FÜNFTES Kapitel

Obwohl es inzwischen vollkommen dunkel geworden war, herrschte auf der Straße noch ein reges Treiben. Vielleicht lag es am Wochentag - es war Sonntag, ein Tag, der den Menschen in diesem Land heilig war, soweit Bast wusste, den sie aber auch für ihr persönliches Amüsement nutzten -, vielleicht besaß Whitehall mit seinen Prachtbauten und Denkmälern auch einfach selbst für die Einwohner Londons eine ganz besondere Anziehungskraft; so oder so kam es ihr vor, als wären jetzt eindeutig mehr Menschen auf der Straße als vorhin, als sie gekommen war. Dann und wann waren die Gehsteige so überfüllt, dass sie auf die Fahrbahn ausweichen mussten.

Seltsamerweise fühlte sie sich kein bisschen sicherer. Im Gegenteil. Der Abend war klar und wolkenlos, und es war sogar wärmer als heute Mittag, als sie aufgebrochen war. Auch der anheimliche Nebel hatte sich inzwischen gänzlich verflüchtigt, und dennoch hatte sie ein Gefühl von Unwirklichkeit, das sich jedem Versuch hartnäckig widersetzte, es zu verscheuchen oder ihm gar mit etwas so Profanem wie Logik beizukommen. Wie zuvor am Mittag verspürte sie plötzlich etwas wie eine Bedrohung, ein Gefühl, als würde sich etwas ebenso Unsichtbares wie Erstickendes ganz langsam, aber auch unerbittlich um sie zusammenziehen. »Sie brauchen sich nicht zu sorgen«, sagte Maistowe plötzlich. »Zum einen ist das hier nicht das East End, sondern die City of London, und zum anderen bin ich ja bei Ihnen.« Er grinste schief. »Was immer das heißen mag.«

Bast sah ihn im ersten Moment einfach nur verständnislos an, bis ihr klar wurde, dass sie sich immer wieder argwöhnisch umgeblickt hatte, seit sie Scotland Yard verlassen hatten. Jetzt war sie es, die sich in ein verunglücktes Lächeln rettete. »Ich habe keine Angst«, sagte sie und kam sich dabei ziemlich närrisch vor. »Ich hatte nur so ein Gefühl ...«

»... beobachtet zu werden?« Maistowe nickte grimmig. »Vielleicht ist es nicht einmal falsch. Mir geht es nämlich genauso.« Er wandte im Gehen den Kopf und sah sich demonstrativ um. »Es sollte mich nicht wundern, wenn Abberline uns trotz allem einen Begleiter mitgegeben hat. Wenn auch einen, der es vorzieht, unerkannt zu bleiben.«

Es dauerte einen Moment, bis Bast verstand, was er meinte. »Sie glauben, er lässt uns beobachten? Aber ich dachte, dieser Mann wäre Ihr Freund.«

»Er schon, aber Monro nicht«, sagte Maistowe grimmig. »Ich traue diesem Kerl nicht.«

»Ich auch nicht«, pflichtete ihm Bast bei. »Aber uns verfolgt niemand. Ich würde es merken, glauben Sie mir.«

Maistowe blieb skeptisch. »Nicht alle Polizisten tragen Rock und steifen Hut«, sagte er.

»Ich würde es merken«, beharrte Bast. Aber würde sie das wirklich? Sie war sich dessen nicht so sicher, wie sie es gerne gewesen wäre. Irgendetwas ... war da.

»Ja, vermutlich«, gestand Maistowe. »Ich kann mich nur noch einmal entschuldigen. Das alles ist mir so unendlich peinlich. Sie müssen einen ganz schrecklichen Eindruck von unserem Land bekommen haben.«

»Ganz und gar nicht«, widersprach Bast. »Im Gegenteil. Selbst Monro ...« Sie hob die Schultern. »Ich glaube nicht, dass ich ihn zu meinen Freunden zählen möchte, aber er scheint mir trotzdem ein Mann zu sein, der seine Pflichten ernst nimmt.«

»Zweifellos«, sagte Maistowe. Es klang fast widerwillig. »Aber er weiß anscheinend nicht, wer seine Feinde und wer seine Freunde sind!«

Vielleicht wusste er es sogar besser, als gut für ihn war, dachte Bast. Weder sein Orden noch sein Rang würden Monro schützen, wenn Horus und Sobek zu dem Schluss kamen, dass er ihnen auf der Spur war, und entschieden, etwas dagegen zu unternehmen.

»Machen Sie sich keine Sorgen, Kapitän«, antwortete sie. »Ich will nicht sagen, dass ich erfreut über diese Situation wäre, aber glauben Sie mir: Wäre es andersherum und ich wäre als Ausländerin in unserem Land in Verdacht geraten, wäre ich wohl kaum so glimpflich davongekommen.«

»Das sagen Sie nicht nur, um mich zu beruhigen?«, fragte Maistowe. Er maß sie mit einem sonderbaren Blick.

»Ich sage stets das, was ich denke, Kapitän«, antwortete Bast.

»Das freut mich.« Maistowe fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen. »Aber tun Sie mir doch den Gefallen und nennen mich Jacob. Kapitän klingt so ... distanziert!«

»Aber Sie sind doch Kapitän, oder?«

»Nur auf meinem Schiff«, widersprach Maistowe. Er wirkte plötzlich noch unsicherer, und Bast schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass er sich nicht ausgerechnet diesen Moment ausgesucht haben mochte, all seinen Mut zusammenzukratzen und ihr auch ganz offen den Hof zu machen. Aber sie wurde nicht erhört. »Hier an Land bin ich ... nun, was immer Sie wünschen, dass ich es für Sie bin, Bast.«

Nun war es heraus. Bast spürte Maistowes Erleichterung, die Worte endlich ausgesprochen zu haben, aber auch seine Unsicherheit, wie ihre Reaktion wohl ausfallen mochte. Für einen Moment wusste sie selbst nicht, wie sie reagieren sollte. Was Maistowe da im Sinn hatte, amüsierte sie zum einen - selbst wenn sie nicht gewesen wäre, was sie nun einmal war, hätten sie nun wirklich nicht zusammengepasst -, aber er tat ihr auch leid. Statt ihn auf anderem Wege von seiner albernen Idee abzubringen, versuchte sie es schlichtweg mit der Wahrheit. Sie blieb stehen, wandte sich Maistowe ganz zu und sah ihm fest in die Augen. Aber mehr auch nicht.

»Es reicht mir vollkommen, wenn Sie genau das bleiben, was Sie sind, Kapitän«, sagte sie. »Ein guter Freund.«

»Oh«, murmelte Maistowe.

»Das ist viel mehr, als ich in diesem Land zu finden gehofft habe«, fuhr sie fort. »Und es ist etwas sehr Kostbares, das Sie nicht unterschätzen sollten.« Sie hob die Hand, als er etwas sagen wollte. »Nein, widersprechen Sie mir bitte jetzt nicht aus Höflichkeit. Ich meine es ernst. Ich weiß, dass Sie sich vielleicht ... etwas anderes erhofft haben, aber das hätte keinen Sinn. Ich habe Ihnen erzählt, wer ich bin. Was ich bin. Ich würde Ihnen nur Unglück bringen. Aber ich schätze Sie als einen ebenso aufrechten wie ehrlichen Mann.«

»Ich verstehe.« Maistowe räusperte sich unecht. »Es tut mir leid. Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten. Ich bitte um Verzeihung.«

»Da gibt es nichts, was ich Ihnen verzeihen müsste, Kapitän.« Bast lachte leise. »Welcher Frau schmeichelt es nicht, wenn ihr ein Mann den Hof macht? Die meisten geben es nur nicht zu, das ist alles.« Sie zwinkerte ihm zu. »Bleiben wir trotzdem Freunde?«

»Selbstverständlich.« Maistowe gab sich alle Mühe, sich zu beherrschen, aber Bast spürte trotzdem, dass er um seine Selbstbeherrschung kämpfte. Unendlich behutsam nahm sie ihm zumindest seine ärgste Enttäuschung - und den allergrößten Teil der Scham, die er plötzlich empfand. In Basts Augen gab es nicht den mindesten Grund dafür, aber es gab selbst nach all der Zeit noch immer Dinge, die sie bei diesen Sterblichen einfach nicht verstand.

Sie gingen weiter. Das Gefühl einer lautlosen Gefahr war noch immer da, wurde aber nun von dem Aufruhr an Empfindungen, den sie zu ihrer eigenen Verblüffung ebenfalls verspürte, nahezu überlagert, und wahrscheinlich war es ohnehin nur Einbildung gewesen. Maistowe schwieg auf den ersten zwei oder drei Dutzend Schritten, und Bast konnte ihm regelrecht ansehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete, und schließlich verlegte er sich auf den hoffnungslos unzulänglichen Versuch, Konversation zu machen. Er begann ihr die Gebäude, Denkmäler und Parks zu erklären, an denen sie vorüberkamen, und Bast versuchte immerhin, Interesse zu heucheln. Insgeheim war sie allerdings erleichtert, als sie sich endlich dem Victoria Embankment näherten und sich die Silhouette der kleinsten der drei Nadeln der Kleopatra wie ein mahnend ausgestreckter Zeigefinger vor ihnen in den Nachthimmel erhob. Unverzüglich wollte sie auf die Straße hinaustreten und den Weg auf diese Weise abkürzen, und Maistowe ergriff sie hastig am Arm und riss sie zurück.

Keinen Moment zu früh. Ein vierspänniges und ebenso großes wie bizarres Gefährt rumpelte auf schweren eisenbeschlagenen Rädern vorüber; so dicht, dass sie den sachten Luftzug spüren konnte, den die mannshohen Speichenräder verursachten.

»Vorsicht!«, mahnte Maistowe. »Sie wollen doch nicht unter die Räder kommen, oder?« Er lachte unecht, wirkte aber mindestens ebenso erschrocken wie sie, und nach einem weiteren Atemzug zog er die Hand hastig zurück und sah irgendwie so aus, als wollte er sich dafür entschuldigen, sie überhaupt angefasst zu haben.

»Was ... war das?« Bast sah dem sonderbaren Gefährt, das sie um ein Haar überrollt hätte, erschrocken nach. Es bot wirklich einen bizarren Anblick: Es war tatsächlich eine Art Droschke, wenngleich auch die größte, die sie jemals gesehen hatte. Obgleich von nur zwei Pferden gezogen, war sie mindestens fünfmal so lang und deutlich breiter als eine normale Kutsche und hatte zahlreiche Fenster, durch die man in ihr von Petroleumlampen erhelltes Inneres sehen konnte. Bast machte eine Anzahl unbequem aussehender, hölzerner Sitzbänke aus, auf denen sich vielleicht ein Dutzend Männer und Frauen befanden - und damit war das seltsame Gefährt noch nicht einmal annähernd besetzt.

»Die Tram«, antwortete Maistowe. Er zog eine Grimasse. »Die neueste Idee der Londoner Stadtverwaltung. So etwas wie eine Kutsche, die stets denselben Weg fährt und an bestimmten Punkten anhält, um Fahrgäste einzusammeln. Eine völlig verrückte Idee, wenn Sie mich fragen. Das wird niemals funktionieren.«

Bast fand den Einfall gar nicht einmal so schlecht, aber sie sagte nichts dazu. So bizarr ihr das davonrumpelnde Gefährt auch vorkam, viel mehr erschreckte sie die bloße Tatsache, dass es Maistowe gewesen war, der sie gerettet hatte. Sie hatte das heranrollende Fahrzeug nicht einmal gehört! Und das hätte einfach nicht passieren dürfen!

»Ist alles in Ordnung?«, fragte Maistowe besorgt.

»Ja, sicher«, antwortete Bast. »Ich war nur ... erschrocken.«

»Die Segnungen der modernen Zeiten«, philosophierte Maistowe. »Nicht alles was modern ist, ist deswegen auch automatisch gut.« Sein Blick wurde ehrlich besorgt. »Können Sie weitergehen?«

Bast beantwortete seine Frage, indem sie ganz genau das tat: Sie ging weiter, und plötzlich war es Maistowe, der sich sputen musste, um nicht zurückzufallen. Das sonderbare Gefährt rumpelte davon und verschwand schließlich im Grau der Nacht ... aber nicht völlig.

Etwas ... blieb. Es war, als weigere sich die Nacht, den Schatten vollkommen in sich aufzunehmen. Irgendetwas ... bewegte sich weiter, verborgen in der Dunkelheit, aber nicht gänzlich. Etwas wie eine Gestalt, düster und verschwommen und mit sonderbar wabernden Umrissen, wie ein riesiger schwarzer Vogel, der träge die Flügel bewegte, und ...

»Ist auch wirklich alles in Ordnung?«, fragte Maistowe.

Bast blinzelte, und der Schatten war verschwunden. »Nein«, sagte sie. »Ich meine: Nein, es ist nichts. Ich dachte, ich ... hätte etwas gesehen, aber ich muss mich getäuscht haben.«

Maistowes Blick machte ihr klar, wie wenig überzeugend diese Antwort klang, aber sie gab ihm erst gar keine Gelegenheit, eine entsprechende Frage zu stellen, sondern ging schon beinahe überhastet schnell weiter - diesmal allerdings erst, nachdem sie einen raschen Blick in beide Richtungen geworfen hatte. Niemand versuchte, sie zu überfahren, und auch der Schatten tauchte nicht wieder auf.

»Ist auch tatsächlich alles in Ordnung mit Ihnen?«, beharrte Maistowe zum dritten Mal. Bevor sie antworten konnte, fuhr er kopfschüttelnd fort: »Großer Gott, Sie sehen aus, als hätten Sie ein Gespenst gesehen!«

Bast lächelte flüchtig, wenn auch aus keinem anderen Grund als dem, dass Arthur heute Mittag fast wortwörtlich dasselbe zu ihr gesagt hatte. Einen Moment später verschwand das Lächeln wieder von ihren Zügen, und sie wünschte sich fast, sich nicht erinnert zu haben. Das zweite Mal binnen kürzester Zeit, dass sie wortwörtlich Gespenster sah. Vielleicht sollte sie allmählich anfangen, sich über andere Dinge Gedanken zu machen als einen Möchtegern-Polizeipräsidenten und zwei psychopathische Killer, die in schwarzen Betttüchern herumliefen. Dieses Land bekam ihr anscheinend nicht.

Diesmal unbehelligt überquerten sie die Straße und traten nur einen Augenblick später zwischen zwei sorgsam gestutzten Ahornbäumen auf das Viktoria Embankment hinaus und damit nicht nur in den Schatten des riesigen Obelisken, sondern auch dorthin, wo Arthur mit der Kutsche auf sie wartete.

Oder eigentlich warten sollte.

Der Wagen war nicht da, und im allerersten Moment drohte Bast ob dieser Kleinigkeit beinahe in Panik zu geraten. Sie erinnerte sich genau, wie Arthur vor ihren Augen in den Wagen gestiegen war und sich auf der Sitzbank zu einem unerwarteten Schläfchen zusammengerollt hatte, aber der betagte Zweispänner war verschwunden.

Stattdessen trat Abberline vor ihnen aus den Schatten, gefolgt von zwei uniformierten Bobbys, die beide - selbst ohne ihre albernen Helme - mindestens so groß waren wie sie und ein gutes Stück breitschultriger. Einer von ihnen hatte seinen Knüppel griffbereit in der Hand, der andere war zwar unbewaffnet, beäugte sie aber so unverhohlen misstrauisch, dass jedes weitere Wort der Erklärung überflüssig wurde. Abberline war ihnen nicht aus purer Höflichkeit gefolgt.

»Was ist los?«, fragte Bast. Sie spürte, wie Maistowe hinter ihr scharf die Luft zwischen den Zähnen einsog.

»Sie kommen gleich zur Sache.« Abberline nickte. Sein Gesicht war sehr ernst. »Das gefällt mir.«

»Was soll der Unsinn, Frederick?«, polterte Maistowe hinter ihr los. »Wenn du ...«

Abberline brachte den Kapitän mit einer für ihn vollkommen ungewohnt rüden Geste zum Verstummen, und sein Blick wurde noch einmal um mehrere Nuancen ernster. »Wenn Sie mich schon so direkt fragen, dann will ich Ihnen auch direkt antworten«, sagte er. »Unmittelbar, nachdem Jacob und Sie gegangen sind, habe ich eine Meldung bekommen.«.

»Eine Meldung?« Bast war mehr als leicht beunruhigt. Die Art, wie Abberline dieses Wort ausgesprochen hatte, gefiel ihr nicht.

»Sie haben Ihren Wagen und Ihren Fahrer zurückgelassen?«, fragte Abberline, statt ihre Frage zu beantworten. »Darf ich fragen, wo?«

»Dort drüben!« Maistowe trat mit einem Schritt neben sie und deutete mit dem ausgestreckten Arm zur anderen Seite des Platzes. Vielleicht noch beunruhigender als die Tatsache, dass sie gerade um ein Haar von einer größenwahnsinnig gewordenen Kutsche überrollt worden wäre und es Maistowe gewesen war, der sie im letzten Moment zurückgerissen hatte, war der Umstand, dass auch jetzt wieder er es war, der Arthurs Fuhrwerk zuerst entdeckte und nicht sie. Seine ausgestreckte Hand wies zum Themseufer hinab. »Er hat sich anscheinend einen ruhigeren Parkplatz gesucht. Was, zum Teufel, soll das?«

Die letzten scharf hervorgestoßenen Worte galten Abberline, der aber gar nicht darauf reagierte, sondern sich herumdrehte und ebenfalls in die angegebene Richtung sah. Sehr nachdenklich und deutlich zu lange für Basts Geschmack.

»Frederick, was soll das?«, fuhr Maistowe fort, jetzt aber nicht in scharfem, sondern in eher erstauntem und an Abberlines Freundschaft appellierendem Ton. »Was ist passiert?«

»Kommt mit!« Abberline drehte sich auf dem Absatz herum und ging mit schnellen Schritten los. Seine beiden Begleiter folgten ihm und nach einem fast unmerklichen Zögern auch Bast und Maistowe. Bast verspürte einen kurzen, heftigen Ärger über sich selbst. Die Dinge begannen ihr zu entgleiten. Aber statt noch mehr zu sagen, schritt sie schneller aus und überholte Abberline und die beiden Bobbys. Eines der beiden Pferde hob mit einem unruhigen Schnauben den Kopf und blickte in ihre Richtung, als würde er sie wiedererkennen, das andere starrte teilnahmslos auf den Fluss hinab, der schwarz und sonderbarerweise ohne einen einzigen Stern oder irgendein Licht widerzuspiegeln, hinter dem Wagen lag und die Stadt wie eine bodenlose Schlucht teilte.

Abberline sagte irgendetwas, von dem sie spürte, dass es ihr galt, aber sie ignorierte die Worte, erreichte als Erste den Wagen und schlug mit der flachen Hand gegen die Tür, um den Kutscher zu wecken und ihm eine womöglich peinliche Situation zu ersparen und rief zusätzlich seinen Namen, aber sie bekam keine Antwort.

Jedenfalls nicht von ihm.

»Bitte treten Sie vom Wagen zurück, Ma'am«, sagte Abberline hinter ihr. »Auf der Stelle.«

Unter normalen Umständen hätte Bast ihn nicht einmal einer Antwort gewürdigt, aber irgendetwas war hier so falsch, wie es überhaupt nur ging. Und da war etwas in seiner Stimme, das sie über die Maßen alarmierte. Fast gegen ihren Willen drehte sie sich zu ihm herum und las denselben, beunruhigenden Ausdruck in seinem Gesicht. Er war in drei oder vier Schritten Abstand stehen geblieben und hatte sein Jackett geöffnet, und obwohl er noch nicht einmal die Hände gehoben hatte, war doch klar, dass er eine Waffe darunter trug. Die beiden Bobbys waren ein gutes Stück näher gekommen und zugleich auseinandergewichen. Jetzt hielten beide ihre Schlagstöcke in den Händen.

»Frederick, was ist hier los?«, fragte Maistowe scharf. »Was bedeutet das?«

Abberline ignorierte ihn. »Bitte treten Sie vom Wagen zurück«, sagte er noch einmal. »Auf der Stelle!«

Und möglicherweise hätte Bast ihm sogar gehorcht, hätte sich in diesem Moment nicht der Wind gedreht und einen sachten, aber vollkommen unverkennbaren Geruch mit sich gebracht; ein schweres, süßlich-warmes Aroma, das etwas tief in ihr berührte und eine uralte, längst vergessen geglaubte Gier weckte. Blut.

Mit einer einzigen Bewegung fuhr sie herum und riss die Tür auf.

Sie hatte gewusst, was sie finden würde. Aber nicht, was sie erwartete.

