ZWEITES Kapitel

Es war ein unruhiger Rest der Nacht gewesen, und nicht nur für Bast. Nachdem sich die erste Aufregung gelegt hatte - Mrs Walsh hatte sich nach dem ersten, beinahe hysterischen Ausbruch für den Rest des Abends in beleidigtes Schweigen gehüllt und weder die schwarze Katze noch sie auch nur noch eines einzigen Blickes gewürdigt, woran auch Maistowes bescheidene Versuche, die heruntergerissene Gardinenstange wieder an ihrem Platz zu befestigen und den Schaden irgendwie zu begrenzen, nichts geändert hatten -, hatten sie nur noch eine kurze Weile zusammengesessen und versucht, irgendwelche Belanglosigkeiten auszutauschen, um damit die Peinlichkeit des Moments zu überspielen. Natürlich hatte es nicht funktioniert, und so hatte sich Bast nicht einmal die Zeit genommen, ihren Tee auszutrinken, sondern sich schließlich unter einem Vorwand zurückgezogen.

Natürlich war an Schlaf nicht zu denken gewesen, jedenfalls nicht sofort. Stattdessen war sie, ohne Licht zu machen, ans Fenster des kleinen, nach Osten führenden Zimmers getreten, um es zu öffnen und den Nachthimmel aufmerksam mit Blicken abzusuchen. Sicher eine halbe Stunde, wenn nicht länger, hatte sie einfach so dagestanden und die Unterseiten der bauchigen schwarzen Wolken angestarrt, die so tief über der Stadt hingen, dass man meinte, sie mit den ausgestreckten Armen berühren zu können. Von dem Vogel war keine Spur mehr zu sehen. Natürlich nicht.

Aber Bast war trotzdem nicht nur vollkommen sicher, dass es sich tatsächlich um einen Falken und nicht um eine irregeleitete Möwe oder eine besonders vorwitzige Taube gehandelt hatte, sondern darüber hinaus auch, dass es genau dasselbe große Tier gewesen war, das sich schon am Morgen am Hafen so sonderbar verhalten hatte. Und dass es sich nicht um einen gewöhnlichen Falken handelte, war ihr ebenfalls klar.

Schließlich war die Kälte weit genug ins Zimmer gekrochen, dass sie es nicht mehr aushielt, sondern das Fenster schloss und sich unter die Bettdecke verkroch. Es dauerte lange, bis sie einschlief, und es war alles andere als eine ruhige Nacht. Immer wieder schrak sie hoch, mit einem schlechten Geschmack im Mund, klopfendem Herzen und der verschwommenen Erinnerung an Träume, die etwas ungemein Bedrohliches gehabt hatten, ohne dass sie sich an Einzelheiten erinnern konnte. Vage, hektisch wechselnde Bilder und Gefühle ohne irgendeinen Zusammenhang oder etwas wie eine Handlung, und sei sie noch so absurd. Bilder voller Angst und Flucht, voller Schreie und verlockendem Duft von warmem Blut. Träume von der Jagd. Und sie war ganz offensichtlich nicht die Einzige, der der Schlaf in dieser Nacht keine Erholung brachte. Mehr als einmal hörte sie Geräusche, und ein- oder zweimal auch gedämpfte Stimmen, die unten im Haus murmelten.

Als sie schließlich wieder einmal die Augen aufschlug und feststellte, dass die Schwärze vor dem Fenster allmählich einem wattigen, grauen Zwielicht zu weichen begann, gab sie es auf. Statt weiter um einen Schlaf zu ringen, der nicht kommen wollte und wenn doch, so keinerlei Erquickung brachte, stand sie auf, wusch sich flüchtig mit dem nicht mehr ganz sauberen und längst kalt gewordenen Wasser vom vergangenen Nachmittag und schlüpfte in ihr schwarzes Kleid, bevor sie noch einmal an den Spiegel herantrat und einen kurzen, abschätzenden Blick hineinwarf.

Was sie sah, gefiel ihr nicht. Einem anderen wäre es wohl allein durch die nachtschwarze Farbe ihres Gesichts nicht aufgefallen, aber Bast entgingen keineswegs die dunklen Ringe, die unter ihren Augen lagen, oder der ungesunde Glanz ihrer Haut. Ihre Lippen waren spröde geworden und rissig, und als sie noch einmal und genauer hinsah, stellte sie fest, dass ihre Nasenflügel und Fingerspitzen ganz leicht zitterten. Jeder andere - hätte er es überhaupt bemerkt - hätte diese verräterischen Anzeichen auf die Aufregung des vergangenen Abends und mangelnden Schlaf geschoben, doch Bast wusste es besser. Sie war hungrig. Ihre dunkle Schwester begann zu erwachen und verlangte mit Macht nach Nahrung, und da sie sie ihr vorenthielt, begann sie nun damit, sie selbst zu verzehren. Noch war es nicht wirklich gefährlich, doch Bast fühlte schon wieder jenes düstere Wühlen und Gieren tief in sich. Das Ungeheuer zerrte an seinen Ketten. Die Explosion purer Gewalt vom gestrigen Abend hatte es vielleicht ein wenig besänftigt, doch das würde nicht allzu lange vorhalten. Ihr blieb nicht mehr sehr viel Zeit.

Bast verscheuchte die düsteren Bilder aus ihrem Kopf, bevor sie dem Ungeheuer, das in ihr lauerte, ihrerseits als Nahrung dienen konnten, und wollte sich gerade abwenden, als ihr Blick abermals auf ihrem eigenen Spiegelbild hängenblieb. Sie hatte sich gewaschen, aber anscheinend nicht gründlich genug: An ihrer rechten Hand klebte noch immer Blut. Einige wenige Tropfen nur, die auf ihrer Haut beinahe schwarz eingetrocknet und damit so gut wie unsichtbar waren. Aber so gut wie war nicht genug. Maistowe hatte gestern schon viel zu viel gesehen und begann bereits Verdacht zu schöpfen.

Während sie sich ein zweites Mal und jetzt sehr viel gründlicher die Hände wusch und anschließend den roten Schal vom vergangenen Abend gegen einen nunmehr ebenfalls schwarzen austauschte und ihn zu einem kunstvollen Turban wickelte, kam sie zu einem Entschluss. Neben etlichen anderen war ihr gestern ein ganz besonders schwerer Fehler unterlaufen, den sie aber auf der Stelle wiedergutmachen würde und konnte.

Sie verließ das Zimmer und war kein bisschen überrascht, um ein Haar über eine bernsteinäugige schwarze Katze zu stolpern, die direkt vor der Tür saß und erwartungsvoll zu ihr hochblickte. Wie Bast vermutete, schon die ganze Nacht.

Gegen ihren Willen musste sie lächeln. »Guten Morgen, Kleines«, sagte sie. »Bist du gekommen, um dich bei mir zu beschweren, weil ich nicht auf dich gehört habe?«

Cleopatra maunzte leise, wie um ihre Frage zu bejahen, und Bast fuhr immer noch lächelnd und mit einem angedeuteten Kopfschütteln fort: »Du hast vollkommen recht, weißt du? Ich war dumm. Aber so sind wir nun einmal. Wir hören selten auf das, was man uns sagt. Dabei hast du dir doch wirklich alle Mühe gegeben.«

Die Katze maunzte erneut, und Bast ließ sich für einen Moment in die Hocke sinken, um sie mit den Fingerspitzen zwischen den Ohren zu kraulen. »Hast die ganze Zeit vor meiner Tür gesessen und auf mich aufgepasst, habe ich recht? Und ich Dummkopf habe es nicht einmal gemerkt. Wahrscheinlich hätte ich dich besser hereingelassen. Ich bin sicher, du hättest mich vor diesen hässlichen Träumen beschützt.«

Plötzlich hatte sie das intensive Gefühl, angestarrt zu werden. Bast sah auf und blickte direkt in Mrs Walshs Gesicht, die die Treppe heraufgekommen und so stehen geblieben war, dass sie nun ihrerseits zu ihr heraufblicken musste. Sie sah überrascht aus, und das nicht unbedingt auf angenehme Weise. Ihr Blick irrte beständig zwischen ihr und der Katze hin und her, und Bast konnte regelrecht sehen, wie es hinter ihrer Stirn zu arbeiten begann. Natürlich hatte sie gehört, dass sie mit der Katze gesprochen hatte. Nicht was - Bast begriff erst im Nachhinein, dass sie ganz automatisch zu ihrer Muttersprache gewechselt war -, aber die Tatsache allein, dass sie sich mit einer Katze unterhielt, schien ihr doch einigermaßen seltsam vorzukommen.

Bast erhob sich mit einer fließenden Bewegung, und Cleopatra sah fast erschrocken zu Mrs Walsh zurück und huschte dann schuldbewusst davon.

»Ich ... verzeihen Sie«, sagte Mrs Walsh. Plötzlich wirkte sie verlegen. »Ich habe Geräusche gehört und nahm an, dass Sie wach sind. Ich wollte Sie nicht stören.«

»Das haben Sie nicht«, versicherte Bast rasch. »Im Gegenteil. Ich wollte ohnehin mit Ihnen reden.«

»Das trifft sich gut«, antwortete die Zimmerwirtin. Sie hatte ihre Fassung mittlerweile vollends zurückgewonnen, kam weitere zwei oder drei Stufen weit die Treppe herauf und lächelte plötzlich wieder. »Ich habe Tee gemacht und mich gefragt, ob Sie vielleicht Lust haben, mir bei einer Tasse Gesellschaft zu leisten.«

»Gern«, antwortete Bast, »aber es gibt da ...«

»... etwas zu bereden, das sagten Sie bereits«, fiel ihr Mrs Walsh ins Wort. »Aber lässt sich das nicht viel besser bei einer guten Tasse Tee bewerkstelligen?«

Bast resignierte innerlich. Sie musste hier weg, und das schneller und aus weitaus gewichtigeren Gründen, als Mrs Walsh auch nur ahnen konnte, aber die alte Dame hatte etwas an sich, wogegen sie nicht ankam, wollte sie nicht unhöflich oder gar verletzend werden - und das war etwas, was sie noch viel weniger wollte. Also nickte sie nur, und Mrs Walsh machte auf der Stufe kehrt und ging die Treppe wieder hinunter.

Aus irgendeinem Grund hatte sie fest damit gerechnet, Kapitän Maistowe im gleichen Stuhl wie am vergangenen Abend sitzend anzutreffen, als hätte er sich in all den Stunden dazwischen überhaupt nicht von der Stelle gerührt. Aber er war nicht da. Im Kamin flackerte bereits wieder ein Feuer, das behagliche Wärme und den Duft von brennendem Buchenholz verbreitete, und zumindest auf den ersten Blick waren alle Spuren der kleinen Katastrophe vom vergangenen Abend verschwunden: Der Tisch war ordentlich abgeräumt, das zerbrochene Geschirr verschwunden, und selbst die heruntergerissene Gardine hing wieder so ordentlich an ihrem Platz, als wäre gar nichts geschehen. Wie es aussah, hatte auch Mrs Walsh nur eine sehr kurze Nacht hinter sich.

Bast ließ sich auf einen der beiden freien Stühle am Tisch sinken und erwartete, dass Mrs Walsh es ihr gleichtat, doch sie ging mit raschen Schritten an ihr vorbei und öffnete die Haustür. Ein Schwall fühlbarer, nach Nebel riechender Kälte wehte zu ihnen herein, und Bast hörte, wie sie einige Sätze mit jemandem draußen vor der Tür wechselte, machte sich aber nicht die Mühe, die Worte zu verstehen. Es verging auch nur noch ein Augenblick, bis Mrs Walsh sich zu ihr gesellte und Platz nahm.

»Ich hoffe, Sie hatten trotz allem einen einigermaßen erholsamen Schlaf«, begann sie, während sie zuerst ihr und dann sich selbst Tee einschenkte. »Hätte ich gewusst, dass Sie so früh aufstehen, hätte ich selbstverständlich schon ein Frühstück für Sie vorbereitet.«

»Das ist völlig in Ordnung«, antwortete Bast. »Ich pflege auch zu Hause niemals zu frühstücken.«

Es war nicht wirklich früh, wie ihr ein kurzer Blick auf die große Standuhr in der Ecke klarmachte. Im Haus herrschte noch immer Dunkelheit und die ganz besondere Stille, wie sie für die kurzen Augenblicke unmittelbar vor dem Erwachen des Tages typisch sind. Die Dämmerung war hereingebrochen, hatte aber die Festung dieses Hauses, hinter deren Mauern sich die Nacht zurückgezogen hatte, noch nicht ganz erobert; immerhin neigte sich das Jahr allmählich seinem Ende entgegen, und die Tage endeten früh und begannen dafür umso später.

Sie beließ es bei einem Schulterzucken und einem angedeuteten Lächeln und rettete sich darüber hinaus, indem sie einen Schluck Tee trank und den Genuss mehr als nötig in die Länge zog. Der Tee war köstlich und heiß und entschädigt sie ein bisschen für die unruhige Nacht, die hinter ihr lag. Aber schließlich stellte sie die Tasse ab und sah Mrs Walsh an.

»Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen«, begann sie. »Es tut mir aufrichtig leid, dass ich Ihnen solche Umstände bereitet habe.«

»Aber ich bitte Sie!«, sagte diese kopfschüttelnd. »Das war schließlich nicht Ihre Schuld!«

»Das mag sein«, antwortete Bast, »aber es war trotzdem falsch von mir, überhaupt hierherzukommen und Sie einem unnötigen Risiko auszusetzen.« Sie unterstrich ihre Worte mit einem bekräftigenden Kopfschütteln, als Mrs Walsh dazu ansetzte, zu widersprechen. »Sie haben mich freundlich aufgenommen, obwohl ich eine vollkommen Fremde für Sie bin, über die Sie rein gar nichts wissen, und ich habe es Ihnen gedankt, indem ich den Kapitän und Sie in Gefahr gebracht habe. Das ist unverzeihlich.«

Mrs Walsh setzte abermals zu einem Widerspruch an, und Bast machte eine abwehrende Handbewegung und schüttelte noch einmal und noch entschiedener den Kopf. »Ich fürchte, ich werde mir eine andere Unterkunft suchen müssen.«

Sie wusste selbst nicht genau, mit welcher Reaktion sie gerechnet hatte, doch Mrs Walsh wirkte allerhöchstens ein bisschen entrüstet.

»Hätten Sie mir gestern schon gesagt, worum es geht, dann hätte ich Sie warnen können, meine Liebe. Das East End ist ein übler Ort. Keine Gegend für eine Frau. Ich hätte Sie warnen müssen. In der Tat mache ich mir Vorwürfe, es nicht getan zu haben.«

»Das müssen Sie wirklich nicht«, sagte Bast, aber Mrs Walsh nahm ihre Antwort nicht einmal zur Kenntnis.

»Es war keineswegs ein Zufall, dass Kapitän Maistowe Ihnen gestern gefolgt ist«, fuhr sie fort. »Nachdem er die Adresse gehört hatte, die auf Ihrem Zettel stand, hatte er Angst, dass Sie in Schwierigkeiten geraten könnten.« Sie zögerte einen - Bast war sicher, genau bemessenen - Moment, bevor sie in verändertem Ton hinzufügte: »Whitechapel ist eine Lasterhöhle, und Gottes Strafe wird alle treffen, die sich gegen seine Gebote versündigen.«

Bast nippte an ihrem Tee. Er schien plötzlich nicht mehr ganz so gut zu schmecken wie noch gerade. Immer wenn Mrs Walsh das Gespräch auf Religion brachte, war ihr irgendwie unwohl zumute. Sie schwieg.

»Hätten Sie gleich gesagt, worum es geht, dann wäre es vermutlich nicht einmal zu diesem hässlichen Zwischenfall gestern Abend gekommen. Jacob Maistowe verfügt über ausgezeichnete Verbindungen zu den Behörden. Wenn Sie es wünschen, kann er Ihnen dabei behilflich sein, den Aufenthaltsort Ihrer Schwester zu ermitteln.«

Bast ertappte sich dabei, einen Moment lang ernsthaft über dieses Angebot nachzudenken. Sie konnte sich immer noch nicht wirklich erklären, warum Isis sich vor ihr verstecken sollte, aber wenn es jemanden gab, der ihr ganz gewiss nicht helfen konnte, sie zu finden, dann waren es die Behörden. »Wie gesagt ...«, begann sie.

»Ja, ich verstehe«, seufzte Mrs Walsh. »Bitte verzeihen Sie. Ich wollte nicht aufdringlich erscheinen. Aber ich habe gehört, dass bei Ihnen im Orient die Gesetze der Gastfreundschaft heilig sind. Ob Sie es glauben oder nicht, das gilt auch hier - jedenfalls in dieser Pension!«

Bast konnte nur hoffen, dass sie sich weit genug in der Gewalt hatte, damit Mrs Walsh ihr ihre wahren Gefühle nicht ansah. Sie war nichts anderes als aufdringlich; zugleich aber schien sie es auf ihre Art gut mit ihr zu meinen. Beinahe schon ein bisschen zu hastig griff Bast nach ihrer Teetasse, um sich erneut dahinter zu verkriechen. Mrs Walsh sah sie unverwandt weiter an, und zumindest in diesem Moment war Bast vollkommen sicher, dass sie ihre Gedanken ebenso mühelos erriet, wie sie selbst normalerweise die ihres Gegenübers.

Gerade, als der Moment wirklich peinlich zu werden drohte, hörte sie das Tappen weicher Pfoten, und als sie sich herumdrehte, gewahrte sie Cleopatra, die mit wiegenden Schritten die Treppe herunter- und direkt auf sie zukam. Mrs Walsh sah die Katze schon wieder missbilligend an, und Cleopatra blieb mitten im Schritt stehen, beäugte ihre Herrin aus misstrauisch zusammengekniffenen Augen, drehte plötzlich den Kopf und fauchte das Fenster an, vor dem sie in der vergangenen Nacht den Vogel gesehen hatten.

»Keine Sorge«, sagte Bast. »Er ist fort. Und du hast ihm einen solchen Schrecken eingejagt, dass er auch ganz bestimmt nicht wiederkommt.«

Die Katze fauchte noch einmal, warf Bast einen langen, irgendwie entrüstet wirkenden Blick zu und drehte sich dann auf der Stelle herum, um auf dem gleichen Weg, aber viel schneller, zu verschwinden, auf dem sie gerade aufgetaucht war.

Bast sah ihr kopfschüttelnd nach, wandte sich dann langsam wieder zu Mrs Walsh um - und gestand sich selbst sein, schon wieder einen Fehler gemacht zu haben. Mrs Walsh lächelte, aber sie tat es ganz eindeutig nur, um sich ihre Verblüffung nicht allzu deutlich anmerken zu lassen.

»Verzeihen Sie, Mrs Walsh«, sagte Bast. »Ich vergesse immer, dass Sie es nicht mögen, wenn sie hier im Haus ist.«

»Das ist ganz und gar erstaunlich«, murmelte Mrs Walsh. Sie sah nachdenklich in die Richtung, in die die Katze verschwunden war, brachte aber irgendwie das Kunststück fertig, Bast dabei keinen Sekundenbruchteil aus den Augen zu lassen. »Wenn man sieht, wie gut Sie sich mit ihr verstehen, dann könnte man fast glauben, Sie wären es wirklich.«

»Wirklich?«, wiederholte Bast. Erschrocken. »Wer?«

»Bastet«, antwortete Mrs Walsh.

»Bastet?« Bast gab sich gar nicht mehr die Mühe, ihre Überraschung zu verhehlen. Es wäre ohnehin sinnlos gewesen.

»Der Name der Katzengöttin im alten Ägypten«, erklärte Mrs Walsh. »Ich nehme doch an, Ihr Name ist davon abgeleitet?« Plötzlich klang sie nicht nur ein ganz kleines bisschen triumphierend, sie sah auch so aus.

Bast nahm es als ein weiteres Anzeichen für den schlechten Zustand, in dem sie sich nun schon seit Tagen befand, dass sie für einen Moment beinahe in Panik geriet. Es war ganz und gar unmöglich, dass Mrs Walsh ...

Sie brach den Gedanken mit einer bewussten Anstrengung ab und erteilte sich selbst eine scharfe Rüge. Natürlich wusste sie von nichts - wie auch? »Sie überraschen mich«, antwortete sie. »Ich hätte nicht gedacht, dass Ihnen dieser Name geläufig ist.«

»Weil ich nur eine dumme alte Engländerin bin?«, meinte Mrs Walsh. Sie klang nicht verstimmt.

