«, erkundigte sich Bast.

»Es ist ein Verbrechen geschehen, Ma'am«, antwortete er ruhig, aber auch in sehr entschiedenem Tonfall. »Wir haben Anweisung, die Personalien eines jeden aufzunehmen, der sich im Moment hier aufhält. Es tut mir leid, wenn ich Ihnen damit Umstände bereite, aber Sie tragen damit vielleicht zur Aufklärung eines Verbrechens bei.«

»Was für ein Verbrechen?«, erkundigte sie sich. Sie sah erneut zu der Menge der Gaffer hin, konnte aber auch jetzt kaum etwas erkennen.

»Ein Mord, Ma'am«, antwortete der Konstabler. »Eine Straßendirne wurde ermordet.«

Das Wort war nicht abwertend gemeint gewesen, oder gar überheblich. Es war eine bloße Feststellung.

»Wenn ich Sie also um Ihre Legitimation bitten dürfte? Sie wissen doch hoffentlich, dass Sie als ausländischer Staatsbürger verpflichtet sind, Ihre Papiere ständig bei sich zu tragen?«

Bast hatte das nicht gewusst, aber es überraschte sie auch nicht sonderlich. Das Problem war eher, dass sie keine Papiere hatte, weder bei sich, noch in der Pension. Sie besaß keine.

»Und ... wenn ich sie nun leider Gottes nicht bei mir hätte?«, fragte sie mit dem unschuldigsten Augenaufschlag, den sie zustande brachte.

Und der leider nicht besonders viel nutzte. »In diesem Fall müsste ich Sie bitten, uns zur Wache zu begleiten, um Ihre Identität festzustellen, Ma'am«, antwortete der Polizist. »Natürlich handelt es sich nur um eine Formalität, aber ich habe meine Befehle.« Er klang aufrichtig bedauernd, aber zugleich auch nicht so, als würde er auch nur einen Zoll von seiner Position abweichen. Und damit hatte sie ein Problem. Anders als seinen Kollegen gestern konnte sie ihn nicht einfach zwingen, zu vergessen, dass er sie überhaupt gesehen hatte. Es waren einfach zu viele Zeugen da, die sie unmöglich alle unter ihren Einfluss bringen konnte.

Aber sie konnte etwas anderes tun.

Bast öffnete ihren Beutel und suchte nach irgendetwas, was sie ihm hinhalten und wovon er später Stein und Bein schwören würde, dass es sich um ein in einer ihm vollkommen fremden Sprache abgefasstes Ausweisdokument gehandelt hätte, und hinter ihr sagte eine Stimme: »Gibt es ein Problem, Konstabler?«

Der Bobby legte ärgerlich die Stirn in Falten, und Bast drehte sich mit einem Ruck herum und erstarrte.

»Kapitän Maistowe! Aber ... aber was ... tun Sie denn hier?«

Er konnte gar nicht hier sein! Das war unmöglich!

»Ihnen helfen, meine Liebe«, antwortete Maistowe lächelnd. »Und wie es aussieht, scheint das ja wohl auch vonnöten zu sein.« Sein Lächeln erlosch, als er sich wieder an den Streifenbeamten wandte. »Wo ist das Problem, Konstabler ...«

»Stowe«, antwortete der Bobby. »Und es gibt kein Problem, Sir. Ich tue lediglich meine Pflicht. Wenn Sie sich also einen Moment gedulden würden ... und vielleicht schon einmal Ihre Papiere bereithalten.«

Maistowe sah nicht unbedingt so aus, als wäre es sonderlich gut um seine Geduld bestellt, aber er widersprach nicht, sondern maß den Konstabler nur mit einem ebenso kühlen wie abschätzenden Blick, bevor er sich auf dem Absatz herumdrehte und mit schnellen Schritten auf die Menge der Schaulustigen zuging. Der Streifenbeamte sah ihm mit gerunzelter Stirn nach, während Bast sich immer noch wie vor den Kopf geschlagen fühlte. Wieso war Maistowe hier? Er konnte nicht hier sein! Es war vollkommen unmöglich! Sie hatte ihm befohlen, ins Bett zu gehen und das gesamte Gespräch zu vergessen!

»Ma'am«, sagte der Konstabler. »Haben Sie nun Ihre Papiere oder nicht?«

»Ich ... ähm ... sofort.« Bast kramte weiter in ihrem Beutel, zog das Erstbeste hervor, was ihr in die Finger fiel - es war das entwertete Billet vom Vormittag -, und reichte es ihm. Der Mann warf einen raschen Blick darauf und runzelte die Stirn noch tiefer.

»Das ist eine Eintrittskarte für das Britische Museum, Ma'am«, sagte er.

»Nein, das ist es nicht«, antwortete Bast. Was ... geschah hier?

»Ich fürchte, doch«, erwiderte er, plötzlich in hörbar kühlerem Ton. »Und ich fürchte, ich muss Sie jetzt wirklich ...«

»Was gibt es denn hier, Konstabler Stowe?«

Bast fuhr zum zweiten Mal binnen weniger Augenblicke erschrocken herum und blickte ins Gesicht eines vielleicht vierzigjährigen, schlanken Mannes in Anzug und Pelerine, der in Maistowes Begleitung zurückgekommen war. Er machte einen durchaus gutmütigen Eindruck, wirkte zugleich aber zumindest im Moment gereizt und ungeduldig.

»Inspektor.« Der Bobby berührte seinen Helm mit den Fingerspitzen. »Diese Lady hier ...«

»Ist mir bekannt«, unterbrach ihn der Neuankömmling. »Das geht in Ordnung. Sie können weitermachen, Konstabler. Gute Arbeit.«

Der Konstabler widersprach zwar nicht, aber er sah mit einem Male ziemlich unglücklich aus, und einen weiteren Moment lang blickte er noch unglücklicher auf die Eintrittskarte hinunter, von der Bast vergeblich versucht hatte, ihm weiszumachen, es wäre ihr Pass. Der Blick des Inspektors folgte der Bewegung, dann nahm er ihm das Billett aus der Hand und betrachtete es stirnrunzelnd.

»Gehört das Ihnen, Ma'am?«, fragte er.

Bast nahm ihm die Karte ab und ließ sie in ihrem Beutel verschwinden. »Ja.«

»Sie waren im Museum, gnädige Frau?«

Die Art, auf die er diese Frage stellte, gefiel Bast nicht. Sie versuchte zu ergründen, warum das so war, aber es gelang ihr nicht.

»Das Museum«, mischte sich Maistowe ein, »ist ein höchst interessanter Ort - vor allem für jemanden, der zum ersten Mal in London ist.« Er deutete mit übertriebener Gestik zuerst auf Bast, dann auf den Dunkelhaarigen. »Das ist Miss Bast, eine gute Freundin. Bast - Inspektor Abberline. Ich habe von ihr erzählt.«

»Es freut mich, Sie kennen zu lernen«, sagte Abberline.

»Ganz meinerseits«, erwiderte Bast. Sie hatte das Gefühl, allmählich den Boden unter den Füßen zu verlieren. Was geschah mit ihr?

»Sie waren also im Museum, Miss Bast«, fuhr Abberline fort. »Nun, ich hoffe, es hat Ihnen gefallen. Darf ich fragen, wann Sie dort gewesen sind?«

»Heute Nachmittag«, antwortete Maistowe, rasch und noch bevor sie es tun konnte. Bast konnte gerade noch den Impuls unterdrücken, ihm einen überraschten Blick zuzuwerfen. »Der Genuss wurde nur ein wenig gestört, weil dort eine ziemliche Aufregung geherrscht hat. Sie wissen nicht zufällig, was dort vorgefallen ist?«

Abberline starrte sie weitere endlose Sekunden lang durchdringend an, aber dann lächelte er plötzlich. Zugleich sah er allerdings wieder sehr ungeduldig aus. »Nein, leider nicht«, antwortete er. »Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, Jacob. So gerne ich noch ein wenig mit Ihnen und Ihrer reizenden Begleitung reden würde, ist meine Zeit im Moment doch knapp, fürchte ich.«

»Ein weiterer Mord?«, vermutete Maistowe.

Abberline nickte, und Maistowe fügte in nun eindeutig besorgtem Ton hinzu: »War er es wieder?«

»Das kann ich noch nicht sagen«, antwortete Abberline. »Ihr wurde die Kehle durchgeschnitten und sonst nichts, was auf den ersten Blick dagegenspricht, aber ich kann noch nichts Genaues sagen. Vielleicht morgen, wenn ...«, ein Schatten huschte über sein Gesicht, »... die Post durch ist.«

»Schlimme Sache«, bestätigte Maistowe.

»Ja.« Abberline seufzte. »Und nun entschuldigen Sie mich bitte, Kapitän. Wenn es meine Zeit erlaubt, besuche ich Sie vielleicht morgen, um mit Ihnen zu reden: Sie wohnen wieder in der Pension Westminster, nehme ich an?«

»Wie üblich«, bestätigte Maistowe.

»Dann nehmen Sie noch einen guten Rat von mir an und gehen Sie dorthin zurück, zusammen mit Ihrer Begleitung«, sagte Abberline. »Das hier ist im Moment keine gute Gegend für eine Frau. Und nun entschuldigen Sie mich bitte. Die Pflicht ruft. Miss Bast.«

Er drehte sich um und ging, und Maistowe blickte ihm kopfschüttelnd nach. »Nicht nur jetzt, fürchte ich«, murmelte er, allerdings mehr an sich selbst gewandt als an Bast.

Ein greller, von einem zischenden Laut begleiteter Blitz loderte hinter ihnen auf, und Bast fuhr auf dem Absatz herum, duckte sich und hob abwehrend die Hände vor die Brust. Aber nichts war geschehen. Abgesehen von einem sonderbar unangenehmen Geruch, der mit einem Mal in der Luft lag, hatte sich das Bild nicht verändert.

»Miss Bast, was haben Sie?«, fragte Maistowe. »Das war nur ein Blitzlicht! Der Photograph, sehen Sie?«

Basts Blick folgte seiner deutenden Geste. Gleich neben Abberline und den drei oder vier Constablern, die neben ihm standen und allesamt ein bisschen hilflos aussahen, stand ein kleinwüchsiger Mann mit Schnauzbart, der einen würfelförmigen Holzkasten auf einem metallenen Dreibein vor sich aufgebaut hatte. In seiner Vorderseite war eine gläserne Linse in einem Messingring angebracht, und in der rechten Hand hielt er einen Stab mit einem T-Stück aus Eisen an seinem oberen Ende, von dem beißender Rauch aufstieg.

»Photograph?«, wiederholte sie fragend.

»Eigentlich arbeiten sie für die Zeitung«, bestätigte Maistowe, »aber Abberline hat eine private Vereinbarung mit einigen von ihnen. Er lässt ihnen dann und wann ein paar Informationen zukommen, und sie machen dafür Photographien von Tatorten für ihn. Er ist ein ... sehr moderner Polizeibeamter. Er glaubt, dass ihm diese Bilder helfen, den Täter zu überführen.« Er lachte gutmütig. »Ich persönlich kann mir nicht vorstellen, wie eine Photographie dabei helfen sollte, einen Mord aufzuklären, aber das ändert nichts daran, dass ich Abberline für einen sehr fähigen Polizisten halte. Wenn jemand diesen Kerl erwischen kann, dann er.«

»Wie meinen Sie das?«

Bevor Maistowe antwortete, ergriff er sie mit einer freundschaftlichen Bewegung an der Schulter und zog sie mit sich, während er weiterging. »Das ist eine hässliche Geschichte«, sagte er. »Jemand tötet Frauen, hier in Whitechapel. Nicht, dass das etwas Besonderes wäre ... ich muss leider sagen, dass ein Menschenleben in dieser Gegend nicht besonders viel wert ist. Aber dieser Irre ...«

»Er«, sagte Bast. Maistowe warf ihr einen fragenden Blick zu, und Bast sagte: »Sie haben Abberline gerade gefragt, ob er es war.«

»Er«, bestätigte Maistowe. »Er tötet nur Dirnen. Frauen, die ihren Körper für Geld feilbieten. Und er tötet sie nicht nur auf besonders grausame Weise, sondern brüstet sich mit seinen Morden. Er schreibt Briefe an die Zeitungen, und er schreibt auch Briefe an die Polizei, um sie zu verspotten. Abberline ist nicht besonders glücklich darüber. Aber er wird ihn kriegen. Abberline ist wirklich gut.«

Sie hatten sich ein gutes Dutzend Schritte entfernt und blieben jetzt wieder stehen. Bast sah zurück und hatte für einen winzigen Moment das Gefühl, ein bekanntes Gesicht zu sehen ... Aber als sie genauer hinsah, war dort nichts.

Dafür hatte sie erneut das Gefühl, die ganze Welt würde sich um sie drehen. Es verging so schnell wie beim ersten Mal.

Maistowe hatte von alledem nichts mitbekommen und plapperte fröhlich weiter. »In einem Punkt hat Abberline allerdings recht: Whitechapel ist kein guter Platz für eine Frau, und jetzt vielleicht noch weniger als sonst. Sie sollten nicht hier sein. Schon gar nicht allein und nachts.«

»Ich kann auf mich aufpassen«, versicherte Bast.

»Das weiß ich«, antwortete Maistowe hastig und mit einem fast verlegenen Lächeln. »Ich meine: Wer wüsste es besser als ich? Aber es ist möglicherweise selbst für Sie nicht ungefährlich. Die Kerle, die Sie gestern Nacht überfallen haben, sind immer noch hier. Und sie haben Freunde.«

Bast sah ihn einen Moment lang abschätzend an, aber dann musste sie fast gegen ihren Willen lächeln. »Sie meinen das ernst, nicht wahr?«

»Natürlich.« Die Frage schien Maistowe zu verwirren.

»Und warum?«

»Warum?«

»Warum tun Sie das?«, fragte sie. »Gestern Abend wären Sie fast getötet werden, und jetzt belügen Sie einen Mann, den Sie als Ihren Freund bezeichnen, um mich zu schützen. Warum tun Sie das?«

»Sie waren Passagier auf meinem Schiff«, antwortete Maistowe ernsthaft. »Und ich war es, der Sie in Mrs Walshs Pension geschickt hat.« Er hob die Schultern. »Ich fühle mich für Sie verantwortlich.«

»Und sonst interessiert Sie nichts an mir?«, fragte sie lächelnd.

Maistowe wirkte plötzlich noch verlegener und sah plötzlich überall hin, nur nicht in ihre Richtung.

»Sind Sie denn sicher, dass Sie der Richtigen helfen?«, fuhr sie spöttisch fort. »Sie wissen nichts über mich, Kapitän. Ich könnte eine der Bösen sein.«

»Sie?« Maistowe schüttelte heftig den Kopf »Niemals. Obwohl ... eine Frage hätte ich schon, wenn Sie gestatten.«

»Und welche?«

»Warum sind Sie aus dem Fenster gestiegen, statt die Tür zu benutzen?«

Das konnte er gar nicht wissen, dachte Bast. Das durfte er gar nicht wissen. Er hätte tief und fest schlafen müssen und sich an rein gar nichts erinnern dürfen! »In meiner Heimat haben die Häuser keine Türen«, antwortete sie. »Wir steigen immer aus den Fenstern. Hier ist das anders, ich weiß, aber Sie wissen ja, wie schwer man alte Angewohnheiten wieder loswird.«

Maistowe sah für einen Moment so hilflos aus, dass er ihr beinahe leidtat, und sie fügte kopfschüttelnd und mit einem Lachen hinzu: »Nein, das war natürlich ein Scherz. Die Wahrheit ist, dass ich Mrs Walsh und Sie nicht wecken wollte. Ich war nicht sicher, ob Sie schon schlafen, aber dafür umso sicherer, dass Sie sich Sorgen machen würden, wenn Sie hören, dass ich noch einmal weggehe.«

»Womit Sie vollkommen recht haben«, bestätigte Maistowe. »Warum nehmen Sie meine Hilfe nicht an, Bast? Ich weiß, dass ich Ihnen in vielerlei Hinsicht eher lästig als von Nutzen bin, aber glauben Sie mir, ich kenne mich hier einigermaßen aus, und ich kann Ihnen sicher helfen, Ihre Schwester zu finden.«

Bast resignierte. Er hatte ja recht. »Und was genau schlagen Sie vor?«, fragte sie.

»Es gibt jemanden, der vielleicht wissen könnte, wo sie sich aufhält. Und wie es der Zufall will, ist er mir noch einen Gefallen schuldig.«

»Wie es der Zufall will.«

»In der Tat.« Maistowe hob die Schultern und ging langsam weiter. »Ich bin allerdings nicht sicher, ob es nicht bereits zu spät ist. Selbst hier haben die meisten Lokale inzwischen geschlossen, und ...« Er unterbrach sich, wusste für einen kurzen Moment anscheinend nicht wohin mit seinem Blick und deutete dann zurück in die Richtung, aus der sie gerade erst gekommen waren. »Vielleicht wäre es besser, wenn Sie hier warten, während ich mit meinem ... ähm ... Kontaktmann rede«, sagte er zögernd. »Ich bin sicher, dass Inspektor Abberline sich Ihrer annehmen wird.«

Bast verzichtete darauf, überhaupt etwas dazu zu sagen; zum Beispiel, dass Abberline im Moment ganz gewiss Besseres zu tun hatte, als das Kindermädchen für sie zu spielen. Er würde sie zum Teufel jagen.

Statt auch nur irgendetwas zu sagen, ging sie einfach weiter. Maistowe setzte zu einem schwachen Protest an, seufzte aber dann nur resignierend und machte ein paar rasche Schritte, um wieder zu ihr aufzuschließen.

Angesichts der fortgeschrittenen Stunde brannte noch in erstaunlich vielen Häusern Licht; selbst aus dem Ten Bells am anderen Ende der Straße drangen noch gedämpfte Stimmen und Gelächter und das Klirren von Gläsern, obwohl die Sperrstunde längst vorüber war. Sie stellte Maistowe eine entsprechende Frage, auf die sie aber nur ein Kopfschütteln und einen fast mitleidigen Blick erntete.

»Nicht alles, was man sich in Ihrer Heimat über London erzählt, entspricht auch den Tatsachen«, sagte er. »So wenig wie das, was man sich hier über Ihre Heimat erzählt.« Er hob die Schultern. »Das mit der Sperrstunde ist schon richtig, aber die Leute hier ... haben sich mit der Obrigkeit arrangiert.«

Bast verstand sehr wohl, was er meinte, aber sie war dennoch ein wenig erstaunt. Natürlich gab es Viertel wie diese auch in Kairo - oder nahezu jeder anderen Stadt auf der Welt. Aber sie hatte noch nie erlebt, dass es so offen geschah, und schamlos. Nicht nur unter den Augen der Obrigkeit, sondern ganz eindeutig mit deren Duldung. Die Briten waren schon ein sonderbares Volk.

»Sind Sie jetzt schockiert?«, fragte Maistowe. Anscheinend war es in diesem Moment nicht besonders schwer, in ihrem Gesicht zu lesen. Sie schüttelte - aus einem vollkommen anderen Grund, als Maistowe annehmen mochte - beinahe erschrocken den Kopf.

»Nicht schockiert. Nur ... überrascht. Ich dachte immer, das Empire wäre ganz besonders sittenstreng.«

»Das ist es auch«, antwortete Maistowe ernsthaft. »Und Viertel wie diese sind der Grund, aus dem das System funktioniert. Nicht alle Bürger des Empire sind Blaustrümpfe oder presbyterianische Priester, wenn Sie ... ähm ... verstehen, was ich meine.«

»Ich glaube schon«, antwortete Bast spöttisch. »Wenn ich mich ein wenig anstrenge.«

Maistowe sah sie einen halben Atemzug lang irritiert an und rettete sich dann in ein verlegenes Grinsen. »Nun ja«, fuhr er fort. »Manchmal entsteht eben ein gewisser ...«

»Druck?«, schlug Bast vor.

»... Druck, genau«, bestätigte Maistowe. »Und er braucht ein Ventil. Ohne diese Frauen hier ... gäbe es vielleicht Probleme. Es könnte zu ... schlimmen Dingen kommen.«

Bast sah demonstrativ über die Schulter zurück.