Arthur saß, halb zur Seite gesunken und den Kopf gegen die ungepolsterte Wand gelehnt, auf der rückwärtigen Bank. Seine Augen waren weit aufgerissen und zeigten einen vielleicht sanft erschrockenen, zum allergrößten Teil aber einfach nur fassungslos-erstaunten Ausdruck. Sein schäbiger Mantel und das zerschlissene weiße Hemd, das er darunter trug, waren vom Hals bis eine halbe Handbreit unter den Bauchnabel aufgeschlitzt, genau wie das Fleisch darunter, sodass ihr Blick ungehindert in seine weit offen stehende, leere Bauchhöhle fiel. Nahezu alle inneren Organe waren entfernt worden. Nur seine Gedärme waren noch da, aber nicht mehr alle an Ort und Stelle, sondern in einem Gewirr feucht glänzender Schlingen in seinen Schoß gerutscht. Wie es aussah, hatte er sich kaum zur Wehr gesetzt, und in Anbetracht dessen, was man ihm angetan hatte, war nur sehr wenig Blut geflossen. Dennoch musste Bast im ersten Moment mit aller Macht gegen ein Gefühl heftiger Übelkeit ankämpfen, und ein jäh vorübergehendes, aber maßloses Entsetzen, als sie in sich hineinlauschte und begriff, dass man all das Arthur bei vollem Bewusstsein angetan hatte.

»Ich habe gesagt, Sie sollen vom Wagen zurücktreten!« Jemand packte sie brutal von hinten bei den Schultern und zerrte sie so derb zurück, dass ihr Kopf gegen die Türkante prallte und ein Feuerwerk aus bunten Schmerzblitzen vor ihren Augen explodierte, aber Bast war immer noch viel zu schockiert, um auch nur zu reagieren. Willenlos ließ sie sich von einem der beiden muskulösen Polizisten weiter zurückzerren und registrierte wie aus weiter Entfernung, wie Abberline und der zweite Bobby praktisch gleichzeitig in den Wagen sprangen. Abberline blieb verschwunden, während der Bobby nach kaum einer Sekunde wieder aus dem Wagen heraustaumelte, in die Knie brach und sich würgend übergab.

»Was ...?«, murmelte Maistowe verstört, trat ebenfalls an die offen stehende Tür heran und prallte so heftig zurück, dass er um ein Haar das Gleichgewicht verloren hätte. Er war kreidebleich, als er sich zu ihr herumdrehte.

Bast überwand endlich den lähmenden Schrecken und befreite sich aus dem Klammergriff des Polizisten, indem sie sich schlichtweg aufrichtete und die Schultern straffte. Allerdings hütete sie sich wohlweislich, auch nur die winzigste weitere Bewegung zu machen. Stattdessen schloss sie für eine Sekunde die Augen und zwang sich zur Ruhe.

Als sie die Lider hob, kletterte Abberline rückwärts und mit übertrieben präzise wirkenden Bewegungen aus dem Wagen und drehte sich herum. Sein Gesicht war vollkommen ausdruckslos, aber totenbleich, und sein Blick flackerte. Als er versuchte, Bast zu fixieren, gelang es ihm im ersten Moment nicht.

Dann gab er sich einen sichtbaren Ruck, wandte sich jedoch nicht direkt an sie, sondern drehte sich zu dem knienden Polizisten herum und fuhr ihn an: »Reißen Sie sich zusammen, Jones! Stehen Sie auf, Mann! Machen Sie sich sauber, und dann laufen Sie zum Revier zurück und holen Sie Verstärkung! Jeden, den Sie kriegen können! Mindestens zwanzig Mann! Los!«

Der Beamte stemmte sich mühsam in die Höhe, versuchte sich gehorsam herumzudrehen und übergab sich dann noch einmal und ausgiebiger, als sein Blick dabei die offen stehende Tür der Kutsche streifte.

Abberline machte ein angeekeltes Gesicht, sparte sich diesmal aber jeden Kommentar und wandte sich wieder zu Bast um. »Was hat das zu bedeuten?«, fragte er. »Und ich will jetzt kein ich weiß es nicht oder keine Ahnung hören. Die Wahrheit! Auf der Stelle!«

»Frederick, du ...«, begann Maistowe.

»Schweigen Sie, Kapitän!«, fuhr ihm Abberline ins Wort. »Noch ein Laut, und ich lasse Sie ebenfalls verhaften!«

Maistowe sah ihn verdutzt an, schwieg aber gehorsam, und Abberline machte eine ärgerliche Geste zu dem Polizisten hinter Bast. »Gut, dann laufen Sie zum Revier, Barton! Und wenn es geht, heute noch!«

Der Bobby machte gehorsam einen Schritt zurück und drehte sich herum, blieb aber dann doch noch einmal stehen. »Sind Sie sicher, Sir, dass Sie ...?«

»Keine Sorge, Barton«, sagte Abberline und zog einen Revolver. »Ich komme hier schon zurecht. Gehen Sie.«

»Bist du ... bist du verrückt geworden, Frederick?«, keuchte Maistowe. »Was soll der Unsinn? Steck die Waffe ein!«

Abberline tat nichts dergleichen, sondern zog ganz im Gegenteil den Hahn zurück und zielte nun direkt auf Basts Gesicht. »Seien Sie vernünftig und versuchen Sie nicht zu fliehen, oder etwas noch Dümmeres zu tun, Ma'am«, sagte er kalt. »Ich würde nur äußerst ungern auf Sie schießen, aber ich werde nicht zögern, es zu tun, seien Sie versichert.«

»Du ... du musst den Verstand verloren haben!«, ächzte Maistowe. »Du kannst doch nicht wirklich glauben, dass ... dass sie das da war!«

»Wahrscheinlich nicht«, antwortete Abberline. »Aber ich bin sehr sicher, dass sie sehr viel mehr darüber weiß, als sie bisher zugegeben hat.« Seine Stimme wurde irgendwie ... offizieller. »Miss Bast, im Namen Ihrer Majestät verhafte Sie hiermit und fordere Sie auf, mir widerstandslos zu folgen.«

Bast reagierte gar nicht, aber das schien Abberline nicht zu genügen. Ohne sie auch nur einen Sekundenbruchteil aus den Augen zu lassen, machte er einen halben Schritt zur Seite und wedelte gleichzeitig mit der freien Hand. »Jones, haben Sie Ihre Handschellen dabei?«

Der Bobby würgte eine Antwort hervor, die keiner von ihnen verstand, kam aber gehorsam - wenn auch sichtbar schwankend - näher und grub dabei in seiner Jackentasche.

»Ich werde mir bestimmt keine Handschellen anlegen lassen«, sagte Bast ruhig.

»Dann zwingen Sie mich, Gewalt anzuwenden«, antwortete Abberline ...

... und nur ein kleines Stück neben ihnen teilte sich das Buschwerk und spie eine riesige, in fließendes Schwarz gehüllte Gestalt aus, die so schnell und lautlos wie ein Gespenst an Abberline und dem Bobby vorüberhuschte und auf der anderen Seite in der Dunkelheit verschwand, dass nicht einmal Bast mehr als einen verschwommenen Schemen erkannte. Aber nur einen halben Atemzug später stürmte eine zweite, kaum weniger große Gestalt aus dem Gebüsch heraus und jagte der ersten mit weit ausgreifenden Sätzen hinterher.

»Inspektor! Halten Sie ihn auf! Das ist der Kerl!«

Tatsächlich drehte sich Abberline herum und zielte nun mit seiner Pistole hilflos in die Richtung, in der die schwarze Gestalt verschwunden war - mit dem einzigen Ergebnis allerdings, dass er wahrscheinlich seinen eigenen Kollegen getroffen hätte, hätte er in diesem Moment abgedrückt. Gottlob war er viel zu perplex dazu. Selbst Bast starrte dem Schatten nur fassungslos nach.

Für die Dauer eines halben Atemzuges.

Dann erwachte sie nicht nur endlich aus ihrer Erstarrung, sondern war auch mit einem einzigen Schritt an Abberline und mit dem zweiten an Arthurs Wagen vorbei; gerade noch rechtzeitig, um einen riesigen finsteren Schatten zu sehen, der sich mit weit ausgebreiteten Schwingen abstieß und verschwand.

Nach unten, nicht nach oben.

Um ein Haar hätte Bast es ihm gleichgetan, wenn auch alles andere als freiwillig.

Es waren ihre Instinkte, die sie retteten, nicht ihr bewusstes Denken. Vor ihr war kein fester Boden mehr, sondern ein gut zwanzig Fuß tiefer Abgrund, unter dem die Themse dahinfloss wie ein Band aus gemauerter Schwärze. Bast warf sich hastig zurück und griff aus der gleichen Bewegung heraus auch noch nach dem Polizisten, der hinter ihr herangestürmt kam und vom Schwung seiner eigenen Bewegung unweigerlich über die Kante getragen worden wäre.

Etwas Riesiges, Flatterndes bewegte sich zwanzig Fuß unter ihr und verschmolz endgültig mit den Schatten - kein Vogel, sondern eine hünenhafte Gestalt in einem wehenden schwarzen Mantel.

Bast versetzte dem wild fuchtelnden Bobby einen Stoß, der ihn rücklings von der Kante zurücktaumeln ließ, setzte dazu an, der Gestalt mit einem beherzten Sprung zu folgen und kämpfte im nächsten Moment selbst mit hektischen Bewegungen um ihr Gleichgewicht, als plötzlich sie es war, die von einer starken Hand gepackt und unsanft zurückgerissen wurde.

»Verdammt noch mal, ich habe gesagt, Sie sollen stehen bleiben!« Abberline fuchtelte aufgebracht mit seiner Pistole vor ihrem Gesicht herum. »Wollen Sie, dass ich Sie erschieße?«

Bast schlug die Waffe mit einer ärgerlichen Bewegung zur Seite, fuhr herum und ließ sich auf die Knie sinken. Hastig beugte sie sich vor und spähte in die Tiefe, aber die Gestalt war und blieb verschwunden. Selbst ihre scharfen Augen nahmen kaum mehr als Dunkelheit wahr. Sie konnte einen kaum drei Fuß breiten, gemauerten Steg unmittelbar am Wasser erahnen, mehr aber auch nicht.

»Wer war das?«, blaffte Abberline. »War das der Kerl? Reden Sie!«

»Ich vermute es«, antwortete Bast. Sie konnte nicht sagen, ob es Sobek oder Horus gewesen war, und als sie versuchte, ihre geheimen Sinne zu nutzen, spürte sie nichts. Offensichtlich hatte er sich trotz seiner hastigen Flucht sorgsam abgeschirmt.

»Gut«, sagte Abberline grimmig. »Der Kerl entkommt uns nicht. Jones, Barton - mitkommen! Und Sie rühren sich nicht von der Stelle, verstanden?«

»Inspektor, Sie wissen nicht, mit wem ...«

Abberline hörte gar nicht zu, sondern fuhr bereits herum und fuchtelte mit seiner Pistole nach links, wo eine schmale, geländerlose Treppe in halsbrecherischem Winkel in die Tiefe führte, wo sie mit der Dunkelheit verschmolz. »Jacob, Sie stehen mir dafür gerade, dass sie hier bleibt!«

Und damit stürmte er los, gefolgt von den beiden Bobbys und Basts unschlüssigen Blicken. Der tödliche Schatten war längst verschwunden. Abberline und seine beiden Begleiter hatten nicht die Spur einer Chance, ihn einzuholen ... wenn er es nicht wollte.

Und genau das war das Problem. Bast kannte Horus und Sobek nun wahrlich gut genug, um zu wissen, dass ihnen ein Menschenleben nicht nur nichts wert war, sondern sie es nur zu oft regelrecht genossen, es vollkommen willkürlich auszulöschen. Der Beweis dafür lag nur wenige Schritte hinter ihr auf der Rückbank des Fuhrwerks. Es war ebenso gut möglich, dass Sobek oder Horus dort unten nur auf den Inspektor und dessen Begleiter warteten.

Sie stand auf, schlug ihren Mantel zurück und griff nach dem Schwert, zog die Hand dann aber fast erschrocken wieder zurück, als Maistowe hinter ihr auftauchte. Er zitterte noch immer am ganzen Leib, und sie konnte trotz der Dunkelheit sehen, wie blass er war.

»War das ... einer der Männer, von denen Sie mir erzählt haben?«, fragte er stockend.

Bast nickte zwar, antwortete aber nicht laut, sondern konzentrierte sich auf die gedämpften Laute, die aus der Tiefe zu ihr heraufdrangen: das seidige Fließen des Wassers und die trappelnden Schritte der drei Männer, die schnell genug die Treppe hinunterstürmten, um das eine oder andere gebrochene Bein oder im Zweifelsfall auch Genick zu riskieren. Wenn Sobek oder Horus dort unten warteten, dann atmeten sie nicht einmal.

Nicht, dass sie das unbedingt mussten ...

»Aber ... aber warum haben sie das getan?«, stammelte Maistowe. »Dieser arme Mann hat doch niemandem etwas getan!«

»Sie brauchen keinen Grund für so etwas«, antwortete Bast. »Glauben Sie mir.« Sie versuchte sich noch mehr zu konzentrieren. Da waren noch andere Geräusche, selbst für ihre scharfen Ohren zu leise und fast nicht zu identifizieren: ein schweres Gluckern und Plätschern, als glitte irgendetwas Großes träge durch das Wasser, ein haarfeines Piepsen und Huschen, vielleicht das Kratzen winziger harter Pfoten auf Stein, und die hastigen Schritte und scharfen Atemzüge der drei Männer, die mittlerweile fast unter ihr angekommen waren.

»Aber wer sind diese Männer?«, murmelte Maistowe hilflos. »Und was haben Sie mit ihnen zu schaffen? Glauben Sie nicht, dass Sie mir allmählich eine Erklärung schulden?«

Bast schwieg. Wahrscheinlich hatte sie schon viel zu viel gesagt, sowohl ihm als auch Mrs Walsh und Abberline. Wie Isis nicht müde wurde, ihr immer wieder zu versichern: Wenn sie überhaupt einen wirklichen Fehler hatte, dann war es ihre Schwatzhaftigkeit. Und die hatte jetzt ein Leben gekostet, noch dazu das Leben eines Mannes, dessen einziger Fehler es gewesen war, nett zu ihr zu sein und sich im falschen Moment am falschen Ort aufzuhalten. Plötzlich wurde ihr klar, was sie tun musste.

»Nein«, sagte sie. »Ich werde Ihnen nichts mehr erklären, Kapitän. Ich würde Sie damit nur in Gefahr bringen.« Sie machte eine Kopfbewegung auf den Wagen und strich zugleich unauffällig ihren Mantel glatt, damit er das Schwert darunter nicht sah. »Möchten Sie so enden wie der arme Arthur?«

»Aber was habe ich mit ...?«

»Weil sie vermutlich jeden umbringen werden, der mir irgendetwas bedeutet«, fiel ihm Bast bitter ins Wort. »Das ist nun einmal ihre Art.« Sie schüttelte entschieden den Kopf. »Ich werde dieses Land verlassen, Jacob. So schnell wie möglich. Am besten noch heute.«

Fast zu ihrer Überraschung versuchte Maistowe weder, sie umzustimmen, noch stellte er eine weitere Frage. Er sah sie nur einen kurzen Moment lang traurig an und seufzte dann: »Das wird Inspektor Abberline nicht gefallen, fürchte ich.«

»Lassen Sie das meine Sorge sein«, antwortete Bast. Sie deutete auf den Wagen. »Trauen Sie sich zu, Arthurs Familie ausfindig zu machen?«

»Sicher.«

»Dann würde ich Sie bitten, das nach meiner Abreise zu tun und ihnen eine gewisse Summe Geldes auszuhändigen, die ich Ihnen zuvor übergeben werde. Immerhin haben sie meinetwegen ihren Ernährer verloren.«

»Das tue ich gern, aber ...«

Aus der Tiefe hinter ihr wehte ein entsetzter Schrei herauf, und Bast fuhr mit einer blitzartigen Bewegung herum, riss das Schwert unter dem Mantel hervor und sprang. Vielleicht eine Winzigkeit zu hastig. Abberline und die beiden Bobbys befanden sich unmittelbar unter ihr, und sie konnte ihren Sprung gerade noch im letzten Moment korrigieren, um nicht wortwörtlich auf ihren Köpfen zu landen. Nicht annähernd so elegant, wie sie es beabsichtigt hatte, kam sie neben Abberline auf, sprang mit einer federnden Bewegung wieder in die Höhe und hob das Schwert ... aber die einzige, schwarz gekleidete Gestalt, die ihr gegenüberstand, war Abberline. Einer der beiden Bobbys stand neben ihm und wirkte mindestens genauso fassungslos wie Abberline, der andere hockte hinter den beiden auf einem Knie und hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die rechte Hand.

»Was ist passiert?!«, stieß Bast hervor.

Abberline antwortete nicht, sondern starrte aus großen Augen zuerst sie, dann das Schwert in ihrer Hand und dann wieder ihr Gesicht an. Schließlich legte er den Kopf in den Nacken und starrte eine geschlagene Sekunde lang nach oben.

»Verdammt noch mal, was ist passiert?«, wiederholte Bast gereizt. »Reden Sie!«

»Eine Ratte!« Es war der kniende Polizist, der antwortete, nicht Abberline. Seine Stimme klang weinerlich. »Das verdammte Vieh hat mich gebissen!«

»Eine Ratte?« Bast entspannte sich kein bisschen, aber ihr Blick ließ den knienden Jammerlappen los und suchte die Wand hinter ihm ab. Unmittelbar hinter ihm gähnte ein gut metergroßes Loch in der aus schweren Bruchsteinen gemauerten Wand. Bast vermutete, dass er die Hand hineingesteckt hatte, als er gebissen worden war.

Sie ging hin, ließ sich in die Hocke sinken und versuchte vergeblich, die Dunkelheit dahinter mit Blicken zu durchdringen. Aber sie hörte ein gedämpftes Rascheln und Huschen und das Tappen zahlloser winziger Pfoten, und sie spürte die charakteristische Witterung der kleinen Nager. Wahrscheinlich hatte der Bursche noch Glück gehabt, nur in die Hand gebissen worden zu sein.

»Der Kerl muss in das Loch verschwunden sein«, sagte der zweite Polizist. »Keine Ahnung, was dahinter ist.«

»Dann wird es Zeit, es herauszufinden«, sagte Abberline. »Worauf warten Sie? Nehmen Sie die Verfolgung auf!«

Der Mann machte einen - sehr zögerlichen - Schritt, und Bast richtete sich rasch auf und schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Was soll das ...?«, begehrte Abberline auf, und Bast unterbrach ihn ruhig.

»Wenn Sie Ihre Männer dort hineinschicken, sehen Sie sie nicht lebend wieder. Glauben Sie mir, Inspektor. Ich weiß, wovon ich rede.«

Abberline starrte sie wütend an, aber der Anteil von Unsicherheit in seinem Blick nahm auch deutlich zu, als er das finstere Loch hinter ihr musterte. »Ich frage mich, ob Sie nicht noch eine ganze Menge mehr wissen«, sagte er missmutig. »Hatte ich Sie nicht gebeten, dort oben zu bleiben?«

»Wenn ich mich richtig erinnere, haben Sie mich verhaftet, Inspektor«, antwortete Bast betont. »Muss ich da nicht ständig in Ihrer Nähe sein?«

Abberline verzog humorlos die Lippen und machte eine Kopfbewegung auf das Schwert in ihrer Hand. »Stecken Sie das Ding weg.«

»Sobald Sie aufhören, mit Ihrem Ding auf mich zu zielen«, antwortete Bast lächelnd.

Abberline sah sie einen halben Herzschlag lang einfach nur verwirrt an, dann fuhr er zusammen und senkte hastig die Pistole, die er immer noch auf sie gerichtet hielt; wahrscheinlich, ohne es selbst zu bemerken. Bast senkte - deutlich langsamer - das Schwert, steckte es aber noch nicht ein.

»Sagen Sie nicht, Sie haben das Ding auch bei sich gehabt, während Sie mit Monro gesprochen haben«, sagte Abberline nervös, machte aber zugleich auch eine entsprechende Handbewegung, um sie am Antworten zu hindern. »Wer war das?«, fragte er. »War das der Kerl, der den Fahrer getötet hat?«

»Ich nehme es an«, antwortete Bast. Sie hörte sogar selbst, wie nervös ihre Stimme klang. Sie sollte sich entspannen, aber sie konnte es nicht. Es war noch nicht vorbei, das spürte sie. Weder Horus noch Sobek waren in der Nähe, dessen war sie sich jetzt sicher, aber die Gefahr war noch nicht vorüber.

»Warum?«, fragte Abberline.

»Ich ... bin nicht ganz sicher«, antwortete Bast wahrheitsgemäß. »Vielleicht nur, um mich zu treffen.«

»Das ist ein bisschen wenig, meinen Sie nicht?«, fauchte Abberline. Er zwang sich sichtbar zur Ruhe und fuhr in gepresstem Ton fort: »Wenn Sie wollen, dass ich Ihnen vertraue, dann sollten Sie vielleicht damit anfangen, mir ebenfalls zu trauen. Was geht hier vor?«

»Ich weiß es noch nicht genau«, antwortete Bast. »Aber es hat ... nichts mit Ihnen zu tun, Inspektor, oder dem, weswegen Sie mich heute zu sich bestellt haben. Das ist alles, was ich Ihnen im Moment sagen kann.«

»Und Sie erwarten, dass ich mich damit begnüge und Sie gehen lasse?«, fragte Abberline.