»Weil ich, ehrlich gesagt, nicht erwartet habe, dass überhaupt jemand in diesem Teil der Welt etwas über die Geschichte meiner Heimat weiß, oder gar über seine Götter. Diese Geschichten sind sehr alt.« Sie ließ ihr Lächeln ganz bewusst eine Spur wärmer werden und verlieh ihren Worten zugleich auf anderem Wege etwas mehr Glaubwürdigkeit. Nicht zu viel, aber doch gerade genug, um die Saat, die Mrs Walsh selbst gelegt hatte, aufgehen zu lassen. »Tatsächlich ist mein voller Name Bastet.«

»Warum benutzen Sie ihn dann nicht?«, fragte Mrs Walsh. »Es ist ein sehr schöner Name, finde ich.«

»Solange ich in meinem Heimatland bleibe und nicht mit Ausländern spreche, die sich in der ägyptischen Geschichte auskennen«, meinte Bast mit einem schiefen Lächeln. »Manchmal ist es ein wenig peinlich, mit dem Namen einer Göttin herumzulaufen.«

Mrs Walsh griff nach ihrer Tasse, stellte fest, dass sie leer war, und schenkte sich nach. Fragend hielt sie Bast die Kanne hin, doch diese antwortete nur mit einem stummen Kopfschütteln. Der Tee war köstlich, aber sie war schon viel zu lange hier. Sie musste auf jeden Fall fort sein, bevor Maistowe auftauchte.

»Diese Bescheidenheit ehrt Sie, mein Kind«, fuhr Mrs Walsh fort, »und Sie haben anscheinend keine Ahnung, wie viele Menschen hierzulande Maria heißen - oder mitunter gar Jesus.«

Bast lachte. »Dafür hatte ich das zweifelhafte Vergnügen, eine Woche lang die Gesellschaft einiger Seeleute zu genießen, deren Sprache leider nicht ganz so geschliffen war wie die Ihre, Mrs Walsh«, antwortete sie. »Irgendwie hat es mir nicht gefallen, wie Sie das Wort Bastet ausgesprochen haben.« Als sie ihren wirklichen Namen benutzte - wobei sie sich im Stillen zum hundertsten Male verfluchte, nicht unter irgendeinem anderen, vollkommen unverfänglichen und am besten für europäische Zungen unaussprechlichen Namen gereist zu sein -, verlieh sie ihrer Stimme einen ganz bewusst breiten, schon ein bisschen ordinären Akzent, sodass sich das Wort ganz eindeutig wie Bastard anhörte. Mrs Walsh blickte schockiert, lachte dann aber mit.

»Wahrscheinlich haben Sie recht«, gestand sie. »Sowohl was ihren Namen angeht als auch die mangelnde Bildung allzu vieler meiner Landsleute. Aber mit ein wenig Glück wird sich genau das bald ändern, zumindest hier in London.«

»Wieso?«, fragte Bast, wenn auch eigentlich nur aus Gewohnheit und um überhaupt etwas zu sagen. Den allergrößten Teil ihrer Konzentration verwandte sie im Moment darauf, irgendeine glaubhafte Ausrede zu ersinnen, die es ihr ermöglichte, von hier zu verschwinden, ohne Mrs Walsh allzu deutlich vor den Kopf zu stoßen.

»Sagen Sie nur, Sie haben noch nicht davon gehört«, antwortete Mrs Walsh überrascht.

»Nein«, antwortete Bast. »Ähm ... wovon?«

»Von der Ausstellung«, antwortete Mrs Walsh. »Es gibt seit sechs Monaten eine Ausstellung ägyptischer Kunstschätze im Britischen Museum, hier in London. Am Anfang war sie nur für wenige Wochen geplant, aber sie war so erfolgreich, dass man sie verlängert hat, und inzwischen überlegt die Museumsleitung sogar, sie zu einer dauerhaften Einrichtung zu machen. Ich war der Meinung, dass man selbst in Kairo davon gehört hätte.«

Das Einzige, wovon Bast gehört hatte, war, dass das britische Empire - und dies nicht erst seit sechs Monaten - alles in seiner Macht Stehende tat, um die Kunstschätze ihres Landes zu rauben. Sie schüttelte nur den Kopf.

»Das ist ein Fehler«, sagte Mrs Walsh. »Sie sollten sich diese Ausstellung auf gar keinen Fall entgehen lassen. Ich selbst war bereits zweimal dort und habe nicht einmal die Hälfte von allem gesehen, was es zu bestaunen gibt. Und dabei vergeht keine Woche, in der nicht neue Stücke hinzukommen.« Sie machte ein nachdenkliches Gesicht, und Bast musste nicht einmal hinter diese Maske schauen, um zu wissen, dass ihr Einfall alles andere als spontan war, sondern sie das Gespräch so oder so auf das Thema gebracht hätte. »Ich frage mich, ob Sie mit Ihrer Suche nicht dort anfangen sollten.«

»Im Museum? Warum?«

»Warum nicht?«, erwiderte Mrs Walsh. »Einen Versuch wäre es wert, meinen Sie nicht auch?« Sie winkte ab, als Bast widersprechen wollte. »Jacob ist in irgendwelchen Geschäften unterwegs und wird erst am späten Nachmittag zurückkehren, aber er hat mir fest versprochen, schon einmal gewisse Erkundigungen einzuziehen, was Ihre Freundin angeht.« Ihr Lächeln änderte sich, wurde eine Spur nachsichtiger. »Geben Sie ihm eine Chance, und sei es nur, um seine Ehre nicht zu verletzen.«

Bast antwortete nicht sofort darauf. Mrs Walshs Pläne gefielen ihr ganz und gar nicht, erschreckten sie sogar ein bisschen, aber sie sagte sich auch, dass es ohnehin zu spät war, um Maistowe jetzt noch von irgendetwas abhalten zu wollen. Wahrscheinlich würde er ohnehin nichts herausfinden. Wenn es ihr nicht gelang, Isis zu finden, was sollte da ein Mann wie Jacob Maistowe ausrichten?

»Ich verstehe nicht so ganz ...«, begann sie, nur um von Mrs Walsh sofort unterbrochen zu werden.

»... wie Ihnen diese Ausstellung helfen soll, Ihre Freundin zu finden?«

Bast nickte.

»Möglicherweise gar nicht«, gestand Mrs Walsh. »Aber auf der anderen Seite ... wer weiß? Wenn Ihre Freundin Ägypterin ist wie Sie, dürfte diese Ausstellung zweifellos ihr Interesse gefunden haben. Sechs Monate sind eine lange Zeit. Es wäre immerhin möglich, dass sie schon dort gewesen ist, und vielleicht erinnert man sich ja an sie.«

»Wenn sie auch nur halb so auffällig ist wie ich, meinen Sie?«, vermutete Bast.

Mrs Walsh wirkte ein bisschen verlegen. Bast bedauerte ihre eigenen Worte auch schon beinahe wieder, gestand sich zugleich aber auch ein, dass Mrs Walsh möglicherweise recht hatte. Isis war wohl nicht so auffällig wie sie; sie war weder schwarz noch von so außergewöhnlicher Größe. Doch wer immer sie sah, hätte schon blind sein müssen, damit sie als durchschnittliche Engländerin durchging - oder auch überhaupt als durchschnittlich.

»Ich mache Ihnen einen Vorschlag«, fuhr Mrs Walsh fort, die ihr Schweigen offensichtlich als Zustimmung auslegte oder doch zumindest als das Zögern, das es bedeutete. »Und ich werde ein Nein nicht akzeptieren. Das sind Sie mir schuldig, nach all der Aufregung, die Sie in meinen friedlichen Tagesablauf gebracht haben.« Sie knibbelte ihr verschwörerisch zu. »Wenn Sie wirklich darauf bestehen, in ein anderes Hotel zu ziehen, dann akzeptiere ich das und werde nicht versuchen, Sie von irgendetwas zu überzeugen, das Sie nicht wollen. Aber warten Sie wenigstens ab, bis Jacob zurück ist, und hören sich an, was er herausgefunden hat - oder auch nicht. Und machen Sie einer alten Frau die Freude und begleiten mich ins Museum. Wir fragen dort nach Ihrer Freundin. Selbst wenn man sie dort nicht kennt, verspreche ich Ihnen ein ganz erstaunliches Erlebnis.«

Bast war regelrecht entsetzt. Sie würde Gloria Walsh ganz bestimmt nicht mit dorthin nehmen, und noch viel weniger würde sie warten, bis Maistowe zurück war und ihr die Ergebnisse seines kleinen Detektivspieles präsentierte. Sie musste verschwinden. Jetzt.

Und hörte sich zu ihrer eigenen Überraschung antworten: »Nun ja, wahrscheinlich haben Sie recht. Ein weiterer Tag macht sicherlich keinen Unterschied mehr.«

Sie fragte sich selbst, warum sie nicht den Mund gehalten hatte.



Diese Frage stellte sie sich eine Stunde später noch immer, ohne eine Antwort darauf gefunden zu haben oder sich auch nur weniger über ihre eigene Reaktion zu wundern, die so ganz und gar nicht typisch für sie war, als sie zusammen mit Mrs Walsh aus der Kutsche stieg und schaudernd den Mantel enger die Schultern zusammenzog. Sie war nicht einmal ganz sicher, ob dieses Frösteln nur an der äußeren Kälte lag oder ob sie vielleicht der Anblick, der sich ihnen bot, so sehr irritierte, dass ihr ein kalter Schauer über den Rücken lief.

Sah man davon ab, dass der wolkenlose und strahlend blaue Himmel ein Versprechen auf eine Wärme und Trockenheit abgab, das er nicht halten konnte, dass die Menschen, die sie umgaben, anders gekleidet und lauter waren und sich in einer Sprache unterhielten, die ihre an den melodischen Klang anderer Sprachen gewöhnten Ohren beleidigte, und dass diese Stadt in ihrer Gänze entsetzlich stank, so erweckte der Anblick des am oberen Ende einer gewaltigen Freitreppe liegenden kolossalen Baues seltsam vertraute Erinnerungen in ihr, stieß sie zugleich aber auch geradezu ab. Sie hatte durchaus etwas Großes erwartet, als Mrs Walsh von einem Museum gesprochen hatte, vielleicht etwas wie das ägyptische Museum in Kairo - in dem sie, unbeschadet von allem, was sie Mrs Walsh gegenüber behauptet hatte, schon unzählige Male gewesen war -, doch der von kolossalen Säulenreihen flankierte Eingang der nicht minder gewaltigen Museumshalle hatte sie im allerersten Moment regelrecht schockiert. Jeder der Pfeiler war dicker als die stützenden Säulen, die das Dach des Horustempels in Theben getragen hatten, und hoch wie der Mast des Schiffes, doch im Gegensatz zu diesen dienten sie nicht wirklich dem Zweck, den gewaltigen dreieckigen Giebel zu stützen oder gar ein Dach zu tragen, sondern einzig und allein ihrer eigenen Größe. Der riesige zweiflügelige Eingang dahinter unterstrich diesen Eindruck noch; denn nicht einmal zu Zeiten, als tatsächlich Riesen über die Erde gewandelt waren, wäre eine Tür dieser Größe zu irgendeinem vorstellbaren Zweck notwendig gewesen - außer ebenjenem, dem dieses ganze Gebäude diente: demjenigen, der davorstand und es betrachtete, seine eigene Winzigkeit und Bedeutungslosigkeit vor Augen zu führen.

»Was haben Sie, meine Liebe?«

Mrs Walshs Stimme drang ebenso hart und unmelodisch an ihr Ohr wie die Gesprächsfetzen und einzelnen Worte der Menge ringsum, und doch war Bast ihr beinahe dankbar, brachte sie diese Frage doch nicht nur in die Wirklichkeit zurück, sondern zerstörte auch den unguten Zauber des Augenblicks, in dessen Fäden sie sich mehr und mehr zu verstricken gedroht hatte. Bast nahm es als neuerliche Warnung, ihren momentanen Zustand der Schwäche nicht zu unterschätzen und endlich etwas dagegen zu unternehmen. Zu ihrer eigenen gelinden Überraschung war der Hunger tief in ihrer Seele nicht mehr ganz so schlimm, seit sie an diesem Morgen erwacht war, aber er war da, keineswegs erloschen und nicht einmal wirklich schlafend, sondern nur lautlos und geduldig auf der Lauer liegend wie eine sandfarbene große Schlange in ihrem Versteck, die vollkommen mit ihrer Umgebung verschmolzen war und nur auf einen Moment der Unaufmerksamkeit wartete, um hervorzuschnellen und ihr Opfer zu verschlingen.

Es wäre nicht das erste Mal, dass sie so etwas erlebte.

»Miss Bast?«, fragte Mrs Walsh. Sie lächelte unerschütterlich weiter, wie sie es nahezu immer tat, aber sie klang zugleich auch eindeutig besorgt, und Bast rief sich in Gedanken ein zweites Mal und noch schärfer zur Ordnung.

»Es ist ... nichts«, antwortete sie, ein bisschen hastig und mit einem Lächeln, das ebenso wenig überzeugte wie ihre Worte. »Ich war nur ... überrascht, das ist alles.«

Mrs Walsh ließ sie im Unklaren darüber, was sie von dieser Antwort hielt, und wandte sich stattdessen wortlos ab, um den Kutscher zu bezahlen. Sie hatte schon im Vorhinein darauf bestanden, sowohl die Fahrt hierher als auch das Eintrittsgeld für sie beide zu übernehmen, und Bast hatte nicht dagegen protestiert - obwohl sie längst erkannt hatte, dass nicht alles von dem stimmte, was Mrs Walsh über ihre wirtschaftliche Lage und den Zweck ihrer Pension erzählt hatte. Möglicherweise betrachtete sie es tatsächlich als ihre Aufgabe und auch eine Art von Zeitvertreib, die winzige Frühstückspension zu leiten und sich um das Wohl ihrer Gäste zu kümmern, aber wenn, dann war es ein Zeitvertreib, den sie zugleich bitter nötig hatte. Aus einem Grund, den herauszufinden Bast sich nicht die Mühe gemacht hatte und der sie auch nichts anging, lief ihre Pension schon seit langem nicht so gut. Streng genommen war ihr grauhaariger Dauergast zugleich auch beinahe ihr einziger Gast, sah man von den gelegentlichen Besuchern ab, die er manchmal von seinen Reisen anschleppte und mehr oder weniger trickreich dazu brachte, dass sie sich für ein paar Tage bei Mrs Walsh einmieteten. Die wenigen Pennys für die Kutsche und die vermutlich noch geringere Summe, die die beiden Billetts kosten würden, würden dafür sorgen, dass sich auch Mrs Walshs eigener Speiseplan in den nächsten Tagen tatsächlich auf das Frühstück beschränken musste. Bast nahm sich vor, Mrs Walsh bei ihrem Auszug mehr als großzügig zu entschädigen, ahnte zugleich aber auch schon, dass sie sich damit eine nicht unbedingt leichte Aufgabe gestellt hatte.

»Ja, ich kann mir vorstellen, dass Sie überrascht sind«, knüpfte Mrs Walsh an das unterbrochene Gespräch an, nachdem sie den Fahrer bezahlt und Bast wie eine gestrenge Mutter am Arm ergriffen und ein Stück weit zurückgezogen hatte, damit sie den losrollenden Rädern des Fuhrwerkes nicht zu nahe kam, »und auch, dass Sie beeindruckt sind.«

Bast sah sie ebenso fragend wie verständnislos an.

»Dieses Gebäude ist großartig, nicht wahr? Sie müssen sich vorkommen wie in Ihrer Heimat. Sieht es nicht ganz aus wie ein ägyptischer Tempel?«

Eher wie ein griechischer, dachte Bast. Oder ein römischer. Oder nichts von alledem. Im Grunde war es ein heilloses Konglomerat der unterschiedlichsten Baustile und -richtungen. Der Architekt, der dieses Stein gewordene Monstrum ersonnen hatte, hatte zweifellos in bester Absicht gehandelt und versucht, die monumentalen Bauten der Vergangenheit nachzuempfinden, und ebenso zweifellos erreichte dieses Gebäude bei den meisten Betrachtern die beabsichtigte Wirkung. Für sie jedoch war es nichts als ein unzulänglicher Versuch, etwas nachzuahmen, das Menschen auch früher schon nicht zu erschaffen imstande gewesen waren. Wie konnten sich Sterbliche einbilden, etwas zu schaffen, das nur vordergründig aus Stein und Holz und anderen, vergänglichen Materialien bestand und doch im Grunde nichts anderes war als Stein gewordene Zeit?

»Es ist ... erstaunlich«, sagte sie noch einmal.

»Dann warten Sie erst einmal ab, bis Sie sein Inneres sehen«, sagte Mrs Walsh stolz. »Die größten Kunstschätze der Welt sind hier versammelt. Und das ist noch lange nicht alles.«

Bast hatte sowohl eine vage Vorstellung, was sie hinter den altehrwürdigen Mauern dieses Gebäudes erwartete, als auch eine noch sehr viel konkretere davon, ob sie alles das wirklich sehen wollte oder nicht. Aber Mrs Walsh war nicht mehr zu bremsen. Vielleicht nur, um ihr einen Gefallen zu tun und das noch immer anhaltende, beharrliche Flüstern und Locken tief unter ihren Gedanken zum Verstummen zu bringen, fragte Bast mit gespieltem Interesse: »Was denn, meine Liebe?«

»Oh, alles einfach«, antwortete Mrs Walsh. Ihr Erstaunen war ganz eindeutig nicht gespielt. »London.«

»London?«

Sie begannen nebeneinander die breite Freitreppe hinaufzugehen, deren Stufen gerade eine Winzigkeit zu hoch - und entschieden zu breit - waren, um sie wirklich bequem überwinden zu können. Außerdem stimmte etwas mit dem Winkel nicht. Selbst Bast mit ihrer außergewöhnlichen Größe musste beständig den Kopf in den Nacken legen, um das Gebäude in seiner Gänze ansehen zu können, was zumindest in ihrem Fall allerdings nicht dazu führte, dass sie sich irgendwie klein oder gar unbedeutend vorkam, sondern einfach nur genervt. Es war unbequem.

»London«, bestätigte Mrs Walsh. »Sie müssen einen ganz schrecklichen ersten Eindruck von unserem Land und dieser Stadt bekommen haben, aber London ist nicht nur so. Es hat auch schöne Seiten, und es leben eine Menge ganz wunderbare Menschen hier. Und glauben Sie mir, Gott schaut auf London.«

Bast hütete sich, irgendetwas darauf zu erwidern, denn dann wäre Mrs Walsh vermutlich erst richtig in Fahrt gekommen und hätte aus dem Museumsbesuch möglicherweise eine komplette Stadtrundfahrt samt einer Besichtigung der Tower Bridge und der Kronjuwelen gemacht. Sie fragte sich immer noch, was sie eigentlich hier tat.

Bast hob den Blick, um das gewaltige Giebelfeld über dem Eingang noch einmal aus der Nähe in Augenschein zu nehmen und hatte die Antwort auf ihre Frage.

Ein in Stein gehauenes Basrelief zeigte in einem Stil, der den griechischen Tempeln der Antike nachempfunden war, eine Ansammlung von allegorischen Gestalten oder Göttern, die es in dieser Form niemals gegeben hatte, doch Bast musste - beinahe gegen ihren Willen - zugeben, dass sich der Künstler wirklich angestrengt hatte und allein die Größe der Figuren selbst auf sie nicht ohne Wirkung blieb. Oder hätte es zugeben müssen, hätte sie die gemeißelten Figuren länger als auch nur einen Sekundenbruchteil angesehen.

Stattdessen starrte sie den Falken an, der auf der Spitze des gewaltigen steinernen Dreiecks hockte und mit kalt glitzernden Augen auf sie herabblickte.

Bast erstarrte mitten in der Bewegung, und das so abrupt, dass Mrs Walsh es im ersten Augenblick nicht einmal bemerkte, sondern zwei Schritte weiter war, bevor auch sie innehielt, sich irritiert herumdrehte und sie gleichermaßen fragend wie ein ganz kleines bisschen beunruhigt ansah. »Was haben Sie?«, begann sie, folgt dann ihrem Blick und sah nun ihrerseits den schwarzen Vogel zwei oder drei endlose, schwere Herzschläge lang an, bevor sie sich von seinem Anblick losriss und abermals zu Bast herumdrehte.

»Es ist nur ein Vogel«, sagte sie, zweifellos aus keiner anderen Absicht heraus, als sie zu beruhigen. Ihre Worte erreichten das Gegenteil. Es war nicht nur ein Vogel.

»Das ist ein Falke«, hauchte Bast.

Mrs Walsh wirkte nun vollends irritiert, und etwas musste in Basts Stimme gewesen sein, das sie erschreckte. Sie sah kurz zu dem Vogel hinauf, der reglos, als wäre auch er nur eine aus Stein gemeißelte Statue, die das Dach des gewaltigen Bauwerks krönte, dort oben hockte und sie aus seinen gnadenlosen Augen taxierte. »Sie ... haben scharfe Augen, mein Kind«, sagte sie. »Es ist ein Falke. Ungewöhnlich. Aber so ungewöhnlich nun wieder nicht.«

Bast sagte nichts dazu. Sie konnte es nicht. Der Blick des schwarzen Riesenvogels lähmte sie wie die hypnotische Bewegung der Kobra das Kaninchen. Etwas ging von ihm aus, das nicht nur ihren Körper in vollkommene Starre versetzte, sondern auch ihre Gedanken - und etwas, das älter und mächtiger war. Das Ungeheuer in ihr schrie auf und zog sich fast panisch in sein Versteck zurück, so tief in ihr, dass nicht einmal mehr sie selbst seine Anwesenheit spürte, und ihre Hände begannen ganz leicht zu zittern. Sie fühlte es, konnte aber nichts dagegen tun.