»Noch schlimmeren Dingen«, sagte Maistowe hastig. »Schließen Sie nicht von einem einzelnen Verrückten auf alle, Bast. Die meisten Männer, die hier verkehren, sind ganz normal.«

So wie du, dachte Bast spöttisch. Allerdings hütete sie sich, diese Antwort laut auszusprechen, oder auch nur irgendetwas zu sagen. Allmählich begann ihr Maistowes Geschnatter auf die Nerven zu gehen. Es wurde Zeit, dass sie ihn loswurde.

Sie war nur nicht ganz sicher, ob sie es noch konnte. Ihre Unfähigkeit, Konstabler Stowe zu beeinflussen, erschreckte sie noch immer, und sie hatte bisher nicht den Mut aufgebracht, darüber nachzudenken, warum das so gewesen war. Und sie hatte ihn auch jetzt nicht. Es gab tausend mögliche Gründe, und nicht einer davon war so schlimm wie der eine, vor dem sie sich fürchtete.

Maistowe stockte plötzlich. Er blieb nicht stehen, aber er wurde spürbar langsamer, und sein Blick irrte nach rechts und eine steile hölzerne Treppe hinauf, die zu einer von zwei trübe glimmenden roten Gaslaternen flankierten und von einem Koloss von Mann bewachten Tür emporführte.

»Kapitän?«

Maistowe räusperte sich unbehaglich. »Ich ... bin nicht ganz sicher«, antwortete er unbeholfen. »Aber der Beschreibung nach ... könnte dies das Haus sein.«

Bast zog fragend die linke Augenbraue hoch.

»Der Mann, mit dem ich gesprochen habe«, sagte Maistowe. »Er ... meint, dass ich hier vielleicht etwas über Ihre Freundin erfahren könnte.«

»So?«, fragte Bast. Sie lauschte konzentriert. Ihre besonderen Sinne ließen sie nach wie vor im Stich, was sie allmählich wirklich zu ängstigen begann, aber ihr Gehör und Geruchssinn waren trotzdem weitaus schärfer als die Maistowes. Hinter dieser Tür gab es niemals eine Sperrstunde, und im Moment geschah dort ganz genau das, womit Maude und ihre Mädchen ihr täglich Brot verdienten. Der Gedanke erregte sie aber auf eine Art, die sie nicht wollte. Nicht jetzt, und schon gar nicht, solange Maistowe dabei war. Aus einem vollkommen absurden Grund heraus, den sie selbst nicht benennen konnte, wäre es ihr peinlich gewesen.

»Jedenfalls hat man es mir so gesagt«, versicherte Maistowe hastig. Er war ein wirklich erbärmlicher Lügner. »Die Beschreibung stimmt.«

»Nun, dann sollten wir vielleicht dort nachfragen«, schlug Bast vor. »Oder?«

»Sicher«, sagte Maistowe rasch. »Es ist nur so, dass ...« Er fuhr sich nervös mit dem Handrücken über das Kinn. »Das dort oben ist wirklich nicht der passende Ort für eine Dame, und ...«

»... es wäre Ihnen lieber, wenn ich hier warten und Sie allein dort hinaufgehen ließe«, unterbrach ihn Bast. »Hier unten, ganz allein und mitten in der Nacht und in einem Viertel, in dem ein wahnsinniger Mörder herumschleicht, der Frauen abschlachtet.«

Sie seufzte übertrieben. »Was würde Mrs Walsh wohl zu diesem Vorschlag sagen?«

»So war das gewiss nicht gemeint ...«

»Kapitän Maistowe, machen Sie es nicht für uns beide schwerer, als es ist«, unterbrach ihn Bast, zwar weiterhin in gutmütig-spöttischem Ton, aber auch ganz bewusst eine Spur schärfer. »Gehen wir hinauf und reden mit Maude.«

»Maude?«, wiederholte Maistowe verdutzt.

»Ich war schon einmal hier«, antwortete Bast lächelnd. »Aber sie war nicht besonders kooperativ, um es vorsichtig auszudrücken. Wer weiß - vielleicht sagt sie Ihnen ja mehr als mir.«

Maistowe starrte sie an. Bast konnte für einen Moment nicht sagen, ob er ertappt oder sogar wütend aussah. Aber das war ihr auch gleich. Sie hatte schon zu viel Zeit verloren, und eine Menge davon aus keinem anderen Grund als dem, dass er hier war.

Was er ganz und gar nicht gedurft hätte.

»Hören Sie mit dem Unsinn auf, Kapitän«, sagte sie sanft. »Es ist mir vollkommen gleich, ob Sie hier verkehren oder mit wem und wie oft. Und ich werde auch Mrs Walsh gegenüber ganz bestimmt nichts sagen, wenn das Ihre Sorge sein sollte.« Sie machte eine ärgerliche Geste die Treppe hinauf. »Wenn Sie wirklich glauben, dass Maude Ihnen mehr verrät als mir, dann lassen Sie uns dort hinaufgehen. Und wenn nicht, dann kehren Sie um und gehen in die Pension zurück und lassen mich allein weitermachen.«

Maistowe starrte sie nicht nur aus weit aufgerissenen Augen an und wirkte wie das personifizierte schlechte Gewissen, er sah zugleich auch so verletzt aus, dass Bast ihre eigenen Worte schon wieder bedauerte, aber sie schluckte alles herunter, was ihr auf der Zunge lag, und sah Maistowe nur kühl an, und schließlich fuhr er sich abermals mit dem Handrücken über das Kinn und nickte abgehackt.

»Wie Sie wünschen.« Maistowe drehte sich mit einem Ruck herum und steuerte die Treppe an. Bast folgte ihm nach kurzem Zögern, beschleunigte ihre Schritte aber dann und versuchte ihn auf halber Höhe der Treppe einzuholen, und ganz zweifellos wäre es ihr auch gelungen ...

... hätte nicht jemand plötzlich das Licht ausgeschaltet.

Es dauerte kaum eine Sekunde, und es kam ihr tatsächlich ganz genau so vor: Von einem Lidzucken auf das nächste wurde ihr schwarz vor Augen, und ihre Beine waren mit einem Mal nicht mehr imstande, das Gewicht ihres Körpers zu tragen. Sie stolperte, streckte instinktiv die Hand nach dem Geländer aus und griff daneben. Ihr Fuß verfehlte die nächste Stufe, und sie schlug so schmerzhaft mit dem Knie auf die Kante, dass ein Gewitter grellroter Blitze die Schwärze vor ihren Augen zerriss.

Als sie verblassten, war auch der Schwächeanfall vorüber. Sie fiel, fing ihren Sturz aber im letzten Moment mit ausgestreckten Händen ab und verwandelte ihn eher in ein ungeschicktes Stolpern.

Trotzdem fuhr Maistowe über ihr herum und hetzte so hastig zu ihr zurück, dass er nun seinerseits um ein Haar das Gleichgewicht verloren hätte und sich im buchstäblich allerletzten Moment an dem wackeligen Geländer festhielt, um nicht kopfüber die Treppe herunterzustürzen.

»Miss Bast, um Himmels willen!«, stieß er dennoch hervor. »Was haben Sie?«

»Nichts!« Bast fegte seine hilfreich ausgestreckte Hand mit einer zornigen Bewegung beiseite und stemmte sich aus eigener Kraft hoch. Ihr linkes Knie pochte. Alles drehte sich um sie.

Dann schnappte die Wirklichkeit mit einem fast hörbaren Ruck an ihren angestammten Platz zurück, und sie bedauerte ihre eigene Reaktion zutiefst.

»Sie hatten recht, Kapitän«, sagte sie mit einem verunglückten Lächeln, während sie sich umständlich aufrappelte und mit einer linkischen Geste ihren Mantel glatt strich. »Das ist wirklich kein Ort für eine Frau. Vor allem nicht für eine, die nicht weiß, wohin sie ihre Füße setzen soll.«

Die Worte waren ebenso unbeholfen, wie sie sich hilflos und erschrocken fühlte, und Maistowe sah sie auch nur weiter verstört an. »Ist ... wirklich alles in Ordnung?«

»Wirklich«, versicherte sie. Was für ein Unsinn! Nichts war in Ordnung. Sie zuckte mit den Schultern. »Vielleicht war doch alles ein wenig viel für mich. Aber es ist alles in Ordnung, wirklich.«

»Soll ich Sie zurück in die Pension bringen?«, fragte Maistowe. »Ich kann sicher einen Wagen finden.«

»Das ist eine gute Idee«, antwortete Bast. Sie deutete die Treppe hinauf. »Sobald wir hier fertig sind.«

Maistowe starrte sie mit offenem Mund an, und Bast ging mit schnellen Schritten an ihm vorbei und steuerte das obere Ende der Treppe an. Ihr Knie pochte noch immer so heftig, dass sie fast all ihre Kraft brauchte, um nicht zu humpeln, und der Schmerz trieb ihr die Tränen in die Augen. Nichts davon hätte passieren dürfen, nicht ihr, aber sie wusste zugleich auch nur zu gut, was all diese Symptome bedeuteten. Ihre Zeit lief ab. Sehr viel schneller, als sie befürchtet hatte.

Ein massiger Schatten trat ihr entgegen, als sie den Absatz am oberen Ende der Treppe erreichte, und stockte dann, und sie konnte seine Überraschung spüren, noch bevor sie den dazugehörigen Ausdruck auf seinem Gesicht sah.

»Hallo, Ben«, sagte sie. »Schön, Sie wiederzusehen. Wie geht es Ihnen?«

Der stoppelhaarige Riese starrte sie nur überrascht an, und Bast ging einfach an ihm vorbei und streckte die Hand nach der Türklinke aus, hielt aber dann mitten in der Bewegung inne und drehte sich herum, um auf Maistowe zu warten. Etwas regte sich in ihr; ein düsteres Wühlen und Verlangen, das sie immer schwerer unterdrücken konnte.

Maistowe hatte seine Verwirrung endlich überwunden und schloss nun mit schon fast übertrieben hastigen Schritten zu ihr auf. Der Türsteher maß auch ihn nur mit einem hilflosen Blick und rührte sich vorsichtshalber gar nicht, und Bast machte einen demonstrativen Schritt zurück und wies auf die Tür. Maistowe sah irgendwie unglücklich aus, griff aber gehorsam nach der Klinke und trat vor ihr ein.

Flackerndes rotes Licht und ein wahres Crescendo der unterschiedlichsten Gerüche und Sinneseindrücke schlugen ihr entgegen, und erneut wurde ihr schwindelig. Alles drehte sich um sie, und sie konnte spüren, wie der Boden unter ihren Füßen schwankte. Ohne dass sie etwas dagegen tun konnte, streckte sie die Hand aus und ergriff Maistowes Unterarm, um sich daran festzuhalten. Sie registrierte auch seinen überraschten Blick, aber sie war nicht imstande, irgendetwas zu erwidern. Es war alles zu viel. Hunger. Sie war so unvorstellbar hungrig.

Wie durch einen blutgetränkten Nebel hindurch registrierte sie, dass die fette Frau so unverändert hinter ihrem zerschrammten Sekretär saß, als hätte sie sich seit der vergangenen Nacht keinen Zoll von der Stelle gerührt, und auch der Raum selbst hatte sich nicht verändert - mit einer Ausnahme: Auf der zerschlissenen Couch links der Tür saßen auch jetzt wieder drei Frauen - aufdringlich geschminkt, mit gefärbtem Haar und in billigem Mieder, aber sie hatten andere Gesichter. Und in der Luft lag derselbe, aufdringliche Geruch wie gestern, nach Lust und Alkohol und ungezügelten Sinnesfreuden und anderen, schlimmeren Dingen, und etwas in ihr ... explodierte.

»Was, zum Teufel ...?«, begann Maude, brach mitten im Satz ab und blinzelte, eindeutig überrascht. »Kapitän Maistowe?«

Bast sah kaum hin, aber Maistowes zunehmende Nervosität konnte ihr gar nicht entgehen. Dass er nicht vor Verlegenheit von einem Fuß auf den anderen trat, war auch schon alles. Er kam allerdings auch nicht dazu, auf Maudes Begrüßung zu antworten, denn in diesem Moment fiel der Blick der alten Vettel auf Bast, und ihr Gesicht verdüsterte sich schlagartig.

»Du schon wieder!«, zischte sie. »Ich dachte, ich hätte dir gesagt, dass du hier unerwünscht bist, Schätzchen.« Ihre Augen wurden schmal, während sie ihre tonnenförmige Figur schnaubend in die Höhe stemmte. Der kleine Sekretär ächzte unter ihrem Gewicht, als sie sich darauf abstützte. »Ben, du hirnloses Stück Scheiße! Ich habe dir gesagt, dass dieses Weibsstück hier nicht mehr reinkommt!«

»Nur die Ruhe, Maude!«, mischte sich Maistowe ein. Er klang beinahe noch nervöser, machte aber zugleich auch einen raschen Schritt zur Seite, um auf diese Weise den Blickkontakt zwischen ihnen zu unterbrechen und sich gleichzeitig schützend vor sie zu stellen. Bast fand das ziemlich mutig. Maude reichte ihm zwar kaum bis zur Brust, aber sie sah auch ganz so aus, als könne sie ihn einfach niederwalzen, wenn sie wollte. »Wir sind nur hier, um ...«

»Nur einen Moment, Jacob!«, fertigte ihn Maude ab. »Ich komme gleich zu Ihnen, sobald ich mit der Süßen hier fertig bin! Suchen Sie sich schon mal eines der Mädchen aus!« Sie versuchte vergeblich, sich an Maistowe vorbeizuschieben, und funkelte Bast dabei aus kampflustig zusammengekniffenen Augen an.

Bast war nicht in der Stimmung, auch nur darüber zu sprechen, aber sie merkte es sich für später, und sei es nur, um Maistowe damit aufzuziehen: Er bekam tatsächlich rote Ohren und bemühte sich plötzlich so krampfhaft, nicht in ihre Richtung zu sehen, dass es schon fast lächerlich war.

»Hier ... ähm ... liegt offensichtlich ein Missverständnis vor«, stammelte er. »Wir sind ... aus einem anderen Grund hier.«

»Ach?«, schnappte Maude. »Und aus welchem?« Sie blinzelte. »Wir?«

»Wir gehören zusammen«, bestätigte Maistowe. »Miss Bast ist eine gute Freundin von mir.«

»So? Dann verstehe ich nicht genau, was Sie hier wollen, Kapitän.« Maude stemmte kampflustig die Fäuste in die voluminösen Fettwülste, die die Stellen ihrer Hüften eingenommen hatten. »Wenn Sie eines der Mädchen wollen, gut. Aber der da habe ich gestern schon gesagt, dass wir hier kein Auskunftsbüro sind. Und wenn Sie und Ihre Freundin was anderes im Sinn haben, sind Sie hier falsch! Solche Schweinereien laufen hier nicht.«

Bast konnte sich keine Schweinerei vorstellen, die hier nicht lief, vorausgesetzt, der Preis stimmte, und sie setzte gerade zu einer entsprechend scharfen Antwort an, doch Maistowe kam ihr zuvor.

»Bitte, Maude!«, sagte er und hob besänftigend die Hände. Gleichzeitig warf er Bast einen raschen und beinahe beschwörenden Blick zu. »Das alles ist wirklich nur ein Missverständnis! Wir sind nur hier, weil ich gehofft hatte, Sie könnten uns behilflich sein. Selbstverständlich würden wir Sie für Ihren Aufwand und die Umstände entschädigen.«

Hinter ihnen fiel die Tür ins Schloss, als Ben - wenn auch mit gehöriger Verspätung - auf die keifende Stimme seiner Herrin reagierte und hereinkam. Bast blieb ungerührt, aber Maistowe wurde schlagartig noch nervöser, setzte dazu an, etwas zu Maude zu sagen, und wandte sich dann stattdessen an Bast.

»Wenn Sie vielleicht ... ich meine ... vielleicht würde es helfen, wenn ich einen Moment allein ...«

»Ich verstehe«, sagte Bast. Sie drehte sich nun doch zu Ben herum, schenkte ihm ein flüchtiges Lächeln und begann dann scheinbar ziellos durch den großen, nur schummrig erleuchteten Raum zu schlendern. Maudes Blick folgte ihr unter misstrauisch zusammengekniffenen Augenlidern, aber wenigstens hatte sie aufgehört zu keifen, und sie machte auch keine Anstalten, ihren Schläger auf sie loszulassen. Bast war sehr erleichtert darüber; aber ein kleiner Teil von ihr bedauerte es auch.

Maistowe lenkte Maudes Aufmerksamkeit mit einer entsprechenden Geste wieder auf sich und begann mit gedämpfter Stimme auf sie einzureden, während Ben wie ein lebender Berg vor der Tür stehen geblieben war und sie mit vor der Brust verschränkten Armen blockierte. Trotz der beißenden Kälte draußen trug er nur eine zerschlissene Jacke und darunter ein schmuddeliges Unterhemd, das aus mehr Löchern als Stoff bestand, sodass sie seine gewaltigen Muskelpakete sehen konnte; eine ganz bewusste, wortlose Drohung, die ihre Wirkung auf sie nicht verfehlte - wenn auch in völlig anderer Hinsicht, als sich Ben auch nur träumen lassen mochte. Er musterte sie ausdruckslos, aber nicht unfreundlich, und Bast erwiderte seinen Blick nicht nur gelassen, sondern taxierte ihn auch ganz unverhohlen. Er war so groß wie sie und tatsächlich noch kräftiger gebaut, als ihr gestern aufgefallen war - vielleicht, weil sie ihn gestern nicht auf diese Weise angesehen hatte -, und obwohl sein Gesicht schmutzig war und einen brutalen Zug hatte, war doch zugleich etwas darin, was sie anzog. Er war ... stark.

Bast riss ihren Blick von der hünenhaften Gestalt los und schlenderte weiter durch den Raum, wobei sie es sorgsam vermied, in Maistowes oder Maudes Richtung zu sehen; ihr entging trotzdem nicht, dass Maistowe inzwischen seine Brieftasche hervorgeholt hatte, in der sich ein erstaunlich dickes Bündel Geldscheine befand. Sie mied auch den Blickkontakt mit den drei Frauen, die auf der Couch neben der Tür saßen und sie ganz unverblümt neugierig - und auch ein bisschen feindselig - anstarrten und auf Kunden warteten, die in dieser Nacht wohl nicht mehr kommen würden.

Sehr viel mehr gab es allerdings auch nicht zu sehen. Der falsche Samt an den Wänden war noch immer so schäbig und zerschlissen wie gestern, und die billigen Ölgemälde kein bisschen weniger eindeutig und geschmacklos.

Dennoch hatte sich etwas verändert: Gestern hatten die Bilder sie nicht interessiert, und sie hatte sie bestenfalls hässlich gefunden. Heute stießen sie sie ab, und das beunruhigte sie, denn es bedeutete, dass sie sie berührten. Das hätten sie nicht gedurft. Ihre Abwehr begann zusammenzubrechen, und damit auch die Gewalt über das Ungeheuer, das sie so tief in sich eingesperrt hatte.

Sie wandte sich mit einem Ruck ab, runzelte die Stirn und drehte sich dann noch einmal herum, um eines der Bilder genauer zu betrachten.

Es war so dilettantisch und schlecht gemalt wie alle anderen und zeigte gleich drei unbekleidete Männer und Frauen bei einem ziemlich akrobatisch aussehenden Liebesspiel, das Bast schon aufgrund der dargestellten physiologischen Unmöglichkeiten nicht wirklich interessierte ... aber da war etwas anderes gewesen, das ihren Blick eingefangen hatte.

Es war das Gesicht einer der jungen Frauen. Die Ähnlichkeit war allerhöchstens oberflächlich, aber sie war da, und ...

»Wo ist das Mädchen?«, fragte Bast, während sie mit einem neuerlichen Ruck zu Maude und Maistowe herumfuhr. Maistowe hatte gerade dazu angesetzt, der alten Vettel einen nicht unerheblichen Teil seiner Barschaft auszuhändigen und sah schon wieder wie ein ertappter Sünder aus, und Maudes Augen wurden noch schmaler.