»Das sollten Sie, Frederick.« Maistowe langte schwer atmend bei ihnen an und maß Abberline mit einem ebenso erschöpften wie vorwurfsvollen Blick. »Oder haben Sie Ihre gesamte Menschenkenntnis eingebüßt?«

Man musste nicht über Basts ungewöhnliche Beobachtungsgabe verfügen, um zu erraten, welche Art von Antwort Abberline auf der Zunge lag. Aber er beherrschte sich, funkelte Maistowe nur einen Atemzug lang an und sagte dann in fast resignierendem Ton: »Hatte ich Sie nicht gebeten, oben beim Wagen zu warten, Jacob?«

»Ich glaube nicht, dass ihn jemand stiehlt, Frederick«, versetzte Maistowe. »Habt ihr ihn?«

Die Frage war so überflüssig, dass Abberline sich nicht einmal die Mühe machte, darauf zu antworten. Er starrte Maistowe nur noch einen Augenblick lang finster an, dann drehte er sich mit einem Ruck zu einem der Bobbys - Barton, wenn Bast sich richtig erinnerte - herum.

»Falls Sie nicht darauf bestehen, dass ich selbst zum Revier zurücklaufe und die nötige Unterstützung hole, Konstabler, dann wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir diese kleine Mühe abnehmen würden«, sagte er ätzend. »Hier muss alles abgesperrt werden, und wir brauchen Spezialisten, die hier alles nach Spuren absuchen. Glauben Sie, dass Sie mir diesen kleinen Gefallen erweisen könnten?«

»Sicher«, antwortete Barton hastig. »Ich ...«

Der Fluss hinter ihm explodierte in einer brüllenden Woge aus spritzendem Schaum und Panzerplatten und Zähnen, und ein Paar riesiger, geschuppter Kiefer schloss sich mit einem grässlichen Knirschen um den Oberkörper des Bobbys und riss ihn ins Wasser hinab. Blutiger Schaum spritzte mehr als mannshoch und besudelte Bast, Abberline und Maistowe, und Barton, obschon bereits unter Wasser gezogen, stieß einen markerschütternden Schrei aus und begann verzweifelt um sich zu schlagen. Das Letzte, was Bast von ihm sah, war eine hilflos aus dem Wasser emporgereckte Hand, der zwei Finger fehlten, und einen gezackten Rückenkamm, der sich rasend schnell davonschlängelte und das Wasser teilte wie eine gezahnte Säbelklinge.

Es war Abberline, der seinen Schrecken als Erster überwand, nicht Bast. So schnell, wie sie es bei einem normalen Menschen kaum für möglich gehalten hätte, fuhr er herum, riss seine Pistole in die Höhe und gab rasch hintereinander zwei Schüsse ab, die das Ungeheuer allerdings weit verfehlten. Praktisch gleichzeitig stürmte er los.

Und endlich erwachte auch Bast aus ihrer Erstarrung. Mit zwei, drei gewaltigen Sätzen war sie neben Abberline und an ihm vorbei, versuchte noch schneller zu laufen und wäre um ein Haar kopfüber ins Wasser gestürzt, als der gemauerte Uferpfad vor ihr plötzlich abbrach. Sie sah gerade noch einen geschuppten Schwanz, länger als ein Mann und mit schrecklichen Knochenklingen besetzt, der in einem gemauerten Bogen verschwand, dann musste sie hastig zugreifen, um Abberline aufzufangen, der neben ihr auftauchte und um ein Haar ebenfalls ins Wasser gestürzt wäre.

»Was war das?!«, keuchte er. »Um Gottes willen, was ...?«

»Sobeks Drache«, antwortete Bast düster. »Es tut mir leid. Ich habe ihn nicht kommen sehen.« Aber sie hätte es müssen. Sie hätte wissen müssen, dass Sobek sein Schoßtierchen nicht nur mitgebracht hatte, um mit ihm zu kuscheln. Verdammt, sie hatte das Biest gesehen!

Abberline sah sie bestürzt an. »Ein ... Drache?« Er lachte nervös. »Sie machen Witze.«

Bast wollte antworten, aber in diesem Moment drang ein gellender Schrei aus dem Tunnel, und Abberline tat etwas vollkommen Irrsinniges: Mit einem einzigen Satz war er im Wasser, das ihm sonderbarerweise aber nur bis zu den Oberschenkeln reichte, und machte Anstalten, geduckt in den gemauerten Tunnel hineinzuwaten.

»Frederick, kommen Sie zurück!«, schrie Maistowe. »Das ist Selbstmord!«

Abberline zögerte tatsächlich, aber offensichtlich nicht, weil er auf Maistowes Warnung hörte - er machte einen weiteren Schritt, hielt sich mit der freien Hand am oberen Rand der Tunnelöffnung fest und spähte geduckt in den finsteren Abwasserkanal hinein. Die Schwärze dahinter war offensichtlich nicht nur für Basts Augen nicht so undurchdringlich, wie es im ersten Moment den Anschein gehabt hatte. Sie erkannte einen ungesunden, flackernd grauen Schimmer, der aus dem Nichts zu kommen schien und Assoziationen von Fäulnis und Verfall und kriechenden Dingen mit sich brachte. Der Gestank war atemberaubend.

»Jones!« Abberline wedelte in Richtung des zweiten Polizisten, der als Einziger zurückgeblieben war und vollkommen erstarrt zu sein schien. »Ihre Lampe! Jones!«

Der Polizist starrte eine weitere, geschlagene Sekunde aus weit aufgerissenen Augen einfach ins Leere, dann aber fuhr er umso heftiger zusammen, eilte los und reichte Abberline seine Karbidlampe, wobei er sich so weit vorbeugte, dass er um ein Haar die Balance verloren hätte, nur um dem übelriechenden Wasser nicht zu nahe zu kommen. Abberline durchbohrte ihn schier mit Blicken, und Jones richtete sich hastig wieder auf und brauchte mit ungelenk zitternden Fingern drei Versuche, um die Lampe zu entzünden, bevor er sie Abberline zum zweiten Mal reichte.

Der kalkweiße Lichtstrahl riss verschimmeltes Mauerwerk und einen kaum doppelt handbreiten Pfad aus bröckeligem Stein aus der Dunkelheit, und schaumiges Wasser, auf dem ungesund anmutende Dinge schwammen, aber er löschte auch zugleich das graue Licht dahinter aus, sodass man beinahe weniger sah als vorher. Trotzdem bückte sich Abberline und machte einen weiteren, tastenden Schritt in die übelriechende Brühe hinein.

»Was haben Sie vor, Frederick?«, fragte Maistowe nervös.

Abberline machte einen weiteren Schritt, tastete vorsichtig unter Wasser nach festem Halt und zog sich dann vorsichtig auf den gemauerten Sims hinauf. Die Lampe in seiner Hand tanzte wild hin und her und erfüllte den Tunnel mit zusätzlichen, gespenstischen Schatten. »Wir müssen ihn suchen«, antwortete er mit einiger Verspätung. »Er könnte noch leben.«

Maistowe ächzte vor Unglauben, und Jones wurde noch blasser, als er sowieso schon war.

»Tun Sie das nicht, Inspektor«, sagte Bast ernst. »Es sei denn, Sie wollen auch sterben.«

Wie zur Antwort drang ein weiterer, gedämpfter Schrei aus der Dunkelheit heraus. Vielleicht auch nur das verzerrte Echo irgendeines anderen Geräusches - aber für Abberline reichte es.

»Ich werde keinen meiner Männer im Stich lassen«, sagte er grimmig. »Laufen Sie zurück zum Yard, Jacob! Holen Sie Verstärkung. Wir brauchen Lampen und Waffen!«

»Er wird Sie ebenfalls töten, Inspektor«, sagte Bast ernst. Das Schlimme war, dass Abberline recht hatte: Der Polizist lebte noch. Seine Schreie waren mittlerweile verstummt, aber sie konnte seine Qual und die grauenhafte Angst spüren, die er litt. Selbstverständlich würde sie sich hüten, Abberline gegenüber auch nur ein einziges Wort davon zu erwähnen.

Aber der Mann überraschte sie ein weiteres Mal. »Er lebt noch, das spüre ich«, sagte er entschlossen. »Ich an seiner Stelle würde erwarten, dass mir jemand zu Hilfe eilt, und ich werde dasselbe für jeden meiner Männer tun. Jacob - geben Sie Jones Ihre Pistole, und dann laufen Sie zum Yard und tun, was ich Ihnen aufgetragen habe.«

»Was für eine ...?«, begann Maistowe, aber er kam auch diesmal nicht dazu, seinen Satz zu beenden.

»Jacob, bitte!«, unterbrach ihn Abberline. »Wir haben keine Zeit für so etwas! Ich weiß, dass Sie immer eine Waffe bei sich haben. Also geben Sie sie Jones, und dann laufen Sie!«

Maistowe zierte sich noch eine Sekunde, aber dann griff er unter seine Jacke und förderte einen altmodisch aussehenden Trommelrevolver zutage, den er Jones reichte. »Und was soll ich Ihren Kollegen sagen?«, fragte er.

»Auf jeden Fall nichts von einem Drachen«, schnaubte Abberline. »Jones, kommen Sie!«

Jones sah nicht begeistert aus - vorsichtig ausgedrückt -, aber er trat gehorsam ins Wasser hinein und watete hinter Abberline her, bis er sich ebenfalls auf den schmalen Sims hinaufziehen konnte. Sein Gesicht war mittlerweile nicht mehr blass, sondern grün.

Bast wartete, bis Maistowe gegangen war, dann schob sie ihr Schwert unter den Gürtel, streckte die Arme aus und folgte Abberline und Jones mit einem beherzten Satz auf den gemauerten Sims, ohne mit dem verdreckten Wasser auch nur in Berührung zu kommen. Jones schenkte ihr einen fast dankbaren Blick, aber Abberlines Miene verfinsterte sich noch mehr.

»Was soll das?«, fragte er scharf. »Bleiben Sie gefälligst, wo Sie sind!«

»Ganz bestimmt nicht«, antwortete Bast, der klar war, dass nichts, was sie sagte, Abberline von seinem Vorhaben abhalten würde. »Oder glauben Sie wirklich, ich lasse mir die Chance entgehen, einem Drachentöter bei seiner Arbeit zuzusehen?«

Abberline gab sich redliche Mühe, sie mit Blicken zur Salzsäule erstarren zu lassen, sah aber irgendwann die Sinnlosigkeit seiner Bemühungen ein und ging so schnell weiter, wie es auf dem schmalen Sims überhaupt möglich war. Der grellweiße Strahl seines Scheinwerfers huschte wie ein kleines, geschäftiges Tier lautlos vor ihm über den Sims und enthüllte Dinge, von denen Bast die allerwenigsten sehen wollte, aber keine Spur von dem unglückseligen Polizisten oder gar dem Drachen.

Nach zwei oder drei Dutzend Schritten erreichten sie eine T-Kreuzung. Abberline blieb stehen und schwenkte seinen Scheinwerfer hilflos abwechselnd in beide Richtungen. Genau jetzt wäre der passende Moment, um umzukehren, dachte Bast.

Stattdessen sagte sie: »Rechts.«

Abberline sah sie zwar zweifelnd an, hob aber dann nur die Schultern und wandte sich in die angegebene Richtung, und sei es nur, weil sie auf diese Weise auf dem Sims bleiben und nicht durch das hüfthohe brackige Wasser zur anderen Seite waten mussten. Bast spürte, dass sie sich ihrem Ziel näherten. Sie hörten schon lange keine Schreie mehr, aber sie konnte fühlen, dass der unglückselige Mann immer noch lebte, so unglaublich es ihr auch selbst vorkommen mochte. Aber sie fühlte auch noch etwas anderes, das sie weit mehr erschreckte: Der Gedanke an diesen weiteren sinnlosen Tod erfüllte sie mit einem ebenso tiefen Entsetzen wie Mitleid ... aber etwas tief in ihr stürzte sich auch ebenso begierig auf diesen Schmerz und genoss ihn.

»Seinen Sie vorsichtig«, sagte sie leise. »Irgendetwas ... ist dort vorne.«

»Der Drache?« Abberline versuchte vergebens, spöttisch zu klingen.

»Falls er angreift, schießen Sie auf die Augen«, antwortete Bast. »Das ist seine einzige verwundbare Stelle.«

Abberline sagte nichts, aber er sah plötzlich sehr erschrocken aus, und Jones umklammerte die geliehene Pistole mittlerweile so fest, dass Bast froh war, sich hinter ihm zu befinden, und einen Moment lang ernsthaft überlegte, Abberline eine entsprechende Warnung zukommen zu lassen. In diesem Moment hatte Abberline jedoch das Ende des Tunnels erreicht. Aus dem schmalen Sims wurde ein vier Fuß breiter Pfad, der sich am Rande eines gemauerten unterirdischen Sees entlangzog. Die gewölbte Decke erhob sich gute zehn oder zwölf Fuß hoch über ihren Köpfen, und die künstliche Höhle war so groß, dass sich der Lichtstrahl aus Abberlines Lampe verlor, bevor er das gegenüber liegende Ufer erreichte.

Abberline blieb stehen und schwenkte den Scheinwerfer langsam von links nach rechts und wieder zurück, aber alles, was der zitternde Lichtstrahl enthüllte, waren formlose Dinge, die auf dem Wasser trieben, und ein paar Ratten, die vor dem Licht flohen.

Dann war es vorbei. Das lautlose Wehklagen tief in ihren Gedanken erlosch, und Bast wusste, dass das Leiden des bedauernswerten Mannes endlich vorüber war.

»Wir können umkehren«, sagte sie. »Es ist vorbei.«

Abberline richtete den Lichtstrahl auf ihr Gesicht. »Was ist vorbei?«

»Barton«, antwortete Bast. »Er ist tot. Wenn Sie ihm nicht Gesellschaft leisten wollen, dann sollten wir umkehren.«

Trotz des grellen Lichtstrahls, den Abberline direkt auf ihre Augen abschoss, konnte sie den Ausdruck auf seinem Gesicht erkennen. Er gefiel ihr nicht. Er fragte auch nicht, woher sie ihr Wissen bezog.

»Seien Sie vernünftig, Inspektor«, fuhr sie fort. »Ich kann Sie verstehen, aber das hier nutzt keinem. Ihr Mann ist tot, und Sie riskieren nur unnötig Ihr Leben.«

Abberline machte ein abfälliges Geräusch. »Möglicherweise«, sagte er. »Aber ich werde dieses Ungeheuer bestimmt nicht weiter in meiner Stadt herumgeistern und Leute umbringen lassen.«

»Ich helfe Ihnen, die Sache zu Ende zu bringen«, antwortete Bast ernst. »Aber nicht jetzt. Sie brauchen ein paar Dutzend Männer und andere Waffen, um es zu töten.«

»Vielleicht ... hat sie recht, Sir«, sagte Jones nervös. »Dieser Drache ist ...«

»Halten Sie den Mund, Jones«, sagte Abberline zornig. »Und hören Sie mit diesem idiotischen Drachen-Gequatsche auf, Mann! Ich erkenne ein Krokodil, wenn ich eines sehe, und Sie sollten das auch!« Er funkelte den armen Kerl noch einen Atemzug lang an und wandte sich dann, kaum weniger zornig, wieder an Bast. »Wenn Sie mir etwas zu sagen haben, Ma'am, dann wäre jetzt vielleicht der richtige Moment dafür.«

Wenn es überhaupt einen allerfalschesten Moment gab, dachte Bast, dann war es jetzt. Dass sie die Nähe des Drachen nicht spürte, bedeutete nicht, dass er nicht da war. All diese Gerüche, Geräusche und huschenden Schatten beeinträchtigten auch ihre Sinne, vielleicht sogar stärker als die von Abberline und Jones, und sie hatte Sobeks Kuscheltierchen nie gemocht und sich auch nie darauf verstanden, ihre Nähe zu spüren. Aber etwas war da.

»Noch einmal, Inspektor«, sagte sie. »Ich helfe Ihnen. Ich beantworte all Ihre Fragen, aber nicht jetzt und nicht hier. Wir müssen hier verschwinden.«

»Haben Sie Angst?«, fragte Abberline.

Ja, dachte Bast wütend, um dich, du Dummkopf. Laut sagte sie einfach nur: »Ja.«

Vielleicht war es gerade die Knappheit dieser Antwort, die Abberline beeindruckte. Er sah sie zwar weiter finster und auf eine Art an, als wolle er sie fressen, wirkte aber zugleich zum ersten Mal unschlüssig; und vielleicht sogar ein wenig erleichtert. Er hatte Angst - natürlich hatte er Angst -, und ihre Worte lieferten ihm einen Grund, den Rückzug anzutreten, den ihm sein Stolz und sein Pflichtgefühl verwehrt hatten.

»Also gut«, sagte er widerstrebend. »Vielleicht haben Sie recht. Diese Tunnel erstrecken sich über Hunderte von Meilen, und das Biest kann überall sein. Aber ich erwarte Antworten von Ihnen, sobald wir wieder oben sind. Eine Menge Antworten.«

Etwas klapperte. Abberline fuhr herum und schwenkte seine Lampe, und Bast sah gerade noch eine schattenhafte Gestalt, die am oberen Ende einer rostigen Metalltreppe verschwand, vielleicht fünfzig oder sechzig Fuß entfernt.

Abberline stürmte los, und Bast sparte sich gleich den Atem, ihn zurückzurufen, sondern schloss sich Jones und ihm an. So schnell, als wäre der Stein nicht mit einem schlüpfrigen Belag überzogen, der ihn so glatt wie Schmierseife werden ließ, jagte Abberline den Sims entlang, erreichte die Treppe und stürmte sie mit einer Schnelligkeit hinauf, die nur aus dem völligen Fehlen jeglichen Gefahrbewusstseins resultieren konnte. Noch bevor Jones und Bast die Treppe auch nur erreichten, war er bereits an ihrem oberen Ende verschwunden.

Und mit ihm das Licht.

Schwärze schlug wie eine erstickende Woge über ihnen zusammen. Jones stieß ein erschrockenes Wimmern aus und blieb so abrupt stehen, dass Bast gegen ihn prallte und er halbwegs die Treppe hinauffiel, und für einen kurzen, aber durch und durch grässlichen Moment drohte sie in Panik zu geraten. Aus der Dunkelheit wurde etwas Anderes, Körperliches, das sich wie eine erstickende Faust um sie zu schließen schien, und plötzlich spürte sie die Blicke tausender winziger Augen, die sie gierig aus der Dunkelheit anstarrten.

Bast besann sich endlich darauf, wer sie war, schloss die Augen und konzentrierte sich ganz auf das, was sie hörte, roch und fühlte, und die Panik fiel von ihr ab wie ein besudeltes Kleidungsstück, das sie angeekelt abschüttelte. Jones war vor ihr vor Entsetzen zwar schlichtweg verstummt - er atmete in diesem Moment nicht einmal -, versuchte sich aber trotzdem mit unsicheren Bewegungen in die Höhe zu stemmen, und wenn Bast gerade fast in Panik geraten war, so musste sie für das, was sie im Moment in ihm spürte, wohl ein neues Wort erfinden. Vorsichtig beruhigte sie ihn, bevor er sich selbst - oder sie - in seinem Zustand verletzten konnte, griff unter seine Arme und schob ihn mit sanfter Gewalt die rostigen Metallstufen hinauf.

Als sie auf halber Höhe angekommen waren, hörte sie Abberlines Stimme, die irgendetwas schrie, was sie nicht verstand, und dann krachte ein einzelner, lang nachhallender Schuss. Bast fluchte lauthals in ihrer Muttersprache, versuchte Jones vergeblich zu größerem Tempo anzuspornen und stieg schließlich kurzerhand über ihn hinweg. Jones ächzte, als er zum zweiten Mal der Länge nach auf die rostigen Eisenstufen knallte, aber Bast verdoppelte nur ihre Anstrengungen, erreichte das obere Ende der Treppe und stürmte geduckt durch den niedrigen Gang, in die sie mündete. Ein tanzendes bleiches Licht an seinem jenseitigen Ende wies ihr den Weg.

Abberline kam zurück, bevor sie das Ende des Stollens erreichte. »Ich habe ihn!«, keuchte er. »Ich hab den Kerl erwischt! jones, verdammt noch mal, wo bleiben Sie?«

»Erwischt?«, fragte Bast. »Was meinen Sie?«

Abberline gestikulierte nur wild mit der Hand, die die Pistole hielt. Jones war zwar inzwischen ebenfalls in den Gang geklettert, bewegte sich aber für seinen Geschmack anscheinend nicht schnell genug. »Verdammt, beeilen Sie sich, Konstabler! Ich habe den Kerl erwischt, aber ich bin nicht sicher, ob er allein ist!«

»Wen haben Sie erwischt?«, fragte Bast beunruhigt.

»Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, Ihren Bruder«, antwortete Abberline. Seine Augen wurden schmal. »Aber ... weiß ich es eigentlich besser?« Er machte eine unwillige Geste. »Kommen Sie endlich, Konstabler. Es gibt nichts mehr zu fürchten. Ich hab den Kerl erwischt, und Krokodile können meines Wissens keine Leitern hinaufsteigen.«

Jones schob sich mit wenig Anzeichen von Begeisterung an ihr vorbei, wirkte aber tatsächlich ein wenig beruhigt, und Bast lauschte einen Moment konzentriert in sich hinein. Sie konnte nicht sagen, auf wen Abberline geschossen hatte, aber er hatte ganz gewiss weder Horus noch Sobek getroffen. Zumindest nicht tödlich. Sie hätte es gespürt, wäre einer ihres Blutes in der Nähe gestorben. Oder auch nur in der Stadt.

Dennoch zog sie vorsichtshalber ihr Schwert, als sie sich Jones und Abberline anschloss. Sie fühlte sich nicht gut dabei, die beiden Männer vorausgehen zu lassen. Normalerweise war immer sie es, die die Initiative ergriff, und in diesem Fall wäre es sogar ganz besonders angezeigt gewesen ... aber Abberline war schon jetzt misstrauischer, als gut war, und Bast beruhigte sich selbst mit dem Gedanken, dass weder Sobek noch Horus dort vorne auf sie warteten. Jetzt, wo sie wieder im Vollbesitz ihrer Kräfte war, hätte sie die Nähe einer verwandten Seele gespürt, ganz egal, wie sehr sie sich auch abzuschirmen versuchte.

Der Gang mündete nach einem weiteren Dutzend Schritte in einen weit größeren, rechteckigen Tunnel mit gemauerten Wänden und trockenem Boden. Die Luft roch auch hier schlecht und verbraucht, aber nicht mehr so faulig und durchdringend nach Fäkalien und anderen Abfällen wie bisher, und Bast glaubte ein ganz sachtes Vibrieren des Bodens zu spüren, so als bewege sich tief unter ihren Füßen etwas ungemein Großes und Machtvolles.

»Was ist das hier?«, fragte sie. »Auch ein Teil der Kanalisation?«

»Ich bin nicht sicher«, antwortete Abberline. »Vielleicht ein Teil der Tube.«

Bast sah ihn fragend an, aber für Abberline war das eindeutig Antwort genug gewesen, denn er stürmte bereits weiter und ließ den Lichtschein seiner Laterne nervös vor sich über den Boden tasten.

»Wo ist der Kerl?«, murmelte er. »So weit kann er nicht mehr gekommen sein.«

»Vielleicht haben Sie ihn verfehlt, Sir«, sagte Jones vorsichtig.

»Unsinn!« Abberline schritt schneller aus, und das Huschen und Hin-und-her-Tasten des Lichtstrahls nahm an Hektik zu. »Ich habe gesehen, wie er gefallen ist! Da vorne! Da ist etwas!« Er verfiel in einen hastigen Laufschritt, sank plötzlich auf ein Knie hinab und richtete den Lichtstrahl auf einen dunkel glitzernden Fleck auf dem Boden. »Das ist Blut!«

»Also haben Sie ihn doch getroffen, Sir«, sagte Jones.

Abberline maß ihn mit einem kurzen, giftigen Blick, sah dann wieder auf die immense Blutlache hinab und streckte die Hand aus, wie um die Finger hineinzutauchen, tat es aber dann doch nicht. Er sah nachdenklich aus, aber auch erschrocken.

»Das ist ... ziemlich viel Blut, Sir«, sagte Jones nervös und ganz offensichtlich in dem Bemühen, irgendetwas gutmachen zu wollen.

»Das stimmt, Konstabler«, murmelte Abberline. »Eindeutig zu viel, wenn Sie mich fragen. Ich verstehe nicht, wie er mit dieser Verletzung ...« Er sprach nicht weiter, sondern stand wieder auf und ließ den Lichtschein weiter über den Boden tasten. Ausgehend von der gut drei Fuß messenden Blutlache vor ihm begann eine unregelmäßige Spur dunkler, noch nicht einmal halb eingetrockneter Blutflecke, die vor ihm in der Dunkelheit verschwanden. In einigen davon konnte man verschmierte Fußabdrücke erkennen.

»Sehr weit kann er mit dieser Verwundung jedenfalls nicht gekommen sein.«

Er wollte losgehen, aber Bast hielt ihn instinktiv mit einer raschen Bewegung zurück, ließ sich in die Hocke sinken, tauchte den Zeigefinger in die Blutlache und kostete dann behutsam mit der Zungenspitze daran. Jones verzog angewidert die Lippen, während Abberline jetzt nur noch misstrauischer wirkte.

»Sobek«, sagte sie. Der Blick, mit dem sie Abberline maß, war fast bewundernd. »Sie haben ihn tatsächlich getroffen.« Ihr Erstaunen war zwar echt, galt aber eigentlich mehr der Tatsache, dass Abberline noch lebte. Sobek gehörte eigentlich nicht zu denen, die die linke Wange hinhielten, wenn man sie auf die rechte schlug.

»Sobek?«, wiederholte Abberline. »Ein ... Freund von Ihnen?«

»Nicht unbedingt.« Bast verzog die Lippen. »Eher ein ... Verwandter. Leider kann man sich seine Familie nicht immer aussuchen.«

»Und das schmecken Sie an seinem Blut?«, fragte Abberline.

»Unter anderem«, antwortete Bast. »Meinen Glückwunsch, Inspektor. Sie haben ihn tatsächlich verletzt, und Sie sind noch am Leben. Meines Wissens ist das noch nicht vielen gelungen.«

»Herzlichen Dank«, sagte Abberline grimmig. »Und mir wird auch noch sehr viel mehr gelingen. Gibt es noch etwas, das ich über Ihren Verwandten wissen sollte, bevor ich ihn verhafte?«

»Dass er noch lebt«, antwortete Bast sanft. »Und Sie auch, Inspektor. Sie sollten froh darüber sein. Noch einmal werden Sie kaum so viel Glück haben.«

»Das könnte man als Drohung auslegen, Miss Bast«, antwortete Abberline kühl. »Wissen Sie, dass es ein schweres Verbrechen ist, einen Beamten Ihrer Majestät zu bedrohen?«

Bast setzte zu einer Antwort an, beließ es aber dann bei einem lautlosen Seufzen und besann sich eines Besseren. Abberline war entweder dumm oder stur oder schlimmstenfalls beides, aber sie hatte nicht vor, ihr Glück noch weiter unnötig auf die Probe zu stellen, indem sie herauszufinden versuchte, was von beidem. Sobek musste wirklich schwer verletzt worden sein, wenn er es vorgezogen hatte, sein Heil in der Flucht zu suchen, statt sich bei Abberline zu revanchieren, aber er lebte, und das bedeutete, dass er binnen kürzester Zeit wieder zurückkommen und dann vermutlich nicht besonders gnädig gestimmt sein würde.

»Wir kehren um«, sagte sie mit Nachdruck.

»Nein!«, antwortete Abberline. »Das werden wir ganz bestimmt nicht tun.«

Bast blinzelte. »Wie?«

»Sie können gerne kehrtmachen«, sagte Abberline. »Ich verlasse mich darauf, dass Sie eine Frau von Ehre sind und in der Pension auf mich warten. Konstabler Jones und ich werden diesen Verbrecher verfolgen und stellen.«

Bast starrte ihn fassungslos an. Sie hatte nicht einfach nur gesagt, dass sie umkehren würden, sondern all ihre mentale Macht in diesen Befehl gelegt, aber Abberline zeigte sich nicht im Geringsten beeindruckt. Konnte es sein, dass ...?

Hastig wandte sie sich zu Jones um. Stehen Sie auf einem Bein, befahl sie ihm lautlos. Und dann gackern Sie wie ein Huhn!

Jones tat, wie ihm geheißen - auch wenn sich sein Gackern eher anhörte wie das Fiepen eines liebeskranken Igels -, und Abberline riss ungläubig die Augen auf.

»Jones, haben Sie den Verstand verloren?«, ächzte er.

Bast entließ den Konstabler hastig aus ihrem geistigen Bann. Jones taumelte einen halben Schritt zurück und sah plötzlich sehr unglücklich aus, und Abberline starrte sie aus Augen an, die zu misstrauischen schmalen Schlitzen zusammengepresst waren.

»Was geht hier vor?«, fragte er scharf.

»Nichts«, antwortete Bast. »Ich ... bin nur der Meinung, dass wir wirklich umkehren sollten.« Sie versuchte es noch einmal, mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte, aber ebenso gut hätte sie versuchen können, die Wände dieses gemauerten Tunnels mit bloßen Händen einzureißen.

Am liebsten hätte sie laut aufgeschrien. Sie konnte nicht jedem Menschen ihren Willen aufzwingen. Es gab durchaus Menschen, die gegen ihre geistige Beeinflussung schlichtweg immun waren ... vielleicht einen unter einer Million.

Und dieser eine musste ausgerechnet Inspektor Frederick Abberline sein!

Er machte sich auch nicht die Mühe, ihr noch einmal zu antworten, sondern gab Jones einen ärgerlichen Wink, hob seine Lampe und marschierte in scharfem Tempo los, und Bast schloss sich den beiden wohl oder übel an. Wenn sie diesen Narren schon nicht davon abhalten konnte, in sein Unglück zu rennen, dann konnte sie wenigstens versuchen, auf ihn aufzupassen. Und wenn Sobek tatsächlich so schwer verletzt war, wie es nach all dem Blut und Abberlines Worten den Anschein hatte, dann würden sie ihn sowieso nicht finden.

Die Blutspur, dünner werdend, führte sie gute zwei- oder dreihundert Schritte weit geradeaus und endete dann vor einer niedrigen, dafür aber umso massiveren Tür aus eisenharten Bohlen, die zwar eine Klinke hatte, sich aber nichtsdestotrotz beharrlich weigerte, aufzugehen, ganz egal, wie wütend Abberline auch daran rüttelte.

»Ich denke, das wäre jetzt wirklich der Moment, umzukehren«, sagte Bast. »Oder haben Sie zufällig ein Brecheisen in der Tasche, Inspektor?«

Abberline maß sie mit einem wütenden Blick, klappte die Trommel seines Revolvers heraus und grub mit der anderen Hand in seiner Jackentasche; vermutlich auf der Suche nach Patronen.

»Lassen Sie das«, seufzte Bast. Ohne auf Abberlines empörte Blicke zu achten, schob sie ihn kurzerhand beiseite, fixierte das Schloss mit Blicken und trat es mit einem einzigen, harten Tritt ein. Die Tür flog mit solcher Wucht auf, dass sie auf der anderen Seite gegen die Wand krachte und sich ein Teil des Rahmens in einem Splitterregen auflöste. Jones riss ungläubig die Augen auf, während Abberline seltsamerweise nicht einmal überrascht wirkte.

Was ihn allerdings nicht daran hinderte, in aller Hast seine Waffe nachzuladen und vor ihr durch die Tür zu huschen.

Dahinter lag ein weiterer, wenngleich sehr viel schmalerer Gang, an dessen Ende gleich drei weitere Türen lagen. Zwei davon waren verschlossen, die dritte nur angelehnt, und die unterbrochene Spur führte in die wattige Dunkelheit dahinter. Selbst Bast war erstaunt über die Menge an Blut, die Sobek verloren hatte. Abberlines Kugel musste sein Herz nur um Haaresbreite verfehlt haben.

Wieder vibrierte der Boden unter ihren Füßen; sacht, zugleich aber auch zu deutlich, um es diesmal als bloße Einbildung abtun zu können. Hinter der offen stehenden Tür jedoch war nichts außer einer steilen, sehr schmalen Treppe, die scheinbar unendlich weit in die Tiefe führte.

»Ich hatte recht«, sagte Abberline zu sich selbst. »Die Tube. Verdammt!«

»Was genau ist das?«, fragte Bast.

Sie bekam keine Antwort - sie hatte auch nicht wirklich damit gerechnet - und auch keine Gelegenheit, eine weitere Frage zu stellen, denn Abberline eilte jetzt so schnell die Treppe hinab, als versuche er ernsthaft, den Lichtstrahl seiner eigenen Lampe zu überholen. Vielleicht erlag er dem - verständlichen - Irrglauben, dass seine Beute langsamer werden musste, bei der gewaltigen Menge an Blut, die sie verlor. Bast wusste, dass es nicht so war; im Gegenteil. Jeder Moment, der verging, war ein gewonnener Moment für Sobek. Er wurde stärker, nicht schwächer. Aber allein der Umstand, dass er noch nicht hier war, um die Sache zu Ende zu bringen, deutete darauf hin, dass er sich erst einmal zurückgezogen hatte, um seine Wunden zu lecken und wieder zu Kräften zu kommen.

Die Treppe führte schier endlos weit in die Tiefe. Bast hatte nicht wirklich darauf geachtet, schätzte aber, dass sie sich mindestens fünfzig, wenn nicht sechzig oder mehr Fuß tief unter den Straßen der Stadt befanden, bevor die Treppe endlich in einen gemauerten Gang mündete, der so niedrig war, dass selbst Abberline sich bücken und Jones seinen Helm absetzen musste, um nicht dagegenzustoßen.

»Wohin führt dieser Gang?«, fragte Bast.

Abberline hob zögerlich die Schultern und richtete den Lichtstrahl seiner Lampe tiefer in das unheimliche Schwarz vor ihnen. Der flackernde Strahl enthüllte einen niedrigen, stockfinsteren Gang, der alles andere als vertrauenerweckend aussah. Er war so niedrig, dass selbst ein normal gewachsener Mann nur gebückt darin gehen konnte, und weniger als zwei Fuß breit. Unter der Decke hingen uralte Kabel und Rohrleitungen, deren Enden offensichtlich mit roher Gewalt abgerissen worden waren.

»Ich bin nicht ganz sicher«, gestand er. »Das hier unten ist das reinste Labyrinth. Sie bauen seit Jahrzehnten an der Tube. Niemand weiß mehr genau, wie viele dieser Gänge und Stollen es gibt oder wohin sie führen.«

»Dann sollten wir kehrtmachen«, schlug Bast vor, eigentlich nur der Ordnung halber. Der Inspektor schenkte ihr auch nur einen flüchtigen Blick, hob seine Lampe ein wenig und machte einen ersten, allerdings sehr zögerlichen Schritt in den Tunnel hinein, bevor er wieder stehen blieb und sie erneut und diesmal auf eine ganz andere Art fragend ansah.

»Können Ihre ... Freunde zufällig auch durch Wände gehen?« Bast machte sich nicht einmal die Mühe, darauf zu antworten, und Abberline nickte zufrieden. »Das hatte ich gehofft. In diesem Fall gehen wir weiter.«

»Warum?«

»Weil das die einzige Richtung ist«, antwortete Abberline. »So schwer verletzt, wie der Kerl ist, kann er nicht mehr allzu weit kommen.«

Bast schwieg. Dieser finstere Tunnel gefiel ihr nicht. Sie hatte das Gefühl, dass in dieser wattigen Dunkelheit irgendetwas lauerte. Plötzlich war sie froh, dass ihr Abberline in diesem Moment nicht direkt ins Gesicht sah, denn diese Dunkelheit machte ihr Angst.

»Wir können natürlich auch hier bleiben und darauf hoffen, dass er irgendwann aufgibt und einfach zurückkommt«, meinte Abberline spöttisch, als hätte er ihre Gedanken gelesen.

Bast würdigte diese Bemerkung nicht einmal einer Antwort, sondern zuckte nur demonstrativ resignierend mit den Schultern und wollte geduckt als Erste in den niedrigen Gang treten, doch Abberline schüttelte rasch den Kopf. »Es ist besser, wenn ich vorausgehe«, sagte er. »Der Weg ist unter Umständen nicht ganz so ungefährlich, wie er aussieht.«

Bast fragte sich, wie er auf die Idee kam, dass die Dunkelheit, die vor ihnen lauerte, in irgendeiner Art ungefährlich wirkte. All ihre Instinkte warnten sie davor, auch nur einen einzigen Schritt in diese klaustrophobische Schwärze hinein zu tun.

Gehorsam trat sie beiseite, damit Abberline vorausgehen konnte. Als er seine Lampe hob und die Schatten wie kleine, rauchige Tierchen vor dem Licht zurückwichen, wurde aus ihrem bisherigen unguten Gefühl beinahe Gewissheit: Das Licht war blasser geworden. Nicht viel, aber die Kraft der Lampe begann nachzulassen. Besorgt fragte sie sich, was geschehen würde, wenn das Licht endgültig erlosch. Sie selbst würde sich selbst bei vollkommener Dunkelheit zurechtfinden, aber Abberline würde möglicherweise und Jones mit großer Sicherheit in Panik geraten.

Aber dieses Risiko musste sie eben eingehen.



Ihr ungutes Gefühl hatte sich als nur zu berechtigt erwiesen. In dem schmalen und zwar kaum merklich, aber beständig abwärtsführenden Tunnel waren sie nur langsam vorangekommen, sodass sie nahezu eine Stunde für eine Strecke gebraucht hatten, die nicht einmal zwei Meilen ausmachte, und Bast war nicht die Einzige, die hörbar erleichtert aufatmete, als Decke und Wände endlich vor ihnen zurückwichen und sie in eine kleine, an der gegenüber liegenden Seite von einer hölzernen Tür verschlossene Kammer hinaustraten. Ihr Rücken schmerzte, weil sie die ganze Zeit so weit nach vorne gebückt hatte gehen müssen, dass sie problemlos mit den Händen den Boden hätte berühren können, und auch ihre Schultern taten weh, denn die meiste Zeit über war der Stollen so eng gewesen, dass sie rechts und links an seinen Wänden entlanggeschrammt war. In ihrem Mund war ein widerlicher Geschmack, den sie einfach nicht loswurde, und der Gestank, der ihre Nase beleidigte, kam nicht nur von ihren eigenen Kleidern, sondern schien aus dem Boden und den Wänden zu strömen, als hätte diese ganze Stadt von innen heraus zu verfaulen begonnen.

Abberline ließ den mittlerweile deutlich blasser gewordenen Lichtstrahl über die Tür gleiten, streckte die Hand aus und drückte die Klinke herunter. Erwartungsgemäß war sie verschlossen, aber der Scotland-Yard-Mann musste sich nicht einmal anstrengen, um das Schloss zusammen mit einem guten Teil des Türrahmens herauszubrechen. Staub wirbelte auf und machte den widerlichen Geschmack auf Basts Zunge noch schlimmer, und das blasse Licht, das Abberlines Lampe noch von sich gab, verlor sich in einem weitläufigen, dunklen Raum. Bast verspürte abermals dieses sonderbare Vibrieren und Zittern, nur dass es diesmal nicht aus dem Boden unter ihren Füßen zu kommen schien, sondern gleichsam aus allen Richtungen zugleich, wie das Beben einer urgewaltigen Kraft, das die Luft und den Stein überall rings um sie herum erfüllte. Zugleich hörte sie ein sonderbares, rasch näher kommendes Geräusch, das sie nicht einordnen konnte. Ihre beiden Begleiter schien jedoch weder das Geräusch noch das unheimliche Vibrieren zu irritieren. Ganz im Gegenteil hatte Bast eher das Gefühl, dass sie es gar nicht wirklich zur Kenntnis nahmen. Vielleicht die Tube - was auch immer das sein mochte.

Abberline spähte einen Moment lang durch den Türspalt, ohne sie weiter geöffnet zu haben, und zog sonderbarerweise seine Taschenuhr aus der Weste und klappte den Deckel auf. Bast versuchte erst gar nicht, diesem seltsamen Verhalten irgendeinen Sinn abzugewinnen, sondern drängte sich kurzerhand an ihm vorbei, öffnete die Tür und trat hindurch.

Etwas Riesiges, Schwarzes mit gelb glühenden Augen und blitzenden Zähnen stürzte brüllend und schnaubend aus der Dunkelheit heraus und hätte sie unweigerlich getroffen und niedergeworfen, hätte Abberline sie nicht im letzten Moment am Arm gepackt und zurückgerissen. Das Ungeheuer raste donnernd und schwarzen Rauch und Flammen speiend auf der anderen Seite der Tür vorbei und erfüllte den Korridor mit seinem Lärm und flackerndem Licht, und der Boden zitterte immer heftiger. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, wenn nicht länger, und selbst danach blieb Bast noch etliche Augenblicke einfach stehen und starrte die nun wieder leere Tür verständnislos an.

»Was ... was war das?«, murmelte sie erschrocken.

Abberline grinste knapp. »Das war unsere Art von Drache«, sagte er.

»Wie?«

»Die Tube«, antwortete Abberline. »Ich habe Ihnen doch gesagt, dass dieser Stollen dorthin führt.«

»Aha«, sagte Bast. Sie verstand kein Wort. Unsicher blickte sie erneut die offen stehende Tür an, hinter der jetzt wieder nahezu vollkommene Dunkelheit herrschte. Lärm und rasendes Licht waren verschwunden, nur der Boden zitterte noch immer sacht, und in der Luft hing ein scharfer Geruch wie nach verbranntem Holz und heißem Metall.