»Es gibt eine Menge Falken in London«, fuhr Mrs Walsh fort. Ihre Stimme klang nervös, und ihre Worte erreichten auch jetzt wieder das Gegenteil dessen, was sie beabsichtigt hatte. »Und auch andere Raubvögel. Bussarde, Habichte ...« Sie lachte leise und unecht. »Dann und wann verirrt sich sogar ein Adler hierher, obwohl es sie doch angeblich schon lange nicht mehr in freier Wildbahn gibt. Was erschreckt Sie so an diesem Tier?« Sie lachte noch einmal, lauter und hörbar nervöser jetzt. »Sie sind vollkommen harmlos. Manchmal schlagen sie eine Taube oder eine unvorsichtige junge Katze ...« Sie legte den Kopf auf die Seite und versuchte ohne großen Erfolg, ein spöttisches Lächeln auf ihr Gesicht zu zwingen. »Aber Sie sind vor ihm sicher, trotz Ihres Namens, meine Liebe.«

Wenn du wüsstest, dachte Bast. Aber Mrs Walshs Worte, so falsch sie auch gewesen sein mochten, erreichten dennoch etwas, was all ihrer verzweifelten Anstrengung nicht gelungen war: Der Bann fiel von ihr ab, und sie konnte wieder halbwegs klar denken.

Bast blinzelte, und als sie die Augen wieder öffnete, war der Vogel verschwunden.

»Verzeihen Sie«, brachte sie irgendwie hervor. »Ich war nur ... ein wenig erschrocken. Wahrscheinlich sitzen mir die Anstrengungen der Reise doch noch mehr in den Knochen, als ich zugeben möchte«, meinte Bast lahm und aus dem vollkommen grundlosen Bedürfnis heraus, sich verteidigen zu wollen.

»Sie sind sehr tapfer, mein Kind«, erwiderte Mrs Walsh, »aber zuzugeben, dass man Angst hat, ist kein Zeichen von Schwäche. Wobei ich nicht glaube, dass Sie wirklich Angst haben können.«

Bast sah sie nur fragend und irritiert an.

»Jacob hat mir erzählt, was gestern Abend passiert ist«, fuhr Mrs Walsh fort. Sie schüttelte den Kopf, wie um einen Widerspruch im Keim zu ersticken, zu dem Bast gar nicht angesetzt hatte. »Es ist ihm nicht leichtgefallen, glauben Sie mir, meine Liebe. Schließlich ist er ein Mann.«

»Was ist ihm nicht leichtgefallen?«

»Zuzugeben, dass Sie es waren, die ihn gerettet hatte, und nicht umgekehrt«, antwortete Mrs Walsh. Das Lächeln verschwand von ihrem Gesicht. »Sie sind nicht das, was Sie zu sein vorgeben, meine Liebe. Aber keine Sorge - ich werde Sie nicht mit neugierigen Fragen belästigen. Warum auch immer Sie wirklich hierhergekommen sind, ich bin sicher, Sie haben gute Gründe dafür. Sie gehen mich nichts an ... es sei denn, Sie wollen darüber reden.«

Bast ignorierte die unüberhörbare Frage, die sich in diesen Worten verbarg, und Mrs Walsh sah sie zwar noch einen Moment lang erwartungsvoll an, akzeptierte dieses Schweigen aber schließlich, wenn auch mit einer spürbaren, kaum verhohlenen Enttäuschung.

Sie hätte nicht herkommen sollen. Sie sollte nicht hier sein. Nicht vor diesem Gebäude. Nicht in dieser Stadt. Nicht einmal in diesem Land. Der jähe Schrecken, der sie beim Anblick des Falken überkommen hatte, verblasste allmählich wie die Erinnerung an einen schlimmen, aber kurzen Schmerz, doch die Angst blieb. Es war das dritte Mal, dass sie diesem unheimlichen Vogel begegnete, und sie hätte schon beim ersten Mal begreifen müssen, dass dieses Tier alles war, nur kein harmloser Vogel, und dass sich ihre Wege ganz gewiss nicht durch Zufall gekreuzt hatten. Früher hätte sie es begriffen. Was musste noch geschehen, bis sie sich endlich eingestand, was mit ihr nicht stimmte?

»Miss Bast?«, fragte Mrs Walsh, nun wieder in eindeutig besorgtem Ton, und Bast verscheuchte auch diesen Gedanken - mit noch mehr Mühe - und zwang sich zu einem kleinen, nervösen Lächeln.

»Es ist alles in Ordnung«, versicherte sie.

»Ganz bestimmt?« Mrs Walsh sah nicht unbedingt so aus, als würde sie dieser Behauptung Glauben schenken oder wäre auch nur im Mindesten beruhigt. »Vielleicht war es doch keine so gute Idee, hierherzukommen«, fuhr sie fort. »Verzeihen Sie einer dummen alten Frau, die ...«

»Das hat nichts mit Ihnen zu tun«, unterbrach sie Bast, ebenso nervös wie unbeholfen. »Sie haben recht: Ich hatte ein schlimmes Erlebnis mit einem Raubvogel, in meiner Jugend. Seither habe ich ... Probleme mit solchen Tieren. Es ist lange her, und es ist albern, ich weiß, aber ...« Sie beendete den Satz mit einem Schulterzucken, und Mrs Walsh nickte mitfühlend.

»Das verstehe ich«, sagte sie - was Bast ernsthaft bezweifelte. »Wir müssen auch nicht dort hineingehen, wenn Sie es nicht wollen. Es war nur eine Idee von mir, und wie es aussieht, keine besonders gute. Lassen Sie uns einfach zurückfahren und noch einen Tee trinken.«

Und natürlich wäre das das einzig Vernünftige. Was gäbe es dort drinnen zu sehen, was sie nicht bereits kannte und was sie nicht zudem in Trauer oder auch Zorn versetzen würde, es missbraucht und verschleppt und so weit fort von ihrer Heimat zu sehen? Gloria Walsh hatte in diesem Moment zweifellos recht; wenn auch auf eine Art und Weise, die sie niemals begreifen würde. Und Bast setzte gerade dazu an, ihr zuzustimmen und irgendeinen anderen, willkürlich ausgewählten Ort vorzuschlagen, den sie ihr zeigen konnte, um den vermeintlich schlechten Eindruck wettzumachen, den ihre Heimatstadt ihrer Meinung nach bei ihr hinterlassen haben musste, als sie die Gestalt sah.

Es war nicht einmal wirklich eine Gestalt, aber auch kein bloßer Schatten, sondern etwas ... dazwischen; wie ein Schwarm winziger schwarzer Fliegen, der sich durch eine bloße Laune des Zufalls zu einer Form zusammengefunden hatte, die an eine menschliche Gestalt erinnerte, oder feiner schwarzer Wüstensand, mit dem der Wind spielte. Sie stand einfach da, von einem Lidschlag auf den anderen wie aus dem Nichts erschienen, direkt unter dem weit offen stehenden Eingang des Museums, riesig und lautlos und vollkommen ohne Tiefe, und ganz offensichtlich existierte sie tatsächlich nicht, oder wenn doch, dann nur für sie, denn noch während Bast dastand und die unheimliche Erscheinung anstarrte, bewegte sich ein älteres Paar auf dem Weg ins Museum direkt auf die Erscheinung zu und trat hindurch, ohne auch nur einen Augenblick zu stocken. Aber für Bast war sie mehr als real. Sie spürte nicht nur ihre Präsenz, wie das Knistern elektrischer Energie kurz vor dem Ausbruch eines Sommergewitters auf der Haut, sie fühlte auch den Blick uralter, gnadenloser Augen, die direkt bis in die verborgensten Abgründe ihre Seele zu schauen schienen.

»Miss Bast?«, fragte Mrs Walsh noch einmal. Jetzt klang sie nicht besorgt, sondern eindeutig erschrocken.

Bast blinzelte, und die Erscheinung war verschwunden. Aber sie spürte, wie schnell und hart ihr Herz schlug, und ihre rechte Hand glitt ganz ohne ihr Zutun unter ihren Mantel. Alles, was sie fand, war der grobe Stoff ihres schwarzen Kleides, anstelle des vertrauten Gewichts der Waffe, die sie normalerweise dort zu tragen pflegte.

»Ich bin jetzt ziemlich sicher, dass es keine gute Idee war, hierherzukommen«, fuhr Mrs Walsh energischer fort. »Lassen Sie uns woanders hingehen. Was halten Sie vom Trafalgar Square? Wir sind nicht allzu weit entfernt, und er ist zu Recht auf der ganzen Welt berühmt, und ...«

»Nein«, unterbrach sie Bast. Ihr fiel auf, dass Mrs Walshs Blick ihrer rechten Hand gefolgt war, und sie zog sie hastig wieder zurück. Diese alte Frau war nicht annähernd so unbedarft, wie sie sich gab, und sie hatte ihr und Maistowe schon mehr als genug Anlass zu der einen oder anderen Spekulation gegeben. »Sie haben mich wirklich neugierig gemacht. Ich möchte sehen, wie es dort drinnen ist.«

Sie lauschte in sich hinein. Der Schrecken, den ihr der Anblick des unheimlichen Schemens eingejagt hatte, begann bereits wieder zu verblassen, doch darunter glaubte sie nun etwas wie ein leises, unendlich böses Lachen zu hören. Ihre Kräfte schwanden. Die Ketten, die das Ungeheuer hielten, waren noch immer stark, doch ihre dunkle Schwester war nicht auf pure Kraft angewiesen, um ihre Fesseln zu zerreißen, sondern verstand sich ebenso auf List und Tücke. Bald, sehr bald, würde sie ihr geben müssen, wonach sie verlangte.

Trotz regte sich in ihr. Bevor Mrs Walsh antworten konnte, schüttelte sie den Kopf, zwang ein grimmiges Lächeln auf ihre Lippen und straffte demonstrativ die Schulter. »Ich benehme mich wie ein dummes Kind, das Angst vor der Dunkelheit hat.« Als ob alle Kinder und Erwachsenen der Welt, die die Dunkelheit fürchteten, nicht allen Grund dazu gehabt hätten! »Kommen Sie. Zeigen Sie mir, was Ihre Forscher zusammengetragen haben, und ich erzähle Ihnen, was von dem, was sie zu wissen glauben, alles falsch ist.«

Sie gab Mrs Walsh gar keine Gelegenheit, noch einmal zu widersprechen, sondern ging entschlossen und mit so schnellen Schritten los, dass die alte Frau Mühe hatte, mit ihr Schritt zu halten.

Als sie sich dem eigentlichen Eingang des Museums näherten, griff sie nach dem losen Ende ihres Turbans und befestigte es so vor ihrem Gesicht, dass nur noch wenig mehr als die Augen davon zu sehen waren, gleichzeitig schloss sie ihren Mantel. Jetzt war nicht einmal mehr zu erkennen, ob sich ein Mann oder eine Frau unter all der fallenden Schwärze verbarg. Einem sehr aufmerksamen Beobachter wären vielleicht ihre schlanken Hände mit den spitz gefeilten Fingernägeln aufgefallen, aber Bast wusste auch, dass vermutlich niemand darauf achten würde. Selbst in ihrer Heimat, wo weder ihre Kleidung noch ihre nachtschwarze Haut Anlass zu einem zweiten Blick geboten hätten, erregte ihre Erscheinung Aufsehen. Hier, in dieser fremden Stadt voller fremder Menschen, ganz gleich, wie viele exotische Gäste sich auch hierher verirren mochten, konnte sie sich nicht ernsthaft einbilden, unbemerkt zu bleiben. Mit ein bisschen Glück, dachte sie spöttisch, würden die meisten hier sie vielleicht für einen Teil der Ausstellung hatten, einen kostümierten Statisten, den man losgeschickt hatte, um Besucher anzulocken.

Mrs Walsh kommentierte ihre improvisierte Verkleidung mit einem wortlosen Stirnrunzeln und beeilte sich, zu ihr aufzuschließen und dabei nicht zu sichtbar zu schnauben. Und kaum dass sie das riesige Portal durchschritten hatten, erschien auch wieder das stolze Besitzerlächeln auf ihrem Gesicht, mit dem sie bereits aus der Droschke ausgestiegen war.

Bast konnte es ihr nicht verdenken. Der Eindruck, den die Eingangshalle auf den ersten Blick bot, unterschied sich nicht von dem, den sie bereits von außen gehabt hatte: Alles hier war riesig, pompös und diente auf eine schrecklich falsche Weise dem einzigen Zweck, dem Besucher zu demonstrieren, wozu die Erbauer dieses Gebäudes fähig waren. Aber obwohl sie die Absicht dahinter erkannte, konnte selbst sie sich der Atmosphäre dieses Bauwerks nicht ganz entziehen. Auf einen Menschen wie Mrs Walsh, der seine Heimatstadt noch nie verlassen hatte und das Original nicht kannte, das dieses Monstrum von Gebäude nachzuahmen versuchte, musste es eine wahrhaft beeindruckende Wirkung haben. Und Bast musste zugeben, dass die Architekten dieser Halle gewusst hatten, was sie taten. Vielleicht war alles etwas zu groß, etwas zu glatt und zu sauber und viel zu pompös, und doch hatte man das fast körperliche Empfinden von Alter und Ehrwürdigkeit, und die geschickt angebrachten Fenster und bunten Oberlichter sorgten für eine gelungene Illumination, die dieses Gefühl noch unterstrich. Obwohl es anders hätte sein müssen, war die Halle nahezu taghell, doch das Licht fiel in scharf abgegrenzten Bahnen herein, in die vermutlich nicht nur ihre Einbildung das Flirren von Staub und heißem Wüstensand hineininterpretierte, der darin tanzte, und die Schatten dazwischen waren zu tief und zu dunkel, als verlöre sich der Blick nicht einfach nur in unbeleuchteten Gefilden, sondern glitte gleichsam in eine vergangene Zeit. Selbst hier in der Eingangshalle, die im Grunde nicht mehr als Leere und einige wenige, sorgsam gerahmte Bilder und in gläsernen Vitrinen autgestellte Exponate zeigte, die Bast allesamt nicht interessierten, glaubte man schon den Atem der Zeit zu spüren, als hätte man den ersten Schritt auf einer Reise in die Vergangenheit getan.

»Kommen Sie, meine Liebe.« Mrs Walsh zupfte an ihrem Ärmel und deutete nach rechts; anscheinend wahllos tiefer hinein in das Flirren von Schatten und Licht. Nicht, dass es nötig gewesen wäre. Etwas ... wehte ihr aus dieser Richtung entgegen, etwas wie ein lautloses Flüstern und Locken, das einen Teil ihrer Seele berührte, von dem sie schon gar nicht mehr wirklich gewusst hatte, dass sie ihn besaß. Etwas war dort. Etwas, von dem sie nicht sicher war, ob es da sein sollte. Ob es überhaupt sein sollte.

Mrs Walsh sah sie forschend an. »Und Sie sind wirklich sicher, dass Sie sich wohl fühlen?«

»Wohl fühlen?«

»Nehmen Sie 's mir nicht übel, aber Sie ... sehen nicht gut aus«, antwortete Mrs Walsh unbehaglich. Sie lachte nervös. »Ich weiß ja, dass es gar nicht möglich ist, aber wäre es nicht so, würde ich glattweg behaupten, dass Sie ein bisschen blass sind, mein Kind. Stimmt irgendetwas nicht mit Ihnen?«

Bast setzte zu einem Kopfschütteln und einer vielleicht eine Spur schärferen Antwort an, besann sich aber dann eines Besseren und sagte gar nichts.

Sie durchquerten die große Eingangshalle, und Mrs Walsh schob sich auf dem letzten Stück schnaubend an ihr vorbei, um an einem kleinen Tischchen unmittelbar neben dem Durchgang zwei Billetts zu lösen, und natürlich wurden sie angestarrt; nicht nur von der ältlichen Frau, die in einer dunkelblauen Fantasieuniform hinter dem Tisch saß und die wenigen Münzen einstrich, die Mrs Walsh aus ihrer zerschlissenen Geldbörse klaubte. Bast versuchte das Gefühl zu ignorieren - schließlich war sie es wahrlich gewohnt, angestarrt zu werden -, aber es wollte ihr nicht gelingen. Dieses Gefühl hier war ... anders. Unangenehmer. Es waren nicht die neugierigen und zu einem überraschend großen Teil nicht nur scheuen, sondern auch feindseligen Blicke der anderen Museumsbesucher, die sie mit diesem unheimlichen Gefühl erfüllten. Es war, als wäre es das Gebäude selbst, das sie anstarrte - oder etwas, das unmittelbar hinter seinen Mauern lebte.

Dann trat sie hinter Mrs Walsh durch eine weitere, nur unwesentlich kleinere Tür als die, durch die sie dieses Gebäude betreten hatten, und aus ihrer vagen Ahnung wurde Gewissheit. Es war ein Schritt in eine andere Welt.

Unmittelbar hinter dem Eingang, mit großem Geschick so platziert, dass jeder, der den Saal betrat, eine hinreichende Menge beeindruckender Details wahrnehmen, die beiden Statuen in ihrer ganzen Größe aber nicht sofort mit Blicken erfassen konnte, sodass man im allerersten Moment nicht wirklich begriff, was man sah, sehr wohl aber einen fast körperlichen Eindruck von Größe und Gewaltigkeit bekam, erhoben sich zwei kolossale steinerne Statuen, jede mehr als acht Meter hoch und aus ägyptischem Sandstein gemeißelt, dem all die vergangenen Millennien zwar die Farbe der Bemalung, aber nichts von seiner lebendigen, warmen Beschaffenheit hatten nehmen können. Auch wenn sie auf den ersten Blick vollkommen unterschiedlich erscheinen mochten, so zeigten sie doch nicht nur beide dieselbe Person, einen sitzenden Mann mit ägyptischer Königskrone, dessen Hände die Jahrtausende nicht nur seiner Finger, sondern auch des Schlangenszepters beraubt hatten, sondern waren auch unter der Anleitung desselben Künstlers entstanden; genauer gesagt: derselben Künstlerin.

Die beiden Statuen zeigten Ramses IL, einmal als jungen Mann, fast noch ein Knabe, einmal als den weisen, alten Herrscher, als der er weniger in die Geschichte als in die Herzen der Menschen eingegangen war.

Der Anblick war ein Schock. Für einen Moment, der so kurz war, dass er selbst Mrs Walshs aufmerksamen Blicken entging, die wie gebannt auf ihrem Gesicht hingen, glaubte sie Musik zu hören, spürte sie den Duft von warmem Zedernholz und den Geruch von heißem Sand, und für einen - noch unendlich viel kürzeren, unendlich süßen - Augenblick durchrieselte sie ein warmer Schauer, fühlte sie wieder die Berührung seiner Lippen auf ihrer Haut, das zärtliche Streicheln seiner Hände, die ihren Körper mit derselben Aufmerksamkeit erkundeten, wie sie auch fähig gewesen waren, die Geschicke eines ganzen Volkes zu leiten, ein Kind zu streicheln oder ein Schwert zu führen, glaubte sie seine Stimme zu hören, die ihr Worte der Liebe ins Ohr flüsterte und ein Versprechen auf die Ewigkeit abgab, das er so wenig hätte einhalten können wie alle anderen vor ihm und danach.

Dann löste sich ihr Blick von der Stein gewordenen Erinnerung an den Mann, mit dem sie fast ein Jahrhundert lang verheiratet gewesen war, erkundete den Raum dahinter, und was sie sah, löschte die Erinnerung augenblicklich aus und ließ eine wahre Explosion einander widersprechender Gefühle und Empfindungen hinter ihrer Stirn und in ihrem Herzen aufflammen. Plötzlich war alles da, was sie erwartet und befürchtet hatte: Zorn, Trauer, Entsetzen und Wut und noch viel mehr, viel Schlimmeres. Aber der Sturm erlosch so schnell, wie er gekommen war, und alles was zurückblieb, war eine auf sonderbare Weise mit Schmerz gepaarte, stille Empörung.

Plötzlich war sie froh, den Schleier vor ihrem Gesicht befestigt zu haben, denn obwohl davon wenig mehr als ihre Augen zu sehen waren, schien ihre Reaktion Mrs Walsh nicht entgangen zu sein. Bast kam ihrer entsprechenden Frage zuvor, indem sie rasch den Kopf schüttelte und eine zusätzliche Bewegung mit der Hand machte. »Ich war nur überrascht«, sagte sie.