»Welches Mädchen?«, fragte sie. Dann ließ ihr Blick Basts Gesicht los und fiel auf das Bild hinter ihr, und ihre Miene hellte sich auf. »Oh, du hast das Bild gesehen. Ein richtiges Kunstwerk, nicht? Ich lasse sie extra nach meinen Mädels malen. Kosten mich eine Stange Geld, aber meinen Kunden ...«

»Die Kleine«, unterbrach sie Bast. »Wo ist sie?« Aus den Augenwinkeln registrierte sie, wie Ben die Arme herunternahm und plötzlich ein bisschen angespannt wirkte, während Maistowe sie einfach nur verständnislos anblinzelte.

»Wenn du Cindy meinst, die ist beschäftigt«, antwortete Maude herablassend. »Musst dich ein bisschen gedulden.«

»Beschäftigt? Wo?«

»Ich glaube nicht, dass dich das ...«, begann Maude, aber Bast hörte schon gar nicht mehr hin. Maudes Blick hatte sie verraten, und Bast fuhr auf dem Absatz herum und stürmte in Richtung der Tür, die sie ganz instinktiv angesehen hatte.

»He!«, keuchte Maude. »Was soll das? Bist du verrückt?«

Bast ignorierte sie, riss die Tür auf und eilte hindurch. Dahinter lag ein schmaler, nur von einer einzelnen rußenden Öllampe erhellter Gang, von dessen Wänden der Putz in großen Flecken abblätterte. Ein durchdringender Gestank nach Erbrochenem und noch anderen, sehr viel unangenehmeren Dingen lag in der Luft, und auch noch etwas, das sie im ersten Moment nicht richtig benennen konnte, aber über die Maßen alarmierte.

»He!«, brüllte Maude hinter ihr. »Komm sofort zurück! Ben! Wirf sie raus!«

Bast riss wahllos die erste Tür auf, an der sie vorbeikam. Der Raum dahinter war leer und dunkel und stank noch erbärmlicher als der Gang, und plötzlich hörte sie hinter sich schwere, stampfende Schritte, als Ben Maudes Befehl gehorchte und die Verfolgung aufnahm. Bevor er auch nur den Gang erreicht hatte, war sie bei der nächsten Tür, riss sie auf und stürmte, ohne zu zögern, hindurch. Hinter ihr begann Maistowe ihren Namen zu rufen, und nun konnte sie auch Maudes langsamere, aber ungleich schwerere Schritte hören. Nichts davon war wichtig. Etwas in ihr ... kreischte vor Zorn, und als sie mit einem gewaltigen Satz durch die Tür stürmte, gesellte sich noch ein zweiter, tausendmal gierigerer Schrei hinzu.

Dieses Zimmer war nicht leer. Ein halbes Dutzend Kerzen sorgten für flackernde gelbe Beleuchtung, und die gesamte Einrichtung bestand aus einem roh aus Brettern zusammengezimmerten Bett, auf dessen schmutzstarrendem Laken ein vielleicht fünfzigjähriger Mann, eine kaum halb so alte dunkelhaarige Frau und ein Knabe von allerhöchstens zwölf Jahren lagen. Alle drei waren nackt. Der Junge regte sich nicht und sah aus, als wäre er bewusstlos - wenn nicht tot -, obwohl die rechte Hand des Grauhaarigen seinen schlaffen Penis mit solcher Kraft umschloss, dass es ihm entsetzliche Schmerzen bereiten musste. Seine Linke lag auf der Brust des Mädchens und knetete sie kaum weniger grob. So viel zu Maudes Behauptung, sie dulde keine Schweinereien in ihrem Haus.

Aber das war es nicht, wonach sie gesucht hatte. Der Grauhaarige hörte für einen Moment auf, an seinen beiden Bettgenossen herumzukneten, die zusammengenommen gerade einmal halb so alt waren wie er, drehte den Kopf und sah sie fragend und ein bisschen überrascht - und kein bisschen schuldbewusst - an, und Bast fuhr auf dem Absatz herum und stürmte wieder auf den Flur hinaus.

Und um ein Haar in Ben hinein, dem die zwei oder drei Sekunden ausgereicht hatten, um sie einzuholen. Jedwede Freundlichkeit war aus seinem Gesicht verschwunden, und er kam ihr plötzlich noch größer und furchteinflößender vor als ohnehin - und er war eindeutig schneller, als sie es bei einem so großen und schweren Mann für möglich gehalten hätte. Ohne viel Federlesens ergriff er sie am Oberarm und zerrte sie so grob herum, dass sie einen zischenden Schmerzlaut ausstieß.

»Das reicht jetzt, Miss«, sagte er. »Sie gehen besser, bevor ich Sie wirklich rauswerfen muss.«

Bast riss sich los und wich einen Schritt zurück; aber das gelang ihr nur, weil er es zuließ. »Ich suche nur das Mädchen«, sagte sie.

»Tut mir leid, aber das kann ich nicht zulassen«, antwortete Ben. Er sprach nicht einmal laut, und ein einziger Blick in seine Augen machte Bast auch klar, dass er ihr ganz gewiss weder wehtun wollte, noch Freude daran empfunden hätte, wie es vielen erging, die seinen Beruf ausübten. Aber sie sah auch genau so deutlich, dass er es ohne zu Zögern tun würde, wenn sie ihn dazu zwang.

Hinter ihr erscholl ein gedämpftes Klatschen, gefolgt von einem schluchzenden Wimmern, das von einem zweiten, deutlich härteren Schlag zum Verstummen gebracht wurde. Ben sah für einen winzigen Moment auf, abgelenkt, und Bast schätzte ihn als viel zu stark und gefährlich und sich selbst im Augenblick als in viel zu schlechter Verfassung ein, um sich diese Chance entgehen zu lassen. So schnell, dass er den Schlag vermutlich nicht einmal kommen sah, schmetterte sie ihm die Handkante gegen den Kehlkopf und fuhr aus der gleichen Bewegung heraus herum. Noch während der Riese würgend und nach Luft ringend in die Knie sank und beide Hände um den Hals schlug, erreichte sie die Tür, hinter der sie das Wimmern gehört hatte, und sprengte sie kurzerhand mit der Schulter auf. Sie flog mit solcher Wucht gegen die Wand, dass sie in Stücke brach.

Das Zimmer ähnelte dem, in dem sie gerade gewesen war, wie eine genaue Kopie: flackerndes Kerzenlicht und ein grob zusammengeschustertes Bett mit schmutzigen Laken, auf denen allerdings nur eine einzelne, angstvoll zusammengekauerte Gestalt lag. Das Mädchen von gestern Abend, nur dass sie das Haar jetzt offen trug und nackt war, sodass Bast erkennen konnte, dass sie gerade dabei war, vom Kind zur Frau zu werden. Sie hatte die Beine an den Leib gezogen und beide Knie mit den Händen umschlungen Obwohl ihr das Haar weit ins Gesicht fiel, konnte Bast sehen, dass ihre linke Wange gerötet war und das Auge zuzuschwellen begann.

Der Mann, der ihr das angetan hatte, stand unmittelbar neben ihr und hatte offensichtlich gerade zu einem weiteren Schlag ausgeholt, war aber jetzt mitten in der Bewegung erstarrt und glotzte aus ungläubig aufgerissenen Augen abwechselnd sie und die zerborstene Tür an. Bast schätzte ihn auf vielleicht vierzig Jahre, und obwohl er im Moment nichts weiter als knöchellange baumwollene Unterhosen trug, wirkte er trotzdem auf eine schwer zu greifende Weise ... elegant.

Und zumindest im Augenblick ziemlich aufgebracht. »He!«, fauchte er. »Was fällt dir ein?«

Jedenfalls nicht, auf seine Frage zu antworten. Bast stürmte an ihm vorbei zum Bett, und der Kerl beging den Fehler, nach ihr greifen zu wollen. Bast schmetterte ihm den Handrücken mit solcher Gewalt ins Gesicht, dass er gegen die Wand geschleudert wurde und das Bewusstsein verlor, noch bevor er zu Boden fiel.

»Keine Sorge, mein Kleines«, sagte sie, während sie sich über das Bett beugte und die Arme nach Cindy ausstreckte. Das Mädchen krümmte sich nur noch weiter zusammen und begann leise zu schluchzen, aber seine Willenskraft reichte offensichtlich nicht einmal mehr, um von ihr wegzukriechen. Bast ließ sich auf die Bettkante sinken und schloss es so behutsam in die Arme, als bestünde es aus hauchdünnem zerbrechlichem Glas. »Keine Angst, mein Kleines«, flüsterte sie. »Niemand tut dir mehr etwas. Jetzt nicht mehr, das verspreche ich dir.«

Cindy hörte nicht auf zu zittern, und ihr Schluchzen wurde sogar noch lauter; und dann noch einmal, als Maistowe hereingestürmt kam, dicht gefolgt von einer lebenden Lawine, die nur rein zufällig die Gestalt einer gerade einmal fünf Fuß großen, aber unglaublich fetten Frau angenommen hatte. Maistowe riss ungläubig die Augen auf und schien dann mitten im Schritt zur Salzsäule zu erstarren, während Maude die Situation mit einem einzigen Blick zu erfassen schien und hastig zu dem bewusstlosen Freier eilte, um neben ihm niederzuknien.

»Sie Wahnsinnige!«, keuchte sie. »Was haben Sie getan? Wissen Sie, wer das ist? Sie haben ihn umgebracht!«

Der Mann war nicht tot; wahrscheinlich nicht einmal schwer verletzt, und Bast machte sich nicht einmal die Mühe, zu ihm hinzusehen. Behutsam hob sie Cindys Kinn an und zwang sie, ihr ins Gesicht zu sehen, und was sie erblickte, schürte ihren Zorn nur noch mehr. Cindys Gesicht schwoll so rasch an, dass man beinahe dabei zusehen konnte. Ihr linkes Auge war fast vollkommen geschlossen, doch was Bast in ihrem Blick las, war ... nichts. Ihre Augen waren so leer wie gestern Abend. Aber plötzlich wurde ihr klar, warum das so war. Und jetzt erkannte sie auch den Geruch, der im Raum hing.

»Sie haben ihr Opium gegeben«, sagte sie leise.

»Seit wann ist das verboten?«, fauchte Maude. »Und was geht dich das überhaupt an? Ben! Ben, verdammt noch mal!«

Bast sah nun doch auf und glitt mit einer raschen Bewegung von der Bettkante und in die Höhe, als Ben tatsächlich unter der aus den Angeln gerissenen Tür erschien. Er war kurzatmig und wankte leicht, und die Atemnot hatte sein Gesicht puterrot anlaufen lassen, aber er war ganz eindeutig zäher, als sie erwartet hatte - und was ihm im Augenblick vielleicht an Kraft fehlte, das machte er durch Wut mehr als wett. In seinen Augen loderte die blanke Mordlust.

Bast trat ihm scheinbar ruhig entgegen, sah, wie sich seine Schultermuskeln spannten, duckte sich mühelos unter dem gewaltigen Schwinger weg, den er in ihre Richtung abschoss, und der scheinbar so plumpe Riese überraschte sie ein weiteres Mal, indem er ihr die andere Faust mit solcher Wucht in den Leib rammte, dass ihr die Luft aus den Lungen getrieben wurde und sie ein Stück weit zurücktaumelte.

Bast trat ihm mit aller Gewalt vors Knie und spürte, wie irgendetwas darin nachgab. Ben grunzte vor Schmerz, aber nicht einmal dieser Tritt vermochte einen Koloss wie ihn zu stoppen. Er stürmte einfach weiter, trieb sie mit seiner bloßen Masse vor sich her und rammte sie mit solcher Gewalt gegen die Wand, dass ihr schwarz vor Augen wurde. Dennoch rammte sie ihm die versteiften Finger der rechten Hand in die Rippen; dicht unterhalb des Herzens und mit solcher Gewalt, dass sie spüren konnte, wie ihm abermals die Luft wegblieb und fast alle Kraft aus seinem Körper wich.

Leider nur fast. Und bei einem Koloss wie ihm reichte selbst der verbliebene Rest aus, um sie nicht nur weiter gegen die Wand zu pressen, sondern auch beide Hände um ihren Hals zu legen und erbarmungslos zuzudrücken. Wahrscheinlich sogar, um ihr das Genick zu brechen.

Jetzt hatte sie keine andere Wahl mehr.

Sie schloss die Augen, entspannte sich, soweit es in ihrer unglückseligen Lage überhaupt möglich war, und griff nach der unsichtbaren Flamme, die in seinem Inneren brannte.

Es war schwer, ungeheuer schwer, nicht sofort alles zu nehmen. Ihre Gier erwachte zur lodernden Wut einer explodierenden Sonne. Alles in ihr schrie danach, das Leben mit einem einzigen, brutalen Ruck aus ihm herauszureißen und nichts als eine leere, sterbende Hülle zurückzulassen. Aber das durfte sie nicht. Nicht bei ihm und nicht, so lange Maistowe und Maude und das Mädchen dabei waren, denn das hätte bedeutet, dass sie auch sie töten musste.

Irgendwie gelang es ihr, das Ungeheuer noch einmal zu bändigen, auch wenn es sie so unvorstellbare Überwindung kostete, dass sie fast zu körperlicher Qual wurde. Die Bestie in ihr heulte vor Wut und Enttäuschung noch lauter auf, aber statt sein Leben einfach im Bruchteil eines Augenblickes aus ihm herauszureißen, nahm sie nur gerade so viel, um ihn weiter zu schwächen. Sein Würgegriff lockerte sich, nicht weit genug, um sie wieder atmen zu lassen, aber genug, um ihr Spielraum für einen harten Kopfstoß gegen sein Gesicht zu gewähren. Ein helles, deutlich hörbares Knacken erscholl, als sein Nasenbein brach. Bens Blick verschleierte sich vor Schmerz, und er stöhnte leise, während hellrotes Blut aus seiner Nase schoss und sein Gesicht besudelte. Er ließ immer noch nicht los, und der Blutgeruch war beinahe mehr, als sie ertragen konnte.

Mit einer letzten, verzweifelten Anstrengung sprengte sie seinen Griff, stieß ihm die flachen Hände vor die Brust und trat ihm wuchtig unter das Kinn; hart genug, um ihn quer durch den Raum an die gegenüber liegende Wand zu schleudern, wo er bewusstlos zusammenbrach, aber nicht hart genug, um ihn zu töten. Ben schlug mit einem Geräusch auf den Boden auf wie ein mit Mehl gefüllter Sack, den man vom Fockmast eines Schiffes auf das Deck herunterfallen lässt, und Bast taumelte zur Seite und musste dann einen weiteren, hastigen Schritt machen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren und ebenfalls zu stürzen. Für einen Moment rauschte das Blut so laut in ihren Ohren, dass es jedes andere Geräusch übertönte, und alles, was sie sah, waren rote Nebel und tanzende Schatten, die vergeblich versuchten, sich zu Formen zusammenzufügen.

Der Schwächeanfall verging so rasch wie der, der sie draußen auf der Treppe getroffen hatte, aber diesmal blieb etwas wie ein schlechter Geschmack auf ihrer Seele zurück. Sie machte einen weiteren Schritt und taumelte noch einmal, und diesmal so sehr, dass Maistowe hastig die Hand ausstreckte, um sie zu stützen. Maude und er mochten annehmen, dass sie vor Schwäche wankte, und das war auch gut so, aber der Schwächeanfall war längst vorüber. Was sie taumeln ließ war das Gefühl, innerlich in Stücke gerissen zu werden. Das Wenige, was sie von Ben genommen hatte, war längst nicht genug gewesen, um ihren Hunger zu stillen, sondern schien ihn fast im Gegenteil eher noch angestachelt zu haben. Sie hütete sich, Maistowes Angebot anzunehmen und sich auf ihn zu stützen. Sie wusste nicht, was passieren würde, wenn sie ihn berührte.

»Miss Bast?« In Maistowes Stimme schwang fast so etwas wie Panik mit. »Ist auch wirklich alles in Ordnung?«

Sie antwortete nur mit einem kraftlosen Nicken, schleppte sich weiter zum Bett und erschrak selbst, als sie das rasselnde Geräusch hörte, das ihre Atemzüge begleitete. Sie hatte Ben ganz eindeutig unterschätzt. Er hatte ihr fast den Kehlkopf zerquetscht. Wäre sie ein gewöhnlicher Mensch gewesen, dann wäre sie jetzt tot oder zumindest ohnmächtig. Ein weiterer in einer immer länger werdenden Reihe von Fehlern. Müde fragte sie sich, wann sie wohl einen Fehler machen würde, der ihr zum Verhängnis wurde.

Aber vielleicht hatte sie das ja schon.

»Es ist ... schon in Ordnung«, sagte sie, noch immer ein wenig atemlos. Schwäche und Müdigkeit kamen jetzt schubweise, aber in abflauenden und in immer größeren Abständen aufeinanderfolgenden Wellen; eine schwarze Flut, die vergebens gegen die Küste angerannt war und nun allmählich verebbte. Aber sie würde wiederkommen, bald, und dann würde sie doppelt so stark sein. Sie kannte die Anzeichen nur zu gut.

Bast lauschte in sich hinein und versuchte abzuschätzen, wie viel Zeit ihr noch blieb, bevor sie endgültig die Kontrolle verlor und ihre dunkle Schwester erwachte. Eine Stunde, schätzte sie. Zwei, mit sehr viel Glück.

Sie schloss die Augen, atmete tief ein und drängte die letzte schwarze Woge mit aller Macht zurück, bevor sie sich wieder zu Cindy herumdrehte und sie erneut in die Arme schloss. Das Mädchen ließ es auch diesmal widerstandslos mit sich geschehen, aber das hatte nichts damit zu tun, dass sie etwa Vertrauen zu ihr gefasst oder ihre Worte auch nur wirklich gehört hätte. Ihr Blick war noch immer leer, aber unter dieser Leere und tief in ihr Inneres eingebrannt tobte ein entsetzlicher Schmerz. Bast war nicht in der Lage, ihn ihr zu nehmen, aber sie konnte ihn zumindest betäuben, selbst jetzt noch. Wenigstens das konnte sie für sie tun. Die Leere in Cindys Augen wurde noch allumfassender. Ihre Tränen versiegten, und schließlich hörte sie auch auf zu zittern und ließ es zu, dass Bast sie sanft an sich drückte und ihr beschützend die Hand auf den Kopf legte.

»Warum haben Sie das getan?«

Die Frage galt Maude, die noch immer neben dem bewusstlosen Freier kniete und sie aus aufgerissenen Augen anstarrte.

»Das Opium?«, fügte Bast hinzu. »Warum? Hat Ihnen nicht gereicht, was Sie ihr ohnehin schon angetan haben?«

»Aber ... sie wollte es«, stammelte Maude. »Sie hat darum gebettelt!«

»Ja, weil sie das alles hier sonst wahrscheinlich gar nicht ertragen hätte«, murmelte Bast. Tränen der Wut wollten ihr in die Augen schießen, aber Zorn war ein Gefühl, das sie sich im Moment nicht leisten konnte. Sie drängte es zurück, ließ das Mädchen vorsichtig los und stand auf, um sich nach ihren Kleidern zu bücken. Aber sie berührte sie nicht. Es waren ordinäre, billige Fetzen, wie sie keine Frau tragen sollte, und schon gar kein Kind. Sie hätte das Gefühl gehabt, sie zu besudeln, wenn sie sie auch nur angefasst hätte.

Stattdessen hob sie den schwarzen Mantel auf, den der Freier getragen hatte, eine modische Pelerine ganz ähnlich der Inspektor Abberlines, nur sichtlich um etliches teurer, brachte das Mädchen mit einem lautlosen Befehl dazu, aufzusehen, und legte ihr den Mantel um die Schultern.

»Wie ist ihr Name?«, fragte sie.

»Cindy«, antwortete Maude.

»Ich meine ihren richtigen Namen. Wie lautet er?«

»Cindy«, beharrte Maude. »Das ist der einzige Name, den ich kenne. So hat man sie mir vorgestellt, als ich sie ... als sie hergekommen ist.«

»Hergekommen?« Bast starrte sie eisig an. »Als Sie sie gekauft haben, meinen Sie.«

Darauf antwortete Maude gar nicht, aber sie wirkte plötzlich mehr verstockt als eingeschüchtert. Der Schreck ebbte allmählich ab, und nun kam die wahre Maude wieder zum Vorschein, eine Frau, die ebenso wenig Angst wie Skrupel hatte und Bast zweifellos einen gewissen Respekt abgenötigt hätte - wäre der Rest von ihr das genaue Gegenteil von dem gewesen, was er nun einmal war. So empfand sie nichts als Verachtung und Abscheu.