»Die Untergrundbahn«, erklärte Abberline. »Ich dachte, Sie wüssten davon. Immerhin ist sie Londons ganzer Stolz.« Er verzog flüchtig das Gesicht. »Oder wird es irgendwann einmal sein, sollte sie jemals fertig werden.«

Bast hatte irgendwie das Gefühl, mit jedem Wort weniger zu verstehen, aber dann schüttelte sie den Gedanken ab. Wieder eine der neumodischen Erfindungen, von denen Maistowe gesprochen hatte ... aber sie war nicht sicher, ob sie sie wirklich verstehen wollte.

Außerdem hatten sie im Moment andere Probleme.

»Wir sollten uns beeilen«, sagte Abberline und blickte abermals auf seine Uhr. »Die Züge verkehren im Viertelstundentakt, und ich weiß nicht genau, wie weit es bis zur nächsten Station ist. Rechts oder links?«

Bast sah ihn fragend an.

»Ist er nach rechts oder links gegangen?«

»Nach rechts«, antwortete sie, fast ohne darüber nachzudenken. »Sie ... Sie wollen doch nicht etwa dort hinein?«

»Wegen des Drachen?« Abberline schien Freude an seinem eigenen schalen Scherz gewonnen zu haben, schüttelte aber auch den Kopf. »Keine Sorge. Er tut uns nichts - wenn wir uns ein bisschen beeilen und die nächste Station erreichen, bevor er zurückkommt, heißt das. Haben Sie Angst?«

Bast war sich durchaus der Tatsache bewusst, dass Abberline sie zu reizen versuchte, und es ärgerte sie, aber sie hatte im Moment keine Zeit für so etwas. Abberline war ganz offensichtlich entschlossen, die Verfolgung um jeden Preis fortzusetzen, und sie konnte ihn auf keinen Fall alleine gehen lassen; schon, weil trotz allem die Gefahr bestand, dass er Sobek tatsächlich einholte. Bast bedauerte inzwischen, ihm tatsächlich die Richtung genannt zu haben, in die Sobeks Spur führte, statt ihn in die entgegengesetzte Richtung laufen zu lassen.

Abberline gab ihr keine Gelegenheit, diesen Fehler wiedergutzumachen, sondern trat gebückt durch die Tür, sprang in den dahinter liegenden Gang, der einen guten Meter tiefer lag, und leuchtete mit seiner Lampe zu ihnen herein. »Jones, kommen Sie. Die Zeit läuft.«

Der Bobby wirkte noch weniger begeistert als bisher, gehorchte aber widerspruchslos, und Bast war die Letzte, die den gewölbten Tunnel hinuntersprang. Der Atem des verschwundenen Drachen erfüllte die Luft noch immer mit beißendem Gestank, und das Lampenlicht brach sich auf rostigen Eisenbahnschienen, die tief unter der Erde verlegt worden waren. Auch hier lag der charakteristische Geruch von Blut in der Luft, mittlerweile aber nur noch so schwach, dass selbst Bast Mühe hatte, ihn zu erfassen.

Abberline lief los, kaum dass sich Bast zu Jones und ihm gesellt hatte. Er rannte noch nicht, aber viel fehlte auch nicht daran, und obwohl Bast sein Gesicht nicht erkennen konnte, spürte sie seine Nervosität. Vielleicht war er sich seiner Sache doch nicht ganz so sicher, wie er bisher getan hatte.

Und das möglicherweise zu Recht.

Sie waren noch nicht einmal annähernd die Viertelstunde unterwegs, von der er vorhin gesprochen hatte, als Basts feine Sinne erneut ein sachtes Vibrieren und Zittern des Bodens wahrnahmen. Ganz instinktiv sah sie sich um. Hinter ihnen herrschte noch immer so vollkommene Schwärze, dass selbst ihre scharfen Augen nichts als Dunkelheit erkannten, aber das bedeutete nichts - obgleich der Tunnel gerade wirkte, beschrieb er doch in Wahrheit einen sanften Bogen, sodass alles, was weiter als fünfzig oder sechzig Schritte entfernt war, hinter der kaum merklichen Krümmung verborgen lag. Und so schnell, wie sich die Underground bewegte, konnte sie binnen Sekunden hinter ihnen auftauchen.

»Vielleicht sollten wir uns besser ein wenig beeilen«, schlug sie vor.

Abberline warf im Gehen einen Blick über die Schulter zurück. Er sagte nichts, schritt aber noch schneller aus und rannte nun wirklich. Trotzdem war Bast klar, dass sie es nicht schaffen würden. Auch vor ihnen herrschte vollkommene Schwärze, was hieß, dass sie noch ein gehöriges Stück von der nächsten Station entfernt waren, und nicht nur der Boden unter ihren Füßen zitterte mittlerweile so stark, dass selbst Abberline und Jones es spüren mussten. Dazu nahm sie jetzt ein schweres, mechanisches Klappern und Rasseln wahr, das rasch an Lautstärke gewann.

Abberline begann zu rennen. Sein Lichtstrahl hüpfte wild vor ihnen auf und ab, tastete suchend über die Wände und bewegte sich immer panischer, und das unheimliche Geräusch nahm immer mehr an Macht zu. Bast unterdrückte den Impuls, hinter sich zu blicken, aber sie wusste auch so, was sie gesehen hätte.

»Dort!«, schrie Abberline plötzlich. »Die Station! Schneller!«

Das letzte Wort hatte er geschrien. Gleichzeitig versuchte er noch schneller zu laufen. Bast konnte nicht beurteilen, ob es ihm gelang, aber sein Lichtstrahl glitt plötzlich hüpfend unsicher über einen gut drei Fuß hohen Absatz auf der rechten Seite, hinter dem sich ein weitläufiger Raum befinden musste, denn das bleiche Licht traf auf keinen Widerstand mehr. Mit einer letzten, verzweifelten Anstrengung erreichte er sein Ziel, flankte mit einer unerwartet kraftvollen Bewegung hinauf und fiel prompt der Länge nach hin. Da er die Lampe mit sich nahm, hätte es dunkel werden müssen.

Aber das wurde es nicht.

Das Dröhnen und Schnauben war beständig lauter geworden, und plötzlich flammte hinter ihnen ein grelles, gelbes Licht auf, das Jones und ihren Schatten lang gezogen und grotesk verzerrt über die Schienen warf. Jones keuchte entsetzt, lief schneller und fiel prompt der Länge nach hin. Die Pistole flog davon, prallte Funken sprühend von den Schienen ab und verschwand in der Dunkelheit. Mit einem einzigen Satz war Bast bei ihm, zerrte ihn grob auf die Füße und warf ihn mehr den Bahnsteig hinauf, als dass sie ihn stieß. Das Licht wurde greller. Der Boden unter ihren Füßen zitterte und bockte jetzt so stark wie ein ungebrochenes Wildpferd, das seinen Reiter abzuwerfen versucht. Jones versuchte vollkommen absurderweise, sich loszureißen und seiner verlorenen Waffe hinterherzustürzen, und Bast vergaß auch noch ihren allerletzten Rest von Rücksicht, warf sich mit einem verzweifelten Satz zur Seite und zerrte den hilflos zappelnden Polizisten einfach mit sich. Etwas Riesiges, unvorstellbar Massiges raste so dicht hinter ihr entlang, dass sie der bloße Luftzug von den Beinen riss, und für einen Moment überstrahlte ein rasend flackerndes, stroboskopisches Licht den Schein von Abberlines Lampe. Ein schrilles, nicht enden wollendes Kreischen marterte ihr Gehör, und für einen winzigen, aber durch und durch schrecklichen Augenblick drohte sie nicht nur den Halt auf dem Boden zu verlieren, sondern auch in der Wirklichkeit, als hätte dieses schreckliche, eiserne Heulen und Knirschen gleichermaßen die Grenzen zwischen den Wirklichkeiten niedergerissen.

»Ist alles in Ordnung?« Abberline streckte die Hand aus und half ihr in die Höhe, und Bast ertappte sich dabei, sein Angebot dankbar anzunehmen. Sie hatte immer noch das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren, und für einen winzigen Moment umklammerte sie seine Hand so fest, dass er schmerzerfüllt die Lippen zusammenpresste.

Hastig ließ sie seine Hand los. »Danke.«

»Keine Ursache.« Abberlines Mundwinkel zuckten noch immer vor Schmerz, aber er zwang sich dennoch zu einem Lächeln, richtete den Lichtstrahl für einen Moment auf ihr Gesicht, um sie kritisch zu mustern, und trat dann an ihr vorbei an die Bahnsteigkante. Bast folgte ihm mit klopfendem Herzen, aber sie hatte Mühe, sich auf ihre Umgebung zu konzentrieren.

Der Tunnel war wieder leer. Das Rumpeln, Heulen und Kreischen nahm rasch an Lautstärke ab, und als Bast sich behutsam vorbeugte, sah sie gerade noch ein Paar dunkelroter flackernder Lichter um die nächste Biegung der unterirdischen Röhre verschwinden. Ihr Herz begann noch einmal schneller zu schlagen, und plötzlich war sie froh, dass Abberline den Lichtstrahl direkt in den Tunnel hinauslenkte. So sah er wenigstens nicht, wie stark ihre Hände zitterten.

Was war nur los mit ihr?

Natürlich wusste sie, was sie da sah: nichts anderes als eine Dampflokomotive, die auf Schienen tief unter der Erde fuhr, kein mythisches Ungeheuer, das aus den Abgründen der Zeit emporgestiegen war, um sie zu verschlingen, sondern das genaue Gegenteil, eine Maschine, ein Ding aus Stahl und Holz und Schrauben und Rädern, nicht mehr.

Und trotzdem war es im Moment für sie ein Ungeheuer, vielleicht das bedrohlichste, das ihr jemals begegnet war. Die beiden roten Höllenaugen waren längst erloschen, aber sie glaubte ihren Blick noch immer mit fast körperlicher Intensität zu spüren. Das Zittern ihrer Hände ließ nicht nach, sondern nahm im Gegenteil noch einmal zu, und das Herz schlug ihr bis zum Hals.

»Tja, ich würde sagen, jetzt steht es zwei zu eins für unseren Drachen«, witzelte Abberline lahm. Er trat wieder zurück, richtete den Scheinwerferstrahl ein zweites Mal direkt auf sie und erschrak sichtbar, als er in ihr Gesicht blickte. Allerdings war er auch diskret genug, um die Lampe praktisch sofort wieder zu senken und auf Jones zu richten.

Nicht, dass dessen Anblick wesentlich erbaulicher gewesen wäre. Er war auf Hände und Knie hinabgesunken und stierte blicklos ins Leere. Sein Gesicht war blutig, und was das Flackern tief in seinen Augen wirklich bedeutete, wollte Bast im Grunde gar nicht wissen.

»Alles okay mit Ihnen, Konstabler?«, fragte Abberline.

Die Frage kam Bast nachgerade lächerlich vor. Der Konstabler war fast so groß wie sie und unter normalen Umständen zweifellos das, was man einen Bär von einem Mann nannte; in jeder Hinsicht. Jetzt war er allerdings kaum mehr als ein zitterndes Häufchen Elend. Bast sah flüchtig in ihn hinein und schrak vor dem zurück, was sie erblickte. Sie beruhigte ihn rasch und so unauffällig, wie es gerade möglich war, löschte zumindest die allerschlimmsten Erinnerungen aus seinem Kurzzeitgedächtnis und gab ihm ein wenig von ihrer eigenen Kraft, nicht annähernd so viel, wie nötig gewesen wäre, aber genug, damit er zumindest nicht im nächsten Augenblick zusammenbrach.

Anscheinend war sie trotz allem nicht vorsichtig genug gewesen, denn als sie sich wieder zu Abberline herumdrehte, war der Ausdruck von Misstrauen auf seinem Gesicht regelrecht explodiert. »Ich glaube, Sie sind mir wirklich eine Menge Antworten schuldig«, sagte er.

»Alle, die Sie wollen«, sagte Bast zum wiederholten Male. »Aber nicht jetzt.«

»Vielleicht reicht das nicht«, sagte Abberline.

Bast sah ihn fragend an.

»Vielleicht sollte ich Sie nach den Fragen fragen, die ich Ihnen stellen sollte, statt nur nach Antworten«, sagte Abberline ernst, machte zugleich aber auch eine abwehrende Handbewegung, als sie etwas darauf erwidern wollte. »Aber Sie haben recht. Jetzt ist nicht der richtige Moment dazu.«

Was vermutlich der Wahrheit entsprach. Bast hatte bisher keinen Gedanken an ihre Umgebung verschwendet - schließlich war dies hier Abberlines Revier, und auch, wenn sich seine Fähigkeiten als Fremdenführer bisher als eher mangelhaft erwiesen hatten, so kannte er sich hier doch zweifellos trotzdem hundertmal besser aus als sie -, aber nun kamen ihr doch erste Zweifel. Wenn das hier ein typischer Londoner Underground-Bahnhof war, dann war der unüberhörbare Stolz, mit dem er von der Tube gesprochen hatte, hoffnungslos übertrieben.

Sie waren vollkommen allein. Angesichts der fortgeschrittenen Stunde hätte Bast diesen Umstand vielleicht noch akzeptiert - wenn auch mit Verwunderung -, aber das war längst nicht alles. Die gut zehn Fuß hohe, von wuchtigen hölzernen Stützpfeilern getragene Halle, in der sie sich befanden, war nicht nur verlassen, sondern auch dunkel. Der zitternde Strahl der Lampe riss eine Anzahl kunstvoll geschmiedeter Gas- oder Petroleumlampen aus der Dunkelheit, die an den gefliesten Wänden befestigt waren, und auch unter der Decke hingen wuchtige Kronleuchter, aber nicht eine einzige dieser Lampen war in Betrieb. Die Luft war so trocken, dass sie im Hals kratzte, und von einem sonderbar abgestandenen Geruch erfüllt, obwohl in dem Tunnel neben ihnen ein permanenter Luftzug herrschte, und auf dem Boden lag eine fast fingerdicke Staubschicht. Sie war nicht vollends unversehrt, sondern von einer Anzahl sich überschneidender Fußspuren durchzogen, aber keine davon schien jünger als mehrere Monate zu sein.

»Täusche ich mich, oder hat Maistowe recht, und die Londoner Bürger nehmen nicht alle modernen Erfindungen an?«, fragte sie.

Abberline warf ihr einen unsicheren Blick zu. Sie hatte spöttisch klingen wollen, aber ihre Worte hörten sich eher nach dem Gegenteil an. Irgendetwas in dieser verlassenen Halle schien sie zu packen und zu etwas anderem zu machen.

»Das hier ist ein verlassener Bahnhof«, antwortete er überflüssigerweise. »Und ich glaube, ich weiß sogar, welcher.«

»Und?«, fragte Bast. Etwas an der Art, auf die Abberline geantwortet hatte, gefiel ihr nicht.

»Das müsste die alte Tower-Station sein«, murmelte Abberline, mehr zu sich selbst als an sie gewandt und in fast überraschtem Ton. »Erstaunlich. Ich hätte nicht gedacht, dass wir so weit gegangen sind.« Er wandte sich um, trat wieder an den Bahnsteig heran und richtete die Lampe nach unten. Der Lichtstrahl riss einen rostigen Schienenstrang aus der Dunkelheit, wanderte zitternd und unsicher weiter und enthüllte für einen Moment eine ebenso verrostete Kette, die zwischen den Schienen verlief. »Ja, das ist sie.«

»Wieso hat man diesen Bahnhof aufgegeben?«, erkundigte sich Bast.

»Die ganze Strecke wurde nach nur einem Tag wieder stillgelegt«, antwortete Abberline. Er leuchtete wieder auf die Schienen hinab. »Sehen Sie die Kette? Sie hatten damals die Idee, den Zug mit dieser Kette über die Schienen zu schleppen, aber es hat nicht funktioniert. Sie waren so langsam, dass man zu Fuß rascher zur nächsten Station gekommen wäre. Kommen Sie. Ich will endlich hier raus!«

Diesmal sichtbar entschlossener, drehte er sich mit einem Ruck herum und ließ den Lichtstrahl noch einmal über die staubigen Wände gleiten. Nach ein paar Augenblicken blieb er an einer zweiflügeligen, mit einer wuchtigen Kette und einem noch viel schwereren Vorhängeschloss gesicherten Tür hängen. Wortlos ging Abberline hin und überließ es ihr, Jones in nahezu vollkommener Dunkelheit auf die Füße zu helfen und ihm zu folgen.

Abberline machte sich umständlich an der Kette zu schaffen, als sie ihn erreichte, und empfing sie mit einem missmutigen Blick. Bast gebot ihm mit einer entsprechenden Geste, zurückzutreten, ließ Jones los und riss die Kette kurzerhand durch. Sie bedauerte diesen kleinen Anflug von Eitelkeit augenblicklich, als sie Abberlines vielsagendes Stirnrunzeln registrierte. Auch wenn er bisher sehr wenig über das gesagt hatte, was er von ihr - und vor allem über das, wozu sie fähig war - dachte, so war er doch nicht blind, sondern ganz im Gegenteil ein sehr aufmerksamer Beobachter. Bisher hatte sie wenig mehr als einen flüchtigen Gedanken an diesen Umstand verschwendet, aber das war gewesen, bevor sie begriffen hatte, dass der Scotland-Yard-Mann nicht zu denen gehörte, deren Erinnerungen sie fast nach Belieben manipulieren konnte. Bast nahm sich vor, ab sofort besser auf das zu achten, was sie sagte und vor allem tat.

Aber eigentlich war es ihr gleich. Etwas hier unten ... stimmte nicht. Sie wollte einfach nur noch hier heraus, so schnell wie möglich. Als wäre etwas in ihr darum bemüht, die Situation nur noch schlimmer zu machen, trat sie mit einem übertrieben triumphierenden Lächeln zurück und machte eine auffordernde Geste. Abberlines Blick wurde noch einmal finsterer, aber er sparte sich jeden Kommentar, zog die zerbrochene Kette aus dem Schloss und ließ sie achtlos fallen, bevor er sich ächzend darum bemühte, die beiden schweren Torflügel aufzuschieben. Diesmal tat Bast ihm nicht den Gefallen, ihm zu helfen. Wer war sie denn, dachte sie spöttisch, einem echten englischen Gentleman die Peinlichkeit zu bereiten, sich von einer Lady die Tür aufhalten zu lassen?

»So, das hätten wir«, keuchte Abberline nach einigen schweißtreibenden Momenten. Immerhin hatte er die schweren Türflügel weit genug auseinanderbekommen, um sich mit einiger Mühe hindurchquetschen zu können. »Kommen Sie!«

Bast erweiterte den Türspalt unauffällig, um einen auch für sie und Jones passablen Durchgang zu schaffen, und folgte fasziniert dem zitternden Lichtstrahl, den Abberline vor ihnen die Stufen einer schier unendlich lang erscheinenden, hölzernen Treppe hinaufwandern ließ. Bast schätzte, dass sie aus mindestens hundert, wenn nicht mehr Stufen bestand ... und so ganz nebenbei sah sie nicht unbedingt vertrauenerweckend aus. Eine dicke Staubschicht bedeckte die ausgetretenen Stufen, und ihr feiner Geruchssinn nahm vermoderndes Holz wahr. Sie konnte nur hoffen, dass diese uralte Konstruktion ihrem gemeinsamen Gewicht noch gewachsen war. Am oberen Ende der Treppe befand sich eine geschlossene und zusätzlich mit Brettern vernagelten Gittertür, die von einer zweiten, deutlich massiver aussehenden Kette gesichert war.

»Vielleicht sollten wir ... nacheinander hinaufgehen?«, schlug sie vor.

Abberline machte ein übertrieben beleidigtes Gesicht. »Bitte verzeihen Sie, Mylady«, sagte er mit komisch verstellter, näselnder Stimme. »Aber das hier ist der ganze Stolz britischer Ingenieurskunst. Können Sie mir ein Gebäude auf der ganzen Welt nennen, das langlebiger und stabiler wäre?«

»Die Pyramiden von Gizeh?«, schlug Bast vor.

Abberline machte ein noch beleidigteres Gesicht, aber dann lachte er und schüttelte überzeugt den Kopf. »Keine Sorge. Auch wenn es nicht so aussieht - die Station wird regelmäßig kontrolliert. Das Letzte, was sich die Metropolitan wünscht, ist ein spielendes Kind oder ein Obdachloser, denen hier unten die Decke auf den Kopf fällt, glauben Sie mir. Kommen Sie.«

Er wedelte auffordernd mit seiner Lampe, machte einen einzelnen Schritt und blieb dann wieder stehen. »Jones! Wo bleiben Sie?«

Jones antwortete nicht, aber hinter ihnen raschelte es leise, und Abberline zog eine ärgerliche Grimasse und trat an Bast vorbei wieder in die Bahnhofshalle hinaus. »Jones, verdammt!«

Bast folgte ihm. Jones befand sich irgendwo links, außerhalb des Lichtes. Selbst sie konnte ihn nur als verschwommenen Schatten wahrnehmen. Er bewegte sich langsam und halb gebückt, als würde er etwas suchen.