»Aber doch hoffentlich angenehm.«

»Nach Ihren Worten habe ich eine Menge erwartet, aber nicht ... das«, erwiderte Bast ausweichend. »Es ist ... beeindruckend.«

Zumindest das war es, wie Bast widerwillig eingestehen musste. Der Raum war riesig - nicht wirklich größer als die monströse Eingangshalle, die sie gerade durchquert hatten, erweckte aber durch die geschickte Platzierung der ausgestellten Statuen, Stelen und Wandbilder und das raffiniert eingesetzte Licht den Eindruck, sie wäre es - und angefüllt mit den unterschiedlichsten Fundstücken; angefangen von den beiden kolossalen Statuen beiderseits des Eingangs bis hin zu endlosen Reihen gläserner Vitrinen voller antikem Schmuck, Waffen, Gegenständen des täglichen Bedarfs und sorgsam restaurierten Papyrusrollen.

Und nichts davon gehörte hierher.

Der schon erloschen geglaubte Zorn flammte noch einmal und noch heißer in ihr auf, erlosch aber auch fast genauso schnell wieder. Es gab nichts, was sie tun konnte, nicht hier und nicht jetzt, und Bast gemahnte sich in Gedanken zur Besonnenheit. Es war zweifelsohne ein Fehler gewesen, überhaupt hierherzukommen, aber es war auch noch nie ihre Art gewesen, über vergossene Milch zu jammern. Wenn sie schon einmal hier war, konnten sie auch tun, wozu sie eigentlich gekommen waren. Oder es wenigstens versuchen.

»Also?«, fragte sie.

Mrs Walsh sah sie verständnislos an.

»Wir sind nicht nur hierhergekommen, um die Kunstschätze meines Landes zu besichtigen«, erinnerte Bast sanft. Das »meines« bedauerte sie schon, bevor sie das Wort ganz ausgesprochen hatte, doch Mrs Walsh schien es gar nicht gehört zu haben, oder sie hatte sich noch besser in der Gewalt, als Bast ohnehin schon annahm. Sie sah zwar ein wenig verdutzt aus, blickte sich aber zugleich auch schon suchend um und deutete nach kaum einer Sekunde auf eine grauhaarige Gestalt in der gleichen, dunkelblauen Fantasieuniform, wie sie auch die Kartenverkäuferin am Eingang getragen hatte, die unweit einer der riesigen Statuen stand und die Besucher aus Argusaugen beobachtete. »Ich werde einen der Wächter fragen«, sagte sie. »Vielleicht erinnert er sich ja an Ihre Freundin.«

Bast fragte sich zwar, warum sie sich mit dieser Frage nicht gleich an die Kartenverkäuferin am Eingang wandte - schließlich musste jeder Besucher zwangsläufig an ihr vorbei, ob er wollte oder nicht -, beließ es aber bei einem stummen Kopfnicken. Immerhin hatte sie Mrs Walsh auf dem Weg hierher eine knappe Beschreibung von Isis geliefert, die vollkommen ausreichte - schließlich war es mit Isis nicht anders als mit ihr selbst: Auch wenn sie nicht über ihre beeindruckende Größe und nachtschwarze Haut verfügte, so vergaß doch niemand so schnell ihr Gesicht, der es einmal gesehen hatte.

Doch es gab noch einen anderen Grund, aus dem sie geradezu erleichtert war, als Mrs Walsh sich unverzüglich herumdrehte und den Wächter ansteuerte. Das bange Gefühl, das sie schon draußen in der Halle überkommen hatte, war noch immer da. Zorn und Empörung hatten es vielleicht für einen Moment überdeckt, wie das Heulen eines Wüstensturmes das leise Rieseln einer Sanduhr, aber es war trotzdem noch immer da; leise und atemabschnürend und bedrohlich, und dieser Vergleich war ihr nicht von ungefähr gekommen: Es hatte etwas Unaufhaltsames, mit der Gewissheit eines sehr, sehr schlimmen Endes.

Etwas war hier. Und es ... interessierte sich für sie.

Bast lauschte mit allen Sinnen in die Runde, aber es gelang ihr nicht, mehr als ein allgemeines vages Gefühl der Bedrohung aufzufangen. Vielleicht, versuchte sie sich selbst zu beruhigen, galt es nicht einmal ihr, nicht nur ihr. Nicht alles von dem, was den Besuchern hier präsentiert wurde, war echt; längst nicht alles. Vieles war schlichtweg falsch datiert oder zugeordnet, bei mehr als einem Exponat handelte es sich um eine Fälschung - einige davon so plump und schlecht, dass sie vor Schadenfreude laut losgelacht hätte, wäre da nicht noch immer diese nagende Furcht in ihr gewesen. Aber nur zu vieles war authentisch, magische Steine von magischen Orten, gewaltsam entwurzelt und verschleppt und ihrer eigentlichen Bestimmung beraubt, und Bast hätte den Herren dieser größten Sammlung geraubter Grabbeigaben und Kunstschätze der Welt durchaus verraten können, dass auch Dinge ein Gedächtnis haben und manchmal nicht erfreut darauf reagieren, gestohlen und missbraucht zu werden.

Mrs Walsh begann mit gedämpfter Stimme, aber heftig gestikulierend, mit dem Museumswächter zu debattieren - ihr Vorhaben schien nicht besonders gut zu verlaufen -, und Bast dachte einen Moment lang daran, zu ihr zu gehen, entschied sich aber dann für das genaue Gegenteil. Das Gefühl, beobachtet zu werden, war noch immer da, und dass sie es weder verifizieren noch seinen genauen Ursprung benennen konnte, machte es nicht besser. Und es hatte schon immer zu ihren Grundsätzen gehört, lieber zu viel als zu wenig Vorsicht walten zu lassen.

Mehr um auf andere Gedanken zu kommen als aus irgendeinem anderen Grund begann sie zwischen den nur scheinbar willkürlich aufgereihten Vitrinen und Ausstellungsstücken umherzuschlendern. Nach dem, was Mrs Walsh ihr am Morgen über diese Ausstellung erzählt hatte, hatte sie mit einem weitaus größeren Ansturm von Besuchern gerechnet, doch in der großen Halle hielten sich kaum ein Dutzend Menschen auf; Mrs Walsh und den grauhaarigen Wächter mitgerechnet. Aber von keinem der anderen Besucher ging irgendeine Bedrohung aus; nur die gewohnte Mischung aus Neugier, Scheu und instinktiver Ablehnung, die aus der simplen Furcht der Menschen vor dem Unbekannten resultierte.

Vielleicht war es doch nur der Zorn dieses Ortes, den sie spürte.

Sie überzeugte sich mit einem raschen Blick über die Schulter davon, dass Mrs Walsh noch immer in ein heftiges Streitgespräch mit dem Museumswächter verwickelt war, der die Diskretion den Besuchern hier gegenüber mindestens ebenso ernst zu nehmen schien wie ein katholischer Priester das Beichtgeheimnis, schlenderte weiter und blieb vor einem nicht nur unvollkommen, sondern auch falsch zusammengesetzten Streitwagen vom Ende der dritten Dynastie stehen, von dem das dazugehörige Schild behauptete, er stamme aus der vierten; ein zierlich anmutendes, aber erstaunlich großes zweirädriges Gefährt, das von zwei prachtvollen, halb im Aufbäumen befindlichen weißen Schlachtrössern gezogen wurde und mitten in einer dynamischen Bewegung erstarrt zu sein schien, wie eine jener Daguerrotypien, wie sie in den letzten Jahren immer mehr in Mode gekommen waren, die ein geheimnisvoller Zauber mit Farbe und Tiefe ausgestattet hatte; beeindruckend, aber schrecklich falsch.

Sie betrachtete das fast mannshohe Gefährt einen Moment lang kopfschüttelnd und wandte sich dann einer Vitrine aus dunklem Mahagoni und Glas daneben zu, deren Oberfläche von unzähligen tastenden Fingernägeln, Ringen und Manschettenknöpfen in nach hinten abnehmendem Maße zerkratzt war, und betrachtete die darin ausgestellten Stücke. Es war ein scheinbar chaotisches Sammelsurium der unterschiedlichsten Dinge: Waffen, Schmuckstücke und ein mit kalligrafischer Präzision beschrifteter Papyrus. Hinter ihrem Schleier huschte ein fast verächtliches Lächeln über ihre Züge, als ihr Blick über die kleine Messingtafel am Rande der Vitrine huschte.

»Darf ich fragen, was Sie so amüsiert?«

Bast fuhr so erschrocken herum, dass sie um ein Haar gegen die Vitrine gestoßen wäre, und starrte den Besitzer der Stimme, die so plötzlich hinter ihr erklungen war, einen Herzschlag lang beinahe entsetzt an. Wieso hatte sie ihn nicht gehört? Und wie hatte er wissen können, wie es hinter ihrem Schleier aussah?

Gar nicht, wie ihr nach einem zweiten, schweren Herzschlag und einem Blick in sein von einem weißen Vollbart beherrschtes Gesicht klar wurde. Er sah interessiert aus, und in seinen Augen war eine winzige Spur derselben Scheu zu erkennen, die sie auch bei allen anderen hier spürte, aber kein Hauch von Ablehnung oder gar Furcht. Bast schätzte ihn auf Ende sechzig. Er war einen knappen Kopf kleiner als sie, von untersetzter Statur, und seine Hände verrieten, dass sie nicht nur Arbeiten gewohnt waren, die man mit dem dreiteiligen Anzug assoziieren würde, den er momentan trug.

»Verzeihung«, sagte er, nachdem sich das Schweigen eine endlose weitere Sekunde lang dahingeschleppt hatte. »Ich wollte Sie nicht stören ... verstehen Sie unsere Sprache?«

»Ein wenig«, antwortete Bast. »Und Sie stören nicht. Ich war nur ein wenig überrascht.«

»Von dem, was Sie hier sehen?«

»Von Ihrer Frage.« Sie löste den Schleier von ihrem Gesicht, und seine Reaktion war genauso amüsant, wie sie erwartet hatte ein kurzer Moment des Erstaunens, gefolgt von einem noch kürzeren des Erschreckens und dann deutlicher Verlegenheit. Aber er fing sich auch sofort wieder.

»Wenn ich dreißig Jahre jünger wäre, würde ich antworten, dass ein Gesicht wie dieses nur lächeln kann«, antwortete er amüsiert. »Aber die Wahrheit ist, dass ich Ihr Kopfschütteln bemerkt habe ... und so ganz nebenbei war auch Ihr Lachen nicht zu überhören.« Er streckte ihr die Hand entgegen. »Bitte verzeihen Sie mir. Ich wollte gewiss nicht aufdringlich erscheinen. Ich weiß gar nicht, wo meine Manieren geblieben sind. Renouf. Peter Le Page Renouf. Ich ... arbeite hier.«

»Bast«, antwortete Bast automatisch, während sie seine ausgestreckte Rechte ergriff und sehr behutsam drückte.

»Bast?«

»Um genau zu sein, Bastet«, antwortete Bast und zog eine Grimasse. »Meine Eltern hatten eine große Vorliebe für die Mythologie und Geschichte Afrikas ... aber leider nicht besonders viel Geschmack.«

»Wie dieser junge Rider Haggard«, seufzte Renouf. Bast verstand nicht genau, was er meinte.

»Ich habe also gelacht und den Kopf geschüttelt?«, fragte sie, als wäre sie nicht ganz sicher. Natürlich erinnerte sie sich genau, das getan zu haben - aber sie erinnerte sich im Nachhinein, und das war ein weiteres Warnzeichen. Sie begann die Kontrolle zu verlieren. Ihre Zeit wurde knapp.

»Deswegen sind Sie mir aufgefallen«, bestätigte Renouf und schüttelte praktisch im gleichen Moment den Kopf. »Unter anderem.«

»Unter anderem?«

»Um ehrlich zu sein: Sie sind mir schon vorher aufgefallen. Gleich nachdem Sie hereingekommen sind. Gefällt Ihnen unsere kleine Sammlung?«

»Sie ist ... beeindruckend«, antwortete Bast. Das hörbare Zögern vor dem letzten Wort war Absicht. Und es hätte ihrer außergewöhnlichen Beobachtungsgabe und noch außergewöhnlicheren Sinne nicht bedurft, um sie erkennen zu lassen, dass ihm das keineswegs entging.

»Das freut mich zu hören«, antwortete er trotzdem. »Ich nehme an, das alles hier ist Ihnen vertraut ... vertrauter als den meisten jedenfalls.«

»Und wie kommen Sie zu dieser Annahme?«, wollte Bast wissen.

Renouf lächelte unerschütterlich weiter, wirkte aber zugleich nun zum ersten Mal ein bisschen verlegen. »Nun ... Ihre Kleidung«, antwortete er, »Ihr Name und Ihre - verzeihen Sie -, Ihre Hautfarbe. Sie kommen aus Ägypten? Dem südlichen Ägypten, nehme ich an?«

»Nubien«, antwortete Bast. »Das ist richtig.«

»Die Heimat der schwarzen Pharaonen«, strahlte Renouf. »Ja, das dachte ich mir. Vor allem, als ich Ihr Interesse an unserer neuesten Errungenschaft bemerkt habe.« Er deutete mit unübersehbarem Stolz auf den restaurierten Streitwagen. »Er befindet sich seit einem halben Jahr in unserem Besitz, aber wir haben bis jetzt gebraucht, um ihn instand zu setzen. Ich hoffe doch, er findet Gnade vor Ihrem kundigen Auge?«

Für jeden anderen hätte diese Frage ironisch geklungen, aber sie las in seinen Augen, dass sie vollkommen ernst gemeint war. Sie zögerte eine endlose Sekunde lang, bevor sie antwortete, und sie wusste selbst, dass ihre Antwort nicht besonders klug war. Aber seine schon fast aufdringliche Art, mit seinem Wissen zu glänzen, ärgerte sie ein bisschen.

»Die Beschläge sind falsch«, sagte sie. »Und der Fahrer stand viel weiter vorne. Außerdem war es ein Einspänner.«

»Mit einer Mitteldeichsel?«, fragte er zweifelnd und ein ganz kleines bisschen überheblich. »Ich bitte Sie!«

»Das Pferd wurde wechselweise rechts oder links angespannt«, antwortete Bast ruhig. »Je nachdem, auf welcher Seite der Bogenschütze stand. Und sie waren kleiner.«

»Die Wagen?« Renouf lächelte milde. »Das hier ist keine Kopie, sondern ein jahrtausendealtes Original - das meiste davon jedenfalls.«

»Die Pferde«, erwiderte Bast. »Vollblüter wie diese hätten in der Wüste nicht lange überlebt. Sie haben kleine, zähe Ponys benutzt ... genau wie Ihre Kreuzritter, nebenbei bemerkt.«

Renouf schien einen Moment lang ernsthaft über diese Worte nachzudenken, schüttelte aber dann den Kopf. »Eine interessante Theorie«, sagte er. Aber irgendwie klang es wie blödsinnige. Außerdem schüttelte er noch einmal und nur noch überzeugter den Kopf. »Wir haben eine Menge Aufzeichnungen und Bilder gefunden ...«

»... von denen bekannt ist, dass die alten Ägypter ein schwatzhaftes Volk mit einem Hang zum Übertreiben und Heroisieren war«, fiel ihm Bast sanft ins Wort. Sie wusste selbst nicht genau, warum sie das sagte. Der Mann war ihr durchaus sympathisch, soweit man das bei jemandem sagen konnte, den man erst seit ein paar Augenblicken kannte, und doch genoss sie es zugleich, ihm ein paar zugespitzte Bambussplitter unter die Fingernägel zu treiben. Vielleicht nicht wegen dem, wer er war, sehr wohl aber wegen dem, was er war. »Glauben Sie mir, es wäre ein Fehler, alles für bare Münze zu nehmen, was Sie auf Papyrus geschrieben sehen - oder auch in Stein gemeißelt.«

»Sie klingen, als hätten Sie einen solchen Wagen schon einmal gesehen«, sagte Renouf.

Sie war auf einem gefahren. Sie hatte einen Wagen wie diesen in die Schlacht gelenkt, unzählige Male und in viel zu vielen Schlachten. Wer weiß ... vielleicht sogar ganz genau diesen Wagen.

»Und wenn?«, fragte sie geheimnisvoll.

Einen winzigen Moment lang wirkte Renouf nun tatsächlich irritiert, aber dann lachte er. »Dann müsste ich Sie unter einem Vorwand verhaften lassen, um dieses Geheimnis aus Ihnen herauszupressen«, sagte er. Er lachte noch einmal, gutmütig. »Sie gefallen mir, Miss Bastet«, sagte er geradeheraus. »Sie hätten nicht zufällig Zeit und Lust, ein wenig mit mir zu plaudern? Um offen zu sein, es kommt selten vor, dass sich mir die Gelegenheit bietet, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden.«

»Und welcher Teil ist der Angenehme, und welcher der Nützliche?«

»Beide, natürlich«, sagte Renouf. »Ich kann zwar oft und ausgiebig über meine Passion und meinen Beruf reden, aber meine Gesprächspartner sind meistens nicht nennenswert jünger als die Fundstücke, über die wir reden.«

»Wer sagt Ihnen, dass es bei mir anders ist?«

Jetzt wirkte Renouf so verwirrt, dass er Bast beinahe leidtat. »Wie gesagt«, wiederholte er unsicher, »ich würde gerne ein wenig mit Ihnen plaudern. Es könnte interessant werden.«

»Hätten Sie denn Zeit dafür?«, fragte Bast. »Wo Sie doch hier arbeiten?«

»Das ist richtig«, antwortete er schmunzelnd. »Ich bin der Direktor der ägyptischen Abteilung, genauer gesagt: der Abteilung für orientalische Altertümer. Meine Stellung, wenn auch nicht unumstritten, gewährt mir doch gewisse Privilegien.«

»Sie versuchen nicht zufällig, mir den Hof zu machen, Mister Renouf?«, fragte Bast.

»Keineswegs«, antwortete Renouf. Er klang ein bisschen erschrocken. »Ich war nur angenehm überrascht, jemanden Ihrer ... ähm ... Herkunft hier bei uns zu sehen, und sein Interesse zu bemerken.« Er lächelte schüchtern. »Und Ihr Urteil?« Er sah sie nichts anderes als auffordernd an. »Reden Sie ruhig frei von der Leber weg. Nur weil ich Professor für orientalische Sprachen und alte Geschichte bin, bedeutet das nicht, dass ich nicht offen für andere Meinungen wäre.«

Bast seufzte lautlos in sich hinein. Renouf versuchte ihr den Hof zu machen, aus welchem Grund auch immer, und auch wenn da ein winziger Teil in ihr war, dem dieser Gedanke schmeichelte, war das doch zugleich im Moment so ziemlich das Letzte, was sie gebrauchen konnte. Sobald sie eine ruhige Minute fand, dachte sie, sollte sie dringend über die genaue Bedeutung des Wortes unauffällig nachdenken.

Sie beschloss, das Gespräch an dieser Stelle zu beenden, warf einen fast sehnsüchtigen Blick in Mrs Walshs Richtung und stellte fest, dass sie ihr Gespräch in genau diesem Augenblick - und sichtlich ohne Erfolg - zu Ende gebracht hatte und sich wutschnaubend herumdrehte, um Renouf und sie anzusteuern. Gut, diese wenigen Augenblicke konnte sie auch noch gute Miene zum eigentlich nicht einmal wirklich so bösen Spiel machen. Ihr unfreiwilliges Tête-à-Têtes mit Renouf mit einem Affront zu beenden, fiel vermutlich auch nicht wirklich in die Kategorie unauffällig. »Ganz ehrlich?«

»Ich bitte darum.«

»Zu Zeiten als das hier gemacht worden ist«, sie machte eine angedeutete Geste, die die gesamte Halle einschloss, »und in meiner Heimat hat man Grabräuber hingerichtet.«

Nein, das war jetzt ganz eindeutig nicht mehr dazu angetan, ihn zu besänftigen, oder ihn sie möglichst schnell wieder vergessen zu lassen.

Zu ihrer Überraschung reagierte er jedoch nicht verletzt oder auch nur verstimmt, sondern zauberte ganz im Gegenteil sogar ein Lächeln auf sein Gesicht. »Vollkommen zu Recht«, sagte er. »Ginge es nach mir, dann wäre das möglicherweise auch heute noch so.« Er lachte erneut, als er ihre Verwirrung bemerkte. »Sie machen sich über mich lustig, nicht wahr? Sie gehören doch nicht wirklich zu denen, die wissenschaftliche Arbeit als Grabräuberei bezeichnen?«

»Als was bezeichnen Sie es denn?«, gab Bast zurück. Wo blieb Mrs Walsh?