Maude stand auf. Die Bewegung wirkte plötzlich gar nicht mehr schwerfällig und mühsam, und der bewusstlose Mann neben ihr, dem gerade noch ihre ganze Sorge gegolten hatte, schien sie plötzlich nicht mehr zu interessieren. »Und?«, fragte sie herausfordernd. »Was geht's dich an?«

»Ich dachte, die Sklaverei wäre in diesem Land abgeschafft«, antwortete Bast. »Und ihr nennt uns Barbaren?«

»Noch mal, was geht's dich an?«, schnappte Maude. »Sie hat es doch gut bei mir. Sie bekommt genug zu essen, Kleider und ein Dach über dem Kopf, und ...«

Bast ohrfeigte sie. Nicht einmal fest, aber hart genug, um sie zum Schweigen zu bringen und ihre Unterlippe aufplatzen zu lassen. Maude taumelte einen halben Schritt zurück und wischte sich mit dem Handrücken das Blut vom Kinn, aber alles, was in ihren Augen geschrieben stand, war blanker Hass.

Sie wandte sich an Maistowe. »Sie kommt mit. Vielleicht ist es doch gut, dass Sie mich begleitet haben, Kapitän. Bitte gehen Sie und versuchen Sie einen Wagen zu finden. Vielleicht wird Ihnen ja Ihr Freund Abberline helfen.«

»He!«, protestierte Maude. »Was soll das heißen?«

»Dass ich das Mädchen mitnehme«, antwortete Bast ruhig. Ein gar nicht so kleiner Teil von ihr fragte sich, ob sie eigentlich den Verstand verloren hatte, aber sie hielt Maudes Blick gelassen stand. »Haben Sie etwas dagegen?«

»Und ob ich das habe!«, fauchte Maude. »Die Kleine gehört mir! Ich habe für sie bezahlt!«

»Wie viel?«, fragte Bast.

»Dreißig Pfund«, behauptete Maude.

»Verzeihung, Maude, aber zehn käme der Wahrheit wohl näher, nehme ich an«, mischte sich Maistowe ein. »Wenn überhaupt.«

»Und?« Maude stülpte trotzig die Unterlippe vor. »Ich hatte Unkosten! Musste die Kleine erst mal rausfüttern! So dürr wie sie war, hätte kein Mann sie auch nur angerührt! Die Kleider und das Zimmer, das sie belegt, was glaubt ihr, was das kostet! Ich brauche noch Monate, um auch nur meine Unkosten wieder herauszukriegen!«

Maistowe wollte widersprechen, aber Bast brachte ihn mit einer fast befehlenden Geste zum Schweigen. »Es ist gut«, sagte sie. »Wir bezahlen Ihnen die dreißig Pfund. Kapitän Maistowe, haben Sie zufällig so viel bei sich? Sie bekommen es selbstverständlich zurück.«

»Und mein entgangener Verdienst?«, lamentierte Maude.

»Übertreiben Sie es nicht«, antwortete Bast eisig. »Oder legen Sie Wert darauf, dass sich die Behörden für das interessieren, was in Ihrem Etablissement wirklich vorgeht?«

Das war ganz offensichtlich der falsche Ton. Maude sah keineswegs eingeschüchtert oder gar verängstigt aus, sondern wirkte ganz im Gegenteil eher triumphierend. Also gut.

Bast sah ihr tief in die Augen und gab ihr etwas, wovor sie Angst haben konnte.

Sehr große Angst.

Maude wurde kreidebleich und wich einen Schritt vor ihr zurück, und dann noch einen und noch einen, bis sie mit dem Rücken gegen die Wand stieß. Dann begann sie am ganzen Leib zu zittern.

»Wir nehmen das Mädchen mit«, sagte sie. »Ob wir uns jemals wiedersehen, liegt ganz bei Ihnen, Maude. Sie bekommen, was Sie verlangen, und damit sollten Sie sich zufriedengeben. Haben Sie das verstanden?«

Maude nickte. Sie war sehr blass. Und sie meinte dieses Nicken ernst.

»Gut.« Bast warf Maistowe einen auffordernden Blick zu. »Gehen wir.«

Maistowe war viel zu erschrocken, um zu widersprechen - oder überhaupt etwas zu sagen. Gehorsam wandte er sich um und eilte aus dem Zimmer, während Bast dem Mädchen die Hände auf die Schultern legte und es wie eine willenlose Puppe vor sich her auf den Flur schob. Sehr viel mehr war es im Augenblick auch nicht, aber das war vermutlich auch besser so. Sie musste dieses Kind zuallererst hier heraus und in Sicherheit bringen, für alles andere war später noch Zeit.

Maistowe war nur ein paar Schritte weit gegangen und dann wieder stehen geblieben, das aber so weit von dem immer noch bewusstlosen Türsteher entfernt, wie es nur ging. Er sah unglücklich aus; und sehr, sehr erschrocken.

»Nehmen Sie sie«, bat Bast. »Bringen Sie sie zu Mrs Walsh und bitten Sie sie, sich um sie zu kümmern, bis ich zurück bin.«

»Und Sie?«, fragte Maistowe zögernd.

»Ich habe hier noch zu tun«, antwortete Bast. »Aber ich komme nach, sobald ich kann.«

Maistowe wirkte nicht überzeugt. Er rührte sich auch nicht, sondern starrte Cindy nur aus großen Augen an. Wenn Bast jemals einen Mann gesehen hatte, der Angst hatte, dann ihn und jetzt.

»Gehen Sie jetzt, Kapitän«, sagte Bast. Und sie sagte es nicht nur, sondern verlieh ihren Worten auch auf anderem Wege Nachdruck; mit schlechtem Gewissen, aber ohne eine Wahl. Ihre Zeit lief ab, und das immer schneller.

Eine weitere, schier endlose Sekunde verstrich, aber dann löste er sich mit einer schon fast übertriebenen Bewegung aus seiner Starre, ergriff Cindy bei der Hand und führte sie weg. Bast wartete, bis sich die Tür am Ende des schmalen Ganges hinter ihnen geschlossen hatte, dann ließ sie sich neben dem noch immer bewusstlosen Ben in die Hocke sinken und legte ihm die Hand auf die Stirn. Sie konnte nicht nur nehmen, sondern auch geben, und nach einem Moment öffnete Ben stöhnend die Augen und kämpfte sich ins Bewusstsein zurück.

»Bleib liegen«, sagte sie sanft. »Dir ist nichts passiert. In ein paar Stunden wirst du dich wieder vollkommen gesund fühlen.« Sie lächelte flüchtig. »Und mach dir nichts draus, dass ich dich geschlagen habe. Kein normaler Mann kann mich besiegen, weißt du?« Und dabei wäre es ihm um ein Haar gelungen. Für einen Sterblichen war er geradezu unvorstellbar stark, und ...

Bast spürte gerade noch rechtzeitig die Gefahr, die sich unter dem Schutz dieses Gedankens einschleichen wollte, und zog die Hand so hastig zurück, als hätte sie versehentlich eine glühende Herdplatte berührt.

»Und was ist mit meinem Geld?«, fragte Maude hinter ihr.

Bast schwieg geschlagene drei Sekunden - genau die Zeit, in der sie ganz ernsthaft den Gedanken erwog, sie zu töten -, aber dann stand sie auf, drehte sich mit einer erzwungen ruhigen Bewegung zu ihr herum und sagte kühl: »Ich lasse es Ihnen morgen bringen. So lange werden Sie mir doch sicher vertrauen, oder?« Ihr Lächeln wurde noch eine Spur kühler. »Es sei denn, Sie legen Wert darauf, dass ich es Ihnen persönlich bringe.«

Sie war nicht besonders überrascht, dass Maude darauf nicht bestand.



Mittlerweile war der neue Tag schon mehr als eine Stunde alt, aber durch die Ritzen in den geschlossenen Fensterläden des Ten Bells fiel noch immer flackerndes rotes Licht, und man konnte nach wie vor das Klirren von Gläsern und die Stimmen der Zecher hören, für die das Wort Sperrstunde so wenig Bedeutung zu haben schien wie irgendein Begriff aus ihrer seit fünftausend Jahren vergessenen Muttersprache. Der einzige Unterschied zu ihrer Erinnerung von gestern war, dass die Tür jetzt geschlossen war.

Bast klopfte. Natürlich erfolgte keinerlei Reaktion - jedenfalls keine, die auf den ersten Blick sichtbar gewesen wäre -, aber ihre feinen Sinne verrieten ihr trotzdem, dass ihr Klopfen gehört worden war, und dass nun irgendjemand aufmerksam lauschte. Sie konzentrierte sich, erkannte den Rhythmus, auf den der andere wartete, und klopfte erneut: Einmal, Pause, zweimal, Pause, und dann noch einmal.

»Verdammt nochmal, Red, mach die Tür auf«, rief sie. »Bevor ich sie eintrete!«

Sie machte sich nicht die Mühe, ihre Stimme zu verstellen - das erledigte schon das dicke Holz der Tür für sie -, aber die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Schlurfende Schritte näherten sich der Tür, dann wurde sie unsanft aufgerissen, und ein ziemlich verdutzter rothaariger Bursche sah zu ihr hoch. »Aber was ...?«

Bast schob ihn kurzerhand zur Seite und trat gebückt durch die niedrige Tür. Das Ten Bells war nicht annähernd so überfüllt und lärmend wie gestern, für ein Gasthaus, das seit gut drei Stunden geschlossen sein sollte, allerdings sehr gut besucht. Die Luft war so dick, dass man sie buchstäblich schneiden konnte, und nicht nur vom Tabak- und Alkoholgestank erfüllt, sondern auch von demselben, süßlichen Geruch, den sie vorhin in Maudes Lasterhöhle wahrgenommen hatte; wenn auch nicht annähernd so stark.

Nur jeder dritte oder vierte Tisch war besetzt, und wie nicht anders zu erwarten, starrten für zwei oder drei Augenblicke nahezu alle Gäste neugierig in ihre Richtung, und längst nicht bei allen erlosch das Interesse so schnell, wie ihr lieb gewesen wäre. Es hielten sich freilich nur noch gut zwanzig oder dreißig Personen in dem niedrigen Raum auf. Und noch etwas hatte sich verändert; auch wenn diese Veränderung auf den ersten Blick vielleicht nicht sichtbar und eher zu spüren als wirklich zu erkennen war: Die Gäste saßen allein oder in kleinen Gruppen an ihren Tischen, redeten, stritten, lachten oder betranken sich auch stumm und mit grimmiger Entschlossenheit, aber die allgemeine Stimmung war trotzdem angespannt. Bast konzentrierte sich auf zwei oder drei Gesprächsfetzen und registrierte ohne die geringste Überraschung, dass es nur ein einziges Thema zu geben schien: den neuerlichen Mord, der quasi vor ihrer Haustür stattgefunden hatte.

Jemand zupfte an ihrem Mantel, und als Bast sich herumdrehte, sah sie in das Gesicht des rothaarigen Burschen hinab, der sie eingelassen hatte. Er wirkte noch immer genauso verstört und überfahren wie gerade, erkämpfte sich seine Fassung aber nun mit sichtlicher Anstrengung zurück.

»Was?«, machte Bast, ganz bewusst unfreundlich.

Ganz wie sie erwartet hatte, hatte der Rotschopf es plötzlich sehr eilig, ihren Mantel loszulassen und sich ein Stück weit zurückzuziehen. Irgendwie sah er plötzlich noch kleiner und eingeschüchterter aus. Trotzdem brachte er es irgendwie fertig, all seinen Mut zusammenzukratzen und die schmalen Schultern zu straffen. »Verzeihen Sie, Ma'am«, sagte er, »aber wir haben eigentlich geschlossen. Schon seit einer ganzen Weile.«

»Geschlossen?« Bast warf einen demonstrativen Blick in die Runde.

»Das ist eine geschlossene Gesellschaft«, behauptete Red. »Wir sind ... ähm ... nur privat hier.«

»Und das sind alles Ihre guten Freunde, vermute ich«, sagte Bast. Sie wartete, bis er genickt hatte, und fügte dann hinzu: »Das trifft sich gut. Schließlich sind wir doch auch gute Freunde, oder?«

»Also, eigentlich ...«

»Ich suche nur jemanden, keine Sorge«, fuhr sie unbeeindruckt fort, als hätte er gar nichts gesagt. »Ich bleibe nicht lange. Aber für ein Bier wird es reichen.« Während sie das sagte, maß sie ihn mit einem knappen, abschätzenden Blick, der aber zu genau dem Ergebnis führte, das sie erwartet hatte: Der Bursche war vielleicht etwas älter, als sie ihn gestern eingeschätzt hatte, und jetzt, müde und erschöpft von einem viel zu langen Tag, wirkte er um einiges ernster und auf eine unpassende Art erwachsener, aber unter dieser Maske, die ihm das Leben gegen seinen Willen übergestülpt hatte, blieb er ein Kind.

Und er würde niemals erwachsen werden.

Bast blickte tiefer in ihn hinein und berührte etwas, das sie erschauern ließ; wie etwas Faulendes, Totes, das zu lange unentdeckt und verwesend in einem verborgenen Winkel gelegen hatte. Der Tod hatte ihn bereits gezeichnet. Noch zwei Monate, schätzte sie. Vielleicht drei. Ein flüchtiges Gefühl von Mitleid überkam sie und erlosch wieder, bevor es wirklich Besitz von ihr ergreifen konnte.

»Wenn ... Sie die drei von gestern suchen, die sitzen da hinten«, sagte er zögernd. Bast war ganz und gar nicht auf der Suche nach Liz und ihren Freundinnen gewesen, sondern nach etwas ganz anderem, aber ihr Blick folgte trotzdem der Richtung, in die seine ausgestreckte Hand wies. Die drei Frauen saßen am gleichen Tisch wie gestern - offenbar ihr Stammplatz -, hatten ihr aber den Rücken zugewandt, sodass sie sie nicht gleich erkannt hatte, und schienen merkwürdig gedrückter Stimmung zu sein.

»Also gut«, sagte sie. »Bring mir einen Krug Bier ... oder gleich eine Runde an den Tisch. Und für dich auch eins.«

Sie ging los, bevor er irgendwelche Einwände erheben konnte, und schlenderte bewusst langsam durch den Raum. Noch immer wurde sie angestarrt, und obwohl sie mehr als einen Blick offen erwiderte, sah längst nicht jeder hastig weg, wie sie es gewohnt war. Anscheinend war es mit ihrer einschüchternden Wirkung nicht mehr allzu weit her.

Aber um genau das zu ändern, war sie ja hier. Ein Teil von ihr tastete weiter aufmerksam umher und suchte nach einem geeigneten Opfer, und er tat es mit wachsender Nervosität. Noch blieb ihr Zeit, eine Auswahl zu treffen, aber wenn sie nicht bald fündig wurde, dann würde der Hunger die Oberhand gewinnen, und das bedeutete möglicherweise den Tod eines Unschuldigen.

Nein, nicht möglicherweise. Ganz sicher ...

Bast schüttelte den Gedanken mit einiger Mühe ab, trat an den Tisch heran und nahm schweigend und unaufgefordert auf einem freien Stuhl Platz. Sie erkannte Kate, Marie-Jeanette und Faye, und außerdem noch zwei weitere Frauen, die gestern Abend nicht dabei gewesen waren und sie unverhohlen neugierig anstarrten. Niemand sagte etwas, und Faye lächelte sogar flüchtig, aber sie hätte schon blind sein müssen, um nicht zu spüren, dass etwas nicht stimmte.

»Stimmt irgendetwas nicht?«, fragte sie übergangslos.

Fayes Lächeln wurde traurig, und eine der beiden anderen Frauen stand wortlos auf und ging. Die andere sah sie stirnrunzelnd und sehr aufmerksam an, aber Bast interessierte sich nicht genug für sie, um ihr mehr als einen flüchtigen Blick zu schenken. Das Wissen, angestarrt zu werden, nahm allmählich eine fast körperliche Intensität an. Sie hatte das Gefühl ... begrapscht zu werden.

»Was?«, fragte sie.

»Liz«, antwortete Faye leise.

»Was ist mit ihr?« Bast sah sich ganz automatisch noch einmal um, obwohl ihr schon beim Näherkommen aufgefallen war, dass eine der vier Frauen fehlte. »Sie ist nicht da.«

»Und sie kommt auch nicht mehr«, fügte Kate hinzu. Im Gegensatz zu Faye lächelte sie nicht, und ihr Gesicht und ihre Stimme waren so kalt wie Stein. »Und jetzt sag nicht, du weißt es noch nicht. Oder willst du uns erzählen, dass du rein zufällig ausgerechnet jetzt hier auftauchst?«

»Ich habe nicht die geringste Ahnung ...«, begann Bast, und dann konnte sie fast körperlich spüren, wie hinter ihrer Stirn etwas einrastete.

»Liz?«, murmelte sie schockiert. »Sie ist ...?«

»Tot«, antwortete Kate hart. »Wenn du ein paar Schritte weiter die Straße runtergehst, kannst du sie vielleicht noch sehen. Er hat wieder zugeschlagen.«

»Das steht noch gar nicht fest«, sagte Faye. »Es könnte auch ...«

»... ein reiner Zufall sein?«, unterbrach sie Kate. Sie klang bitter, aber auch hörbar feindselig, und es war eine Feindseligkeit, die ihr galt. Bast konnte sie nur weiter verstört anblicken. Liz war tot? Das war schlimm, aber es hätte sie nicht so erschrecken dürfen, wie es das getan hatte. Schließlich war sie eine Wildfremde für sie. Sie hatte sie nur ein einziges Mal getroffen, und sie war noch dazu eine Frau von zweifelhaftem Ruf und nicht unbedingt angenehmem Charakter; niemand, den sie freiwillig zu ihren Freunden gezählt hätte. Außerdem gehörte der Tod - noch dazu der Tod Sterblicher - so sehr zu ihrem Alltag, dass er sie gar nicht hätte berühren dürfen.

Aber er tat es. Sie fühlte sich persönlich angegriffen, aus einem Grund, den sie im ersten Moment nicht einmal selbst benennen konnte.

»Und ihr seid sicher, dass es derselbe war, der schon eure Freundinnen getötet hat?«

Sowohl Kate als auch Marie-Jeanette nickten - die Fremde, deren Namen sie nicht kannte, blickte sie weiter stumm und auf die gleiche, unangenehme Art abschätzend an. Bast versuchte ihren Blick zu erwidern, aber ihr Interesse erlosch ebenso rasch wieder wie gerade - und außerdem hatte sie im Moment wirklich andere Probleme -, während Faye nur die Schultern hob.

»Vielleicht. Ich ... bin nicht sicher.«

»Blödsinn!«, schnaubte Kate. »Du willst es nicht wahrhaben, Süße, das ist alles. Aber das wird dir nichts nutzen, wenn er sich dich als Nächste vornimmt und dich aufschlitzt.«

Plötzliche Wut nahm die Stelle verzweifelter Trauer in Fayes Blick ein, und sie setzte zu einer scharfen Antwort an, die zweifellos zu einem heftigen Streit zwischen ihnen geführt hätte, wäre nicht in diesem Moment Red hinter ihnen aufgetaucht, um das bestellte Bier zu bringen. Faye schluckte alles herunter, was ihr so sichtbar auf der Zunge lag und begnügte sich mit einem giftigen Blick in Richtung ihrer beiden Freundinnen, während der Rotschopf die Krüge lautstark und so unsanft auf dem Tisch ablud, dass der Schaum spritzte.