»Sir? Ich glaube, hier ... ist etwas.«

Abberline sah nicht so aus, als wäre er sonderlich begeistert über den plötzlichen Diensteifer des Constablers, schwenkte aber gehorsam seine Lampe herum und folgte ihm. Jones war mittlerweile stehen geblieben und blickte konzentriert auf irgendetwas auf dem schuttbedeckten Boden vor sich hinab. Abberline murmelte irgendetwas, das sich noch weniger begeistert anhörte, trat aber trotzdem neben ihn und senkte die Lampe. Der Lichtstrahl huschte den kurzen Weg zurück, den er ihm vorausgeeilt war und brach sich blitzend auf etwas Dunklem und Nassem. Abberline sog hörbar die Luft zwischen den Zähnen ein, und auch Bast fuhr erschrocken zusammen. Das bleiche Licht löschte alle Farben aus und gab den Dingen eine Bedeutung, die sie nicht hatten, aber der Geruch war unverkennbar.

»Das ist Blut«, murmelte Abberline, nachdem er sich in die Hocke gelassen und den verschmierten Fleck behutsam mit der Fingerspitze berührt hatte.

»Menschliches Blut«, fügte Bast leise hinzu. Abberline schrak zusammen und warf ihr einen raschen, unsicheren Blick zu, und Bast erteilte sich selbst in Gedanken einen scharfen Verweis. Sie hatte das nicht laut aussprechen wollen. Ihre Hand tastete fast ohne ihr Zutun nach dem Schwert in ihrem Gürtel, und Abberlines Blick wurde noch besorgter, da ihm diese Bewegung natürlich keineswegs entging. Bast gebot ihm jedoch mit einer raschen Geste, still zu sein, schloss die Augen und lauschte mit allen Sinnen. Das Einzige, was sie hörte, waren Jones' und Abberlines Atemzüge und das dumpfe Hämmern ihres eigenen Herzschlages, und das einzige Leben, das sie spürte, gehörte ebenfalls diesen beiden. Und dennoch ... etwas war da. Es war die ganze Zeit über da gewesen, eine Präsenz, unglaublich fremd und vertraut zugleich und wie etwas Unsichtbares und Riesiges, das lautlos in der Dunkelheit hockte und sie belauerte, und ein Gefühl, das sie nur zu gut kannte: das Gefühl, Beute zu sein.

»Sie haben recht, Inspektor«, sagte sie. »Verschwinden wir von hier.«

Abberline stand zwar auf, bewegte sich im ersten Moment jedoch nicht von der Stelle, sondern schwenkte nur seine Lampe herum, bis das Licht einen zweiten, verschmierten schwarzen Fleck auf dem Staub und eingetrocknetem Schmutz auf dem Boden ertastete, dann einen dritten und vierten.

Die Blutspur war nicht so breit und frisch wie die, der sie vorhin gefolgt waren, und Bast musste auch nicht davon kosten, um zu wissen, dass es jetzt nicht mehr Sobeks Blut war, aber es war ganz eindeutig menschliches Blut, und es war noch nicht lange genug hier, um eingetrocknet zu sein. Welches Drama sich auch immer hier abgespielt hatte, es konnte allerhöchstem einige Minuten zurückliegen. Aber wieso spürte sie nichts?

»Wir sollten besser gehen, Inspektor«, sagte sie noch einmal und erschrak beinahe selbst über den unüberhörbaren Unterton von Furcht in ihrer Stimme.

Abberline wandte zwar den Kopf und maß sie mit einem gleichermaßen nachdenklichen wie misstrauischen Blick, machte aber keineswegs kehrt, sondern begann ganz im Gegenteil der unterbrochenen Blutspur zu folgen. »Ich glaube, ich habe es schon mehrmals gesagt, aber ich wiederhole mich gern«, sagte er mit einer Betonung, die beinahe noch sonderbarer war als sein Blick. Von der fast ausgelassenen Erleichterung, die sie gerade bei der Treppe in ihm gefühlt hatte, war nichts mehr geblieben. »Falls Sie mir irgendetwas zu sagen haben, wäre jetzt vielleicht der richtige Moment.« Gleichzeitig griff er mit der freien Hand in die Jackentasche, um seinen Revolver zu ziehen. Das helle Klicken, mit dem er den Hahn zurückzog, schien in der Dunkelheit unnatürlich lang widerzuhallen, und es brachte noch ein anderes, falsches Geräusch mit sich.

»Jetzt ist wahrscheinlich der falscheste Moment überhaupt«, sagte Bast ernst. Begriff er denn nicht, dass sie ganz und gar nicht zufällig hier waren? »Das Ganze könnte eine Falle sein.« Könnte? Was musste denn noch passieren, bis sie sich selbst eingestand, wie unvorstellbar leichtsinnig sie sich verhalten hatte?

Sie hatte nicht wirklich damit gerechnet, aber ihre Worte schienen Abberline tatsächlich nachdenklich zu stimmen. Er machte zwar noch einen halben Schritt, zögerte dann aber und wandte sich schließlich um ... oder hätte es getan, wäre der Lichtstrahl nicht an etwas Dunklem und Nassem hängen geblieben. Hastig schwenkte er die Lampe wieder zurück, und hatte im nächsten Moment alle Mühe, einen entsetzten Schrei zu unterdrücken.

Es war ein abgerissener menschlicher Arm. Die verkrümmte Hand, der zwei Finger fehlten, ragte aus einem zerfetzten Jackenärmel, der einmal zu einer schwarzen Uniform gehört haben musste. Das erkannte Bast an dem eingedellten Messingknopf, der das Revers zierte.

Jones würgte hörbar und wankte einen Schritt zur Seite, wodurch er endgültig in der Dunkelheit verschwand, und Abberline zwang sich mit sichtlicher Überwindung, weiterzugehen, und ließ sich - in sicherer Entfernung von gut vier oder fünf Fuß - vor seinem schrecklichen Fund in die Hocke sinken.

»Barton?«, fragte Bast. Sie musste sich räuspern, damit ihre Stimme nicht zu sehr zitterte.

»Vermutlich!«, antwortete Abberline. »Aber wie kommt er hierher?«

Bast hatte eine ziemlich konkrete Vorstellung davon, aber sie schwieg, und Abberline richtete sich wieder auf und ließ den Lichtstrahl weiter in die Richtung wandern, in die die unterbrochene Blutspur geführt hatte. Sie endete nach vielleicht einem Dutzend Schritten vor einer verschlossenen Tür, die so aussah, als wäre sie seit mindestens einem Menschenalter nicht mehr geöffnet worden. Abberline ging hin, reichte die Lampe an Jones weiter, drückte mit der Linken die Türklinke nach unten und richtete mit der anderen Hand die Waffe direkt auf die Tür, als diese mit dem Knarren von jahrelang nicht mehr geölten Angeln nach innen schwang. Das Einzige, worauf er zielte, war jedoch staubige Dunkelheit.

Bast verfolgte die Szene aufmerksam, aber ohne allzu große Besorgnis. Sollte irgendjemand - oder irgendetwas - hinter dieser Tür auf Abberline warten, sie hätte es gespürt.

Behutsam schob der Inspektor die Tür zur Gänze auf und bedeutete Jones zugleich, den Lichtstrahl direkt in den dahinter liegenden Raum zu lenken. Was in dem jetzt immer mehr an Kraft verlierenden bleichen Schein zum Vorschein kam, das war ein Raum, der auf den ersten Blick winzig wirkte, in Wahrheit aber das genaue Gegenteil war: Es war ein niedriges, zugleich aber sehr weitläufiges Zimmer, das nur beengt wirkte, weil man es offensichtlich als Gerümpelkammer missbraucht hatte. Schreibtische, Bänke, Stühle und ausrangierte und zum Teil umgestürzte Schränke bildeten zusammen mit Kisten, Kartons, nahezu deckenhoch gestapelten Türmen aus übereinander geschichtetem Papier und Zeitschriften, verschnürten Jutesäcken und Fässern und allem möglichen anderen Krempel ein heilloses Durcheinander, in dem sich ihr Blick im allerersten Moment hoffnungslos verlor. Alles war bedeckt von einer Staubschicht, die an manchen Stellen zu schmierigen Klumpen zusammengebacken war und an schmutzigen grauen Schnee erinnerte, und die Luft, die ihnen entgegenschlug, war so trocken und verbraucht, dass Bast gegen einen plötzlichen Hustenreiz ankämpfen musste. Auch Abberline wedelte demonstrativ mit der Hand vor dem Gesicht, hielt sich dann die Finger der Linken über Mund und Nase und zog eine angewiderte Grimasse, bevor er - unendlich behutsam - durch die offen stehende Tür trat. Jones folgte ihm dichtauf und schwenkte seine Lampe, und der Lichtstrahl glitt tiefer in das stauberfüllte Halbdunkel des Zimmers.

Im nächsten Moment schrie Abberline erschrocken auf und gab rasch hintereinander zwei Schüsse aus seinem Revolver ab.

Bast war mit einem einzigen Satz neben ihm und riss das Schwert in die Höhe. Dann erstarrte sie, und ein Ausdruck, der irgendwo zwischen Verblüffung und unendlicher Erleichterung angesiedelt war, machte sich auf ihrem Gesicht breit.

Nicht, dass sie etwa nicht verstanden hätte, warum Abberline geschossen hatte. Der Raum war so hoffnungslos vollgestopft und überladen, dass das Wort Rumpelkammer noch geschmeichelt war. In seiner entlegensten Ecke jedoch und ganz gewiss nicht durch Zufall so, dass man es beim Eintreten nicht sofort sah, hatte sich jemand zu schaffen gemacht und eine geradezu bizarre Szenerie errichtet - zumindest bizarr für Abberlines und Jones' Augen. Aus umgestürzten und neu arrangierten Möbelstücken war eine Art Altar errichtet worden, wenngleich ganz bestimmt nicht die Art von Altar, wie sie die beiden Scotland-Yard-Beamten gewohnt waren, denn es waren keineswegs christliche oder ihnen irgendwie sonst vertraute Symbole und Reliquien, die darauf standen. Bast erblickte einen liegenden Anubis aus schwarzem Obsidian, reich mit Gold verziert und mit Augen aus dunkelroten Rubinen, eine geflügelte Isisstatue und ein stilisiertes Horusauge, überstrahlt von einer goldenen Sonnenscheibe, die ihrerseits von zwei aufgerichteten Kobras flankiert wurde. Reich verzierte und kunstvoll bemalte Kanopen, Opferschalen und Öllampen komplettierten das bizarre Bild, und bewacht wurde diese sonderbare Anordnung von einem zehn Fuß langen Nildrachen, der die Eindringlinge aus boshaft zusammengekniffenen Augen anzustarren schien. Ein drittes, rauchendes Loch befand sich in seiner Stirn, so präzise zwischen den Augen angeordnet, dass es tatsächlich wie ein drittes, pupillenlos starrendes Auge wirkte, und Abberlines zweite, nicht ganz so präzise gezielte Kugel hatte seine rechte Flanke vom Schädel bis zum Schwanzansatz hinab aufgerissen, bevor sie hinter ihm ins Holz des improvisierten Altars gefahren war. Aus der mehr als mannslangen klaffenden Wunde in den dreieckigen Panzerschuppen der Bestie sickerte jedoch kein Blut. Stattdessen rieselte ein beständiger Strom aus grauem Staub und Schmutz auf den Boden, der vermutlich eben so viele Jahrtausende alt war wie das Ungeheuer selbst.

»Was ... was bedeutet das?«, stammelte Jones. Bast warf ihm einen raschen, besorgten Blick zu. Die Kraft, die sie ihm gegeben hatte, neigte sich offensichtlich schon wieder ihrem Ende zu. Sie würde auf ihn achtgeben müssen. Trotzdem wandte sie sich mit einem flüchtigen Lächeln und einem spöttischen Kopfschütteln an Abberline.

»Herzlichen Glückwunsch, Inspektor«, sagte sie. »Sie haben eine Mumie erschossen.«

»Eine Mumie?«, wiederholte Abberline verständnislos. Bast steckte ihr Schwert ein, nahm Jones die Lampe aus der Hand und richtete den zitternden Strahl direkt auf den Nildrachen. Das Ungeheuer war erstaunlich gut erhalten, wenn man bedachte, wie roh es vermutlich aus seinem ewigen Schlaf gerissen und hierher gebracht worden war, dennoch waren die Beschädigungen und Spuren des Alters unübersehbar. In diesem Geschöpf war seit Jahrtausenden nichts Lebendiges mehr gewesen.

Überdies war es nicht das einzige seiner Art.

Bast ließ Abberline einige Sekunden Zeit, die Krokodilmumie aus ungläubig aufgerissenen Augen zu studieren, bevor sie den Lichtstrahl flüchtig auf zwei weitere, mindestens ebenso große und auf ihre Art trotz allem Furcht einflößend wirkende mumifizierte Ungeheuer lenkte, die den improvisierten Altar flankierten. Abberline sog scharf die Luft durch die Nase ein, sagte aber nichts mehr, und Jones begann ganz sacht zu zittern.

»Keine Sorge«, sagte Bast hastig. »Sie tun uns nichts mehr.«

Zumindest Abberline glaubte ihr, denn schließlich sah er, dass sie es nicht mit lebenden Ungeheuern zu tun hatten, aber er wurde dennoch eher noch blasser, und Jones anzusehen ersparte sie sich vorsichtshalber gleich ganz. Nach dem, was diese beiden Männer gerade mit einem lebendigen Bruder der drei mumifizierten Ungeheuer erlebt hatten, war der Anblick zweifellos schwer für sie zu ertragen, aber das war längst nicht der Grund für Abberlines abgrundtiefen Schrecken und die mühsam unterdrückte Furcht, die sie in seinen Augen las. Es war dieser Ort. Was immer diese Kammer früher einmal gewesen war, jemand hatte sie in etwas Fremdes verwandelt, nicht einfach nur ein heidnisches Heiligtum - sie konnte sich nicht vorstellen, dass Abberline mit so etwas Schwierigkeiten hatte -, sondern ein Stück nicht nur aus einer fremden Welt, sondern einer alten, längst vergessenen und feindseligen Zeit, die etwas in diesen beiden Männern erschüttern musste, von dem sie bisher vielleicht gar nicht gewusst hatten, dass es da war. Jemand hatte ein Stück aus Abberlines und Jones' Wirklichkeit herausgebrochen und durch einen Teil einer anderen, unheiligen Existenz ersetzt, die sie nie kennen gelernt hatten, und gegen die sie vollkommen hilflos waren.

»Was bedeutet das?«, murmelte Abberline mühsam beherrscht. Er hielt die Pistole immer noch umklammert, und Bast registrierte beiläufig, aber nicht unbesorgt, dass der Hahn der Waffe gespannt war und sich seine Finger so fest um den Griff klammerten, dass alle Farbe aus seiner Haut gewichen war. Fast behutsam streckte sie die Hand aus, löste seine Finger vom Abzug und ließ den Hahn vorsichtig zurückschnappen. Abberline bemerkte es nicht einmal.

»Ich nehme an, wir haben ihr Versteck gefunden«, sagte sie. Die Frage, die sie weit mehr beschäftigte, behielt sie vorsichtshalber für sich - nämlich die, wieso sie es gefunden hatten. Etwas in ihr tat sich schwer damit, diesen Fund als einen reinen Zufall zu akzeptieren. So leichtsinnig war Horus nicht. Sobek und er geboten wahrlich über genug Möglichkeiten, ihre Geheimnisse zu schützen.

»Ihr Versteck?«, wiederholte Abberline stirnrunzelnd. »Sie meinen die beiden Männer, die aus Ihrer ...« Er sprach nicht weiter, sondern schrak plötzlich leicht zusammen, starrte die Waffe in seiner Hand eine geschlagene Sekunde lang vollkommen verständnislos an und steckte sie dann hastig ein, bevor er mit wenigen, raschen Schritten gänzlich neben die Drachenmumie trat und sich in die Hocke sinken ließ, um die bizarre Gestalt - mit sichtbarem Widerwillen, aber sehr aufmerksam - zu betrachten. Schließlich streckte er sogar die Hand aus und berührte die halb versteinerten dreieckigen Schuppen des Drachen, das aber so vorsichtig, als hätte er Angst, sich zu verbrennen.

»Unglaublich«, murmelte er. »Das ist eine ... eine Mumie? Aber wer tut so etwas? Und warum?«

»Sobek«, antwortete Bast. Sie machte eine ausholende Geste. »Wenn Sie in einem fremden Land und einer fremden Kultur wären, Inspektor, würden Sie dann nicht auch versuchen, sich irgendwo ein kleines Stückchen Heimat zu schaffen?«

Das war die falsche Tonlage, das spürte sie sofort. Abberline sah sie nur noch verwirrter an, und plötzlich auch wieder ganz leicht misstrauisch - vielleicht fragte er sich, ob sie versuchte, sich über ihn lustig zu machen.

»Heimat?«

»Nun ja«, bekannte Bast achselzuckend. »Sobek hängt nun einmal an seinen Lieblingstieren. Ein bisschen morbide, das gebe ich zu, aber er ist ziemlich alt.«

Wider besseres Wissen lächelte sie schon wieder spöttisch. »Sie wissen, wie alte Leute sind, Inspektor. Sie werden manchmal komisch.«

Wenn auch in vollkommen anderer Hinsicht als beabsichtigt, so wirkte ihr unpassend spöttischer Ton doch. Abberlines Miene verfinsterte sich noch weiter, und er stand mit einem Ruck auf und drehte sich gänzlich zu ihr herum, um sie beinahe feindselig anzustarren. »Ich finde das alles hier nicht im Geringsten komisch«, sagte er. »Was hat das zu bedeuten? Was ist das hier? So eine Art heidnischer Opferstätte oder der Tempel irgendeiner verrückten Sekte?«

Bast wünschte sich, er hätte das nicht gesagt. Natürlich wusste sie von allen hier am besten, dass an diesem Ort nichts Magisches oder Übernatürliches war, und dennoch hatte selbst sie das Gefühl, dass der Frevel dieser Worte hier nicht ungestraft bleiben würde. »Nein«, sagte sie, nunmehr um einen ruhigen und schon fast übertrieben sachlichen Ton bemüht. »Zumindest nicht in dem Sinne, den Sie vermuten, Inspektor. Sie haben sich einfach ein Versteck gesucht und sich ein wenig ...«, sie ließ den Blick schweifen, fast als suche sie inmitten dieser bizarren Szenerie nach den richtigen Worten, »... gemütlich eingerichtet.«

»Gemütlich?«, vergewisserte sich Abberline. Er schüttelte grimmig den Kopf. »Wer sich hier wohl fühlt, der kann nicht ganz normal sein.«

Dasselbe würden Horus und Sobek wahrscheinlich über Mrs Walshs Kaminzimmer sagen, dachte Bast. Sie schwieg.

»Sie wollen mir aber nicht erzählen, dass all das hier aus ihrer Heimat stammt?«, fuhr Abberline fort. »Diese beiden haben den ganzen Kram aus Ägypten hierhergebracht?«

Bast vermutete eher, dass all diese heiligen und uralten Gegenstände zwar tatsächlich aus Ägypten stammten, in letzter Zeit aber nur eine Reise von wenigen Meilen hinter sich hatten. Sie sagte auch dazu nichts, doch Abberline erwies sich als scharfsinniger, als sie zumindest in diesem Moment angenommen hatte. »Ich verstehe«, sagte er. »Wahrscheinlich haben sie es aus dem Britischen Museum gestohlen.« Er wartete einen Herzschlag lang - auch jetzt wieder vergebens - auf eine Antwort, straffte dann mit einem demonstrativen Ruck die Schultern und deutete zur Tür. »Dieser Spuk hat jetzt ein Ende«, sagte er. »Ich lasse all das hier dorthin zurückbringen, wo es hingehört, und sobald Ihre beiden Freunde wieder hier auftauchen, werden wir sie entsprechend in Empfang nehmen.«

»Diese Männer sind nicht meine Freunde, Inspektor«, antwortete Bast ernst. »Und ich kann Sie nur warnen. Sie wissen nicht, womit Sie es zu tun haben.«

»Dann verraten Sie es mir endlich«, sagte Abberline. Seine Stimme klang plötzlich wieder scharf, fast fordernd, aber zugleich und auf einer tieferen, unterschwelligen Ebene hörte Bast auch einen genau gegenteiligen Ton darin, beinahe etwas wie ein Flehen. Sie wusste nicht, warum, aber sie hatte das Gefühl, dass Abberline geradezu verzweifelt darum bemüht war, ihr nicht nur zu glauben, sondern ihr auch zu vertrauen. Vielleicht hatte es irgendetwas mit dem zu tun, was Maistowe ihm - möglicherweise - über sie erzählt hatte, aber vielleicht spürte er auch einfach, dass sie auf seiner Seite stand.

»Später«, sagte sie. »Sobald wir ...«, sie deutete eine Kopfbewegung zu Jones hin an, »... allein sind.«

»Sie sollten den Bogen nicht überspannen, Miss Bast«, sagte Abberline ernst. »Ich habe schon mehr für Sie getan, als ich dürfte. Mehr, als ich eigentlich will.« Er beließ es dabei, aber sein Blick machte klar, wie ernst er diese Worte meinte.