»Als genau das«, antwortete er. »Wissenschaft. Wir holen die Vergangenheit ans Tageslicht und entreißen sie dem Vergessen. Niemand tut das, um sich zu bereichern. Ihr Volk hat eine großartige Geschichte, Miss Bast. Möchten Sie wirklich, dass sie für alle Zeit in Vergessenheit gerät? Doch wohl kaum.«

Bei manchem davon wäre es besser, dachte Bast. Aber sie sparte es sich, das laut auszusprechen. Diese Diskussion führte zu nichts. Seine Worte waren ehrlich gemeint, das spürte sie, aber genau das war es, was sie so schlimm machte. Sie hatte die, die es wirklich gut mit ihr meinten, schon immer mehr gefürchtet als ihre Feinde.

»Ich fürchte, dass mir im Moment die Zeit fehlt, weiter mit Ihnen zu plaudern, so amüsant es auch sein mag, Professor«, seufzte sie. »Vielleicht ein andermal.«

Renouf machte keinen Hehl aus seiner Enttäuschung, fing sich aber auch jetzt fast augenblicklich wieder. »Dann werfen Sie wenigstens noch einen Blick auf unseren ganzen Stolz«, sagte er und gestikulierte zugleich auf die zerschrammte Vitrine hinab. Er lachte. »Wenn Sie schon einen ägyptischen Streitwagen im Original gesehen haben, dann können Sie vielleicht auch dieses Schriftstück übersetzen, und ich kann hinterher behaupten, ich hätte es selbst getan und die Lorbeeren einheimsen.«

Bast beugte sich gehorsam vor und warf einen Blick auf das Papyrus, und Renouf redete fröhlich weiter: »Meine Kollegen und ich streiten seit einem Jahr über die genaue Übersetzung. Wir ordnen es Ramses II. zu, aber bisher konnten wir uns nicht einigen, ob es sich nun um ein königliches Edikt handelt, die Absetzung eines Statthalters betreffend, oder um eine Schmähschrift gegen einen fremden Potentaten.«

Bast hatte das Gefühl, dass Renouf sie auf die Probe stellen wollte, aber sie antwortete wahrheitsgemäß: »Es stammt aus der Zeit Ramses I., und es ist ein Pamphlet, in der sich eine Frau über die ständigen Seitensprünge ihres Gemahls mokiert, der ein hochrangiger Beamter am Hofe des Pharao war.« Sie richtete sich wieder auf und sah Renouf vollkommen ernst und so fest in die Augen, wie er es gerade noch aushielt. »Sie macht sich lustig darüber, dass er jedem Rockzipfel nachläuft, wo er doch im ehelichen Bett schon lange nicht mehr seinen Mann steht.«

Renouf starrte sie nun fassungslos an, und obwohl ihre innere Stimme ihr mittlerweile zuschrie, endlich die Klappe zu halten, fügte sie aus der Erinnerung noch hinzu: »Er wurde übrigens hingerichtet, nachdem bekannt wurde, dass einer der Rockzipfel, denen er nachjagte, zum Harem des Pharao gehörte.«

Ra - oder wer immer auch das Schicksal der Welten in diesem Moment lenkte - hatte endlich ein Einsehen mit ihr und ließ Mrs Walsh auftauchen; schnaubend vor Empörung und so aufgebracht, dass sie all ihre gute Erziehung vergaß und sich rücksichtslos zwischen Renouf und sie schob.

»Dieser Kerl ist einfach unmöglich«, ereiferte sie sich. »Ich habe ihm nur eine ganz höfliche Frage gestellt, und er führt sich auf, als hätte ich ihm ein ... ein unsittliches Angebot gemacht!«

Renouf blickte fragend, und Bast machte eine erklärende Geste auf Mrs Walsh, dann auf Renouf. »Mrs Gloria Walsh, eine ... Freundin von mir - Professor Renouf, Direktor der orientalischen Abteilung des Museums.«

Jetzt war es Mrs Walsh, die fassungslos Mund und Augen aufriss, während Renouf abermals seine Geistesgegenwart bewies und augenblicklich seine Fassung zurückerlangte.

»Gibt es irgendein Problem, gnädige Frau?«

Mrs Walsh funkelte ihn nur an, und Bast beeilte sich, in besänftigendem Ton zu erklären: »Nicht wirklich. Wir sind aus einem bestimmten Grund hierhergekommen, aber mittlerweile glaube ich fast, dass es keine so gute Idee gewesen ist.«

»Darf ich fragen, worum es geht?«, erkundigte sich Renouf. »Vielleicht kann ich ja behilflich sein.«

»Wir wollten ... einige Erkundigungen einziehen«, antwortete Bast ausweichend. »Erkundigungen, die einen der Besucher hier betreffen. Aber vermutlich tut die gute Mrs Walsh Ihrem Personal unrecht. Ich nehme doch an, dass Sie zur Verschwiegenheit verpflichtet sind, was Ihre Besucher hier angeht.«

Renouf nickte zwar, sagte aber trotzdem: »Das kommt ganz darauf an, was Sie wissen wollen.«

»Ich suche nach einer Freundin aus meiner Heimat«, antwortete Bast. »Leider weiß ich wenig mehr über sie, als dass sie sich seit einer Weile in London aufhält. Mrs Walsh kam auf die Idee, dass sie vielleicht hier gewesen sein könnte.«

»Wenn sie Ihnen ähnelt, dann erinnert man sich ganz bestimmt an sie«, antwortete Renouf nonchalant. »Und der gute Henry erinnert sich nicht?«

»Angeblich nicht«, verbesserte ihn Mrs Walsh.

Renouf ignorierte die erste Hälfte ihrer Antwort. »Wir haben hier eine Menge Personal«, sagte er. »Und noch dazu arbeiten sie in zwei Schichten. Wenn Sie für den Augenblick mit der einen Hälfte vorliebnehmen können ...« Er zog eine gravierte Taschenuhr aus der Weste und klappte den Deckel auf, ohne allerdings wirklich einen Blick auf das Ziffernblatt zu werfen. »Wie es der Zufall will, ist gerade Mittagszeit. Sie können mit allen sprechen, wenn Sie es wünschen.«

»Das wäre möglich?«, fragte Bast überrascht.

»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, mich in die Unterwelt zu begleiten«, antwortete Renouf.

»Wie?« Natürlich war es nur ein Scherz und nicht einmal ein guter. Aber er erschreckte sie, als verberge sich unter den Worten, die er aussprach, noch eine zweite, ungleich düsterere Botschaft. Beinahe ohne darüber nachzudenken, warf sie alle ihre Bedenken und Hemmungen über Bord und lauschte in ihn hinein. Aber da war keine Spur von Falschheit oder gar Heimtücke.

»In die Unterwelt?«

»Ein Scherz, bitte verzeihen Sie.« Renouf räusperte sich unbehaglich. »Der Aufenthaltsraum des Personals befindet sich unten im Keller. Es ist nicht weit, aber vielleicht ein wenig ... unbequem. Aber wenn Sie sich meiner Führung anvertrauen wollen, begleite ich Sie gerne dorthin. Die Pause beginnt in zehn Minuten.« Ein beinahe schüchternes Lächeln. »Und es gibt dort unten noch eine ganze Anzahl interessanter Artefakte, die ich Ihnen zeigen könnte, wenn Sie es wünschen.«

»Um meine Meinung dazu zu hören?« Sie versuchte es mit aller Kraft, aber es gelang ihr nicht, die Andeutung eines Lächelns ganz von ihren Lippen zu verbannen. Dieser Mann ... verwirrte sie. Sie wurde nicht schlau aus ihm. Und das war zumindest ungewöhnlich. Und eigentlich sollte es sie erschrecken.

»Wenn Sie es wünschen.« Renouf machte eine einladende Geste, und für einen einzigen, unendlich kurzen Moment war sich Bast fast sicher, dass die Schatten hinter ihm darauf reagierten, wie etwas Großes, Düsteres, das sich träge zu regen begann. Und war da nicht ein Geräusch, das es vorher nicht gegeben hatte, etwas wie das Schlagen schwarzer, metallisch glänzender Flügel? Ihr Blick tastete über die Schatten hinter Renouf, glitt über das sorgsam polierte Holz des Streitwagens und das mattweiße Fell der beiden ausgestopften Pferde und die Dunkelheit dahinter, aber da war auch nicht mehr als Dunkelheit; nur die bloße Abwesenheit von Licht, in der sich rein gar nichts verbarg.

Nervös sah sie sich weiter um und lauschte nunmehr mit all ihren Sinnen - auch mit denen, die Renouf und vermutlich auch Mrs Walsh zu Tode erschreckt hätten, hätten sie auch nur von ihrer Existenz geahnt -, aber da war ... nichts.

Gar nichts.

Um ein Haar hätte sie vor Schrecken aufgeschrien.

Sie spürte ... nichts. Sie hörte und sah Renouf und Mrs Walsh, vernahm das leise Murmeln der anderen Museumsbesucher und das gedämpfte Geräusch ihrer vorsichtigen Schritte und, wenn sie sich mit aller Macht konzentrierte, sogar ein leises, regelmäßiges Hämmern oder Klopfen, das aus einem anderen Raum herüberdrang, aber das war alles. All ihre anderen Sinne, die sie über so lange Zeit zu einer der wenigen Sehenden in einer Welt der Blinden gemacht hatten, waren plötzlich nicht mehr da. Selbst die gestaltlose Furcht, die die ganze Zeit über beharrlich am Rande ihres Bewusstseins gekratzt hatte, war plötzlich verschwunden. Von einer Sekunde auf die andere war es, als wäre sie all ihrer Sinne beraubt worden. Sie fühlte sich einsam und unendlich verloren, taub und blind zugleich. Ihr Herz begann zu hämmern.

»Miss Bast?«, fragte Mrs Walsh. Sie klang alarmiert, besorgt. »Stimmt etwas nicht?«

»Nein«, antwortete Bast hastig, »Ich meine ... nein. Keine Sorge. Es ist alles in Ordnung.« Was für ein Unsinn. Hier stimmte etwas sogar ganz und gar nicht, aber nicht mit diesem Gebäude oder den ausgestellten und geraubten Kunstschätzen, sondern mit ihr. Es waren nicht ihre Sinne, die sie im Stich ließen - ihre Kraft erlosch, so einfach war das. Was sie erlebte, war das Gegenstück zu einem Schwächeanfall bei einem Verhungernden. Sie brauchte Nahrung. Bald »Ganz sicher?«, beharrte Mrs Walsh.

Sie schwieg.

So schnell die Schwärze sie überkommen hatte, so rasch und lautlos meldeten sich ihre Sinne wieder zurück, und obwohl sie sie nur für wenige Augenblicke im Stich gelassen hatten, taten sie es mit so schneidender Schärfe, dass Bast einen hastigen Schritt zur Seite machen musste, um nicht zu deutlich zu schwanken.

»Ganz sicher?«, fragte Mrs Walsh noch einmal.

»Wenn es Ihnen heute nicht passt, kann ich gerne einen anderen Termin für Sie arrangieren«, schlug Renouf vor. Irrte sie sich, oder sah auch er sie plötzlich besorgt an?

»Nein, das wird nicht nötig sein«, sagte sie rasch. »Wenn wir schon einmal hier sind, wäre es doch dumm, den Weg noch einmal zu machen.«

Renouf sah ungefähr so überzeugt aus wie Mrs Walsh, aber er war zumindest höflich genug, nicht noch einmal zu fragen, sondern machte nur eine einladende Handbewegung. »Dann folgen Sie mir, meine Damen.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte er sich herum und ging gerade schnell genug voraus, dass es Mrs Walsh alle Mühe kosten musste, mit ihm Schritt zu halten. Bast mochte sich täuschen - weder an seinem freundlichen Lächeln noch an seiner Zuvorkommenheit hatte sich auch nur eine Winzigkeit geändert, seit Mrs Walsh aufgetaucht war -, aber sie hatte das Gefühl, dass er nicht unbedingt begeistert von deren Anwesenheit war. Konnte es sein, dass er ...?

Nein. Obwohl sich Bast nicht einmal gestattete, die Frage ganz zu Ende zu denken, beantwortete sie sie doch zugleich im selben Moment. Renouf gefiel sich vielleicht darin, den Charmeur zu spielen, und sicher schmeichelte es ihm, dass sie dieses kleine Spielchen mitspielte, aber das war auch schon alles. Sie musste seine Gedanken nicht lesen, um zu wissen, dass er im Grunde ganz genau das war, wonach er auch auf den ersten Blick aussah: ein harmloser Gelehrter mit den perfekten Manieren eines Gentlemans. Und außerdem schätzte sie ihn realistisch genug ein, um zu begreifen, dass sie nicht nur einen guten Kopf größer war als er, sondern auch gute dreißig Pfund schwerer und in ungleich besserer Verfassung. Sie hätte nicht einmal sein müssen, was sie war, um mühelos mit ihm fertig zu werden.

Während sie gleichzeitig versuchte, zu Renouf aufzuschließen und den Abstand zu Mrs Walsh nicht zu groß werden zu lassen - mit dem Ergebnis natürlich, dass keines von beidem wirklich klappte -, warf sie einen flüchtigen Blick über die Schulter zu Henry zurück. Der grauhaarige Museumswächter blickte ihnen genauso missmutig nach, wie sie es nach Mrs Walshs Worten auch erwartet hatte, zugleich aber auch so misstrauisch und aufmerksam, wie man es von einem Beamten im Dienste Ihrer Majestät erwarten konnte ... aber er runzelte zugleich auch irgendwie verwirrt die Stirn, und Bast hatte das sonderbar sichere Gefühl, dass dieses Stirnrunzeln nicht nur Mrs Walsh und ihr galt, sondern in mindestens ebensolchen Maße auch Renouf. Anscheinend war das Verhältnis des Direktors zum Personal nicht das Beste.

Sie erreichten das jenseitige Ende der Halle und gingen unter einem erst zum Teil fertig gestellten Fries vorbei, das Osiris' Reise in die Unterwelt darstellte. Wenn es irgendwann einmal fertig war, würde es diesen Teil der Halle in den Ausschnitt eines Pharaonengrabes verwandeln, und das mit einer Detailtreue, der sie sogar eine widerwillige Bewunderung zollen musste - zumindest so lange, bis sie nahe genug war, um die halb verblassten Bilder genauer zu erkennen, dann schlug ihre Bewunderung in einen jähen, kalten Zorn um.

Es war keine Kopie. Jemand hatte den echten Wandverputz aus einem Pharaonengrab entfernt - sie wusste sogar, aus welchem - und hierher gebracht, und er war dabei nicht einmal besonders vorsichtig zu Werke gegangen. Viele der Beschädigungen, die die Restauratoren mit großem Geschick auszubessern versucht hatten, ohne dass sie ihrem kundigen Blick wirklich entgingen, waren neu, wo Menschen mit einer einzigen unbedachten Bewegung mehr Schaden angerichtet hatten als die Zeit in ungezählten Jahrhunderten. Und das alles aus keinem anderen Grund als dem, es der immerwährenden Dunkelheit und Stille zu entreißen, für die es einzig und allein erschaffen worden war, und es von den Blicken neugieriger Menschen besudeln zu lassen, die nicht einmal wussten, was sie da sahen.

»Stimmt irgendetwas nicht, meine Liebe?«

Bast fuhr zusammen, als Mrs Walshs Stimme unmittelbar neben ihr erklang. War sie wirklich so lange in die Betrachtung versunken gewesen?

»Sie sehen erschrocken aus.«

»Eher ... überrascht«, antwortete Bast. Sie hörte sogar selbst, wie lahm diese Antwort klang. Trotzdem deutete sie auf das halb fertige Relief und fügte mit einem raschen und ebenso nervösen, wenig überzeugenden Lächeln hinzu: »Ich hätte nicht erwartet, so etwas hier zu sehen.«

Mrs Walsh musterte sie für die Dauer eines weiteren, endlosen Atemzuges aufmerksam - und nicht im Geringsten überzeugt von dieser schalen Ausrede -, ehe sie ihren Blick von ihrem Gesicht losriss und sich dem Relief zuwandte.

»Erstaunlich«, sagte sie. »Vor allem, wenn man bedenkt, mit welch primitiven Mitteln diese Menschen gearbeitet haben müssen.«

Bast gestattete sich nicht, wütend zu werden. »Glauben Sie mir, Mrs Walsh, diese Menschen waren nicht halb so primitiv, wie Ihre Landsleute im Allgemeinen annehmen ... oder Sie glauben machen wollen.«

Mrs Walshs Blick wurde noch zweifelnder; sie beließ es dann aber bei einem angedeuteten Schulterzucken und einem kaum hörbaren Seufzen. »Gleichwie«, sagte sie, »es ist auf jeden Fall ein erstaunliches Stück Handwerkskunst. Und an einem Platz wie diesem mag es auch seine Berechtigung haben ... auch wenn es zweifellos heidnischen Inhaltes ist.«

»Zweifellos«, bestätigte Bast. Einen winzigen Moment lang war sie ernsthaft versucht, Mrs Walsh zu verraten, wie viel von ihrem christlichen Glauben auf die Geschichte ihres Volkes zurückzuführen war und wie viele Passagen ihrer Bibel aus anderen Religionen und unendlich viel älteren, unendlich wahreren Glaubensbekenntnissen zusammengestohlen war. Aber sie verzichtete darauf. Nicht jetzt.

Sie wollte sich herumdrehen und ihren Weg fortsetzen, doch in diesem Moment hob Mrs Walsh die Hand und deutete auf eine bestimmte Stelle des Reliefs. »Schauen Sie!«

Bast tat ihr den Gefallen und sah genauer hin. Ihr fiel nichts Außergewöhnliches auf.

»Ich finde, diese Figur sieht aus wie Sie«, erklärte Mrs Walsh amüsiert. »Oder?«

Und warum auch nicht?, dachte Bast, im ersten Moment fast verwirrt. Sie war sie. »Das ist Bastet«, bestätigte sie. »Die alte Katzengöttin unserer Vorfahren. Meine - wie nennt man es bei Ihnen - Namenspatronin.«

Der Blick, mit dem Mrs Walsh sie daraufhin maß, gefiel ihr gar nicht. Aber sie verscheuchte den Gedanken, der daraus erwachsen wollte.

»Und wer ist die Figur daneben?«, fragte Mrs Walsh. »Sie sieht aus wie Ihre Schwester ... die Schwester Ihrer Namenspatronin, meine ich natürlich.«

Neben der schlanken, in ein weißes und mit prachtvollen goldenen und roten Stickereien übersätes Gewand gekleideten Gestalt - sie erinnerte sich genau, wie es ausgesehen hatte und wie anstrengend es gewesen war, Stunde um Stunde reglos Modell stehen zu müssen, bis dieser Dummkopf von Zeichner endlich mit seiner Skizze zufrieden gewesen war - mit dem stilisierten Katzenkopf stand eine zweite, nahezu identische Gestalt, die wie ein Schatten der ersten wirkte. Ihre Umrisse waren nicht so klar und präzise, die Farben verblasst und dunkler und auf eine Art gemalt, die einem das Atmen schwer werden ließ, wenn man zu lange hinsah. Die Dummköpfe, die dieses Relief gestohlen und hierhergebracht hatten, hatten damit begonnen, sie in helleren und klareren Farben zu restaurieren, weil sie offensichtlich dem Irrtum erlegen waren, die Zeit hätte diesem Teil des Bildes aus irgendeinem Grund besonders heftig zugesetzt. Woher sollten sie auch wissen, dass dieser Effekt nicht nur beabsichtigt, sondern ganz besonders realistisch war?

»Das ist ...«, um ein Haar wäre ihr herausgerutscht: meine, »... Bastets Schwester«, antwortete sie. »Sachmet.«

»Sie sieht irgendwie ... unheimlich aus«, sagte Mrs Walsh. »Nicht wie jemand, den ich kennen lernen möchte.«

Gegen ihren Willen musste Bast lächeln. Man konnte gegen Mrs Walsh sagen, was man wollte, sie war auf jeden Fall eine sehr scharfsichtige alte Frau. »Das möchten Sie auch nicht«, bestätigte sie mit einem flüchtigen Lächeln. »Es ist nur eine alte Legende. Bastet war eine sehr sanftmütige Göttin, sagt man. So friedliebend und sanft, dass in ihrer Seele kein Platz mehr für Zorn und Gewalt war. Aber es liegt nun einmal in der Natur des Menschen, beides in sich zu tragen, und so blieb es nicht aus, dass eines Tages Sachmet erschien, ihr dunkles Ich. Sie verkörperte alles, was Bastet nicht war.«

»Des Menschen? Waren sie denn keine Götter?«

»Vielleicht ist der Unterschied nicht so groß, wie viele meinen«, antwortete Bast, immer noch lächelnd. »Bastet jedenfalls, so sagt die Legende, war so voller Liebe zu den Menschen und so gütig und sanft, dass sie Sachmet erschaffen musste, um dem dunklen Teil ihrer Seele einen Körper zu verleihen. Seither kämpfen beide Seiten um die Vorherrschaft.«

»Wäre es doch nur auch in Wahrheit so einfach«, meinte Mrs Walsh mit einem leisen Seufzen und als wäre sie es in diesem Moment, die Basts Gedanken las. »Diese Welt wäre ein besserer Ort, wenn wir allem Schlechten in uns einen eigenen Körper geben könnten, nicht wahr?«

»Aber vielleicht würden wir dadurch genau das verlieren, worum wir zu kämpfen glauben«, antwortete Bast.