»Bitte!«, sagte Bast besänftigend, als sie wieder allein waren. »Ihr seid erregt, und ich kann mir auch vorstellen, dass ihr Angst habt, aber damit tut ihr euch keinen Gefallen. Warum erzählt ihr mir nicht einfach, was passiert ist?«

»Warum sollten wir?«, fragte Kate. Sie tauschte einen Blick mit Marie-Jeanette, der Bast nicht gefiel, aber sie konnte auch dieses Gefühl nicht begründen. Tief in sich spürte sie, wie die nächste Welle verzehrender Schwäche heranzurollen begann, und versuchte sich gegen ihren Anprall zu wappnen. »Ich finde, du stellst ziemlich viele Fragen für jemanden, den wir gar nicht kennen.«

»Er hat ihr die Kehle durchgeschnitten«, sagte Faye leise. »Einfach so. Ganz ohne Grund. Ist einfach plötzlich aufgetaucht und hat es getan. Wie ein Gespenst.«

Es dauerte einen Moment, bis Bast die wahre Bedeutung dieser Worte begriff. »Moment mal«, sagte sie ungläubig. »Soll das heißen, du hast es gesehen? Du warst dabei?«

Faye nickte zwar, sagte aber trotzdem: »Nein. Nicht ... direkt, meine ich. Wir waren draußen. Zusammen. Liz an ihrem Stammplatz, und ich an meinem, auf der anderen Straßenseite. Wir stehen da immer, weißt du? Seit es angefangen hat. So, dass ... dass wir uns gegenseitig im Auge behalten können.«

»Und das hat Liz ja auch wirklich geholfen«, sagte Kate abfällig. »Nicht wahr?«

»Was hast du gesehen?«, fragte Bast rasch. Gleichzeitig versuchte sie, Kate ein wenig zu beruhigen, aber nicht einmal mehr dazu reichte ihre Kraft.

»Eigentlich nichts«, antwortete Faye. »Es ... ging unheimlich schnell. Er ist einfach aufgetaucht und ... und hat ihr die Kehle durchgeschnitten. Ich habe es erst gemerkt, als ... als sie zusammengebrochen ist. Hat nicht einmal mehr geschrien.« Ihre Stimme versagte, und sie verlor den Kampf gegen die Tränen endgültig. Hastig trank sie einen Schluck Bier, wobei sie beide Hände brauchte, um den schweren Krug anzuheben, und trotzdem einen Teil seines Inhalts verschüttete, fuhr sich mit dem Handrücken über das Gesicht, um Tränen und Bier wegzuwischen, und fuhr schließlich mit noch leiserer, mühsam beherrschter Stimme fort: »Ich bin gleich hingelaufen, aber ich konnte nichts mehr machen. Sie war ... da war so viel Blut, und ...«

Bast legte ihr beruhigend die Hand auf den Unterarm, und wenigstens diese kleine, menschliche Geste tat ihren Dienst. Faye beruhigte sich nicht wirklich, aber sie schenkte ihr zumindest ein kleines, dankbares Lächeln.

»Du hättest nichts mehr tun können«, sagte sie.

»Außer dich vielleicht selbst umbringen lassen«, fügte Kate verächtlich hinzu. »Was hättest du gemacht, wenn der Kerl auch auf dich losgegangen wäre, Schätzchen?«

»Er war ja schon weg«, antwortete Faye.

»Ja, weil er so große Angst vor dir hatte, nicht wahr?«, versetzte Kate böse. Sie schüttelte den Kopf. »So was Dämliches! Wenn er nicht weggelaufen wäre, dann wärst du jetzt auch tot. Warum schneidest du dir nicht gleich selbst die Kehle durch? Das geht schneller als das, was der Kerl mit dir machen würde!«

»Lass sie in Ruhe«, mischte sich Marie-Jeanette ein. »Sie zittert ja jetzt noch vor Angst. Ich finde, was sie getan hat, war sehr mutig.« Direkt an Faye gewandt und mit einem leisen Lächeln fügte sie hinzu: »Ist schon gut, Kleines. Mach dir keine Vorwürfe. Du hättest nichts tun können. Und Liz hat bestimmt nichts gemerkt. So was geht ganz schnell.«

Bast hätte ihr sagen können, dass das nicht stimmte. An einer durchschnittenen Kehle zu sterben war ein leiser Tod, aber gewiss kein schneller. Wenn Liz Glück gehabt hatte, dann hatte der Schock sie das Bewusstsein verlieren lassen, aber sehr viel wahrscheinlicher war sie an ihrem eigenen Blut erstickt, qualvoll und über zwei oder drei Minuten hinweg, eine Ewigkeit, in der sie ihren Schmerz nicht einmal hatte hinausschreien können.

Trotzdem sagte sie: »Das stimmt. Wahrscheinlich hat sie gar nichts gespürt.«

»Na, du musst es ja wissen!«, schnaubte Kate und tauschte schon wieder einen jener eigenartigen Blicke mit Marie-Jeanette und der Fremden neben sich. »Ich finde, du stellst eine Menge Fragen für jemanden, der in dieser Gegend angeblich niemanden kennt und hier auch nicht herpasst!«

Bast ignorierte die kaum noch verhohlene Feindseligkeit in Kates Blick und wandte sich wieder direkt an Faye. »Hast du der Polizei erzählt, was du gesehen hast?«

»Es war doch nur ein Schatten.«

»Der Polizei?« Kate lachte hässlich. »Schätzchen, du hast wirklich keine Ahnung, wie das hier läuft, wie? Als ob die uns beschützen würden: Sie hätten Faye mitgenommen und erst mal ins Loch geworfen, und vielleicht würden sie sie nach einer Woche wieder gehen lassen - nachdem sie alle ihren Spaß mit ihr gehabt haben, heißt das.«

Bast spürte, wie bitterernst diese Worte gemeint waren, aber es fiel ihr trotzdem schwer, sie zu glauben. Ganz egal, was Maistowe auch von Abberlines Fähigkeiten als Polizist zu halten schien, er war ein grundehrlicher Mann, der seinem Beruf aus Überzeugung nachging. Sie schüttelte den Kopf und setzte zu einer entsprechenden Entgegnung an, doch Kate kam ihr abermals zuvor.

»Du hast wirklich nicht die geringste Ahnung, aber du stellst eine Menge Fragen, finde ich. Suchst du eigentlich immer noch nach Patsy, deiner Freundin? Ich meine: Sie ist doch deine Freundin, oder?«

Bast nickte. »Sicher. Warum fragst du?«

»Ich wundere mich nur ein bisschen«, antwortete Kate. »Weil, wenn sie wirklich deine Freundin ist, dann ist es schon irgendwie komisch, dass du sie nicht mal erkennst - wo sie doch die ganze Zeit neben mir sitzt.«

Bast starrte sie einen halben Atemzug lang einfach nur verwirrt an, dann wandte sie mit einem Ruck den Kopf und blickte in ein Gesicht, das ihr vertraut war wie ihr eigenes Spiegelbild.

»Hallo Bastet«, sagte Isis.

Bast hörte die Worte kaum. Sie konnte Isis nur anstarren, dieses so unendlich vertraute, nachtschwarze Gesicht unter einer ungebändigten dunkelroten Haarpracht, das einfach nicht zu übersehen war, und das sich selbst jetzt ihrem Erkennen nur deshalb nicht entzog, weil Isis es zuließ.

»Schön, dich nach so langer Zeit wiederzusehen«, fuhr Isis fort. »Und ich dachte schon, du willst mich nicht erkennen.« Sie legte den Kopf schräg. Das Lächeln blieb auf ihrem Gesicht, aber in ihren Augen erschien ein nachdenklicher, fast schon lauernder Ausdruck. »Bastet ist doch richtig, oder? Oder sollte ich Sachmet sagen?«

Wieder spürte Rast das Herannahen einer Woge saugender Schwäche, aber sie war plötzlich nicht einmal mehr sicher, ob diese Mattigkeit tatsächlich aus ihr selbst kam, oder ob da etwas - jemand - war, der ihr die Kraft stahl.

Dieser Verdacht beleidigt mich, Schwester, erklang Isis' Stimme hinter ihrer Stirn. So etwas würde ich niemals tun, du solltest das eigentlich wissen.

»Hör ... auf damit«, murmelte Bast stockend. »Du weißt, dass ich das nicht mag.«

»Womit?« Kate runzelte die Stirn, und auch Marie-Jeanette blickte fragend von ihr zu Isis und wieder zurück.

Dann tu etwas dagegen, fuhr Isis lächelnd fort. Oder kannst du das nicht mehr?

»He, was ist hier los?«, erkundigte sich Kate misstrauisch. »Ihr beide kennt euch also doch?«

»Natürlich«, antwortete Isis, ohne dass ihre Augen Basts Blick losließen. »Aber ich nehme es ihr nicht übel, dass sie mich nicht sofort erkannt hat. Wir haben uns sehr lange nicht mehr gesehen. Wie lange war es noch genau?« Zweihundert Jahre? Oder sind es schon dreihundert? Die Zeit vergeht so schnell, dass ich mich manchmal frage, wo die Jahre geblieben sind.

Bast versuchte vergeblich, die lautlos flüsternde Stimme zwischen ihren Schläfen zum Verstummen zu bringen. Isis' Gesicht ... Nein, es veränderte sich nicht wirklich vor ihren Augen. Sie erkannte es nur plötzlich nicht mehr, als säße sie einer vollkommen Fremden gegenüber, keiner Frau, mit der sie die Jahrtausende geteilt hatte.

Bitte hör damit auf!

Ganz wie du willst. Aber du solltest dir endlich selbst eingestehen, in welch schlechtem Zustand du bist. Du brauchst ...

»Ich weiß selbst, was ich brauche!«, fauchte Bast laut. Isis - die nun wieder Isis war, wenn auch vermutlich nur für sie selbst, nicht für Kate oder Marie-Jeanette oder Faye oder irgendeinen anderen hier drinnen - lächelte nur verzeihend und ließ ihren Blick endlich los, und die Schwäche rollte endgültig heran und drohte sie zu übermannen. Isis streckte rasch den Arm über den Tisch und ergriff ihre Hand, und die Dunkelheit zog sich fast erschrocken zurück, als eine Woge unsichtbarer, warmer Kraft durch ihren Körper strömte.

Siehst du, Schwester? Ich weiß es sehr wohl.

»Kann es sein, dass ihr beide uns auf den Arm nehmen wollt?«, fragte Kate. »Was soll das Theater? Ich ...«

»Es ist schon gut, Kate.« Isis machte eine winzige, kaum sichtbare Bewegung mit den Fingern der freien Hand, und etwas in Kates Blick erlosch. Für die Dauer von zwei oder drei Atemzügen wirkte sie einfach nur verwirrt und hilflos, dann atmete sie hörbar ein und stand mit einem plötzlichen Ruck auf.

»Na ja, dann lasse ich euch zwei Turteltäubchen mal ein bisschen allein«, sagte sie, irgendwie schleppend. »Ihr habt euch nach so langer Zeit bestimmt eine Menge zu erzählen.«

»Was hast du vor?«, fragte Faye alarmiert. Isis zog ihre Hand zurück, und der Strom erquickender Stärke erlosch. Was blieb, war ein täuschendes Gefühl von Sicherheit, und das Wissen, dass es nur geliehene Kraft war, und dass sie einen vielleicht zu hohen Preis dafür zahlen würde.

»Na was schon?«, antwortete Kate. »Die Nacht ist noch jung, Süße. Liz war genauso meine Freundin wie deine, aber um sie zu trauern, macht keinen von uns satt, weißt du? Ich muss sehen, dass ich was Warmes in den Bauch bekomme.« Sie grinste anzüglich. »So oder so.«

Deine Freundin, spöttelte Isis lautlos. Glaubst du immer noch, dass es schade um sie ist?

»Aber du kannst doch jetzt nicht arbeiten!« Faye klang eindeutig entsetzt. »Was ist denn, wenn er noch da draußen ist?«

»Aber du hast doch selbst gesagt, dass es nicht der Ripper war«, antwortete Kate. »Außerdem kommt der Kerl ganz bestimmt nicht wieder. Nicht heute Nacht, mach dir keine Sorgen. Schließlich hast du ihn ja verjagt!« Sie setzte dazu an, sich herumzudrehen und zu gehen, hielt aber dann mitten in der Bewegung noch einmal inne und wandte sich mit einem fragenden Blick an Maire-Jeanette.

»Ihr seid verrückt«, murmelte Faye, als auch Kates blonde Freundin aufstand und sich zum Gehen wandte.

»Möglich. Aber morgen früh ganz bestimmt nicht so hungrig wie du, Süße«, antwortete Kate.

Sie ging. Bast wartete, bis Marie-Jeanette und sie außer Hörweite waren, dann wandte sie sich in vorwurfsvollem Ton an Isis. »Warum hast du sie nicht zurückgehalten?«

Warum sollte ich? Welche Rolle spielt es schon, ob sie jetzt stirbt oder in dreißig Jahren? Laut sagte sie: »Sie hat völlig recht. Heute Nacht kommt er bestimmt nicht zurück. Es wimmelt von Polizei und Neugierigen. Und solltest du moralische Bedenken haben ... die findet heute Nacht auch bestimmt keinen Kunden mehr.«

»Aber sie würden ...«, begann Faye, und Isis wiederholte ihre winzige Handbewegung. Faye verstummte mitten im Satz und schien für einen Moment nicht mehr zu wissen, wo sie war, dann wurden ihre Augen trüb. Sie griff nach ihrem Bierkrug, trank aber nicht, sondern hielt ihn nur mit beiden Händen fest und starrte aus blicklosen Augen hinein.

»Keine Sorge«, sagte Isis. »Sie hört nichts mehr. Wir brauchen uns nicht zu verstellen.«

»Warum tust du das?«, fragte Bast vorwurfsvoll. »Du weißt, dass es nicht richtig ist.«

»Was?« Isis' Stimme wurde spöttisch. »Den freien Willen eines Menschen zu missachten?« Sie lachte, aber es klang einfach nur hässlich. »Nein, meine Frage von vorhin war vollkommen überflüssig. Sachmet würde einen solchen Unsinn nicht reden. Du bist Bastet. Noch.«

Bast streifte Faye mit einem nervösen Blick, aber es war so, wie Isis gesagt hatte: Ihr Gesicht und ihre Augen waren leer. Sie war bei Bewusstsein, aber zugleich auch gefangen in einer eigenen, isolierten Welt, in die nichts hinein- oder herausdrang. Der Anblick stimmte sie traurig. Ganz egal, was Isis sagte und ob sie recht hatte oder nicht - es war nicht richtig.

»Also, was willst du hier?«, fragte Isis plötzlich.

»Ich habe dich gesucht.«

»Ja, und jetzt hast du mich gefunden.« Sie zog eine Grimasse. »Aber du erwartest nicht, dass ich dir vor Freude um den Hals falle, oder? Ich dachte, ich hätte mich gut genug vor dir und den anderen versteckt, aber das war wohl ein Irrtum.«

»Horus ist hier«, sagte Bast.

Isis zog zweifelnd die linke Augenbraue hoch, aber Bast spürte zugleich auch nicht die leiseste Überraschung. »Hier? In London?«

»Ich habe ihn gesehen«, bestätigte Bast. »Heute Morgen erst. Ihn und Sobek.«

»Und du lebst noch? Mein Kompliment!«

»Er würde mir nie etwas antun«, sagte Bast überzeugt. »Du kennst seinen Standpunkt.«

»Oh ja, der gute Horus und seine Ehre!« Isis machte ein abfälliges Geräusch. »Wir töten einander nicht, nicht wahr? Aber wir sehen zu, wie andere das für uns erledigen. Ja, das klingt ganz nach meinem Gatten, wie er leibt und lebt. Was will er?«

»Das hat er nicht gesagt«, antwortete Bast, »aber ich nehme an, dasselbe wie ich. Er sucht dich!«

»Und deshalb bist du gekommen - um mich vor ihm zu warnen?«, vermutete Isis. Ihre Miene verdüsterte sich. »Du erwartest doch keine Dankbarkeit, oder?«

»Wir wollen, dass du zurückkommst«, antwortete Bast ruhig. »Nicht nur ich. Die anderen auch ... jedenfalls die meisten.«

»Warum?«

»Warum?«

»Warum«, bestätigte Isis. »Was stört es euch, wo ich lebe oder wie?«

»Weil du nicht hierher gehörst«, antwortete Bast überzeugt. »Nicht in dieses Land, und schon gar nicht ...«, sie machte eine ausholende, angewiderte Geste, »... hierher.«

»Ja, jetzt kommt tatsächlich die gute alte Bastet wieder zum Vorschein, wie wir sie alle kennen und lieben, nicht wahr?«, fragte Isis. Sie lachte, aber ihre Augen schienen sich plötzlich in Stein zu verwandeln. »Wie schade nur, dass du bei dir selbst nicht dieselben Maßstäbe anlegst.«

Bast schluckte, als hätte sie sie unversehens geohrfeigt. Und irgendwie hatte sie das auch. »Faye und die anderen haben mir erzählt, dass du ...«

»Dass ich hier arbeite? Stimmt«, unterbrach sie Isis. »Nur dann und wann, und nicht unbedingt aus denselben Gründen wie sie. Hast du ein Problem damit?«

»Ich nicht, aber vielleicht deine Kunden.«

Isis lachte leise. »Bis jetzt hat es noch jeder überlebt, keine Sorge. Ich weiß, wie weit ich gehen kann. Ganz im Gegensatz zu dir.«

»Was soll das heißen?«

»Man erzählt sich hier eine interessante Geschichte über Roy und seine Bande«, antwortete Isis lächelnd. »Wie es aussieht, hat ihnen jemand ziemlich übel mitgespielt. Ich nehme nicht an, dass du etwas darüber weißt? Wie man hört, sollst du gestern Abend einen ziemlich heftigen Streit mit ihnen gehabt haben.«

»So schlimm war es nun auch wieder nicht«, antwortete Bast achselzuckend. Sie wollte nicht über Roy und seine Schlägerbande sprechen. Sie wollte dieses Gespräch überhaupt nicht führen, nicht so. Alles begann ihr zu entgleiten.

»Schlimm genug, wie man sich erzählt«, sagte Isis. »Einer der Kerle ist tot, und die drei anderen werden wohl so schnell nicht aus dem Hospital kommen. Roy ist der Einzige, der einigermaßen ungeschoren davongekommen ist. Da frage ich mich, warum.«

»Vielleicht hatte er einfach Glück«, antwortete Bast spröde. »Oder wer immer ihn und seine Bande aufgemischt hat, wurde gestört ... was weiß ich.« Sie machte eine unwillige Handbewegung. »Aber ich bin nicht hier, um über Roy zu reden.«

»Sondern?«

»Über dich, Isis«, antwortete Bast ernst. »Komm zurück! Ich weiß nicht, warum Horus und Sobek wirklich hier sind, aber ich habe kein gutes Gefühl dabei.«

»Du meinst, ich wäre in Gefahr?« Isis lachte leise. »Nicht doch, Schwesterchen. Du hast mir doch gerade selbst gesagt, dass er niemals die Hand gegen einen von uns erheben würde. Und schon gar nicht gegen seine Geliebte.«

Allein die Art, auf die sie dieses Wort betonte, ließ Bast schon wieder unmerklich zusammenfahren. Verdammt, ja, sie hatte sich mit Horus eingelassen, und es war nicht nur eine Enttäuschung gewesen, seither war kaum ein Tag vergangen, an dem sie es nicht bereut hatte. Und es war so lange her!

»Ich dachte, du hättest mir verziehen«, sagte sie. »Mehr als dich um Verzeihung bitten kann ich nicht.«

»Verzeihung?« Isis spielte perfekt die Überraschte. »Da gibt es nichts zu verzeihen. Von mir aus kannst du Horus haben und irgendwo auf der Welt eine Dynastie mit ihm gründen. Er ist mir vollkommen egal - und das war es auch schon, bevor du dein Interesse an ihm entdeckt hast, Schwester.«

»Vielleicht sieht er das ja nicht so«, antwortete Bast. Sie klang plötzlich ebenso spröde und abweisend wie Isis, aber insgeheim war sie erleichtert. Isis' Worte waren aufrichtig gemeint; ganz bewusst verletzend vielleicht, aber ehrlich. »Und selbst wenn doch ... du solltest nicht hierbleiben. Ich bin nicht ganz sicher, ob sie mir das alles nicht nur vorgespielt haben, um mich zu provozieren, aber wenn nicht ...« Sie hob die Schultern. »Du kennst Horus besser als ich. Ich fürchte, Sobek und er befinden sich auf irgendeinem verrückten Kreuzzug.«

»Jetzt übernimmst du schon ihren Wortschatz«, sagte Isis spöttisch. »Aber dann solltest du das auch richtig tun. Sie waren es, die die Kreuzzüge gegen uns geführt haben, nicht umgekehrt.«

»Du weißt, wovon ich rede.«

»Ja. Von Horus und seiner alten Lieblingsidee, dass sie kein Recht haben, unsere Geschichte zu plündern. Irgendwie kann ich das nachvollziehen. Warst du schon einmal im Britischen Museum?«

»Heute, ja«, antwortete Bast. Sie behielt Isis' Gesicht bei diesen Worten aufmerksam im Auge, aber wenn sie wusste, was heute Morgen wirklich geschehen war, so hatte sie sich meisterhaft in der Gewalt.