Bast schenkte ihm ein knappes, aber sehr dankbares Lächeln, wandte sich um und machte einen einzelnen Schritt auf den Ausgang zu - und einer der beiden mumifizierten Nildrachen, die den Altar bewachten, stieß sich mit einer einzigen, unvorstellbar kraftvollen Bewegung ab, stürzte sich auf Konstabler Jones und biss ihm beide Beine dicht unterhalb der Knie ab.

Jones schrie, ein schrilles, kaum noch menschlich klingendes Kreischen, fiel mit wild peitschenden Armen nach hinten und warf den Kopf hin und her. Blutiger Schaum erschien auf seinen Lippen, und er begann wie von Sinnen mit den Beinen zu strampeln und um sich zu schlagen, sodass das Blut aus seinen abgerissenen Arterien wie Wasser aus einem gewaltsam durchtrennten Feuerwehrschlauch spritzte und Bast und Abberline besudelte. Der Drache machte eine zweite, blitzartige Bewegung und begrub den wie von Sinnen um sich schlagenden Konstabler unter sich. Diesmal schlossen sich seine schrecklichen Kiefer um Jones' Kopf und Schultern, und seine grauenhaften Schreie hörten endlich auf.

Das geschah in der ersten Sekunde einer nicht enden wollenden Ewigkeit, in der die Zeit einfach stehen zu bleiben schien und Bast zu nichts anderem fähig war als einfach dazustehen und das unfassbare Bild anzustarren und sich fast hysterisch zu fragen, wieso sie die Nähe der Bestie nicht gespürt hatte.

Erst dann begriff sie, dass sie sie nicht einmal jetzt spürte.

Es war, als wäre das Ungeheuer gar nicht da. Sie konnte es sehen, jede einzelne seiner eisenharten, nass glänzenden Schuppen und die reine Mordgier in seinen Augen, sie nahm seinen scharfen Reptiliengestank wahr und hörte die schrecklichen reißenden Laute, mit denen die stumpfen Zähne große, nasse Fleischfetzen aus Jones' verstümmeltem Leib rissen, sie roch das warme Blut, das noch immer in Strömen aus seinem sterbenden Körper herausfloss und den lähmenden Schrecken, der Abberline neben ihr durchfuhr, aber was sie nicht spürte, das war die Bestie selbst. Wenn da auch nur ein Funke von Leben in ihr war, und sei er noch so primitiv und mörderisch, dann hätte sie ihn spüren müssen.

Aber da war nichts. Es war, als wäre das Ungeheuer gar nicht da.

Und das war es auch nicht.

Doch diese Erkenntnis kam zu spät. Bast fuhr mit einem warnenden Schrei auf den Lippen herum, warf sich auf Abberline und riss ihn von den Füßen, doch so schnell sie auch war, reagierte sie dennoch nicht schnell genug. Abberline hatte seine Waffe hervorgezerrt und schoss aus allernächster Nähe auf den Drachen, und Bast sah aus den Augenwinkeln, wie die Kugel ein sauberes Loch in dessen Hinterkopf stanzte und den gepanzerten Leib durchschlug, als bestünde er aus mürbem Papier, dann prallte sie gegen ihn und riss ihn von den Füßen. Abberlines Revolver flog im hohen Bogen davon und verschwand in der Dunkelheit, und auch die Lampe fiel mit einem lang anhaltenden hellen Klirren zu Boden und rollte davon, wie durch ein Wunder allerdings, ohne zu zerbrechen.

»Sind Sie wahnsinnig geworden?«, keuchte Abberline. »Was soll denn das? Lassen Sie mich los, verdammt noch mal!«

Bast ließ ihn los, allerdings erst, nachdem sie ihn noch einige weitere Sekunden zu Boden gedrückt und sich überzeugt hatte, dass er nicht nach ihr schlagen würde. Wortlos stand sie auf, bückte sich nach der Lampe und schwenkte sie weit genug herum, um Jones und den erschossenen Drachen zu beleuchten.

Oder auch nur Jones.

Von dem Nildrachen war nichts mehr zu sehen. Jones' Kopf saß vollkommen unversehrt auf seinem Schultern, wo er hingehörte, und auch seine Unterschenkel waren wieder da. Es gab auch nur sehr wenig Blut, das aus einer fast harmlos aussehenden, schwarz umrandeten Wunde ein kleines Stück unter seinem linken Auge sickerte und sich langsam zu einer dampfenden Lache unter seinem Hinterkopf sammelte. Abberline hatte ihm aus einer Entfernung von weniger als drei Fuß ins Gesicht geschossen.

»Aber wie ... wie ist denn das ... möglich?«, stammelte Abberline. »Wo ist das Krokodil? Ich habe es doch ...«

»Sie haben genau das gesehen, was sie uns sehen lassen wollten«, unterbrach ihn Bast bitter. »Es gab nie einen Drachen.«

»Aber das ist doch unmöglich«, wimmerte Abberline. »Ich habe es doch gesehen! Mit ... mit meinen eigenen Augen!« Statt direkt darauf zu antworten, richtete Bast die Lampe wieder auf den improvisierten Altar. Die beiden mumifizierten Nildrachen saßen erstarrt und so leblos wie seit Jahrtausenden an ihrem Platz und starrten sie aus ihren erloschenen Augen an.

»Aber ... aber wie ist das möglich?«, stammelte Abberline. »Ich habe es doch gesehen! Ich ... ich habe Jones doch nicht erschossen!«

»Ich fürchte, das haben Sie doch, Inspektor«, sagte Bast sanft. »Aber es ist nicht Ihre Schuld. Ich habe es auch gesehen.« Und wäre sie nicht vor Schrecken im allerersten Moment einfach wie gelähmt gewesen, dann hätte sie vielleicht ihr Schwert gezogen und den vermeintlichen Drachen erschlagen - und damit Jones selbst getötet. »Sie sind Meister der Täuschung, Inspektor. Sie lassen uns nur das sehen, was wir sehen sollen. Lüge und Illusion sind ihre stärkste Waffe. Aber ich hätte nicht geglaubt, dass sie auch mich so leicht täuschen können.« Sie hob die Stimme. »Lass es gut sein, Sobek. Ich weiß, dass du da bist.«

Einen halben Atemzug lang - gerade lange genug, um den allerersten Hauch eines Zweifels in ihr aufkeimen zu lassen - geschah gar nichts, aber dann erscholl ein tiefes, kehliges Lachen, und eine vollkommen in Schwarz gehüllte Gestalt trat aus den Schatten am anderen Ende des Raumes.

»Jetzt sollte ich eigentlich verletzt sein, Bastet«, sagte Horus. »Du weißt doch, dass Lüge und Trug mein Metier sind, während Sobek die ehrliche Klinge vorzieht. Ist es nicht so, Bruder?«

Das Rascheln von schwerem Stoff erklang, und in den Schatten jenseits des improvisierten Opferaltars glomm ein winziger gelber Funke auf, der binnen eines Moments zur ruhig brennenden Flamme einer Petroleumlampe wurde, hinter der ein monströs verzerrter Schatten in die Höhe wuchs. Selbst als Sobek das Glas herunterschob und die Flamme so gelassen größer drehte, als gäbe es im Moment weder etwas Wichtigeres auf der Welt, noch hätte er irgendeinen Grund zur Eile, vermochte der gelbe Schein sein Gesicht nicht wirklich zu erhellen. Dennoch spürte Bast seine Schwäche. Jetzt, wo sie Horus und ihn sah, vermochten die beiden ihre Tarnung nicht mehr länger aufrechtzuerhalten. Vielleicht machten sie sich auch einfach nicht mehr die Mühe. So oder so spürte sie, dass Sobeks äußerliche Ruhe nichts als eine mühsam aufrechterhaltene Maske war. Er hatte Schmerzen, und seine Kraft schien kaum noch auszureichen, um sich auf den Beinen zu halten. Abberline musste ihn noch schwerer verwundet haben, als sie bisher angenommen hatte.

»Wer ist das?«, fragte Abberline. »Sind das ...?«

»Warum bist du gekommen?«, fragte Horus, als hätte Abberline gar nichts gesagt. Er kam näher, maß Abberline mit einem beiläufig-verächtlichen Blick und wies dann auf Basts Schwert. »Bitte steck die Waffe ein, Bastet. Ich will nicht mit dir kämpfen.«

»Aber ich vielleicht mit dir«, antwortete Bast. Sie kam sich selbst albern dabei vor. »Warum habt ihr Arthur getötet?«

Horus machte ein fragendes Gesicht.

»Meinen Fahrer.«

»Oh, ja. Es hatte einen Namen, ich vergaß.« Horus machte ein verächtliches Geräusch. »Hast du dich entschieden?«

»Wer, zum Teufel, sind Sie?«, fuhr Abberline ihn an. »Und was ...?«

Horus versetzte ihm einen Schlag mit dem Handrücken. Die Bewegung wirkte beiläufig, fast gelangweilt, aber der Hieb war trotzdem hart genug, Abberline von den Füßen zu reißen und meterweit davonfliegen zu lassen, bevor er inmitten all des Gerümpels und zerbrochener Möbel in einer gewaltigen Staubwolke verschwand. Bast spürte seinen Schmerz und die maßlose Überraschung, mit der ihn dieser Angriff erfüllte, aber sie spürte auch, dass er nicht ernsthaft verletzt war.

Wäre es anders gewesen, hätte sie vermutlich auch nichts für ihn tun können.

»Bitte, lass das, Horus«, sagte sie matt.

»Hast du Angst, dass ich dein Spielzeug kaputtmache?«, erkundigte sich Horus böse.

»Er hat nichts damit zu tun«, antwortete Bast. »Das hier ist eine Sache zwischen dir und mir.«

»Falsch«, sagte Horus mit plötzlicher Schärfe. »Es ist eine Sache zwischen uns und ihnen.«

»Nicht zwischen uns«, erwiderte Bast. »Zwischen euch und ihnen.« Und nicht einmal das wirklich. Warum begriffen Horus und die anderen nicht, dass sie diesen Kampf nicht gewinnen konnten? Sie konnten ihn noch nicht einmal wirklich führen.

»Was gibst du mir, wenn ich es leben lasse?«, fragte er spöttisch. »Kommst du dann mit uns und schließt dich uns an?«

»Du tötest ihn doch sowieso«, sagte sie müde. Sie spürte ... nichts. Allenfalls etwas wie eine vage Trauer, dass Abberline nun nicht einmal mehr erfahren würde, warum er eigentlich sterben musste.

Falls es überhaupt so etwas wie einen Grund gab.

»Ja, das ist wohl wahr«, seufzte Horus. Er brachte es tatsächlich fertig, das Bedauern in seiner Stimme echt klingen zu lassen. »Weißt du, ich würde ja gerne ein gutes Wort für dein neues Spielzeug einlegen, aber du kennst Sobek genauso gut wie ich. Dein Freund hat ihm weh getan, und er ist ziemlich - wie soll ich sagen - nachtragend.«

»Hör auf damit«, sagte Bast müde.

»Vielleicht bist du es, die aufhören sollte, die Augen vor der Wahrheit zu verschließen«, antwortete Horus. Seltsamerweise klang er immer noch nicht zornig, sondern geradezu sanft. Und auch der Blick, mit dem er Bast maß, war allenfalls bedauernd, Nicht etwa hasserfüllt oder auch nur zornig. Sie standen auf unterschiedlichen Seiten, aber sie waren keine Feinde. »Du hast mit Isis gesprochen, nicht wahr? Sie wird dich nicht begleiten, nehme ich an.«

Irgendetwas stürzte polternd um und ließ eine trockene Staubwolke aufwirbeln, als Abberline sich umständlich in die Höhe zu stemmen versuchte. Er wirkte benommen, und aus seiner Nase und seiner aufgeplatzten Unterlippe sickerte Blut. Sobek sah kurz von seiner Petroleumlampe auf, deren simple Mechanik ihn über die Maßen zu faszinieren schien, musterte ihn stirnrunzelnd und konzentrierte sich dann wieder ganz auf sein vollkommen sinnloses Tun.

»Und was erwartest du jetzt von mir?«, fragte sie bitter. »Dass ich mich euch anschließe? Wozu? Für das hier? Wollt ihr den Rest eures Lebens damit zubringen, durch die Kloaken zu schleichen und Museen zu beklauen?«

Horus nahm die Spitze kommentarlos hin, was sie ärgerte. »Diese Welt wird untergehen, Bastet, so wie alle anderen vor ihr. Willst du wirklich mit ihr untergehen?«

»Rom ist auch untergegangen ...«, begann Bast.

»Und wenn ich mich nicht täusche, hattest du einen nicht unbeträchtlichen Anteil daran.«

»... und das Reich der Pharaonen ist trotzdem nicht wiederauferstanden«, fuhr Bast ungerührt fort. »Aber viele von uns haben dabei den Tod gefunden. Ich werde nicht danebenstehen und tatenlos zusehen, wie du uns alle mit dir in den Abgrund reißt.«

»Dann werden wir dich zwingen, uns zu begleiten«, sagte Horus bedauernd. »Bitte steck das Schwert ein.«

Abberline machte einen unsicheren, taumelnden Schritt, fiel schwer auf die Knie und fing seinen Sturz im letzten Moment mit den Händen ab, schien aber Mühe zu haben, wieder auf die Füße zu kommen. Sobek sah abermals von seinem leuchtenden Spielzeug auf, runzelte die Stirn und stellte die Petroleumlampe neben sich auf den Altar. Nachdenklich sah er auf Abberline hinab, schlug seinen Mantel zurück und legte die Hand auf den reich verzierten Schwertgriff in seinem Gürtel. Bast wusste, was nun folgen würde und schätzte blitzartig ihre Chancen ab, es mit Horus und Sobek zugleich aufzunehmen, verwarf den Gedanken aber auch fast augenblicklich wieder. Horus war kein wirklicher Gegner für sie, und seine närrische Weigerung, das Blut eines der Ihren zu vergießen, machte es ihr nur noch leichter, aber bei Sobek sah die Sache schon anders aus. Er war ihr mindestens ebenbürtig, wenn nicht gar überlegen, selbst in seinem momentanen Zustand, und er hatte noch niemals Hemmungen gehabt, irgendjemandes Blut zu vergießen. Sie konnte nur hoffen, dass Abberline schnell sterben würde, aber sie wusste zugleich auch, dass dieser Wunsch wahrscheinlich nicht in Erfüllung gehen würde. Sobek war ein sehr grausamer Mann.

Ein scharfes Klicken erscholl, und Abberline richtete sich mit einer unerwartet schnellen und fließenden Bewegung auf und zielte mit dem Revolver, den er aufgehoben hatte auf Sobek. Von Schwäche und Benommenheit war keine Spur mehr zu sehen. Jeden anderen Mann hätte er damit zweifellos einfach überrumpelt.

Sobek ...

... verschwand.

Er bewegte sich so schnell, dass er selbst vor Basts Augen zu einem flackernden Schatten zu werden schien, der in einem Moment neben dem Altar stand und im nächsten einfach nicht mehr da war.

Abberline schoss, aber die orangerote Mündungsflamme seines Revolvers stach ins Leere. Die goldene Isisstatue auf dem Altar zersprang in Stücke, und Sobek, der im Bruchteil eines Atemzuges hinter ihm aufgetaucht war, packte ihn mit beiden Händen, hob ihn hoch über den Kopf und schleuderte ihn quer durch den Raum gegen den Altar. Abberline prallte mit dem Geräusch brechender Knochen gegen die improvisierte Gebetsstätte, die unter seinem Anprall bedrohlich zu wanken begann. Goldene Teller und Schmuckstücke aus geschnitztem Halbedelstein und Alabaster spritzten in alle Richtungen davon oder zerbrachen klirrend auf dem Boden, und die Petroleumlampe neigte sich bedrohlich zur Seite und drohte ebenfalls umzukippen, hätte Abberline, der sich mit schmerzverzerrtem Gesicht an der Kante des wankenden Möbelstücks festhielt, nicht mit der anderen Hand danach gegriffen und sie festgehalten; allerdings nicht aus übertriebenem Ordnungssinn oder irgendeinem anderen absurden Grund heraus.

Er schleuderte die Lampe auf Sobek.

Der schwarze Riese reagierte so schnell, wie Bast erwartet hatte. Wie ein fließender Schatten huschte er zur Seite, um dem heimtückischen Wurfgeschoss zu entgehen. Aber trotzdem war er nicht schnell genug - oder vielleicht gerade zu schnell.

Zu seinem Pech war Abberline nicht in einer Position, aus der heraus er besonders gut hätte zielen können. Wäre Sobek einfach stehen geblieben, hätte ihn die Lampe um mindestens fünf Fuß verfehlt. So prallte sie gegen seine Hüfte und zerbarst in einer klirrenden Explosion aus Glassplittern und spritzendem Petroleum, das seine Kleider tränkte und nur den Bruchteil eines Atemzuges später mit einem dumpfen Whump Feuer fing.

Sobek brüllte. Seine Gestalt verwandelte sich von einem Sekundenbruchteil zum anderen in eine lodernde, zuckende Flammensäule, die mit wild um sich peitschenden Armen zurücktaumelte und brennende Petroleumspritzer in alle Richtungen schleuderte.

Abberline machte einen sonderbar humpelnden, aber sehr schnellen Hechtsprung nach seiner fallen gelassenen Waffe, bekam sie zu fassen und gab rasch hintereinander zwei Schüsse auf Sobek ab. Der erste verfehlte ihn und ließ einen Kistenstapel auf der anderen Seite des Raumes in einer lautlosen Explosion aus Holzsplittern und Staub auseinanderfliegen, die zweite Kugel traf dafür umso präziser und schleuderte ihn zurück und gegen ein fast mannshohes Bündel aus uralten Papieren, die mit einem einzigen krachenden Schlag Feuer fingen.

Horus stieß ein wütendes Zischen aus und wirbelte auf dem Absatz herum, um sich auf Abberline zu stürzen, und Bast war mit einem einzigen blitzartigen Schritt hinter ihm und trat ihm so wuchtig in die Kniekehle, dass er mit einem schmerzerfüllten Grunzen auf die Knie fiel und um ein Haar vollends gestürzt wäre. Bast half der Entwicklung ein wenig nach, indem sie ihm die flache Seite ihrer Klinge in den Nacken schmetterte, was ihn endgültig nach vorne und mit weit ausgestreckten Armen aufs Gesicht schleuderte, sprang mit einem einzigen Satz über ihn hinweg und war mit einem zweiten neben Abberline, der noch immer vergebens darum kämpfte, sein Gleichgewicht wiederzufinden und irgendwie auf die Füße zu kommen.

»Raus hier!«, brüllte sie. »Schnell!«

Ihre Worte gingen nahezu im Prasseln der Flammen unter, die mit fast explosionsartiger Schnelligkeit um sich griffen. Hitze und unerträglich grelles, flackerndes Licht schlugen ihr entgegen und versengten ihr Gesicht und ihre Augenbrauen, als sie sich schützend über Abberline warf und ihn zugleich mit der anderen Hand auf die Füße riss. Sobek brüllte noch immer, ein schrilles Kreischen wie von einem entfesselten Dämon, der direkt aus den tiefsten Tiefen der Hölle emporgestiegen war, und während sie herumwirbelte und Abberline einfach mit sich zerrte, nahm sie etwas Riesiges, Loderndes wahr, das aus dem tobenden Inferno herausbrach und sich mit weit ausgebreiteten, brennenden Armen auf sie zu stürzen versuchte; eine riesige, brennende Fledermaus, die gekommen war, um die Welt zu versengen.

Bast schleuderte Sobek mit einem Fußtritt in die Flammen zurück, packte Abberline bei den Schultern und hüllte ihn in ihren Mantel, um ihn wenigstens vor der grausamsten Hitze zu schützen, während sie halb blind in Richtung Ausgang stolperte. Die Luft schien kaum noch Sauerstoff zu enthalten, und die Flammen griffen schneller um sich, als sie vor ihnen davonlaufen konnten. Ihre Augenwimpern und Brauen waren längst verschwunden, und Bast spurte, wie die Haut auf ihrem ungeschützten Gesicht und ihren Händen Blasen zu schlagen begann. Sie hütete sich, zu atmen, weil die weiß glühende Luft ihr sonst vermutlich Kehle und Lungen verbrannt hätte, und ihre überempfindlichen Augen drohten sich plötzlich als tödliches Handikap zu erweisen, denn sie war praktisch blind. Alles, was sie sah, war gleißendes Licht und zuckende Schatten, die alles Mögliche oder auch gar nichts bedeuten konnten.

Wahrscheinlich war es nichts als pures Glück, das sie rettete. Plötzlich war ein Stück Dunkelheit vor ihr, ein zerfließendes Rechteck aus Schwärze inmitten des Chaos aus gleißendem Licht, in dem sich die Welt aufzulösen begann. Halb blind vor Schmerzen und Panik stolperte sie darauf zu und hindurch und hätte fast laut aufgeschrien, als kalte Luft wie eine eisige Hand in ihr Gesicht klatschte. Dunkelheit umfing sie, und für einen Moment war sie nun vollends blind und konnte sich nur noch an den verwirrenden Echos ihrer eigenen, keuchenden Atemzüge orientieren. Trotzdem stolperte sie noch ein halbes Dutzend Schritte weiter, bevor sie Abberline losließ und verzweifelt nach Luft japsend auf die Knie sank.