Mrs Walsh dachte einen Moment sichtlich über diesen Gedanken nach und hob schließlich erneut die Schultern. »Ein interessanter Gedanke«, sagte sie. »Vielleicht sollten wir ihn ein andermal aufgreifen und vertiefen ... aber im Moment ist leider nicht der richtige Zeitpunkt dafür, fürchte ich.« Sie deutete zu Renouf hin. »Der gute Professor wartet sicher schon auf uns.«

Sie hatte recht, dachte Bast, und das nicht nur, was Renouf anging. Ohne einen konkreten Grund dafür angeben zu können, hatte sie plötzlich das sehr sichere Gefühl, dass es besser war, sich auf dieses Gespräch mit Mrs Walsh gar nicht einzulassen. Sie nickte nur, wandte sich um und beeilte sich, zu Renouf hinzugehen.



Der Direktor war vor einer schmalen Seitentür stehen geblieben, die so geschickt in die Wandvertäfelung eingelassen war, dass sie selbst wahrscheinlich daran vorbeigelaufen wäre, ohne sie auch nur zu bemerken. Während er einen kompliziert aussehenden Schlüssel aus der Jackentasche zog und drei Anläufe brauchte, um ihn ins Schloss zu nesteln und herumzudrehen, maß er sie erneut mit einem jener sonderbar besorgten Blicke, sah aber sofort weg, als er begriff, dass sie ihn bemerkte.

»Kommen Sie, meine Damen«, sagte er. »Aber geben Sie auf Ihre Schritte acht. Gleich hinter der Tür ist eine kleine Stufe.« Bast musste sich bücken, um durch die Tür zu treten, und Renouf hatte vergessen zu erwähnen, dass die Türschwelle die eigentliche Stufe war; ihr Schritt fiel deutlich größer aus als geplant, und sie musste einen hastigen zweiten Schritt machen und die Arme ausstrecken, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Renouf trat hinter ihr durch die Tür und streckte Mrs Walsh die Hand entgegen, um sie vor einem ähnlichen Missgeschick zu bewahren. Sein Gesicht blieb vollkommen unbewegt.

»War das Ihre Revanche für gerade, Professor Renouf?«, fragte sie.

»Aber ich bitte Sie, gnädige Frau!«, antwortete Renouf mit gespielter Empörung. »Wofür halten Sie mich?« Aber seine Augen funkelten, während er das sagte, und Bast verzichtete vorsichtshalber darauf, irgendetwas zu antworten. Sie wartete, bis Renouf die Tür hinter Mrs Walsh geschlossen hatte und sah ihn mit wachsender Ungeduld an. Renouf machte eine Kopfbewegung nach links und ging los, und Bast sah sich neugierig um. Der Gang, in dem sie sich befanden, war fensterlos und so schmal, dass sie die Wände auf beiden Seiten mühelos mit den ausgestreckten Armen hatte berühren können. Das einzige Licht, das es überhaupt gab, stammte von einer Anzahl schwacher Gaslampen, die in viel zu großen Abständen brannten. Die Wände bestanden aus unverputztem Ziegelstein, und es roch schlecht. Weder sie noch Mrs Walsh verloren auch nur ein einziges Wort darüber, doch Renouf wusste anscheinend, wie diese Umgebung auf Fremde wirkte.

»Es sind nur ein paar Schritte«, sagte er in entschuldigendem Tonfall. »Ich muss mich für die Unbequemlichkeit entschuldigen. Aber wie überall ist auch bei uns das Geld knapp. Unsere Mittel reichen gerade, um die Teile des Museums instand zu halten, die dem Publikum zugänglich sind.«

»Und für die Bequemlichkeit des Personals bleibt da nicht viel übrig«, vermutete Mrs Walsh. Sie seufzte. »Kein Wunder, dass der Wärter so unfreundlich war.«

»Henry und unfreundlich?«, fragte Renouf. »Das kann ich mir gar nicht vorstellen. Aber ich werde mit ihm reden, damit so etwas nicht noch einmal vorkommt.«

»Das wird sicher nicht nötig sein«, sagte Bast rasch. »Sie möchten Mrs Walsh doch nicht in Verlegenheit bringen, indem Sie dem armen Burschen ihretwegen einen Verweis erteilen, oder?«

Mrs Walsh sah nicht so aus, als würde ihr Haar deswegen noch mehr ergrauen, und Bast fuhr rasch fort: »Wo sind wir hier? Zwischen den großen Sälen?«

»Ja.« Renouf wirkte ein bisschen überrascht. »Die Wände sind nicht massiv, sondern dienen als Versorgungsgänge.«

»Um die Besucher zu bespitzeln oder das Personal?«, erkundigte sich Mrs Walsh spitz.

»Glauben Sie mir, Gnädigste, bei manchen der Besucher, die hier tagtäglich ein- und ausgehen, wäre es vermutlich besser, sie auf Schritt und Tritt im Auge zu behalten. Aber wir benutzen diese Gänge, um schneller von Saal zu Saal zu gelangen und gewisse Dinge zu transportieren, ohne den Museumsbetrieb zu stören. So, da wären wir.«

»Oh«, machte Mrs Walsh.

Der Gang endete nicht vor einer Wand oder einer weiteren Tür, sondern mündete in einer eisernen Wendeltreppe, deren Stufen in halsbrecherischem Winkel in die Tiefe führten. Auch unter ihnen schimmerte bleiches Gaslicht, aber es kam Bast so verschwommen und weit vor, als dränge es aus der Tiefe eines leblosen Ozeans empor.

»Sie machen sich wirklich keine Sorgen um die Bequemlichkeit Ihres Personals, wie?«, fragte Mrs Walsh.

»Es sind nur wenige Stufen, und es sieht schlimmer aus, als es ist«, antwortete Renouf. »Aber ich kann verstehen, wenn es Ihnen zu mühsam ist. Wenn Sie es wünschen, bringe ich Sie zurück in die Halle, und Ihre Begleiterin und ich gehen allein.«

»Ha!«, machte Mrs Walsh, warf ihm einen geradezu vernichtenden Blick zu und begann stolz erhobenen Hauptes die Treppe hinunterzugehen. Die betagte Konstruktion ächzte unter Mrs Walshs Gewicht, und die Dunkelheit dort unten erfüllte Bast mit immer größerem Unbehagen, obwohl ihre Sinne ihr sagten, dass dort keine Gefahr auf sie lauerte. Aber noch viel weniger gefiel ihr der Gedanke, dass Renouf ganz offensichtlich daran gelegen war, Mrs Walsh zurückzulassen. Sie fragte sich, warum.

Sie richtete diese Frage auch an ihn, lautlos und auf eine Weise, auf die er ihr die Antwort nicht verweigern konnte ... aber sie bekam sie trotzdem nicht.

Renouf hatte anscheinend nichts zu verbergen und führte nichts im Schilde. Er war allenfalls ein wenig verstimmt über Mrs Walshs Begleitung, weil sie ihn seiner Meinung nach daran hinderte, ein wenig mit ihr zu schäkern. Wenn er Geheimnisse hatte, dann waren sie so tief in ihm verborgen, dass nicht einmal sie sie entdecken konnte.

Dicht hinter Mrs Walsh eilte sie die Metallstufen hinab und wartete ungeduldig, bis sich auch Renouf zu ihnen gesellt hatte.

»Dort entlang.« Renouf wedelte in die Tiefe des Ganges hinein, der sich in seiner Breite von dem oben unterschied, aber ebenso schmucklos und schlecht beleuchtet war wie der oben. »Gleich die dritte Tür auf der rechten Seite.«

Mrs Walsh sah sich demonstrativ schaudernd um. »Was ist das hier?«

»Nun, unser Keller, gnädige Frau«, antwortete Renouf, während er bereits losging. »Alles, was man auch in jedem anderen Keller finden würde - die Heizung, Wasserrohre und Brennstoff und allerlei nutzlosen Kram, den man langst hätte wegwerfen sollen, von dem man sich aber einfach nicht trennen kann ... wie in jedem anderen Keller auch; nur ein wenig größer eben. Und unser Magazin natürlich.«

»Magazin?«

»Wir haben viel zu viele Exponate, um sie alle gleichzeitig auszustellen, gnädige Frau«, antwortete Renouf, dem es sichtliche Freude bereitete, über seine Schätze zu reden. »Das könnten wir gar nicht. Nicht einmal unser Platz reicht dazu aus. Das allermeiste lagern wir hier unten ein und tauschen es von Zeit zu Zeit aus.«

Sie hatten die Tür erreicht, auf die er gerade gedeutet hatte, und Renouf drückte die Klinke herunter und zog sie auf, trat jedoch nicht hindurch, sondern machte nur eine einladende Geste mit der freien Hand. »Bitte, die Damen.« Er blinzelte Bast zu. »Und keine Sorge. Dahinter gibt es keine Stufe.«

Aber auch keine Menschen. Hinter der Tür brannte das ruhige gelbe Licht einer Petroleumlampe, und sie hörte nicht den mindesten Laut. Ganz plötzlich war ihr Misstrauen wieder da, und dass sie nach wie vor genau wusste, wie wenig Grund es dafür gab, machte es eher schlimmer. Mrs Walsh trat gehorsam durch die Tür, aber Bast rührte sich nicht, sondern sah Renouf nur aus schmalen Augen an.

»Was soll das?«, fragte sie. »Das ist nicht der Aufenthaltsraum.«

»Nein«, gestand Renouf. »Ich gebe zu, Sie haben mich ertappt. Der Aufenthaltsraum liegt hinter der nächsten Tür, und selbstverständlich bringe ich Sie sofort dorthin. Aber ich konnte der Versuchung einfach nicht widerstehen, Ihnen unseren größten Schatz zu zeigen. Tun Sie einem alten Mann die Freude und schenken Sie ihm fünf Minuten Ihrer Zeit. Sie werden es nicht bereuen, das verspreche ich.«

Bast wusste, dass sie es bereuen würde, aber trotz allem konnte sie nicht anders, als die Mischung aus Unverschämtheit und Nonchalance zu bewundern, die Renouf an den Tag legte ... und er hatte ihre Neugier geweckt. Auch wenn sie ziemlich sicher war, dass ihr das, was er ihr zeigen wollte, noch sehr viel weniger gefallen würde als die Halle oben.

Sie war es allein ihrem Stolz schuldig, noch einen Herzschlag lang zu zögern und ihn trotzig anzufunkeln, aber dann trat sie doch an ihm vorbei und gebückt durch die Tür.

Etwas ... streifte sie.

Es war kein körperliches Gefühl, sondern ein Empfinden wie die Berührung schwebender Spinnweben auf der Haut, nur dass dieses klebrige Tasten ihre Seele streifte und ungleich düsterer und kälter war, sodass sich etwas in ihr krümmte wie unter einem jähen Schmerz. Und vielleicht hätte sie sogar auf diese allerletzte, verzweifelte Warnung noch reagiert, hätte sie das, was sie erblickte, nicht trotz allem so vollkommen überrascht.

Wie sie erwartet hatte, war Mrs Walsh der einzige Mensch, der sich in dem weitläufigen, niedrigen Raum befand, aber das nahm sie kaum zur Kenntnis.

Sie hatte geglaubt, die perfide Zurschaustellung gestohlener Vergangenheit oben in der Halle wäre das Schlimmste, was sie an diesem Ort erwarten konnte.

Das hier war schlimmer. Keine bloße Verhöhnung von allem, was ihr heilig und wertvoll war, sondern ein Schlag ins Gesicht ihres ganzen Volkes, ein Anblick, der sie im Innersten in lautloser Wut aufschreien ließ, zugleich aber auch so vollkommen lähmte, dass sie einfach wie erstarrt dastand und nicht einmal den winzigsten Laut herausbrachte.

»Nun, habe ich zu viel versprochen?« Etwas stimmte mit Renoufs Stimme nicht, aber sie war auch nicht fähig, darauf zu reagieren, so wenig wie auf das unüberhörbare Geräusch, mit dem er die Tür hinter sich ins Schloss zog.

Sie war in einem Grab. In einem Tempel. Auf einem Schlachtfeld und in einem Wohnhaus, in der Werkstatt eines Goldschmiedes und der Kammer eines Stadtschreibers, alles zugleich und nichts davon und noch tausend andere Dinge ... Der Raum war angefüllt mit den herausgerissenen und geschändeten Eingeweiden ihrer Vergangenheit, die Geschichte eines ganzen Volkes, in Stücke gerissen und in Kisten und Kartons und Säcke verpackt und hierher verschleppt, an einen Ort, der so kalt und dunkel war wie die Hölle. Sie hatten sich nicht einmal die Mühe gemacht, sie sorgfältig aufzustapeln oder zu sortieren. Alles lag durch- und übereinander, vieles war beschädigt oder zerstört, als hätte hier rohe Gewalt geherrscht statt der behutsamen Hand eines Wissenschaftlers: Kisten waren aufgebrochen oder so achtlos übereinandergestapelt, dass sie zu Boden gestürzt und zerborsten waren, Säcke waren aufgerissen und kostbare Kanopen aus Alabaster in Stücke geschlagen. Zorn überkam Bast, ein kalter, fordernder Zorn, der wie eine Flamme in ihr emporloderte und alles andere verzehrte.

Zitternd drehte sie sich zu Renouf herum, aber alles, was sie in seinem Gesicht las, war ein ebenso kühles wie überhebliches Lächeln und eine Kälte, die sie schaudern ließ.

»Und das ist also Ihr ganzer Stolz?«, fragte Mrs Walsh. Wahrscheinlich hatten die Worte spöttisch klingen sollen, doch ihre Stimme zitterte ganz leicht, und irgendetwas hier drinnen verlieh ihnen einen düsteren Nachhall.

»Nicht ganz«, antwortete Renouf. Auch seine Stimme hatte sich verändert, und sein Gesicht ... flackerte, anders konnte Bast es nicht bezeichnen. Sie war noch immer wie gelähmt, und noch immer von einer kreischenden, lodernden Wut erfüllt, die jeden anderen Gedanken einfach hinwegfegte. »Aber wir kommen der Sache nahe. Nur noch einen ganz kurzen Moment Geduld.«

Etwas zerbrach mit einem hässlichen Knirschen unter seinem Fuß, als er an Bast vorbeiging. Winzige Alabasterscherben regneten zu Boden, und aus der kreischenden Wut in Bast wurde pure Qual. »Warum ... tun Sie das?«, brachte sie mühsam hervor.

Mrs Walsh drehte sich halb zu ihr herum, und aus der Verwirrung auf ihrem Gesicht wurde Erstaunen, dann fast augenblicklich blanker Schrecken, und Bast wurde klar, dass sich in ihrem eigenen Gesicht blanke Mordlust widerspiegelte.

»Aber ich bitte Sie, Bast.« Renouf lachte glucksend, während er sich einem mehr als mannshohen Gegenstand auf der anderen Seite des Raumes näherte, der beinahe bis unter die gewölbte Decke hinaufreichte und mit einem Tuch abgedeckt war. »Das ist doch nur ... alter Krempel, irgendwelcher Plunder, den die heidnischen Ureinwohner zurückgelassen haben und der zu Recht vergessen worden ist.« Das Knirschen wiederholte sich, als er diesmal mit Absicht auf eine hauchzarte Schale aus halb durchsichtigem Alabaster trat und sie unter dem Absatz zermalmte. Das Geräusch, mit dem der jahrtausendealte Stein zersplitterte, schnitt wie ein Messer in Basts Seele. Sie spürte den Schmerz des heiligen Gegenstandes wie ihren eigenen. Tränen der Wut verschleierten ihren Blick, aber sie war noch immer nicht fähig, die unheimliche Lähmung abzuschütteln. Hilflos ballte sie die Fauste, so fest, dass sich ihre Fingernägel in die Handflächen gruben.

»Professor Renouf, ich muss mich doch sehr wundern!«, sagte Mrs Walsh. »Sie sehen doch wohl, dass ...«

»Halt die Klappe«, unterbrach sie Renouf, beinahe im Plauderton. Mrs Walsh japste vor Unglauben und starrte ihn aus hervorquellenden Augen an, und Renouf ging weiter und fuhr dabei nahezu im Plauderton fort: »Und jetzt kommen Sie mir nicht mit heiligen Artefakten und der Würde Ihres Volkes und all dem Mist. Ihre Vorfahren waren unzivilisierte Wilde, die sich gegenseitig wegen einer Handvoll Datteln oder einem Schluck Wasser umgebracht haben, und wenn wir sie nicht daran hindern würden, dann würden sie es wahrscheinlich auch heute noch so halten. Sie glauben, dieses Zeug hier hätte irgendwelchen Wert?« Er streckte die Hand nach dem Tuch aus und trat gleichzeitig nach einer kniehohen Anubis-Statue aus poliertem schwarzem Marmor, die gegen die Wand geschleudert wurde und zerbrach. Bast wimmerte. »Es ist nur Abfall. Aber eine ganze Menge Dummköpfe in diesem Land findet aus irgendeinem Grund Gefallen daran, also graben wir es aus und bringen es hierher und verdienen gutes Geld damit. Aber ich vergaß: Ich wollte Ihnen ja noch unsere allerneueste Errungenschaft zeigen.«

Und damit riss er das Tuch mit einem einzigen Ruck herunter, mit dem sichtlichen Stolz und dem Gehabe eines Künstlers, der seine allerneueste Kreation enthüllte, und Bast versuchte gar nicht mehr, ein gequältes Keuchen zu unterdrücken.

Unter dem Tuch kam eine gut acht Fuß hohe Statue aus glattpoliertem Sandstein zum Vorschein. Sie stand auf einem flachen, quaderförmigen Sockel aus demselben Material, in den das altägyptische Henkelkreuz gemeißelt war, und zeigte einen stilisierten Raubvogel mit einem gewaltigen Schnabel, grausamen Augen und einer hohen zackenlosen Krone, und trotz der schimmernden Härte des Materiales und des Atems der Jahrtausende, den sie mit einer fast greifbaren Intensität verströmte, wirkte sie auf unheimliche Weise lebendig, erfüllt von einer Kraft und Vitalität, die den gesamten Raum zu durchfluten schien.

»Voilà!«, sagte Renouf und machte eine übertrieben deutende Geste. »Unsere allerneueste Errungenschaft, gerade aus dem Horustempel in Nedfu eingetroffen. Noch mehr Plunder, aber damit verdienen wir zweifellos noch mehr Geld.«

Er ließ das Tuch fallen, drehte sich halb herum und bückte sich in der gleichen Bewegung nach etwas, das Bast nicht erkennen konnte, weil er es zugleich mit seinem Körper verdeckte. »Sehen Sie, Miss Bast, auf diese Weise erweisen sich Ihre zurückgebliebenen Landsleute am Ende doch noch als nützlich.«

»Professor, das ist ungeheuerlich!«, keuchte Mrs Walsh. »Was erlauben Sie sich, so ...«



»Verdammt noch mal, ich habe gesagt, du sollst die Klappe halten!« Die letzten drei Worte hatte er geschrien, und Bast konnte hinterher nicht sagen, ob es das war, was den Bann endgültig brach, oder die ebenso plötzliche wie rasend schnelle Bewegung, mit der er aufsprang und herumwirbelte, lautlos und so elegant und fließend wie ein Tanz und so rasend schnell, dass er selbst vor ihren Augen zu einem flackernden Schemen zu werden schien, dem der Blick kaum noch zu folgen vermochte.

Sie sah dennoch, dass seine Hand nicht mehr leer war, sondern poliertes Elfenbein umklammerte. Ein bronzefarbener Blitz züngelte auf Mrs Walshs Kehle zu und würde sie enthaupten, ehe sie auch nur begriff, was geschah. Bast war noch immer wie gelähmt, und sie verstand womöglich noch viel weniger als Mrs Walsh, was hier wirklich geschah.

Aber etwas anderes verstand es.

Die Kette zerriss, und das Ungeheuer erwachte mit einem lautlosen Schrei.

Sachmet schlug zu.

Ihre Handkante traf Renoufs Ellbogen und zertrümmerte ihn, sodass der tödliche Schwerthieb Mrs Walshs Kehle verfehlte und ihr lediglich eine Haarsträhne abtrennte, die in einer lautlosen Explosion schattenhafter Bewegung vor ihrem Gesicht auseinanderflog. Renouf grunzte vor Schmerz und taumelte, ließ das Schwert aber keineswegs fallen, sondern trat nur mit einer unglaublich schnellen Bewegung zur Seite und wechselte die Waffe in die unversehrte Hand.