»Dann weißt du, dass er recht hat«, sagte Isis. »Horus ist nicht der Einzige, der nicht glücklich darüber ist, die heiligsten Stätten unseres Volkes entweiht zu sehen, aber keine Sorge ...«, sie hob rasch die Hand, »... ich halte ihn für genau so verrückt wie du. Die Zeiten wandeln sich.«

»Horus ist nicht verrückt, er ist gefährlich«, erwiderte Bast ernst. »Für uns alle. Auch für dich. Er kann diesen Krieg nicht gewinnen.«

»Ich fürchte, damit hast du recht«, seufzte Isis. »Aber er wird wohl auch der Erste sein, der es merkt.«

»Es könnte unser aller Untergang sein«, antwortete Bast so ernst, wie sie nur konnte. »Wir haben all die Jahrhunderte überlebt, weil niemand von unserer Existenz wusste. Wenn Horus diesen verrückten Krieg anfängt; dann könnte sich das ändern. Und wenn die Menschen erst einmal wissen, dass es uns gibt, dann ist es vorbei.« Ihre Stimme wurde leiser und nahm zugleich einen fast beschwörenden Ton an. »Komm mit mir, Isis.«

»Und wohin?«

»Zuerst einmal zurück in unsere Heimat, wo wir hingehören.«

»Wo wir hingehören«, wiederholte Isis spöttisch. Sie trank einen gewaltigen Schluck aus ihrem Bierkrug, obwohl Alkohol auf sie ebenso wenig Wirkung hatte wie auf Bastet oder irgendeinen anderen aus ihrer Familie. Sie schüttelte heftig den Kopf. »Wer hat dich geschickt? Amun oder Ra selbst?«

»Niemand hat mich geschickt«, antwortete Bast, ebenso nachdrücklich wie falsch. Tatsächlich hatten Ra und die anderen sie gebeten, Isis zurückzuholen, aber es wäre nicht nötig gewesen. Sie wäre auch von sich aus gegangen. »Aber sie haben recht. Du hast es selbst gesagt: Die Zeiten ändern sich. Wir sollten uns zurückziehen und warten, bis alles vorüber ist, wie wir es schon so oft getan haben.«

»Bis was vorüber ist?«

»Das alles hier«, antwortete Bast ernst. »Diese Kultur wird untergehen, wie alle anderen vor ihr. Willst du mit ihr untergehen?«

»Ich werde mich wenigstens nicht in einem Loch in der Wüste verkriechen und darauf warten, dass mir der Himmel auf den Kopf fällt«, erwiderte Isis. »Und du irrst dich. Dieses Land wird nicht untergehen. Das Empire wird fallen, wie andere Reiche zuvor. Wie Rom, Babylon und das Reich der Inkas - die, so ganz nebenbei, wir gestürzt haben -, aber die Welt wird nie wieder so werden, wie sie war. Ich suche mir meinen eigenen Platz darin.«

»Wenn du wirklich recht hast«, sagte Bast traurig, »dann ist in dieser Welt kein Platz mehr für uns.«

»Das wird sich zeigen«, antwortete Isis ruhig. »Du hast den Weg umsonst gemacht, Bastet. Geh wieder nach Hause. Und hab keine Angst vor Horus. Ich rede mit ihm. Er wird dir nichts tun.«

»Aber dir vielleicht.«

Isis lachte. »Er wird mich nicht einmal finden, wenn ich es nicht will.«

»Ich habe dich auch gefunden.«

»Weil ich es zugelassen habe«, antwortete Isis ruhig.

Ein Gefühl lähmender Resignation begann sich in Bast breitzumachen. Ihr Zusammentreffen mit Isis verlief nicht so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Sie hatte mit Schwierigkeiten gerechnet - schließlich kannte sie Isis nun wirklich lange genug -, aber nicht mit dieser totalen Ablehnung. Was hatte Isis erlebt in den Jahren, die sie sich nicht gesehen hatten?

»Den Wandel der Zeit, Schwester«, antwortete Isis, und Bast begriff, dass sie abermals ihre Gedanken gelesen hatte.

»So wie wir alle.«

»Nicht so«, widersprach Isis. »Die Zeiten ändern sich, Bastet, sie haben sich schon geändert, und sie werden sich weiter ändern und schneller, als du es wahrhaben willst. Die Zeiten der Götter sind vorbei. Die Menschen brauchen uns nicht mehr. Vielleicht haben sie uns nie wirklich gebraucht.«

Sie stand auf. »Du wolltest mit mir reden, du hast mit mir geredet. Jetzt fahr wieder nach Hause und sag den anderen, dass ich nicht zurückkommen werde. Und versuche nicht noch einmal, mich zu finden.«

Und damit verschwand sie. Sie ging nicht etwa, sondern war von einem Blinzeln zum anderen einfach nicht mehr da, genau wie es Horus am Morgen getan hatte. Und genau wie bei ihm ärgerte sie diese billige Effekthascherei, aber bei ihr hatte es etwas ... Erniedrigendes, das sie fast wütend machte. Sie fühlte sich abgefertigt wie ein dummes Kind, und in diesem Fall tat es weh.

Und es weckte ihren Trotz. Isis glaubte, sie wäre nicht in der Lage, sie gegen ihren Willen zu finden?

Nun, das würde sich zeigen.

»Wo ist sie hingegangen?«

Bast fuhr aus ihren Gedanken hoch und blinzelte Faye verständnislos an. »Wer?«

»Patsy. Deine Freundin.« Die Leere war aus ihren Augen verschwunden, aber nun sah sie gleichermaßen verwirrt wie misstrauisch aus. »Das ... war sie doch, oder? Wo ist sie überhaupt so schnell hin?«

»Sicher, das war ... Patsy«, antwortete Bast hastig.

Der Anteil von Misstrauen in Fayes Blick nahm noch zu. »Ist nicht ihr richtiger Name«, vermutete sie.

»Ist Faye denn deiner?«

»Nein«, gestand Faye freimütig. »Aber ich versteh immer noch nicht ganz, wohin sie so schnell verschwunden ist. Ich habe gar nichts mitgekriegt. Bin ich eingedöst, oder was?«

»Nein«, antwortete Bast. »Aber du siehst aus, als würdest du es gleich. Patsy musste weg. Sie hat wohl noch eine Verabredung ... glaube ich.«

»Und dann lässt sie dich einfach hier sitzen, wo ihr euch so lange nicht mehr gesehen habt? Ihr scheint keine besonders guten Freundinnen zu sein.«

»Doch, das sind wir«, versicherte Bast hastig. »Aber ... Patsy ... war schon immer ein bisschen ...«

»Eigenwillig?«, half Faye aus. Sie lachte. »Ja, das klingt ganz nach Patsy Kline. Hat sie dir gesagt, dass sie wiederkommt ... morgen oder später?«

»Warum?«

»Weil du dich nicht wundern solltest, wenn sie nicht auftaucht«, antwortete Faye. »So ist es nun mal ... aber das weißt du ja bestimmt. Wo ihr euch doch schon so lange kennt.«

»Ja, sicher«, antwortete Bast. »Und du? Wie lange kennst du Patsy schon?«

»So lange wie die anderen«, antwortete Faye. »Ein gutes Jahr. Vielleicht ein bisschen länger.«

»So lange lebst du schon hier?«, vermutete Bast. »Und vorher?«

»Vorher?«

»Du musst doch irgendwo aufgewachsen sein. Was hast du vorher gemacht? Bevor du ...«

»Bevor ich als Hure gearbeitet hab?«, fiel ihr Faye ins Wort. Ihr Blick wurde hart. »Ja, ich bin woanders aufgewachsen. Auf einem Gutshof in Sussex. Meine Mutter war dort Magd, und wir hatten einen richtig noblen Herrn. Einen Gentleman, überall hoch angesehen und für seine Großzügigkeit bekannt. Ein richtiger Gentleman, und ein echter Mann. Muss er wohl gewesen sein - immerhin hat er meine Mutter fast jede Nacht in sein Schlafzimmer geholt ... wenigstens, bis ich zwölf war. Danach hat er immer mehr Geschmack an ihrer Tochter gefunden.«

»Das tut mir leid«, sagte Bast.

Sie meinte das ehrlich, aber Fayes Blick wurde eher noch verächtlicher. »Ach, tut es das?«, fragte sie böse. »Mir nicht. Ich habe jedenfalls schnell gelernt, wie das Leben so ist.«

»Und dann bist du hierhergekommen?«

»Warum nicht?«, schnaubte Faye verächtlich. »Wo ist der Unterschied? Früher hab ich die Beine nur für einen alten Bock breitgemacht und dafür Essen und ein winziges Zimmer bekommen, und manchmal sogar einen Penny, wenn er ganz besonders gute Laune hatte. Heute verdiene ich gutes Geld, und keiner macht mir Vorschriften.«

»Schon gut«, antwortete Bast. »Ich wollte dir keine Vorwürfe machen.«

»Die stehen dir auch nicht zu«, sagte Faye ernst, aber nicht mehr wirklich feindselig. Ihr Zorn verrauchte so schnell wie ein plötzlich aufgeflammter Schmerz, der ebenso rasch wieder erloschen war, und ihre Schultern sanken kraftlos nach vorne. »Entschuldige.«

»Da gibt es nichts zu entschuldigen«, antwortete Bast sanft. »Im Gegenteil. Ich muss mich entschuldigen. Du hast recht. Es steht mir nicht zu, über dich oder irgendjemanden hier zu urteilen.« Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Wahrscheinlich war ich nur enttäuscht.«

»Wegen Patsy?« Faye nickte, trank einen Schluck von ihrem Bier und schob den Krug dann mit angewidertem Gesicht demonstrativ von sich. »Euer Gespräch ist nicht so gelaufen, wie du gehofft hast, wie?«

»Nicht unbedingt«, gestand Bast. »Wie gesagt: Sie ist manchmal ein bisschen stur.« Sie machte eine Kopfbewegung auf Fayes Krug. »Möchtest du ein frisches?«

»Wenn ich das wollte, würde ich es nicht hier bestellen«, antwortete Faye ernsthaft. »Bisher konnte es keiner beweisen, aber es geht das Gerücht, dass Red in seine Fässer pinkelt, um das Bier zu strecken. Keine Ahnung, ob es stimmt, aber das schmeckt jedenfalls so.«

»Wir können woanders hingehen«, schlug Bast vor.

»Hier, in dieser Gegend?« Faye lachte leise. »Du bist wirklich fremd hier. Außer dem Ten Bells hat nichts mehr auf. Jedenfalls nichts, was du kennen möchtest.«

Sie schien auf Widerspruch zu warten. Als er nicht kam, zuckte sie nur mit den Schultern und begann mit ihrem Krug zu spielen. »Außerdem habe ich schon genug getrunken. Die Kerle mögen es nicht, wenn dein Atem nach Bier oder Schnaps stinkt.«

Bast sah sich demonstrativ zweifelnd um, und Faye schüttelte heftig den Kopf. »Doch nicht die hier. Von denen würd ich keinen mit der Kneifzange anfassen.«

»Nicht deine Preisklasse?«, vermutete Bast.

»Ich nicht ihre«, antwortete Faye. »Unter einer Guinee rührt mich keiner an. Und selbst dafür gibt's noch lange nicht alles.«

Bast bezweifelte, dass die meisten von denen, die sich momentan hier drinnen aufhielten, so viel in der Woche verdienten. »Hier?«, fragte sie.

»Du würdest dich wundern, wie viele feine Herrschaften sich in diese Gegend verirren, sobald die Sonne untergegangen ist. Musst dir nur mal die Kutschen ansehen, die hier manchmal stehen. Bei denen kriegen manchmal die Pferde besseres Essen als wir. Ich kenne eine Menge von ihnen.«

»Pferde?«

»Die feinen Herren aus den Kutschen. Manche sind gar nicht mal so übel. Nicht alle, aber manche. Einer hat mich sogar einmal mit in sein Haus genommen. Ein richtiger Palast. Hat mir angeboten, ganz bei ihm zu bleiben, aber ich wollte nicht ... obwohl es wirklich ein richtiger Palast war.«

Aus dem Munde jeder anderen hätte diese Behauptung einfach nur angeberisch geklungen, aber Bast glaubte ihr. Fayes Kleider waren so provozierend und schäbig wie die der anderen, ihre Schminke entschieden zu aufdringlich und ihre Frisur nichts anderes als billig - aber sie hatte etwas Kindliches, das selbst jetzt, müde und verschreckt wie sie war, durch all das hindurchschimmerte.

Aber wie lange noch?

»Wie alt bist du?«, fragte sie.

»Zwanzig«, behauptete Faye. »Warum?«

»Sechzehn«, vermutete Bast. »Habe ich recht?«

»Aber nur noch zwei Wochen, dann werde ich zwanzig.«

»Und das die nächsten drei Jahre lang.«

»Mindestens fünf«, verbesserte sie Faye. »Wahrscheinlich sogar mehr.«

»Und dann?«, fragte Bast, zwar lachend, aber trotzdem nun wieder in verändertem Ton.

»Dann gibt es nicht«, antwortete Faye überzeugt. »Ich spare. Kate und die anderen geben das meiste gleich wieder aus, für Gin und Bier oder Opium, aber ich habe schon ein hübsches Sümmchen zusammen. In ein paar Jahren kann ich von hier weggehen und mir irgendwo ein kleines Haus kaufen. Vielleicht sogar einen eigenen Laden. Hab noch nicht genau darüber nachgedacht.«

Bast schwieg dazu. Faye würde kein eigenes Geschäft besitzen und auch kein eigenes Haus. Oh, sie glaubte an diesen Traum, wie es alle getan hatten, als sie hierhergekommen waren, und Bast glaubte ihr auch, dass sie gut verdiente und auch das meiste davon für ihren Traum sparte. Aber was Isis vorhin zu ihr gesagt hatte, das galt auch - und noch viel mehr - für Faye. Die Zeit blieb nicht stehen. Faye war trotz der aufdringlichen Schminke und ihrer provozierenden Kleider noch ein Kind, ein Mädchen im Körper einer Frau, aber mit der unschuldigen Ausstrahlung eines Kindes, und das war es, was all die feinen Gentlemen an ihr faszinierte, nicht ihr wunderschönes Gesicht und ihre durchaus ansehnliche Figur.

Aber wie lange noch, bis dieses zweifelhafte Geschenk, das ihr die Natur gemacht hatte, verbraucht war, oder eine andere, jüngere und unverbrauchtere Faye kam? Bald würde sie anfangen, weniger zu sparen, und irgendwann würden ihre Freier weniger werden und vielleicht nicht mehr ganz so spendabel und großzügig sein, und irgendwann, in gar nicht allzu ferner Zukunft, würde sie neben Kate und Marie-Jeanette und den anderen stehen und sich für ein paar Pennys feilbieten, und ihren mühsam zusammengesparten Traum Stück für Stück für etwas anderes ausgeben; falls er ihr nicht vorher gestohlen wurde, oder irgendjemand sie umbrachte.

»Hab ich was Falsches gesagt?«, fragte Faye.

Bast schüttelte hastig den Kopf und zwang sich zu einem Lächeln. Faye war eine gute Beobachterin - oder man sah ihr ihre Gedanken deutlicher an, als sie wahrhaben wollte. Sie lauschte in sich hinein und stellte fest, dass die von Isis geliehene Kraft beinahe aufgebraucht war. Sie war nicht überrascht, aber alarmiert. Sie stand kurz vor dem Zusammenbruch, und wenn er kam, dann würde er schnell, brutal und endgültig sein. Sie würde töten, wenn sie bis dahin keine Lösung fand. Vielleicht Faye.

»Nein«, antwortete sie. »Es ist nur ... spät geworden. Ich muss allmählich an den Rückweg denken.«

»Ich auch«, sagte Faye. »Aber ich hab's nicht so weit wie du. Gehen wir noch ein Stück zusammen? Ist nicht sehr weit, nur ein paar Straßen ... und in der Nähe ist ein Droschkenplatz. Mit ein bisschen Glück bekommst du dort sogar noch einen Wagen.«



Letzten Endes waren es dann nicht ein paar, sondern fünf Straßen, und sie brauchten gut zwanzig Minuten, obwohl es bitterkalt war und Faye, die statt einer Jacke nur einen dünnen Netzschal übergeworfen hatte, ein forsches Tempo anschlug. Sie redeten wenig, was ebenfalls an der Kälte lag. Bast hatte nicht mehr genug Kraft, um sich dagegen zu schützen, und schon lange bevor sie ihr Ziel erreichten, waren ihre Fingerspitzen und Zehen und Lippen taub vor Kälte und prickelten.

Immerhin bewegten sie sich nicht tiefer ins East End hinein, sondern näherten sich seinem Rand. Die Straßen und Gebäude waren hier noch immer alles andere als vornehm oder auch nur vertrauenerweckend - Bast nahm schon auf halbem Wege alles zurück, was sie je über Mrs Walsh und das Westminster gedacht hatte; verglichen mit dieser Gegend hatte Maistowe sie geradezu königlich untergebracht -, aber immerhin brannte hier nicht nur jede dritte Straßenlaterne, und allein auf dem kurzen Weg begegneten ihnen zwei Bobbys, die ihre Runden zwar alles andere als aufmerksam machten, aber sie machten sie, und das allein hatte schon etwas Beruhigendes.

Dabei hätte es das nicht haben sollen. Ganz im Gegenteil. Das nun wirklich Allerletzte, was sie in dieser Nacht gebrauchen konnte, war der möglicherweise einzige wirklich aufmerksame Streifenbeamte der Stadt, der seine Runden drehte und im falschesten aller Augenblicke auftauchte.

»Wir sind gleich da«, sagte Faye plötzlich und deutete auch auf eine niedrige Toreinfahrt auf der gegenüber liegenden Straßenseite. Die beiden zweistöckigen Gebäude, die sie flankierten, lagen in vollkommener Dunkelheit da, und der Hof, auf den sie führte, erst recht. Nicht einmal Basts scharfe Augen vermochten die absolute Dunkelheit dahinter zu durchdringen.

»Ich hab nur ein kleines Zimmer«, fuhr das Mädchen fort, »keine richtige Wohnung. Aber es gehört mir allein. Ich muss es mit niemandem teilen, und ich hab sogar einen eigenen Ofen, um einzuheizen oder mir etwas zu kochen.«

Sie waren stehen geblieben, und Faye stampfte ob der Kälte mit den Füßen auf und blies in die zusammengelegten Hände. »Danke, dass du mich begleitet hast«, sagte sie. »Ehrlich gesagt ...«

»Hattest du Angst, allein nach Hause zu gehen«, unterbrach sie Bast. »Das verstehe ich.«

»Normalerweise begleiten wir uns immer gegenseitig«, gestand Faye leicht verlegen. »Aber heute ist alles irgendwie ... anders. Solange sie den Ripper nicht geschnappt haben ...«

»Ich verstehe«, sagte Bast. »Ihr habt Angst.«

»Ja«, gestand Faye. »Du anscheinend nicht, wie?«

»Sollte ich das denn?«

»Weiß nicht«, antwortete Faye. »Eigentlich schon, aber irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass du überhaupt vor irgendetwas Angst hast ... hast du gehört, was gestern Nacht mit Roy und seiner Bande passiert ist?«

»Roy?«

»Der Bursche aus dem Ten Bells«, antwortete Faye. Bast war nicht ganz sicher, ob ihr fragender Blick tatsächlich echt war oder ob sich etwas Lauerndes dahinter verbarg. »Der, mit dem du dich um den Stuhl gestritten hast.«

»Nein«, sagte Bast. »Ich meine: Ich erinnere mich an ihn, aber was soll mit ihm sein?«

»Mit ihm nichts, aber seine Bande hat es ziemlich übel erwischt«, antwortete Faye. »Einer ist angeblich tot, und die anderen sind auch nicht viel besser dran. Angeblich sind sie mit einer anderen Bande aneinandergeraten, aber unter der Hand erzählt man sich, dass es nur ein einzelner Mann gewesen sein soll.« Sie lachte. Unecht. »Manche behaupten sogar, es wäre eine Frau gewesen.«

»Eine dunkelhäutige Frau in einem schwarzen Mantel?« Bast genoss für einen halben Atemzug das ungläubige Staunen, das sich auf Fayes Gesicht ausbreitete. Dann schüttelte sie den Kopf. »Wenn ja, muss es eine andere gewesen sein. Ich allein gegen fünf? Ich wollte, ich könnte so etwas ... aber jetzt weiß ich wenigstens, warum ich gestern Nacht unbehelligt nach Hause gekommen bin. Ehrlich gesagt war mir nicht unbedingt wohl auf dem Rückweg.«

»Roy und seine Schläger sind gleich nach dir gegangen«, bestätigte Faye.