Sie hörte, wie Abberline noch ein gutes Stück weitertaumelte und dann ebenfalls auf Hände und Knie fiel, wo er würgend und keuchend nach Luft rang, aber sie hatte im ersten Moment nicht einmal die Kraft, nach ihm zu sehen. Ganz plötzlich war die Angst da, und sie begann am ganzen Leib zu zittern.

Feuer.

Zu den wenigen Dingen, die selbst sie töten konnten, gehörte Feuer, ihr allerältester und vielleicht gnadenlosester Gegner, dem schon so viele ihrer Art zum Opfer gefallen waren. Sie fürchtete es wie nichts anderes auf der Welt, und für einen Moment überwältigte sie diese Furcht einfach. Sie krümmte sich, wimmernd wie ein kleines Kind, das sich in der Nacht verirrt hatte und nach seinen Eltern schrie, und versuchte vergeblich, die Furcht zurückzudrängen, die in schwarzen, teerigen Wellen über ihre Gedanken schwappte und sie endgültig zu verschlingen drohte.

Eine Hand berührte sie an der Schulter und rüttelte sanft, aber so hartnäckig daran, bis sie aufsah und verständnislos in Abberlines Gesicht blinzelte. Der lodernde Feuerschein, der aus der offen stehenden Tür hinter ihr fiel, tauchte es in unheimliches Rot - vielleicht war es auch verbrannt; seine Augenbrauen und Wimpern fehlten jedenfalls ebenso wie die ihren, und sein Haar war angesengt -, und in seinem Blick erkannte sie ebenfalls nur noch mit letzter Kraft unterdrückte Panik.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte er.

Angesichts dessen, was gerade passiert war, kam ihr diese Frage so absurd vor, dass sie laut auflachen musste; auch wenn das Geräusch, das über ihre Lippen kam, eher an ein halb ersticktes Krächzen erinnerte. Aber es brach den Bann. Sie hatte immer noch Angst, sie schmeckte ihr eigenes Blut, ihr ganzer Körper schien nach wie vor in Flammen zu stehen, und ihr Herz jagte, als versuche es den Käfig ihrer Rippen von innen heraus zu zersprengen, aber sie gewann die Kontrolle nun dennoch zurück. Statt auf seine Frage direkt zu antworten, griff sie nun ihrerseits nach seiner Schulter, um sich in die Höhe zu stemmen - Abberline ächzte unter ihrem Gewicht und hatte alle Mühe, nicht seinerseits auf die Knie zu fallen - und sich mühsam herumzudrehen.

Sie wünschte sich fast, es nicht getan zu haben, denn sie blickte direkt in ein Inferno. Selbst hier draußen, ein halbes Dutzend Schritte von der Tür entfernt, war die Hitze mittlerweile fast unerträglich. Licht, das ihr so grell und gnadenlos vorkam wie flüssiges Feuer, marterte ihre Augen und ließ sie die Dinge nur noch verschwommen erkennen, sodass sie nicht einmal sicher war, was sie wirklich sah und was ihr ihre Furcht vorspiegelte.

Und eigentlich wollte sie es auch gar nicht wirklich wissen, denn sie blickte direkt in die Hölle.

In den wenigen Augenblicken, die seit ihrer verzweifelten Flucht vergangen waren, hatte sich das Feuer nahezu über den gesamten Raum ausgebreitet, und sie konnte sehen, wie ein Bereich nach dem anderen rasend schnell Feuer fing, eher eine Folge rasend schneller Explosionen als ein pures Übergreifen der Flammen, die in der zundertrockenen Ansammlung uralter Möbel und trockener Papierstapel alle Nahrung fanden, die sie nur brauchten. Schatten vollführten einen bizarren spasmischen Tanz inmitten des tobenden Chaos, und sie glaubte einen Schrei zu hören, ein vollkommen unmenschliches, gequältes Kreischen und Wimmern, das sich wie eine glühende Messerklinge in ihr Herz grub. Irgendwo inmitten dieses Infernos glaubte sie Sobek auszumachen, eine riesige, zur Gänze in brüllende Flammen gehüllte Gestalt, die in schierer Agonie umhertaumelte und offensichtlich die Orientierung verloren hatte, aber auch einen zweiten, dunkleren Schemen, der gegen das Inferno gebeugt wie gegen einen unsichtbaren Sturm mit gewaltigen Schwingen ankämpfte - und dann war er verschwunden, und sie sah ihn nicht mehr.

Mit einem Funken sprühenden dumpfen Knall, der sogar das Brüllen der Flammen übertönte, explodierte einer der mumifizierten Nildrachen. Die Druckwelle zertrümmerte den brennenden Altar und fegte Sobek von den Beinen, und plötzlich züngelten Flammen aus der Tür und schwärzten den Rahmen und das staubige Mauerwerk darüber. Der Raum begann sich in einen Hochofen zu verwandeln, in dem sogar Metall schmelzen musste.

Alles, was Bast in diesem Moment spürte, war pures, abgrundtiefes Grauen.

Sie hatte Sobek unzählige Male den Tod gewünscht - und Horus beinahe ebenso oft, auch wenn sie es sich nicht eingestanden hatte -, und er hätte sie zweifellos seinerseits ohne das geringste Zögern getötet - aber dieses Ende war grauenhaft; mehr, als sie selbst ihrem schlimmsten Feind gewünscht hätte. Sie konnte einfach nur dastehen und die grauenhafte Szenerie anstarren und spürte nicht einmal die Hitze, die ihr Gesicht abermals versengte.

Und schließlich war es auch jetzt wieder Abberline, der seine Erstarrung vor ihr überwand, an ihr vorbeistürmte und die Tür mit einer beherzten Bewegung ins Schloss warf.

Das Holz war so heiß, dass er mit einem Schmerzensschrei zurückprallte, und es wurde auch nicht dunkel. Gleißendes Licht tröpfelte wie leuchtende Säure durch die Ritzen der uralten Tür und füllte den Raum mit tanzenden Schatten und roten Gespenstern aus purer Furcht, und das Holz begann schon nach Augenblicken zu schwelen. Vor Basts ungläubig aufgerissenen Augen begannen die ersten, winzigen Flammen aus dem Holz zu züngeln, und neuer, rußig-schwarzer Qualm stieg auf und fraß sich beißend in ihre Lungen.

»Raus hier!«, keuchte Abberline. »Schnell, bevor hier alles in Flammen aufgeht!« Als Bast nicht sofort reagierte, ergriff er sie einfach am Arm und zerrte sie grob mit sich; nur wenige Schritte weit, bis sie endlich in die Wirklichkeit zurückfand und sich losriss.

Nebeneinander stürmten sie durch die Halle und auf den Ausgang zu.

Kurz, bevor sie ihn erreichten, explodierte die Tür wie unter dem Faustschlag eines zornigen Gottes. Weiß glühende Flammen und schwelendes Holz eruptierten wie aus dem Schlund eines Vulkans, der nach Jahrtausenden und ohne die geringste Vorwarnung aus seinem vermeintlichen Schlummer erwachte, und den Bruchteil eines Atemzuges, bevor Abberline sie vollends durch die Tür zerrte, hatte sie eine durch und durch grässliche Vision: Sie glaubte eine lichterloh brennende Gestalt zu sehen, die aus den Flammen heraustorkelte und brüllend auf die Knie fiel, aber ihre Zeit reichte nicht für einen zweiten Blick. Abberline zog sie rücksichtslos weiter und hätte sie womöglich die gesamte Treppe hinaufgezerrt, wäre er nicht schon über die zweite Stufe gestolpert und der Länge nach und so heftig hingeschlagen, dass er einen Moment lang benommen liegen blieb.

Bast riss sich los, half ihm rasch in die Höhe und schleppte ihn ein halbes Dutzend Stufen weiter, bevor sie es auch nur wagte, stehen zu bleiben und zurückzublicken. Auch der Treppenschacht war nicht mehr dunkel. Flackerndes rotes und gelbes Licht fiel durch das offen stehende Tor herein und ließ eine lautlose Armee irrlichternder Scharren die Stufen emporhuschen. Beißender Rauch wehte zu ihnen herein. Es stank nach brennendem Holz und heißem Stein, und Bast begann die Hitze nun auch hier draußen zu spüren. Ganz gleich, mit wie viel trockenem Holz und uraltem Papier die improvisierte Altarkammer auch gefüllt gewesen sein mochte, dort unten musste noch weit mehr brennen, um eine derart ungeheure Hitze zu entfachen.

Vielleicht, dachte sie schaudernd, würde das Feuer auf die gesamte Stadt übergreifen und Horus' Prophezeiung auf diese Weise schneller erfüllen, als selbst er geahnt hatte.

Und wenn sie noch lange hier herumstanden, flüsterte eine lautlose Stimme in ihren Gedanken, dann würden sie auf diesem unterirdischen Scheiterhaufen gleich mit verbrennen.

Rauch und flackerndes Licht waren nicht alles. Auch an der offen stehenden Tür unter ihnen nagten bereits die ersten Flammen, und die Hitze nahm mit jedem Atemzug weiter zu. Wenn sich das Feuer bis zur Treppe durchfraß, dann würde sich der gesamte Schacht in einen überdimensionalen Kamin verwandeln, in dem sie innerhalb eines einzigen Lidschlags einfach verglühten.

Sie hetzten weiter. Bast korrigierte ihre eigene Schätzung, was die Länge dieser unmöglichen Treppe anging, noch bevor sie sie auch nur zur Hälfte überwunden hatten: Sie hatte nicht hundert, sondern mindestens doppelt so viele Stufen, und Abberlines Vertrauen in die Baukunst britischer Ingenieure schien im gleichen Maße ins Wanken zu geraten, in dem sie sich der geschlossenen Gittertür am oberen Ende des Schachtes näherten. Die jahrzehntealte Konstruktion ächzte und stöhnte immer lauter unter ihren Schritten, und Bast bildete sich zumindest ein, die gesamte Treppe unter ihrem Gewicht erzittern zu fühlen.

Vielleicht war es auch nicht nur Einbildung.

Abberline erreichte die Tür einen halben Atemzug vor ihr und begann ebenso verzweifelt wie sinnlos an der Kette zu zerren, mit der das rostige Scherengitter verschlossen war. Bast ließ ihn einen Moment gewähren, den sie nutzte, um das Gesicht gegen das Gitter zu pressen und die kühle Nachtluft auf der anderen Seite gierig in die Lungen zu saugen. Die Treppe setzte sich dort noch ein gutes Stück fort und verschmolz dahinter mit dem Nachthimmel.

»Verdammt!« Abberline riss noch einmal wütend an der Kette, trat einen halben Schritt zurück und zerrte seinen Revolver hervor.

Ein dumpfer Schlag wehte aus der Tiefe herauf, und diesmal bildete sich Bast das bedrohliche Zittern der altersschwachen Stufen unter ihren Füßen eindeutig nicht ein.

Abberline kämpfte übertrieben gestikulierend um sein Gleichgewicht und zielte nunmehr mit beiden Händen auf das Vorhängeschloss, und Bast gebot ihm mit einer beinahe erschrockenen Geste Einhalt, zog das Schwert aus dem Gürtel und ließ die Klinge wuchtig auf die Kette niedersausen. Funken stoben, und das Schwert prallte mit solcher Gewalt von der Kette zurück, dass es ihr um ein Haar aus den Händen gerissen worden wäre und ein betäubender Schmerz bis in ihre Schultergelenke hinaufschoss. Die Kette klirrte und wand sich wie eine wütende Schlange unter einem Fußtritt, aber sie hielt. Der einzige Schaden, den ihre Attacke hinterlassen hatte, war ein kaum fingernagelbreiter Kratzer; und eine deutlich größere Scharte in ihrem Schwert.

Neben ihr sog Abberline plötzlich so erschrocken die Luft zwischen den Zähnen ein, dass sie instinktiv innehielt und nach unten sah - um mit einem Anblick belohnt zu werden, der sie im allerersten Moment schier an ihrem Verstand zweifeln ließ.

Das hölzerne Tor unter ihnen stand lichterloh in Flammen, und eine brodelnde Wolke aus schwarzem, von roten und gelben Feuerzungen durchzucktem Qualm hatte sich am unteren Ende der Treppe ausgebreitet und bereits die ersten zwei oder drei Stufen verschlungen. Bisher hatte sie die Hitze nicht einmal wirklich gespürt, aber als hätte es nur dieses Anblickes bedurft, schien plötzlich eine unsichtbare glühende Hand über ihr Gesicht zu streichen. Sie konnte die Hitzewelle sehen, die unsichtbar und rasend schnell die Treppe heraufwaberte, und der Sauerstoffgehalt der Luft nahm so rapide ab, dass sie vermutlich ersticken würden, bevor die Hitze sie erreichte und tötete.

Diesmal schwang sie das Schwert mit der absoluten Kraft, die ihr die schiere Todesangst verlieh. Die zweitausend Jahre alte Klinge traf Funken sprühend auf rostiges Eisen und zerbrach, aber die Kette sprang auch mit einem hellen Klirren in Stücke und fiel zu Boden, und Abberline packte das Scherengitter und drückte es mit einer verzweifelten Anstrengung auseinander. Hinter ihnen sprangen weiß glühende Flammen die Treppe herauf, prasselnd und entsetzlich schnell, und als wäre all das noch immer nicht genug, tauchte unter der Tür plötzlich eine brennende Gestalt auf, als wäre der Teufel persönlich aus der Hölle herausgetreten, um sie zu holen.

Abberline ließ das Gitter los, fuhr herum und zielte mit seinem Revolver auf den lodernden Schemen, und Bast schlug ihm die Waffe aus der Hand, sprengte das Scherengitter mit einer einzigen, wütenden Bewegung auf und zerrte ihn einfach mit sich. Abberline schrie irgendetwas, das im Brüllen der Flammen und dem Tosen des Luftstromes einfach unterging, und Bast musste sich nicht herumdrehen, um zu wissen, dass sie es nicht schaffen würden.

Kurz entschlossen packte sie Abberline, warf ihn sich über die Schulter und jagte die Stufen hinauf, so schnell sie nur konnte.

Die Hölle folgte ihnen. Bast überwand das letzte halbe Dutzend Stufen mit einem einzigen, verzweifelten Satz, und etwas, das heißer war als das glühende Herz der Sonne traf ihren Rücken und schleuderte sie zu Boden. Abberline flog davon wie eine Gliederpuppe mit zerrissenen Fäden, und hinter ihr schoss eine brüllende Stichflamme aus dem Treppenschacht, schlug wie eine weiß glühende Kralle nach dem Himmel und erlosch wieder. Eine Welle unerträglicher Hitze strich über sie hinweg und brannte auch noch das letzte bisschen Luft aus ihren Lungen, und sie hörte ein gewaltiges Scheppern und Klirren, als die Fensterscheiben der umliegenden Häuser alle im gleichen Sekundenbruchteil zerplatzten.

Dann senkte sich Stille über sie, so jäh und absolut, dass es fast weh tat. Alles wurde dunkel.

Aber wenn das der Tod war, dann ließ er auf sich warten.

Bast blieb sekundenlang mit klopfendem Herzen und angehaltenem Atem liegen, presste das Gesicht gegen den herrlich kühlen Boden und wartete darauf, dass irgendetwas geschah.

Ihr wurde die Luft knapp, das war alles, und nach einigen weiteren Augenblicken resignierte sie und öffnete die Augen.

Viel hatte sich nicht verändert. Sie war vielleicht nicht tot, aber der Anblick, der sich ihr bot, hatte durchaus etwas vom Vorhof der Hölle. Der Treppenschacht hinter ihr brannte immer noch; keine alles verzehrende Stichflamme mehr, sondern prasselnde gelbe und rote Flammen, die die hölzernen Stufen und das Geländer verzehrten, aber kaum weniger Hitze verströmten. Auch vom Himmel regneten Funken. Sie befand sich auf einem kleinen, von Bäumen umstandenen Platz, und die Stichflamme hatte die Äste der nächstgelegenen Bäume in Brand gesetzt, die nun mit einem nassen Zischen verbrannten. Irgendwo außerhalb ihres Sichtfeldes war ein Poltern und Krachen zu hören, das einfach nicht aufhören wollte, und sie vernahm Schreie und das hastige Trappeln näher kommender Schritte. Der Boden, auf dem sie lag, zitterte leicht.

Wo war Abberline?

Mühsam stemmte sich Bast auf Hände und Knie, verzog das Gesicht, als ein scharfer Schmerz durch ihren Schädel schoss und hielt aus tränenden Augen nach dem Inspektor Ausschau.

Abberline entdeckte sie nicht, aber für den Bruchteil eines Lidschlages glaubte sie einen Schatten wahrzunehmen, der aus dem brennenden Treppenschacht huschte und mit der Nacht verschmolz.

Bast setzte sich auf und presste schmerzhaft die Lippen zusammen. Das Wühlen und Reißen in ihrem Schädel ließ nicht nach, sondern wurde im Gegenteil immer schlimmer. Sie hatte das Gefühl, bei lebendigem Leib skalpiert zu werden. Mit zusammengebissenen Zähnen griff sie nach oben und spürte, wie ihr Turban zu harten Ascheflocken zerbröckelte, als sie ihn berührte. An ihren Fingerspitzen klebte schmierig verklumptes Blut, als sie die Hand zurückzog.

Nun gut, wenigstens war sie so der Sorge ledig, sich morgen früh wieder den Kopf rasieren zu müssen.

Bast verzog die Lippen ob dieses kindischen Gedankens, wischte die Hand an ihrem Mantel ab und stand unsicher auf »Ich weiß nicht, was Sie so amüsant finden, Bast - aber was immer es ist, der Augenblick ist nicht besonders glücklich gewählt. Kommen Sie.«

Abberline, der aussah, als käme er gerade aus dem Kessel einer Dampflokomotive, die versucht hatte, den Stundenweltrekord zu brechen, packte sie grob am Arm und zerrte sie mit sich. Im allerersten Moment versuchte Bast ganz instinktiv, sich zu wehren, aber Abberline entwickelte eine erstaunliche Kraft, und bevor sie wirklich grob werden konnte, gewann ihre Vernunft die Oberhand. Widerstandslos ließ sie sich von ihm weg- und zwischen den Bäumen hindurch zum Rand des Platzes zerren. Menschen kamen ihnen entgegen, die meisten aufgelöst und mit erschrockenen Gesichtern, und irgendetwas schrillte misstönend. Bast war trotz allem noch geistesgegenwärtig genug, dafür zu sorgen, dass niemand von Abberline oder ihr Notiz nahm, aber was sie nicht verhindern konnte, war, dass er sich vermutlich darüber wundern würde.

Noch ein Problem, um das sie sich später kümmern würde.

Abberline schleifte sie so grob hinter sich her wie ein zorniger Sonntagsschullehrer einen seiner Schüler, den er bei einem ganz besonders üblen Streich ertappt hatte - was einigermaßen lächerlich war, da sie anderthalb Köpfe größer war als er -, stieß sie fast grob über die Straße und bugsierte sie kaum weniger unsanft in einen dunklen Torbogen. Er tat es nicht wirklich, aber Bast spürte, dass er sie am liebsten grob gegen die Wand gestoßen und angebrüllt hätte.

»Also gut«, presste er mühsam beherrscht hervor. »Ich will jetzt wissen, was, zum Teufel, hier los ist!«

»Ich kenne mich mit Ihrem Teufel nicht besonders gut aus«, antwortete sie ernst, »aber ich vermute, Sie kommen der Wahrheit damit ziemlich nahe.«

Abberline starrte sie an. Er versuchte zu lachen, aber er brachte nicht einmal den Versuch glaubhaft fertig. Bast konnte ihm ansehen, wie seine Gedanken rasten.

»Das wäre jetzt der Moment, in dem Sie mich verhaften sollten, Inspektor«, sagte sie ruhig. Oder es wenigstens versuchen.

Abberline starrte sie einfach nur weiter an. Er schien ihre Worte gar nicht gehört zu haben. »Warum haben Sie das getan?«, fragte er leise.

Jetzt war es Bast, die ihn nicht verstand. »Was?«

»Ich frage mich nur, auf welcher Seite Sie wirklich stehen«, antwortete Abberline. »Ich hätte den Kerl erwischen können, wenn Sie mir nicht die Waffe aus der Hand geschlagen hätten. Warum haben Sie das getan?«

Bast dachte einige Sekunden lang ernsthaft über diese Frage nach, bevor sie sie - ehrlich - beantwortete: »Ich weiß es nicht.«

Abberline sah ganz so aus, als hätte er genau diese Antwort erwartet; aber auch ein bisschen enttäuscht. Er überlegte angestrengt; zehn Sekunden, zwanzig, schließlich eine halbe Minute.

»Also gut«, sagte er dann. »Gehen Sie. Aber ich verlasse mich darauf, dass Sie in der Pension auf mich warten. Habe ich Ihr Wort?«

Bast starrte ihn jenseits allen Verständnisses an. »Wie?«

»In ein paar Minuten ist hier die Hölle los«, sagte Abberline.

»Also verschwinden Sie, solange ich Sie noch gehen lassen kann, ohne zu viele Fragen beantworten zu müssen.«

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