Bast ließ ihm nicht die Zeit zu einem zweiten und womöglich besser gezielten Hieb. Sie täuschte einen weiteren Schlag nach seinem Arm an, ließ sich plötzlich in die Hocke sinken und stieß das linke Bein hart und schnell nach vorne. Auch dieser Angriff ging ins Leere, denn er hatte die Bewegung nicht nur vorausgeahnt, sondern reagierte sogar noch schneller, als sie erwartet hatte, aber er reagierte auch genau so, wie sie es erwartet hatte, indem er einen blitzschnellen Schritt zur Seite machte und gleichzeitig mit dem Schwert zustieß.

Sie versuchte nicht, dem Stich auszuweichen, sondern drehte nur den Oberkörper ein kleines Stück zur Seite, sodass die Klinge nicht ihre Kehle durchbohrte, sondern nur eine Spur aus brennendem Schmerz an ihrem Hals hinterließ und sich knirschend in den Boden grub, und sie hatte ihren Gegner vollkommen richtig eingeschätzt: Statt die Waffe loszulassen und sich in Sicherheit zu bringen, versuchte er sie loszureißen, und diesmal traf Basts hochschnellender Fuß sein Ziel. Der Elfenbeingriff barst in Stücke, und Renouf taumelte mit einem schmerzerfüllten Ächzen zurück und prallte gegen die riesige Horusstatue.

Bast war mit einem einzigen Satz auf den Füßen und über ihm, aber diesmal war sie es, die ihren Gegner unterschätzte. Seine zertrümmerte Hand schlug wie eine Raubvogelklaue nach ihrem Gesicht. Fingernägel und Knochensplitter zerfurchten ihre Haut, und nicht einmal so sehr der grelle Schmerz als vielmehr ihr eigenes Blut, das ihr plötzlich in die Augen lief und sie blendete, ließ sie zurückprallen und ihren Griff um eine Winzigkeit lockerer werden, sodass es Renouf nicht nur gelang, sich loszureißen, sondern sie auch so wuchtig von sich zu stoßen, dass sie mit hilflos rudernden Armen auf den Rücken fiel und ihr Hinterkopf hart gegen den Stein prallte.

Sie verlor nicht das Bewusstsein, aber der grelle Schmerz löschte ihren Blick für einen Moment einfach aus, und eine bleierne Schwere begann von ihren Gliedern Besitz zu ergreifen, so lautlos und schnell wie ein Tintenfleck in weißem Löschpapier und ebenso dunkel.

Es gelang ihr, die Schwäche zurückzudrängen und sich auf Hände und Knie hochzustemmen. Zu spät, viel zu spät. Wäre ihr Gegner auch nur halb so gut gewesen wie sie, so hätte sie nicht einmal mehr diesen Gedanken denken können - doch er verzichtete darauf, seinen Vorteil zu nutzen, sondern taumelte stattdessen ein paar Schritte davon und ließ sich schwer auf die Knie fallen. Ganz gewiss nicht aus Schwäche.

Bast beging nicht den Fehler, ihrem allerersten Impuls nachzugeben und sich unverzüglich auf ihn zu stürzen, sondern rollte ihrerseits herum, ergriff das Schwert, das Renouf fallen gelassen hatte und sprang auf die Füße. Ein Schmerzenslaut kam über ihre Lippen, als das zersplitterte Elfenbein des Griffes in ihre Handfläche biss, aber sie schloss die Faust trotzig nur noch fester um die Waffe und fuhr zu ihrem Gegner herum.

Wie es aussah, war ihre Entscheidung richtig gewesen.

Auch Renouf war inzwischen wieder auf den Beinen und hielt eine Waffe in der Hand: ein sichelförmig gekrümmtes Schwert, das fast doppelt so lang war wie ihre eigene Waffe, und dessen Griff sich vermutlich nicht wie weiß glühendes Eisen in seine Handfläche grub. Und allein die Art, auf die er diese bizarr anmutende Waffe hielt, machte ihr klar, dass er es nicht zum ersten Mal tat, und dass er sehr wohl damit umzugehen verstand.

Aber nicht so gut wie sie. Auch das erkannte sie.

»Du solltest ...«, begann Renouf, und Bast stürmte ansatzlos vor und schlug zu.

Wie sie erwartet hatte, riss er - gebrochene Finger oder nicht - sein Sichelschwert in die Höhe und fing den Schlag ohne Mühe ab, aber auch der zweite Teil ihrer Rechnung ging auf. Sachmet wusste längst, nicht wen, aber was sie vor sich hatte, und sie kannte ihre eigenen Grenzen, und damit auch seine. Sie hatte gar nicht versucht, ihn zu treffen, sondern sein Schwert. Die pure Wucht des Hiebes, in dem all ihre ganze furchtbare Kraft lag, ließ die kaum verheilten Knochen in seiner Hand abermals brechen, und der Schmerz war selbst für ihn zu viel. Renouf brüllte auf, taumelte zurück und prallte gegen eine der wahllos aufgestapelten Kisten, auf der eine Petroleumlampe stand. Das Schwert flog - ebenso in Stücke zerbrochen wie ihr eigenes - davon, und Renouf stürzte hilflos zu Boden und riss die Lampe mit sich. Wie durch ein Wunder prallte sie klirrend neben ihm auf den harten Stein, ohne zu zerbrechen. Bast setzte ihm nach, den zersplitterten Stumpf des Schwertes noch immer in der Hand, und Renouf packte die heftig flackernde Petroleumlampe und schleuderte sie ihr ins Gesicht.

Jedenfalls versuchte er es. Bast warf sich zur Seite und riss im letzten Moment den Arm vor das Gesicht - schnell, rasend schnell, aber nicht schnell genug. Die Lampe prallte gegen ihren Unterarm und zerbarst. Brennendes Petroleum spritzte in alle Richtungen davon und setzte ihren Turban und ihren Mantel in Brand. Schmerz und unerträgliche Hitze hüllten sie ein, als wäre sie selbst nicht mehr als eine lodernde, lebendig gewordene Fackel, und als sie zurücktaumelte und ihren schmelzenden Turban herunterriss, wurde es im ersten Moment schlimmer, nicht besser. Auch ihr Mantel stand plötzlich in Flammen. Bast taumelte schreiend zurück, riss den lodernden schwarzen Stoff von den Schultern und fiel hustend und qualvoll nach Atem ringend auf die Knie. Die Qual wurde für einen Moment so schlimm, dass sie das Bewusstsein zu verlieren drohte, aber da war noch immer ein anderer, stärkerer Teil in ihr, der ihre Hände zwang, sich zu bewegen und die Flammen auszuschlagen und die höllische Qual einfach zu ignorieren. Da war Bewegung, irgendwo am Rande des immer kleiner werdenden Ausschnitts der Wirklichkeit, den sie noch wahrnehmen konnte, aber es war ihr nicht mehr möglich, darauf zu reagieren. Wimmernd krümmte sie sich am Boden, ergab sich ganz dem grausamen Schmerz, der ihr Fleisch verzehrte und sie einhüllte wie eine zweite, unsichtbare Flamme, und zog irgendwie Kraft daraus. Vielleicht nicht sie, aber das ... Ding in ihr, das sie hasste und fürchtete wie nichts anderes auf der Welt und das doch der einzige Grund war, aus dem sie überhaupt noch lebte, und sie spürte, wie sich irgendetwas tief in ihr änderte. Vielleicht zum allerersten Mal war dieses Ungeheuer, gegen das sie seit so langer Zeit kämpfte, nicht ihr Feind, sondern ihr Verbündeter. Es war seine Kraft, die sie rettete, nicht ihre eigene. Der Schmerz erlosch, und eine neue, unglaublich düstere Kraft durchströmte sie.

Bast sprang auf die Füße, riss instinktiv die Arme vor das Gesicht und sah einen verzerrten Schatten über sich. Ein Schlag traf sie, hart genug, um ihr die Luft aus den Lungen zu treiben und sie zwei-, dreimal hilflos nach Atem ringend über den Boden rollen zu lassen, aber nicht hart genug, um sie zu verletzen oder gar zu töten. Wie durch einen tanzenden Schleier aus Schwarz und Rot und Tausenden unmöglicher Schattierungen dazwischen sah sie, wie der Schemen herumwirbelte und zur Tür sprang und dann einfach verschwunden war.

Das Ungeheuer, dessen Name Sachmet war, schrie vor Wut und Enttäuschung auf, aber nicht einmal seine Kraft reichte aus, um sie sofort aufspringen und die Verfolgung aufnehmen zu lassen. Für einige Sekunden - nicht einmal viele, vielleicht zwei oder drei, zugleich aber eine schiere Ewigkeit in dem Strudel schierer Kraft und Blut trinkender destruktiver Energie, in den sie hineingerissen worden war und der sie zu verschlingen drohte - trieb sie tatsächlich am Rande der Bewusstlosigkeit entlang, aber schließlich gelang es ihr, mit trägen, aber hartnäckigen Schwimmbewegungen den Rand dieser tödlichen Strömung zu erreichen und sich irgendwie an Land zu ziehen.

Das Erste, was Bast bewusst wahrnahm, war ein dünnes, schluchzendes Wimmern, ein fast erstickter, unglaublich jämmerlicher Laut, der wie ein weiß glühender Speer in ihre Gedanken stach und sie dazu brachte, den Kopf zu wenden und nach seiner Ursache Ausschau zu halten, statt den Schemen zu verfolgen.

Mrs Walsh war nur ein kleines Stück neben ihr auf die Knie gesunken und rang keuchend und zitternd wie unter unerträglichen Krämpfen nach Atem, obwohl die schlimmste Verletzung, die sie davongetragen hatte, nicht mehr als eine abgetrennte Haarlocke war. Statt Renouf hinterherzustürmen, wie es die lautlos kreischende Stimme in ihr verlangte, war sie mit einem einzigen Schritt neben Mrs Walsh, legte ihr die Hand unter das Kinn und zwang sie mit sanfter Gewalt, ihr ins Gesicht zusehen. Ein Fehler, wie sie sofort begriff. Mrs Walsh beruhigte sich nicht. In ihren Augen loderte das blanke Entsetzen, und wie hätte es auch anders sein können, blickte sie doch in ein verbranntes, zerschnittenes und blutüberströmtes Gesicht, dessen linke Wange herunterklappte wie ein Stück loser Tapete von einer faulenden Wand.

»Es ist alles in Ordnung«, sagte sie.

Mrs Walshs Blick erklärte ihr das genaue Gegenteil, und Bast legte ihr rasch die flache Hand auf die Stirn und sorgte dafür, dass ihre Furcht tatsächlich erlosch; zumindest in einem Ausmaß, in dem sie ihren freien Willen nicht zu sehr schändete oder gar Schaden hinterließ.

Sie sah zur Tür. Sie stand einen Spalt breit offen, und Renouf war verschwunden. Aber sie konnte seine hastigen Schritte draußen auf dem Gang noch hören. Er war schnell. Nicht zu schnell für sie, aber viel zu schnell, um noch mehr Zeit zu vergeuden.

Hastig sprang sie auf und warf einen raschen Blick in die Runde. Obwohl es ihr wie eine Ewigkeit vorgekommen war, hatte der Kampf mit dem vermeintlichen Museumsdirektor doch nur wenige Sekunden gedauert, und dennoch glich die Kammer einem Schlachtfeld. Was zuvor nur unordentlich und lieblos aufeinandergestapelt gewesen war, war nun zerstört und zerborsten; überall lagen Trümmer und Splitter und zermahlenes Glas und zerbrochener Alabaster, und die schmelzenden Überreste ihres Turbans und der noch immer lichterloh in Flammen stehende Mantel waren nicht alles, was brannte.

»Löschen Sie das Feuer, Mrs Walsh«, sagte sie. »Und warten Sie hier.« Sie zögerte einen kaum spürbaren Moment. Dann: »Fünf Minuten. Wenn ich bis dahin nicht zurück bin, laufen Sie.«

Und schon in der nächsten Sekunde lief auch sie, stürmte aus der Kammer und wandte sich nach rechts, in die Richtung, in der Renoufs hastige schwere Schritte verschwunden waren. Sein Vorsprung war groß, zehn oder zwölf Sekunden, eine Ewigkeit für ein Wesen, das sich so schnell zu bewegen imstande war wie er - aber sie hatte eine reelle Chance, ihn dennoch einzuholen, denn sie war mindestens genauso schnell. Falls ihre Kräfte reichten. Das Feuer in ihr brannte hell und so heiß, dass sie sich nichts vorstellen konnte, was sie wirklich aufzuhalten vermochte, aber sie kannte auch nur zu gut den Preis, den sie dafür bezahlen würde. Es war eine Flamme, die sich selbst verzehrte, unwiderstehlich heiß, aber kurzlebig. Sie hatte nicht viel Zeit, um den Namenlosen einzuholen und zu stellen.

Den Namenlosen! Als ob sie nicht wusste, wen sie jagte!

Sie beschleunigte ihre Schritte noch einmal und sah, wohin ihr Gegner geflohen war: Auch in dieser Richtung endete der Gang vor einer eisernen Wendeltreppe, die weiter nach unten führte.

Das schwere Metallgerüst dröhnte unter hastigen Tritten, und ein fauliger Geruch nach totem Wasser und verwesenden Dingen schlug ihr entgegen, lange bevor sie die Treppe erreichte.

Kurz bevor sie sie erreichte, flog eine Tür auf der rechten Seite des Korridors auf, und gleich drei Männer in den dunkelblauen Uniformen des Aufsichtspersonals stürmten ihr entgegen.

Einer von ihnen tat ihr - und vor allem sich selbst - den Gefallen, bei ihrem Anblick einfach zu erstarren, aber die beiden anderen waren dumm genug, sich ihr in den Weg zu stellen, der eine albernerweise mit bloßen Händen, der andere zauberte plötzlich einen Schlagstock aus Hartholz hervor, mit dem er auf sie loszugehen versuchte.

Bast blieb keine Zeit, um Rücksicht zu nehmen; aber das war vielleicht auch gut so; zumindest für den Kerl mit dem Schlagstock. Statt das zu tun, was ihre innere Stimme von ihr verlangte, nämlich ihm seinen Schlagstock bis zum Anschlag in eine Körperöffnung zu rammen, in der er ihn ganz bestimmt nicht gerne hatte, schlug sie ihm seine lächerliche Waffe mit einer fast beiläufigen Bewegung, die ihn noch beiläufiger gegen die Wand schleuderte und halb bewusstlos daran zu Boden sinken ließ, aus der Hand, rannte den anderen kurzerhand über den Haufen und flog die eiserne Treppe mehr hinunter, als sie ging. Renoufs Schritte verklangen unter ihr, noch bevor sie die dritte Stufe erreicht hatte, aber sie wusste trotzdem, wo er war. Das Raubtier in ihr hatte Witterung aufgenommen, und sie würde die Spur nicht wieder verlieren.

Sie überwand die letzten vier oder fünf Stufen mit einem einzigen Satz, fiel auf ein Knie herab und opferte eine unendlich wertvolle Sekunde, um sich umzusehen und zu lauschen. Geräusche und Gerüche und andere, viel subtilere und nachhaltigere Eindrücke stürmten aus allen Richtungen auf sie ein, und für einen unendlich kurzen Moment fühlte sie sich desorientiert und hilflos. Dann schnappte die Wirklichkeit wie eine bis zum Zerreißen gespannte Feder an ihren angestammten Platz zurück, und Bast erkannte, dass sie sich in einem Keller unter dem Keller befand, einem sonderbaren Ort auf halbem Wege zwischen der Stadt und der modernden Unterwelt, in der Fäulnis und Schimmel längst die Oberhand gewonnen hatten. Auch hier bestanden die Wände aus nacktem Ziegelstein, aber es gab kaum Licht, und in den Fugen des Mauerwerks hatte sich giftiger Schimmel eingenistet, und sie hörte das harte Trappeln winziger, aber dafür umso zahlreicherer krallenbewehrter Pfoten und hörte das ölige Gluckern faulenden Wassers ... und irgendwo nicht sehr weit vor ihr noch immer das Geräusch hastiger Schritte, die sich nach wie vor entfernten. Schnell. Aber nicht schnell genug.

Auch über ihr klangen Geräusche auf: Stimmen, durcheinanderhastende Schritte und das Schlagen von Türen und aufgeregte Rufe. Noch waren keine Tritte auf der Treppe zu hören, aber das würde gewiss nicht mehr lange so bleiben.

Sie sprang auf und rannte den sich rasch entfernenden Schritten ihres Widersachers hinterher, wobei sie wesentlich mehr Wert auf Schnelligkeit legte als darauf, etwa leise zu sein. Es wäre vollkommen sinnlos gewesen; der Feind, den sie jagte, hatte ebenso scharfe Sinne wie sie und würde ihre Nähe allein durch die Wärme ihres Blutes spüren - von ihren Atemzügen und Schritten und dem Rascheln ihrer Kleidung ganz zu schweigen.

Für einen kurzen Moment hörte das Geräusch hastiger Schritte irgendwo in der Dunkelheit vor ihr auf. Anscheinend war ihre Beute stehen geblieben, vielleicht um sich zu orientieren, vielleicht auch aus der lächerlichen Hoffnung heraus, dass sie in ihrer Hast und bei der nahezu vollkommenen Schwärze hier unten einfach an ihm vorüberstürmen könnte. Auch Bast blieb stehen und lauschte einen Moment lang mit geschlossenen Augen und angehaltenem Atem. Das Geräusch von träge fließendem Wasser war lauter geworden, und sie hörte erneut das Scharren winziger harter Krallen auf moosbewachsenem, faulem Stein, dazu aber auch noch ein ungleich leiseres, leichteres Huschen, vielleicht der Laut von Spinnenfüßen, die über das seidige Gewebe ihres Netzes glitten. Dann, nach einer kleinen Ewigkeit, vernahm sie einen einzelnen, schweren Atemzug, und einmal darauf aufmerksam geworden, stürzten sich ihre Sinne ganz ohne ihr Zutun gierig auf die Quelle dieses Geräuschs, und nun hörte sie das rasende Hämmern eines Herzens. Sie öffnete die Augen, stürmte weiter und rannte gebückt durch einen niedrigen, halbrunden Durchgang, mehr eine Tunnelöffnung als eine Tür - und blieb im nächsten Moment stehen, als sie begriff, warum ihr Gegner tatsächlich angehalten hatte. Vor ihr war nichts als Schwärze. Auch das allerletzte bisschen Licht war erloschen, sodass selbst ihre nachtsichtigen Augen plötzlich blind waren.

Dafür hörte sie nun wieder Schritte. Nicht annähernd so schnell wie zuvor, sondern ganz im Gegenteil vorsichtig und schleifend, und immer wieder scheinbar willkürlich die Richtung wechselnd. Bast triumphierte innerlich. Sie wusste immer noch nicht, mit wem sie es wirklich zu tun hatte - aber ganz offensichtlich verfügte der andere nicht über dieselben scharfen Sinne wie sie. Die Dunkelheit war lästig, hinderte sie aber nicht wirklich. Als sie weiterlief, tat sie es mit geschlossenen Augen, um sich ganz auf die anderen Sinneseindrücke konzentrieren zu können, aber kaum weniger schnell als zuvor.

Entsprechend rasch schmolz der Abstand nun zusammen. Die schleifenden Schritte wurde lauter, wechselten noch ein- oder zweimal jäh die Richtung - und waren fort.

Abermals blieb sie stehen, lauschte ... aber da war nichts mehr. Nicht einmal mehr Atemzüge. Nur das Plätschern von fließendem Wasser war lauter geworden, und jetzt hörte sie auch noch ein anderes, neues Geräusch, das vorher nicht da gewesen war: ein Rascheln und Rennen und Scheuern, als rieben sich zahllose winzige haarige Leiber aneinander, manchmal auch ein schmerzerfülltes oder zorniges Pfeifen und Piepsen ... Ratten, die vor irgendetwas flohen.

Ein kurzes, zufriedenes Lächeln huschte in der Dunkelheit über Basts Gesicht, während sie die Richtung wechselte und weiterlief. Ihre Beute war schlau, aber sie spürte keine Verärgerung, sondern eher das Gegenteil. Ein Wild zu jagen, das sich wehrte und ihr mit List zu entkommen versuchte, machte die Jagd viel aufregender.

Sinne, von denen sie trotz all der unzähligen Jahre, die ihr nun schon zur Verfügung standen, niemals wirklich begriffen hatte, wie sie funktionierten, warnten sie, dass sie an ihrem Ziel vorbeizulaufen drohte. Bast machte kehrt, wandte sich nach links und sah plötzlich wieder Licht: einen ungesunden, flackernden grauen Schein, der aus einer Öffnung im Boden heraufdrang. Vorsichtig, jederzeit auf einen Hinterhalt oder einen plötzlichen Angriff gefasst, ließ sie sich am Rande des Schachts in die Hocke sinken und beugte sich behutsam vor.