»Und offenbar auf die Falschen getroffen«, fügte Bast hinzu. »Und? Bricht dir das das Herz?«

»Nicht unbedingt«, antwortete Faye. Sie klang, als hätte sie eigentlich etwas ganz anderes sagen wollen. Irgendwie ... enttäuscht.

»Der Droschkenstand«, erinnerte sie. Sie hatte nicht vor, eine Droschke zu nehmen, oder gar ins Westminster zurückzukehren. Ganz im Gegenteil: Was sie suchte, befand sich in der entgegengesetzten Richtung; in der, aus der sie gerade gekommen waren.

»Oh ja, sicher.« Aus irgendeinem Grund wirkte Faye plötzlich verlegen; das naive Kind, das sie unter all der Schminke und aufdringlichem Rouge auch war, und das nicht wusste, was es sagen sollte. »Gleich am Ende der Straße und dann rechts. Da steht fast immer ein Wagen, sogar um diese Zeit.«

»Fast?«

»Immer«, verbesserte sich Faye hastig. »Aber du ... also ich meine, wenn du noch einen Moment mit reinkommen willst, dann mache ich uns noch einen heißen Tee. Der wird dir bestimmt guttun, so kalt, wie es ist.«

Bast sah sie einen Moment lang verwirrt an - und dann verstand sie. »Du musst das nicht tun«, sagte sie sanft.

Fayes Augen wurden schmal. »Was?«

»Ich komme gerne mit«, sagte Bast. »Auf einen Tee. Und um mit dir zu reden. Aber sonst nichts.«

»Sonst habe ich dir auch nichts angeboten, wenn ich mich richtig erinnere«, antwortete Faye spröde.

»Schon gut.« Bast hob beruhigend die Hand. »Du hast recht. Ein heißer Tee wäre wunderbar.«

Faye sah nicht überzeugt aus. Nicht, dass sie ihr kaum verhohlenes Angebot bedauerte, aber sie schien wohl begriffen zu haben, dass sie zu weit gegangen war, und nun war sie wütend - nicht auf sich selbst, sondern auf Bast. Sie war ein Kind.

Und es war genau diese Erkenntnis, die Bast dazu brachte, eine auffordernde Geste zur anderen Straßenseite zu machen, statt auf dem Absatz herumzufahren und zu gehen, was in diesem Moment das einzig Vernünftige gewesen wäre.

Faye sah eine Sekunde lang so aus, als wolle sie sie jetzt davonjagen, aber ihr Zorn erlosch so schnell wieder, wie er gekommen war, und machte - nicht einmal echtem - kindlichem Trotz Platz. Mit einem ärgerlichen Schulterzucken, das sie sich selbst schuldig zu sein schien, und zu einem dünnen Strich zusammengepressten Lippen fuhr sie herum und überquerte mit schnellen Schritten die Straße. Bast musste sich beeilen, um sie in der Dunkelheit der Toreinfahrt nicht aus den Augen zu verlieren.

Unter ihren Stiefelsohlen klapperte nebelfeuchtes Kopfsteinpflaster, und irgendetwas klimperte hörbar, als Faye einen Schlüsselbund aus ihrem Beutel kramte. Selbst für Basts Augen war sie kaum mehr als ein zerfließender Schatten in der Dunkelheit, während sie sich an einer noch dunkleren Tür vor sich zu schaffen machte.

Und war sie wirklich mehr?, fragte sich Bast. Mehr als ein Schatten, der flüchtig im endlosen Strom der Zeit aufblitzte und wieder verschwunden sein würde, noch bevor die Welt ihn auch nur wirklich zur Kenntnis nehmen konnte?

Wahrscheinlich nicht. Nur ein Kind, dem das Schicksal von Anfang an keine Chance eingeräumt hatte, und das vielleicht voller Träume und Illusionen war, aber ohne irgendeine Zukunft. Die Welt würde nicht reicher werden ohne sie ... aber auch ganz gewiss nicht ärmer. Da war nichts von Bedeutung in ihr. Nichts außer der warmen, so jungen und gerade deshalb so kräftig brennenden Flamme des Lebens in ihr. Eine Wärme, die sie so dringend brauchte ...

Bast presste die Kiefer so fest zusammen, dass ihre Zähne hörbar knirschten und ein heftiger Schmerz durch ihren Schädel schoss, und es half, vielleicht ein allerletztes Mal. Das Ungeheuer zog sich noch einmal zurück, und der Schatten wurde wieder zu Faye. Etwas klackte, und dann verschwand sie in der noch tieferen Dunkelheit jenseits der Tür. Bast ballte die Hände zu Fäusten, aber es gelang ihr zumindest, ihre Kiefermuskeln zu entspannen. Sie schmeckte ihr eigenes Blut, und das bittere Kupferaroma machte sie fast wahnsinnig.

»Einen Moment nur«, drang Fayes Stimme aus der Dunkelheit. »Ich mache Licht.«

In der Dunkelheit hinter der Tür begann ein leises Rascheln und Klappern - Schwefelhölzer in einer Schachtel, wie ihr das Geräusch verriet -, aber auch hinter ihr waren plötzlich Laute ... ein Schleichen und Anpirschen, das erneut und diesmal ungleich stärker von dem Gefühl begleitet wurde, angestarrt und belauert zu werden. Etwas kam.

Hinter der Tür flammte ein Streichholz auf und wurde nur einen Augenblick später zum ruhig brennenden Licht einer Petroleumlampe. Der gelbe Schein trieb die Gespenster in die Nacht zurück, und Bast trat mit einem raschen Schritt und gebeugt unter dem niedrigen Türsturz hindurch.

Das Zimmer war winzig, aber geschmackvoll, wenn auch einfach, eingerichtet und sauber. Es gab ein Bett, einen Stuhl und einen winzigen Tisch und den Ofen, von dem Faye gesprochen hatte, und unter dem schmalen Fenster sogar etwas wie eine improvisierte Waschgelegenheit. Es war bitterkalt. Die papierdünnen Wände und das gesprungene Fenster konnten die Kälte nicht wirklich draußen halten. Schon jetzt konnte sie ihren eigenen Atem als grauen Dampf vor ihrem Gesicht erkennen. Im Winter musste es hier drinnen schlichtweg unerträglich sein.

»Setz dich«, sagte Faye, während sie bereits in die Hocke ging, um mithilfe einer zusammengeknüllten Zeitung und einiger Holzspäne den Ofen anzufachen. Sie stellte sich nicht besonders geschickt dabei an, fand Bast. Aber sie sagte nichts dazu, sondern ließ sich auf den niedrigen Hocker sinken und sah sich weiter unverblümt neugierig um. Die einzige andere Sitzgelegenheit, das Bett, wäre bequemer gewesen, aber sie hatte Angst, Faye damit etwas zu signalisieren, was sie ganz bestimmt nicht wollte.

Aber eigentlich wollte sie auch nicht hier sein.

»Der Tee kommt gleich«, sagte Faye. »Ich muss nur noch Wasser holen. Aber bis ich zurück bin, ist das Feuer wahrscheinlich richtig in Gang.«

»Mach dir keine Umstände ...«, begann Bast, aber Faye schnitt ihr nur mit einem Kopfschütteln das Wort ab, klaubte einen verbeulten Teekessel von der Ofenplatte und war aus der Tür verschwunden, bevor sie sie wirklich zurückhalten konnte. Bast wartete, bis sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, dann stand sie rasch auf, ließ sich vor dem Ofen in die Hocke sinken und öffnete die Klappe. Das winzige Flämmchen dahinter drohte allein dadurch beinahe wieder zu erlöschen. Das Feuer war nicht ungeschickt, sondern geradezu dilettantisch aufgeschichtet und würde sich allerhöchstens selbst ersticken, wenn sie nichts tat. Bast fragte sich kopfschüttelnd, wie sie eigentlich den letzten Winter überstanden hatte.

Mittels eines rostigen Schürhakens schichtete sie das Feuerholz um, blies noch einmal in die Flammen, um sie kräftiger anzufachen, und wurde mit einem Funkenschauer und prasselnden roten Flammen belohnt. Als Faye kaum eine Minute später wieder zurückkam, saß sie bereits wieder auf ihrem Schemel, und der winzige Kanonenofen begann bereits wohlige Wärme zu verbreiten.

Wenigstens, wenn man nicht weiter als zehn Zoll entfernt war.

Faye stellte den Teekessel klappernd auf der Herdplatte ab und runzelte erstaunt die Stirn, als sie die Wärme spürte, die die zerschrammte Eisenplatte ausstrahlte, maß Bast mit einem irritierten Blick und tat das Thema dann mit einem Achselzucken ab. »Der Tee dauert nur fünf Minuten«, sagte sie. »Hab den Kessel extra nur halb voll gemacht, aber für zwei Tassen reicht es.« Sie wirkte plötzlich ein bisschen verlegen. »Ich kann dir leider nichts zu Essen anbieten. Hab nichts im Haus, und ehrlich gesagt ... ich bin auch keine besonders gute Köchin.«

»Hat deine Mutter es dir nicht beigebracht?«, erkundigte sich Bast gutmütig.

»Wir durften nicht in die Küche.« Faye ließ sich in die Hocke sinken und öffnete eine eisenbeschlagene Truhe, deren Inneres in verschiedene Quadrate unterteilt war, in denen sie ihre Kleider und eine bescheidene Auswahl an Geschirr und Küchengeräten aufbewahrte; alles säuberlich aufgestapelt und sortiert. Das Zimmer war zu klein für einen Schrank. »Unser Herr hatte eine eigene Köchin, und sie hat wie ein Drache darüber gewacht, dass niemand ihr Heiligtum betritt. Hat wahrscheinlich Angst gehabt, dass ihr jemand eine Erbse stiehlt, oder einen Krumen Brot.« Sie lachte leise. »So fett, wie sie war, hat sie das meiste wahrscheinlich selbst gegessen.«

Sie zog ein silberfarbenes Tee-Ei an einer Kette aus ihrer Schatztruhe, legte es auf den Tisch und bückte sich erneut, um eine Teekanne und zwei zierliche Tassen aus hauchzartem Porzellan auszugraben, die sie sehr behutsam vor Bast auf der Tischplatte ablud. »Ein Geschenk eines Gentlemans«, erklärte sie stolz. »Schön, nicht? So etwas Kostbares hatten wir nicht einmal auf unserem Gutshof zu Hause.«

»Desselben, der dir angeboten hat, ganz zu ihm zu ziehen?«, fragte Bast. Das Porzellan war wirklich kostbar, deutlich teurer als das, das Mrs Walsh wie ihren Augapfel hütete. Sie fragte sich, ob Faye es tatsächlich geschenkt bekommen oder vielleicht gestohlen hatte.

»Er war wirklich großzügig«, antwortete Faye. »Hat mir eine Menge Geschenke gemacht. Auch ein schönes Kleid. Nicht so einen Fetzen wie das da.« Sie wies verächtlich an sich herab. »Sondern ein wirklich schönes Kleid, wie es die vornehmen Damen tragen. Es ist da in der Kiste.«

»Warum ziehst du es nicht an?«

»Um ins Ten Bells zu gehen?« Faye starrte sie an, als zweifele sie an ihrem Verstand. »Nein, das hebe ich mir für eine besondere Gelegenheit auf.«

Bast fragte sich, welche.

»Dieser Gentleman, von dem du immer sprichst - wie war er?«

»Munro?«

»Ist das sein Name?«

»Sein Vorname«, antwortete Faye. »Seinen Nachnamen hat er mir nie genannt, und ich habe auch nicht gefragt. Aber ich weiß, wo er wohnt.«

»Das ist anzunehmen, wenn er dich zu sich geholt hat«, antwortete Bast amüsiert, aber Faye schüttelte heftig den Kopf.

»Sein Fahrer hat mich immer in einer Kutsche mit geschlossenen Fenstern abgeholt«, sagte sie. »Ich glaube, er wollte nicht, dass ich weiß, wo sein Haus ist. Aber ich bin nicht dumm. Das Haus erkenne ich wieder. Ist ein richtiger Palast. Und der Weg dorthin ist ganz einfach. Ich konnte vielleicht nichts sehen, aber ich bin schließlich nicht taub. Wir sind über die Brücke gefahren und dann direkt unter Big Ben vorbei und danach nur noch einmal rechts abgebogen. Wenn ich wollte, würde ich es wiederfinden. Wäre ganz einfach.«

»Willst du das denn?«, fragte Bast.

Faye zögerte, eine Winzigkeit nur, aber spürbar genug. Dann hob sie die Schultern. »Ich weiß nicht«, antwortete sie. »Früher hat er mich oft kommen lassen, mindestens einmal in der Woche. Aber seit ich ihm gesagt habe, dass ich nicht ganz zu ihm ziehen will, ruft er mich nur noch selten. Vielleicht ist er verärgert.«

»Oder enttäuscht?« Bast sah sich demonstrativ in dem winzigen Zimmer um. »Vielleicht hättest du sein Angebot annehmen sollen.« Sie meinte das ernst, allerdings nicht so, wie Faye es ganz offensichtlich verstand, denn für einen ganz kurzen Moment blitzten ihre Augen zornig auf.

»Ich werde nie wieder irgendwem gehören!«, sagte sie scharf. »Ganz egal, wie nett er ist, oder wie reich. Das hier ist vielleicht kein Palast, und dir kommt es wahrscheinlich schäbig vor, aber es ist meins. Ich habe es mir ehrlich erarbeitet.«

Sie hatte es sich erkauft, dachte Bast traurig, mit ihrer Jugend und ihrer kindlichen Frische, aber beides würde nicht ewig vorhalten. Nicht einmal mehr lange. Ihr Körper und ihr Gesicht mochten makellos sein, aber ihre Seele hatte bereits tiefe Wunden davongetragen. Bald würden sie zu Narben werden, die nie wieder verschwanden.

»Hier!« Vielleicht gerade der Umstand, dass sie nichts mehr gesagt hatte, schien Faye dazu zu provozieren, sich noch weiter zu verteidigen. Sie bückte sich wieder nach ihrer Kiste, grub mit ärgerlichen Bewegungen darin herum und förderte einen braunen Briefumschlag zutage, den sie Bast geradezu triumphierend hinhielt. »Das habe ich schon zusammen, in nicht einmal einem Jahr! Ich mache weiter, bis ich einundzwanzig bin, und dann habe ich genug zusammen, um von hier wegzugehen und das anzufangen, was Leute wie du ein anständiges Leben nennen!«

Bast griff zögernd nach dem Umschlag, öffnete ihn und betrachtete stirnrunzelnd die wenigen Banknoten, die er enthielt. Fünfundzwanzig, dreißig ... zweiunddreißig Pfund Sterling. Eine Menge Geld für eine Gegend wie diese, und noch mehr für ein Mädchen wie Faye ... aber auch der Preis für ein Jahr ihres Lebens. Sie gab Faye den Umschlag zurück.

»Und das bewahrst du einfach so hier auf? Hast du keine Angst, dass man es dir stiehlt?«

»Wer rechnet schon damit, dass eine wie ich so viel Geld hat?«, antwortete Faye. »Und irgendwo muss ich es verstecken. Ist immer noch sicherer, als es bei mir zu tragen. Kate ist allein dieses Jahr schon zweimal überfallen worden, und Liz ...«

Sie brach ab, und ein Schatten huschte über ihr Gesicht.

»Entschuldige«, sagte Bast. »Ich wollte nicht ...«

»Schon gut«, wehrte Faye ab. »Ist nicht deine Schuld. Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist. Ich meine ... Liz war nicht unbedingt meine beste Freundin.« Sie lächelte nervös. »Eigentlich war sie ziemlich mies.«

»Wie langst warst du mit ihr und den anderen zusammen?«, fragte Bast.

»Nicht lange.« Faye bückte sich, um ihren Briefumschlag wieder zu verstecken ... oder es einem Dieb leichter zu machen, der vermutlich die ganze Kiste mitnehmen würde. »Ein paar Wochen erst. Seit das mit Polly und Dark Anny passiert ist. Wir haben gedacht, dass wir ein bisschen gegenseitig auf uns aufpassen könnten, aber ...«

Sie sprach auch jetzt nicht weiter, sondern begann auf ihrer Unterlippe herumzukauen und starrte einen Moment ins Leere, bevor sie sich mit einem Ruck erhob und zum Ofen herumdrehte. Das Feuer darin brannte mittlerweile hoch genug, um zumindest die Illusion von Wärme zu erzeugen. Das Wasser im Kessel kochte noch nicht, aber Faye wich ihrem Blick weiter aus, indem sie das silberne Tee-Ei übertrieben mit Blättern füllte und ein wenig mit dem Geschirr klapperte.

Etwas huschte draußen am Fenster vorbei. Flügel? Ein Schatten von der Farbe schwarzen Eisens, mit Krallen und einem schrecklichen Schnabel und gnadenlosen Augen? Bast starrte mit klopfendem Herzen zum Fenster und lauschte zugleich mit allen Sinnen, aber da war nichts. Was immer es gewesen war, war verschwunden - oder ihre Nerven hatten ihr einen Streich gespielt.

»Was ist?«, fragte Faye alarmiert.

»Nichts.« Bast riss ihren Blick vom Fenster los. Die Dunkelheit dahinter kam ihr massiver vor als noch vor einem Moment; als hätte sie sich in etwas Stoffliches verwandelt, das lautlos gegen das Glas anrannte.

»Nichts«, sagte sie noch einmal. »Ich dachte, ich hätte etwas gehört, aber ich habe mich getäuscht.«

Faye wirkte nicht überzeugt. Sie sah ebenfalls zum Fenster und warf Bast dann einen weiteren, noch unsichereren Blick zu. Schließlich drehte sie sich wieder zum Herd, hängte das Tee-Ei in die Kanne und goss heißes Wasser darauf. Für eine Weile wurde es sehr still.

Als schlechte Köchin hatte sich Faye ja schon selbst bezeichnet, aber ihr Tee war nicht minder grausig; das Wasser war nicht heiß genug gewesen, und sie ließ ihn ungefähr drei Sekunden lang ziehen, bevor sie zuerst ihr und danach sich selbst einschenkte. Bast schluckte tapfer und ohne eine Miene zu verziehen, leerte ihre Tasse aber nur zu einem Drittel, damit Faye nicht etwa auf die Idee kam, ihr nachzuschenken. Die Dunkelheit vor den Fenstern wogte stärker.

»Eigentlich hast du recht«, sagte Faye unvermittelt.

»Womit?«

»Mit Onkel Munro«, antwortete Faye. »Meinem ... Gönner. Vielleicht hätte ich sein Angebot annehmen sollen. Dann wäre mir wenigstens dieser scheußliche Tee erspart geblieben.«

»Na ja, wenn du es schon selbst sagst«, antwortete Bast.

Faye machte ein übertrieben beleidigtes Gesicht, aber das hielt sie gerade einmal einen halben Atemzug durch, dann prustete sie vor Lachen heraus, und auch Bast konnte nicht mehr an sich halten und begann so schallend zu lachen, dass sie ihre Tasse mit beiden Händen festhalten musste. So komisch war die Bemerkung gar nicht gewesen, aber das Lachen löste die Spannung, und es dauerte lange, bis sich beide wieder halbwegs beruhigt hatten. Schließlich nahm ihr Faye kommentarlos die Tasse aus der Hand und stellte sie auf den Tisch. »Ich wollte dich nicht vergiften«, sagte sie. »Aber Hausarbeit hat mir noch nie gelegen.«

»Mir auch nicht«, antwortete Bast wahrheitsgemäß. Ebenso ehrlich fügte sie hinzu: »Ich hätte ihn wahrscheinlich auch nicht besser hingekriegt.«

Fayes Blick wurde nachdenklich, aber der stumme Vorwurf, den Bast bisher darin gesehen hatte, kam nicht zurück, als hätten sie - beide - ohne es zu merken eine Grenze überschritten und sich ein gutes Stück aufeinander zubewegt. »Du bist reich, hab ich recht?«

»Wie kommst du darauf?«, fragte Bast.

»Weil du so redest, wie du redest«, antwortete Faye. »Nur reiche Leute sprechen so. Außerdem ...« Sie machte eine entsprechende Kopfbewegung. »Dein Anhänger. Er ist aus Gold, habe ich recht?«

Bast hob instinktiv die Hand an den Ausschnitt, um den goldenen Skarabäus zu verdecken, dann aber besann sie sich eines Besseren, zog die Kette über den Kopf und hielt sie dem Mädchen hin. Faye starrte sie eine Sekunde lang aus ungläubig aufgerissenen Augen an, ehe sie mit einer fast ehrfürchtigen Bewegung danach griff.

»Das ... ist wunderschön«, murmelte sie. »Und so schwer. Das ist massives Gold, habe ich recht? Es muss wirklich sehr wertvoll sein.«

»Das ist es«, bestätigte Bast. »Aber das Gold stellt den geringsten Wert dar. Es ist uralt, weißt du? Und es befindet sich seit vielen Jahrhunderten im Besitz unserer Familie.« Außerdem war der goldene Skarabäus noch aus einem vollkommen anderen Grund unvorstellbar wertvoll, aber das behielt sie lieber für sich; ebenso wie die kleine Ungenauigkeit, dass es Jahrtausende und nicht Jahrhunderte waren.

Faye drehte den Anhänger noch einen Moment beinahe ehrfürchtig zwischen den Fingern, bevor sie ihn mit deutlichen Anzeichen des Bedauerns zurückgab und zusah, wie Bast die Kette wieder überstreifte.

»Und du meinst also, ich wäre leichtsinnig, weil ich mein Geld hier in der Kiste aufbewahre?«, fragte sie. »In einer Gegend wie dieser ist es auch ziemlich leichtsinnig, mit so etwas Wertvollem herumzulaufen. Willst du überfallen werden?«

Die ehrliche Antwort auf diese Frage hätte Ja gelautet, aber das konnte sie schlecht sagen. Statt überhaupt zu antworten, fragte sie ihrerseits: »Warum wolltest du wissen, ob ich reich bin?«

»Vielleicht weil mich interessiert, was jemand wie du in so einer Gegend sucht«, sagte Faye. »Du hast es nicht nötig, zu kochen, du willst mich nicht ... was suchst du hier?«

»Meine Freundin.«

»Patsy, ich weiß. Aber das ist nicht der einzige Grund, hab ich recht?« Sie schüttelte den Kopf. »Du musst darauf nicht antworten, aber ich habe recht, stimmt's?«

»Vielleicht«, antwortete Bast.

»Also ja«, sagte Faye triumphierend.

Bast gab innerlich auf. Statt zu antworten, wurde sie nun vollends ernst und sagte: »Du musst das hier nicht tun, das weißt du, nicht wahr?«

»Und wenn ich es will?«, gab Faye zurück.

»Willst du es denn?«

Faye dachte tatsächlich einen Moment ernsthaft über diese Frage nach, doch dann nickte sie. »Ich glaube schon. So groß ist die Auswahl für jemanden wie mich nicht. Und es ist besser als vorher.«

»Da hattest du keine Wahl«, antwortete Bast sanft. »Und es ist ein Unterschied, das weißt du.«

»Möglich.« Fayes Blick wurde wieder abweisend, aber diesmal nicht, weil sie zornig auf sie war, sondern weil sie nicht über das Thema reden wollte. »Aber es ist das Beste, was ich kriegen kann.«

»Und wenn es anders wäre?«

Faye legte den Kopf auf die Seite. »Wenn was anders wäre?«

»Du willst das hier noch ... wie lange machen?«

»Bis ich einundzwanzig bin«, antwortete Faye. »Wenn ich vorher irgendwo hingehe und sie mich erwischen, stecken sie mich sowieso nur in irgendein Loch und nehmen mir alles weg.«

»Das ist eine lange Zeit.«

»Nicht so lange wie die vier Jahre auf dem Gutshof«, antwortete Faye. »Was soll das? Warum stellt du mir all diese Fragen?«

»Weil ich nicht glaube, dass du es schaffst«, antwortete Bast geradeheraus. »Und weil ich es sehr schade fände, wenn du so enden würdest wie Liz oder Kate und die anderen. Glaubst du nicht, dass sie auch einmal so gedacht haben wie du? Ein paar Jahre, nur bis wir genug für ein besseres Leben zusammenhaben, und dann hören wir damit auf und fangen irgendwo anders neu an?« Sie schüttelte den Kopf. »Wie viele von ihnen haben es wohl geschafft?«

»Keine Ahnung«, antwortete Faye. »Ist mir auch egal. Ich werde es schaffen.« Sie funkelte sie an. »Was soll das? Wer bist du überhaupt? Eine von diesen Weltverbesserinnen, die rumlaufen, uns Moral predigen und dann wieder in ihre schönen reichen Häuser zurückgehen, wenn es ihnen zu viel wird? Jeden Tag eine gute Tat und so?«

»Meine gute Tat für heute habe ich schon hinter mir«, antwortete Bast lächelnd.

»Was soll dann die Fragerei? Willst du dein schlechtes Gewissen beruhigen?«

Die Wahrheit war so einfach wie selbst für sie überraschend. »Weil ich dich mag«, antwortete sie geradeheraus. »Nein, nicht so, wie du vielleicht meinst. Ich glaube nicht, dass du so bist wie Kate und Marie-Jeanette und die anderen. Aber irgendwann würdest du so sein wie sie, und das würde mir sehr leidtun.«

»Warum? Du kennst mich doch gar nicht.«

Aus demselben Grund, dachte Bast, aus dem Maistowe sich in den Kopf gesetzt hatte, ihr zu helfen, einer vollkommen Fremden, die sie ebenfalls kaum kannte. Weil Menschen so etwas nun einmal taten.

»Das hier ist nicht das Leben, das du führen willst«, sagte sie, statt Fayes Frage direkt zu beantworten. »Ich weiß, du glaubst, du könntest es für ein paar Jahre führen und dann einfach abstreifen, so wie ein schmutziges Kleid, das einem nicht mehr gefällt, und dann einfach ein anderes anziehen. Aber das funktioniert nicht, glaub mir. Das Leben ist zu kurz, um auch nur einen einzigen Tag davon zu verschenken.«

»Klingt ja toll«, sagte Faye spöttisch. »In welchem Buch hast du den Unsinn gelesen?«

»Ich bin älter, als ich aussehe«, antwortete Bast ernst. »Ich habe es oft genug selbst gesehen.« Sie hob die Hand, als Faye sie unterbrechen wollte. »Du hast recht, weißt du? Ich bin reich. Sehr viel reicher, als du dir vorstellen kannst. Ich kann es mir leisten, mein Gewissen zu beruhigen, einfach so.« Ihr war klar, wie diese Worte klangen, und dass sie möglicherweise das genaue Gegenteil dessen bewirken würden, was sie sollten. Aber dieses Risiko musste sie eingehen; ebenso, wie sie ganz bewusst darauf verzichtete, Faye in ihrer Entscheidung zu beeinflussen. Es musste ihre Wahl sein. »Ich kann dir helfen, hier rauszukommen, wenn du willst. Aber du musst es wollen.«

»Und du?«, fragte Faye, misstrauischer denn je, aber auch ... verwirrt. »Was willst du? Du machst das alles doch nicht nur, weil du ein so guter Mensch bist. Was muss ich dafür tun?«

Natürlich würde sie ihre wahren Gründe nicht verstehen - und wie auch? Bast verstand sie ja selbst nicht wirklich. Sie nahm Zuflucht zu einer kleinen Notlüge. »Wie gesagt: Ich kann es mir leisten, ein guter Mensch zu sein. Außerdem verlangt es meine Religion von mir.«

»Was? Ein guter Mensch zu sein?« Faye lachte, aber es klang nicht echt.

»Anderen zu helfen. Mir wurde beigebracht, dass das Leben heilig ist, und dass wir es schützen müssen. Auch das eines Fremden.«

»Ich verstehe«, sagte Faye. »Mohammed und Allah und so. Du bist Muselmanin.«

»Muslima«, verbesserte sie Bast und schüttelte den Kopf. »Nein. Ich bin etwas ... Älteres.«

Faye schwieg einen Moment, dann noch einen und noch einen, und Bast konnte in ihrem Gesicht lesen, wie es in ihr arbeitete. Natürlich glaubte sie ihr nicht. Wie hätte sie das gekonnt? Sie witterte eine Falle oder fragte sich zumindest, welchen Preis sie wirklich für dieses vermeintlich großzügige Angebot bezahlen musste.

»Und wie ... soll das gehen?«, fragte sie zögernd. »Ich kann hier nicht einfach weg. Wo soll ich hin?«

»Das weiß ich nicht«, antwortete Bast ehrlich. »Aber wir werden eine Lösung finden. Ich bleibe nicht mehr allzu lange in diesem Land, aber so lange können wir gemeinsam darüber nachdenken.«

»Und dann?« Faye wirkte ... enttäuscht. Und trotzig. »Du fährst nach Hause in deinen Palast oder deine Oase, und ich bleibe hier und kann sehen, wie ich zurechtkomme?«

»Ich habe nicht gesagt, dass ich die Verantwortung für dein Leben übernehme«, antwortete Bast sanft. »Aber ich kann dir helfen, es selbst zu lernen.«

»In einer Woche oder zwei?«

»Manchmal reicht dazu schon eine Stunde«, erwiderte Bast. »Und manche lernen es nie.« Sie seufzte übertrieben. »Bekomme ich noch eine Tasse von diesem scheußlichen Tee?«

»Willst du etwa behaupten, dass er dir schmeckt?«

»Nein«, antwortete Bast. »Aber er ist heiß, und draußen ist es ziemlich kalt.«

Faye tat ihr nicht den Gefallen, zu lächeln oder auch nur die Lippen zu verziehen, drehte sich aber zum Ofen und streckte die Hand nach dem Kessel aus; aber sie führte die Bewegung nicht zu Ende.

Etwas war draußen.

Bast hörte es - was beunruhigend genug war - nur den Bruchteil eines Atemzuges vor ihr, und im ersten Moment vermochte sie es nicht einmal zu identifizieren: Es war ein Schleifen und Klappern, vermutlich Schritte, aber ein Teil von ihr bestand darauf, dass es das Kratzen stahlharter Krallen auf Stein und das Rasseln eiserner Flügel wäre.

»Da ist jemand«, sagte Faye alarmiert, und die Worte verscheuchten die Gespenster. Es waren Schritte. »Jemand kommt - aber um diese Zeit?«

»Weiß irgendjemand, dass du hier wohnst?« Bast stand auf.

»Nur Kate. Aber sie war nur einmal hier, und warum sollte sie ausgerechnet heute ...?«

Bast fand noch Zeit, zu begreifen, dass es keineswegs die Schritte einer Frau waren, die sich der Tür näherten, und dass sie keineswegs vorsichtig waren, aber sie war nicht in der Verfassung, so schnell und vor allem richtig zu reagieren, wie sie es gewohnt war. Die Tür flog so wuchtig auf, dass Faye gerade noch zur Seite springen konnte, um nicht getroffen zu werden, und eine breitschultrige Gestalt erschien unter der Öffnung. Der Teekessel fiel zu Boden und verspritzte heißes Wasser in alle Richtungen. Faye stieß einen kleinen, spitzen Schrei aus, aber Bast konnte nicht sagen, ob vor Schmerz oder Schrecken, und sie selbst wich mit einer einzigen fließenden Bewegung an die Wand zurück und verschmolz mit den Schatten.

»Wo ist sie?«, lallte eine betrunkene Stimme. »Wo ist dieses schwarze Miststück? Ich weiß, dass sie hier ist!«

Es war Roy. Bast hätte ihn allein an seinem Gestank erkannt, aber er wankte in diesem Moment auch vollkommen herein, sodass sein Gesicht in den Lichtschein der kleinen Petroleumlampe geriet. Es war angeschwollen und unter dem linken Auge fast schwarz angelaufen - Bast konnte sich gar nicht erinnern, so hart zugeschlagen zu haben -, und er war so betrunken, dass seine Unterlippe herunterhing und glänzender Speichel über sein Kinn lief.

Aber er war trotzdem schnell. Faye überwand endlich ihren Schrecken und versuchte an ihm vorbei ins Freie zu stürmen, aber er packte sie mühelos und schleuderte sie auf das Bett, während er mit der anderen die Tür zuwarf.

»Nicht so schnell, Kleines«, lallte er. »Wo ist sie?« Sein Blick irrte unstet durch den Raum, blieb für einen winzigen Moment scheinbar direkt auf Basts Gesicht hängen und wanderte dann weiter, ohne sie zur Kenntnis genommen zu haben.

»Ich ... ich weiß nicht, was ...«, begann Faye und brach dann mit einem erschrockenen Keuchen ab, als Roy die Hand hob, wie um sie zu schlagen.

»Lüg mich nich' an, du kleine Schlampe«, grollte er. »Ich weiß, dass sie zusammen mit dir weggegangen ist! Ich habe mit Red gesprochen, und er hat gesagt, ihr wart ein Herz und eine Seele! Hast es mit ihr getrieben, was?«

Immerhin schlug er nicht zu. Faye hob trotzdem die Hände, um ihr Gesicht zu schützen, und kroch auf dem Bett ein kleines Stück vor ihm davon, und nun irrte auch ihr Blick fast verzweifelt durch das winzige Zimmer, und ein Ausdruck absoluter Fassungslosigkeit vertrieb für einen Moment sogar die Furcht von ihrem Gesicht, als sie Bast so wenig sah wie Roy zuvor.

»Sie ... sie ist nicht hier«, stammelte sie. »Ich weiß nicht, wo sie ist. Wirklich! Sie ... sie ist weg!«

»Aber ihr habt's miteinander getrieben, hab ich recht?«, lallte Roy. »Verdammtes schwarzes Weibsstück! Ich hoffe, sie ist auf ihre Kosten gekommen, denn das war das letzte Mal. Ich bring sie um, die blöde Sau!« Er versuchte in die Jackentasche zu greifen, schaffte es erst beim zweiten Mal und zog einen sechsschüssigen Revolver mit schon fast absurd langem Lauf heraus.

»Ich knall das schwarze Weib nieder, wenn ich sie erwische«, lallte er. »Oder dich, wenn du mir nicht sagst, wo sie hingegangen ist!« Er versuchte auf Faye zu zielen, hatte seine Bewegungen aber nicht mehr weit genug unter Kontrolle; vielleicht war die Waffe im Moment auch einfach zu schwer für ihn. Der Lauf schwankte wild umher und zielte überallhin, nur nicht auf sie.

Trotzdem kroch Faye ängstlich noch weiter von ihm weg. »Aber ich ... ich weiß es doch nicht!«, wimmerte sie. »Bitte! Sie war gerade noch hier, das schwöre ich! Noch vor einer Sekunde!«

»Ach, dann ist sie wohl an mir vorbei, ohne dass ich sie gesehen habe, wie?«, kicherte Roy. »Ja, sicher, so muss es gewesen sein. Schließlich ist sie ja schwarz wie die Nacht.«

»Aber ich weiß doch wirklich nicht, wo ...«

»Auch gut, dann knall ich eben zuerst dich ab«, lallte Roy. Ein breites Grinsen erschien auf seinem Gesicht, und noch mehr Speichel lief aus seinem Mund und tropfte an seinem Kinn hinab. »Aber zuerst zeigst du mir, was du von der schwarzen Schlampe gelernt hast.« Er begann an seinem Gürtel zu fummeln, aber seine betrunkenen Finger waren dieser komplizierten Aufgabe nicht gewachsen; was vielleicht auch daran lag, dass das handbreite Lederband durchgerissen und mit einem groben Hanfstrick ziemlich stümperhaft repariert worden war.

»Bitte, Roy!«, wimmerte Faye. »Wir hatten nie Streit, und ...«

»Haben wir auch jetzt nicht«, griente Roy. »Vielleicht lass ich dich ja sogar am Leben, wenn du hübsch brav die Beine breitmachst.«

»Das reicht!«

Bast trat mit einem lautlosen Schritt aus dem Schatten hervor und maß Roy mit einem eisigen Lächeln. Er erwiderte ihren Blick blöde und schien gar nicht zu begreifen, was er sah, aber Fayes Augen quollen vor Unglauben und Entsetzen schier aus den Höhlen, und ihr Gesicht verlor auch noch das allerletzte bisschen Farbe. »Lass sie in Ruhe, Roy. Du willst doch gar nichts von ihr. Oder hast du es wirklich nötig, dich an Kindern zu vergreifen?«

Roy blinzelte, und in seinen Augen dämmerte allmählich die Erkenntnis, dass irgendetwas hier nicht so war, wie es sein sollte. Er versuchte die Pistole zu heben, aber er wackelte auch jetzt nur wüst damit hin und her, und allem Anschein nach hatte er jetzt sogar Mühe, zu stehen. Bast beging trotzdem nicht den Fehler, ihn zu unterschätzen. Eine versehentlich abgefeuerte Kugel war genauso tödlich wie ein gezielter Schuss, wenn sie traf. Außer wenn sie wirklich sehr großes Pech hatte, würde sie auch eine Pistolenkugel nicht töten oder auch nur nennenswert aufhalten - aber da war immer noch Faye, und niemand konnte sagen, wozu Roy in diesem Zustand fähig war.

»Nimm die Pistole runter, Roy«, sagte sie ruhig. »Ich bin nicht hier, um Streit mit dir anzufangen.«

Roy ließ gehorsam den Arm sinken, und nun erschien ein Ausdruck vollkommener Verblüffung auf seinem verquollenen Gesicht. Vielleicht begann er sich allmählich zu fragen, wo sie überhaupt herkam ... aber wahrscheinlich wunderte er sich einfach, warum seine rechte Hand nicht tat, was er von ihr wollte.

»Steck das Ding weg«, sagte sie. Roy gehorchte. Aus seiner Verwirrung wurde ... Angst?

»Irgendwie ist die Sache zwischen uns von Anfang an nicht gut gelaufen«, fuhr Bast fort, während sie langsam auf ihn zuschlenderte. »Ich schätze, es war von Anfang an ein großes Missverständnis.«

Roy wollte etwas sagen, aber das ließ sie nicht zu, so wenig, wie sie die Ketten lockerte, an denen das Ungeheuer in ihr zerrte und heulte. Noch nicht. Aus dem verwirrten Staunen in Roys Augen wurde blankes Entsetzen.

»Aber ich glaube, ich weiß jetzt, was du wirklich willst«, fuhr sie lächelnd fort. »Warum hast du das nicht gleich gesagt? Das hätte uns beiden eine Menge Ärger erspart.«

Roy starrte sie einfach nur weiter an. Selbst wenn sie seinen Willen losgelassen hätte, wäre er wahrscheinlich nicht imstande gewesen, auch nur ein einziges Wort zu sagen - aber sie hütete sich natürlich, das zu tun.

»Faye, weißt du, wo Kate wohnt?«, fragte sie. »Oder Marie-Jeanette?«

»Im ... St. Catherine's House«, antwortete Faye stockend. »Warum?«

»Weißt du, wo das ist?«

»Nicht weit von hier, ja, aber ....«

»Dann geh dorthin und frag sie, ob du heute Nacht bei ihnen bleiben kannst«, unterbrach sie Bast, während sie ihren Mantel abstreifte. »Roy und ich haben etwas zu ... besprechen.«

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