Das Geräusch der flüchtenden Ratten wurde lauter, und sie konnte das Wasser, das sie bisher nur gehört hatte, jetzt sehen. Es floss träge, von weißem und grünem Schaum und den widerlichsten Beimengungen durchsetzt durch einen gemauerten Kanal zwanzig Fuß unter ihr. Im allerersten Moment war der Gestank so schlimm, dass sie zurückschreckte, aber dann wurde ihr Lächeln noch zufriedener. Ihr Gegner war schlau. Einem auch nur eine Winzigkeit weniger aufmerksamen Verfolger als ihr wäre er auf diese Weise vielleicht entkommen; möglicherweise wäre er sogar ihr entkommen, hätte sie die Jagd nicht längst ihrer dunklen Schwester überlassen.

Dennoch blieb sie auf der Hut. Sie verwandte weitere fünf oder sechs Sekunden darauf, erneut und mit wieder geschlossenen Augen zu lauschen, bevor sie sich abermals vorbeugte und einen zweiten aufmerksamen Blick nach unten warf. Sie hatte von dem erstaunlichen System unterirdischer Kanäle und Abflüsse gehört, das sich unter den Kellern Londons erstreckte, hätte aber dennoch nicht etwas so Gewaltiges erwartet. Der Kanal war keine Röhre, sondern ein regelrechter gemauerter Fluss, mindestens dreißig Fuß breit. Das schwarze, stinkige Wasser machte es unmöglich, seine Tiefe zu erkennen, aber sie fühlte, dass er tief war, und die widerwärtige Brühe schoss mit der Geschwindigkeit eines Wildwasserbaches dahin. Abfall und Fäkalien tanzten darin, manchmal trug die Strömung auch einen größeren, formlosen Gegenstand mit sich, und obwohl sie flach und ganz bewusst nur durch den Mund atmete, schien der Gestank doch immer nur noch weiter zuzunehmen. Unmittelbar vor ihr begann eine Reihe eiserner Trittstufen, die senkrecht in die Tiefe führten. Der faulige Belag, der das rostzerfressene Metall bedeckte, war an einigen Stellen verschmiert; der erste wirkliche Fehler, der ihrem Gegner unterlaufen war. Vielleicht auch eine Falle.

Sie würde es herausfinden.

Ohne das geringste Zögern sprang sie in den Schacht, kam gut fünf oder sechs Meter tiefer unmittelbar neben dem Rand des Abwasserkanals auf und verfluchte sich selbst für ihren Leichtsinn, noch bevor sie auf dem glitschigen Belag aus Fäule und schmierigem Moos, der den Boden bedeckte, ausglitt und schwer auf den Rücken fiel. Sofort rollte sie sich auf die Füße und hoch und drehte sich blitzschnell einmal um ihre Achse, mit halb ausgebreiteten Armen und darauf gefasst, einen heimtückischen Schlag oder Tritt abzufangen. Aber sie war allein.

Mit klopfendem Herzen sah sie sich um. Das Licht - sie hatte nicht die geringste Ahnung, wo es herkam - war so schwach, dass die Augen eines normalen Menschen kaum mehr als einen dunkelgrauen Schimmer wahrgenommen hätten, wie in einer mondlosen Nacht mit bedecktem Himmel, einen Moment, bevor die Dämmerung hereinbrach. Aber ihr reichte es aus, nicht nur zu erkennen, dass sie nicht nur vollkommen allein, sondern auch in einer Welt gestrandet war, wie sie bizarrer und düsterer kaum sein konnte. Klebriger Fäulnisgestank schien die Luft zu etwas zu machen, das man greifen konnte und das sich wie ein schmieriger Film auf ihr Gesicht und ihre Hände legte; wo es eine der zahllosen Brand- oder Schnittwunden berührte, die sie davongetragen hatte, verursachte es einen heftig brennenden Schmerz. Der halbrunde Stollen war mehr als zehn Fuß hoch und doppelt so breit, und es gab keinen Fingerbreit, der nicht von Fäulnis und Verfall bedeckt war. Es war eine Kloake, zu nichts anderem erschaffen als die Abfälle und Reste der Menschen zu beseitigen, die in der Stadt über ihr lebten, aber sie erinnerte sich plötzlich an die Abwasserkanäle ihrer Heimatstadt, fünftausend Jahre zuvor und am anderen Ende der Welt. Sie waren sauberer gewesen. Reiner.

Bast verscheuchte den Gedanken und warf einen zweiten, sichernden Blick nach rechts und links, bevor sie dicht an den Rand des steinernen Flussbettes herantrat und ihren Blick über das faulige Wasser gleiten ließ.

Ein leises Gefühl von Übelkeit kroch aus ihrem Magen herauf, als der Gestank noch schlimmer wurde. Es nutzte längst nichts mehr, nur durch den Mund zu atmen. Sie roch die Verwesung ringsum trotzdem, und zusätzlich konnte sie sie jetzt schmecken.

Dann entdeckte sie, wonach sie gesucht hatte.

»Du kannst jetzt herauskommen«, sagte sie. Sie hatte spöttisch klingen wollen, aber selbst die Laute, die ihre Kehle hervorbrachte, schienen plötzlich etwas Schmieriges und Klebriges zu haben, und der gemauerte Kuppelgang verschluckte jedes Echo und nahm ihnen damit auch noch den letzten Rest von Lebendigkeit. Sie räusperte sich, widerstand mit Mühe der Versuchung, den sauer schmeckenden Speichel, der sich immer schneller unter ihrer Zunge sammelte, ins Wasser zu spucken, und fuhr lauter und nun deutlich verärgert fort: »Verdammt, zwing mich nicht, dich da rauszuholen. Dann wäre ich wirklich wütend, weißt du?«

Sogar ihr selbst kamen diese Worte ein bisschen lächerlich vor. Sie war aus keinem anderen Grund hier, als ihn zu töten, und was konnte sie ihm schon Schlimmeres antun? Aber es verging nur noch ein winziger Moment, bis sich der Schatten einen Fuß unter der Wasseroberfläche regte und mit einer schlängelnden Bewegung aufzutauchen begann.

Irgendetwas war an dieser Bewegung genauso falsch wie an seinem Umriss, doch als sie begriff, was es war, war es zu spät.

Bast schrie in purem Entsetzen auf und prallte zurück, aber sie war weder schnell genug, noch auf das glitzernde Ungeheuer vorbereitet, das in einer Explosion aus schaumig aufspritzendem Wasser, metallisch glänzenden Schuppen und Zähnen und Klauen und schierer Kraft aus dem Fluss schoss. Ihr Fuß glitt auf den schmierigen Steinen aus und machte ein ungeschicktes Stolpern aus dem hastigen Schritt rückwärts, zu dem sie angesetzt hatte, dann prallte die schuppige Schnauze des Drachen mit solcher Wucht gegen ihre Brust, dass sie einfach von den Füßen gehoben und gegen die Wand direkt unter dem Schacht geschleudert wurde.

Der Aufprall war nicht so hart, dass ihr die Sinne schwanden, aber sie fand an den glitschigen Steinen einfach keinen Halt, rutschte hilflos daran hinab und rollte mit einer verzweifelten Bewegung herum, als etwas Riesiges, schuppig Glänzendes auf sie herabstürzte. Kiefer, die stark genug waren, um einen Ochsen zu zerreißen, schnappten mit einem grässlichen Geräusch unmittelbar neben ihrem Gesicht zusammen, und stahlharte Krallen rissen Furchen in den zerbröckelnden Stein.

Bast schlug instinktiv mit der geballten Faust und aller Kraft zu, doch das einzige Ergebnis war ein reißender Schmerz, der durch ihre Fingerknöchel bis in die Schulter hinauftobte und ihr die Tränen in die Augen trieb. Das Ungeheuer schien den Hieb nicht einmal zu spüren, revanchierte sich aber prompt mit einem peitschenden Schlag seines nahezu mannslangen, geschuppten Schwanzes. Bast keuchte vor Schmerz, als der gezackte Knochenkamm an einer Seite ihr Bein aufriss, trat dennoch gleichzeitig mit dem anderen Fuß zu und schaffte es tatsächlich, die gigantische Kreatur zu erschüttern. Nicht wirklich, nicht, dass sie ihr auch nur wehgetan hätte, aber immerhin verfehlte ihr blitzschneller Tatzenhieb sein Ziel und riss nur den Stein neben ihrer Schulter auf, statt ihr Gesicht bis auf die Schädelknochen zu zerfetzen. Unverzüglich versuchte sie aufzuspringen, aber das verletzte Bein gab unter ihrem Gewicht nach, und sie fiel ein zweites Mal auf den Rücken; diesmal so schwer, dass ihr die Luft aus den Lungen gepresst wurde und für einen Moment alle Kraft aus ihren Gliedern wich.

Auch jetzt gelang es den wogenden schwarzen Schleiern vor ihren Augen nicht, ihr Bewusstsein zu verschlingen, doch sie zurückzudrängen, kostete sie wertvolle Zeit, und als es ihr endlich gelungen war, war es zu spät. Der Nildrache war herumgefahren und stürzte sich zischend auf sie. Ein gewaltiges Maul, gespickt mit Zähnen so lang wie ihre Daumen, aber doppelt so dick und spitz wie Dolche, stieß auf ihr Gesicht herab. Bast konnte seinen Atem riechen, heiß und nach Verwesung und den seit langer Zeit toten Dingen stinkend, von denen er sich hier unten ernähren musste, warf sich herum und versuchte seinen Schädel zu packen wie den Kopf eines wütenden Hundes, der nach ihrer Kehle schnappte, und etwas in ihr lachte bei dem bloßen Gedanken hysterisch auf. Sie kämpfte nicht mit einem Hund, sondern mit einem leibhaftigen Drachen. Nicht einmal ihre Kräfte waren denen des Ungeheuers gewachsen.

Aber der grelle, alles auslöschende Schmerz, den sie erwartete, kam nicht. Der Schädel des schuppigen Ungeheuers senkte sich weiter, ohne ihre verzweifelten Anstrengungen auch nur zur Kenntnis zu nehmen, doch statt zuzuschnappen und damit alles zu beenden, erstarrte der Drache plötzlich.

Dann, so schnell und konsequent, wie er sie niedergeworfen hatte, glitt er zurück.

Bast rang keuchend nach Atem, was ihr im allerersten Moment nicht einmal wirklich gelingen wollte. Das pure Gewicht des Ungeheuers hatte ihr mindestens zwei oder drei Rippen gebrochen, und sie schmeckte ihr eigenes Blut, das aus ihrer Kehle nach oben stieg, während sie würgend nach Luft rang. Trotzdem stemmte sie sich auf die Ellbogen hoch und kroch rücklings weit genug davon, um wenigstens die Illusion von Sicherheit zu haben - was genauso lächerlich war wie ihr Versuch, den Drachen im Ringkampf zu besiegen. Aber das Ungeheuer machte keine Anstalten, sie zu verfolgen. Es saß einfach da, ein geschuppter Gigant in Schwarz und Grün, mehr als zehn Fuß lang und mindestens so schwer wie fünf ausgewachsene Männer, und starrte sie aus seinen kalten Echsenaugen an, in denen sie nichts anderes las als Gier und berechnende, reptilienhafte Intelligenz. Sie konnte den Hunger spüren, der in den Eingeweiden des Drachen wühlte, seine unbeschreibliche Wut und die noch viel gewaltigere Enttäuschung, um die Beute, die er schon so sicher geglaubt hatte, im letzten Moment betrogen worden zu sein. Er wollte sich auf sie stürzen, mit jeder Faser seines gewaltigen Drachenleibs, aber irgendetwas hielt ihn zurück.

Bast zwang ihren Blick, das gepanzerte Ungeheuer loszulassen und die Schatten dahinter abzutasten. Selbst jetzt, wo sie wusste, wonach sie zu suchen hatte, fiel es ihr schwer, die Gestalt wirklich zu erkennen. Sie schien wie aus dem Nichts aufzutauchen; als hätte sie selbst nicht mehr Substanz als die dunstige Schwärze, die den Tunnel erfüllte, der Schatten eines Schattens, der sich dem Blick nur widerwillig preisgab.

Vielleicht lag es aber auch nur daran, dass sein Gesicht ebenso schwarz war wie das ihre und er auch Kleidung in der gleichen Farbe trug. Bast fragte sich, ob er sich bisher versteckt hatte, oder vielleicht die ganze Zeit über da gewesen war und sie ihn einfach nicht gesehen hatte.

»Sobek.«

Die Gestalt antwortete nicht, aber nur einen Moment später hörte sie ein schleifendes Rascheln, und dann sagte eine andere Stimme: »Immerhin erkennst du uns noch. Offen gestanden ist das schon fast mehr, als ich zu hoffen gewagt habe.«

Seltsamerweise schien die Stimme von oben zu kommen, nicht aus Richtung der schattenhaften Gestalt, und auch nicht hinter ihr. Bast blickte auf und verspürte einen neuen, heftigen Schwall von Ärger über sich selbst, als sie den Mann, den sie verfolgt hatte, die eisernen Trittstufen über sich herabsteigen sah. Das letzte Stück legte er mit einem Sprung zurück, den er weitaus sicherer und eleganter beendete als sie gerade, nickte dem gesichtslosen Schatten hinter dem Drachen knapp zu und wandte sich dann mit einer fast gemächlichen Bewegung und einem nichts anderem als herzlichen Lächeln zu Bast herum. Allerdings war er plötzlich nicht mehr schmächtig, weißbärtig und an die siebzig Jahre alt. Er trug auch keinen eleganten Dreiteiler mehr. Er war nicht einmal mehr weiß.

Bast starrte ihn ausdruckslos an, nicht einmal wirklich erschrocken, aber unendlich zornig auf sich selbst, dass sie sich derart leicht hatte übertölpeln lassen, und der schwarzgesichtige Riese machte eine knappe Geste, woraufhin sich der Drache herumdrehte und mit einem gewaltigen Aufplatschen im Wasser verschwand.

»Eigentlich hätte ich es wissen müssen«, murmelte sie.

»Was?«

»Dass du nicht allein bist. Nicht einmal die Ratten hier sind feige genug, um vor dir zu flüchten, Horus.«

Es waren Falkenaugen, die auf sie herabstarrten, nicht die eines Menschen, und für einen kurzem Moment wurden sie beinahe schwarz vor Zorn. Dann kehrte das Lächeln auf die ebenholzschwarzen Züge zurück. »Du hast dich nicht verändert in all den Jahren«, sagte er. »Und ich bin bis heute nicht ganz sicher, was schärfer ist - deine Zunge oder dein Schwert.« Er streckte die Hand aus, um ihr aufzuhelfen, aber Bast kroch nur ein weiteres Stück vor ihm davon.

Horus seufzte. »Ich bitte dich, Bastet! Ich gebe ja zu, dass es für eine Zeit einer meiner größten Wünsche war, dich vor mir im Staub kriechen zu sehen, aber doch nicht in dem da.« Er wiederholte seine Geste, und diesmal - wenn auch zögernd - griff Bast nach seiner Hand und ließ sich von ihm auf die Füße helfen.

Sie biss die Zähne zusammen, um einen Schmerzlaut zu unterdrücken, aber die dunklen Augen ihres Gegenübers funkelten trotzdem amüsiert, als er sie anblickte und erkannte, wie es tatsächlich in ihr aussah. Sie hatte kaum noch die Kraft, auf eigenen Beinen zu stehen, geschweige denn, ihm etwas entgegenzusetzen. Außerdem waren sie zu zweit.

Horus trat einen halben Schritt zurück, sah einen Moment lang auf die Hand hinab, mit der er ihr aufgeholfen hatte, und wischte sie dann mehrmals und mit so angeekeltem Gesicht an seinem Gewand ab, als hätte er sich besudelt. »Widerlich«, murmelte er. »Ich weiß, man sagt so etwas nicht zu einer Dame - aber du stinkst, Bastet.«

»Das ist wahr«, gestand Bast. »Ich habe gehört, das passiert allen, die dir zu nahe kommen.« Alles drehte sich um sie. Jetzt, wo der Kampf vorbei war und sich das Ungeheuer geifernd und knurrend in sein Versteck zurückzog, schwappten Müdigkeit und Schwäche wie eine erstickende schwarze Woge über ihr zusammen. Mit einem Male fühlte sie sich so matt, dass sie sich beherrschen musste, um sich nicht an seiner Schulter festzuhalten.

Aber natürlich hätte sie sich eher die Hand abgehackt, als das zu tun.

»Ein amüsanter Gedanke«, sagte Horus. »Vielleicht komme ich ja irgendwann darauf zurück.«

Sobek sagte etwas in einer fremden, sonderbar melodisch klingenden Sprache und kam näher, und Horus nickte irgendwie betrübt und fuhr in verändertem Ton fort. »Er hat recht. Jetzt ist nicht der Moment für Albernheiten.«

»Dann hör auf ihn und bring es zu Ende, Horus«, sagte Bast. »Töte mich, aber hör auf, mich zu verspotten.«

»Töten?« Horus wirkte ehrlich überrascht. »Was redest du? Du weißt, dass ich niemals eine der Unsrigen töten würde. Das ist der Unterschied zwischen uns, weißt du?«

Sobek kam näher, schweigend und mit vollkommen starrer Miene, wie fast immer. Er war ein sehr großer, fast hagerer Mann, noch einen Fingerbreit großer als Horus, der seinerseits Bast um ein gutes Stück überragte, und Bast konnte sich nicht erinnern, ihn in all den Jahren auch nur ein einziges Mal lächeln gesehen zu haben. Ungeachtet seiner menschlichen Gestalt hatte er zugleich etwas Echsenhaftes an sich. Aber im Moment hatte er auch die rechte Hand unter den Mantel geschoben, und Bast wusste, dass sie auf dem Griff eines Schwertes lag, das er darunter trug. Sie selbst war waffenlos, zu Tode erschöpft und dem Zusammenbruch nahe, und selbst wenn all das nicht gewesen wäre, hätte es wahrscheinlich nichts geändert. Sobek war der Einzige von allen, den sie im Schwertkampf niemals hatte besiegen können.

»Ich sage es gerne noch einmal«, seufzte Horus. »Wir sind nicht hier, um dir etwas anzutun.«

»Oh, ich verstehe«, murmelte sie. »Du wolltest nur in aller Ruhe ein Bad nehmen, vermute ich. Bitte verzeih, dass ich dich gestört habe.« Sie funkelte ihn an. »Was willst du?«

»Mit dir reden«, antwortete Horus. »Mehr nicht.«

»Gehört es neuerdings zu deinen Angewohnheiten, eine Unterhaltung mit dem Schwert in der Hand zu beginnen?«

Horus lächelte. »Willst du wirklich behaupten, dass ich dich in Gefahr gebracht habe? Bastet! Du weißt, dass es niemanden gibt, der dir mit dem Schwert gewachsen wäre.« Er sah kurz zu Sobek zurück. »Na ja, fast niemanden.«

»Und deshalb wolltest du Mrs Walsh töten?«

»Mrs Walsh?« Horus tat so, als müsse er über die Bedeutung dieses Namens nachdenken, dann nickte er. »Oh, deine grauhaarige Freundin. Du sorgst dich tatsächlich um eine Sterbliche?«

»Überrascht dich das?« Bast machte ein abfälliges Geräusch. »Siehst du, da hätten wir schon zwei Dinge, die uns unterscheiden. Also, was wollt ihr von mir?«

»Mit dir reden«, antwortete Horus erneut. »Du hättest nicht herkommen sollen, Bastet. Misch dich nicht ein.«

»Bringt ihr mich sonst um?«, fragte Bast spöttisch.

»Nein«, antwortete Horus. »Wir töten einander nicht. Aber es gibt Schlimmeres als den Tod - muss ich dir das sagen?« Er seufzte sehr tief. »Warum stellst du dich gegen uns, Bastet? Wir sind von gleicher Art.«

»Nur äußerlich«, antwortete Bast kalt.

Horus ignorierte ihre Worte. »Hör auf, uns zu bekämpfen«, sagte er. »Ich bitte dich!«

»Wenn ihr aufhört, Menschen zu töten.«

»Menschen zu töten«, wiederholte Horus. »Wie nobel. Aber ... täusche ich mich, oder hättest du gerade nichts lieber getan, als genau das? Du hättest Renouf am liebsten umgebracht, habe ich recht?«

»Du warst Renouf.«

»Aber das wusstest du nicht.« Horus machte eine zornige Geste, als sie antworten wollte. »Was glaubst du, warum ich diese erniedrigende Rolle gespielt habe? Weil es mir Spaß macht? Gewiss nicht. Ich habe nur ausgesprochen, was sie denken. Was sie tun! Und du weißt, dass es so ist! Sie plündern unsere Gräber! Sie entweihen unsere heiligen Stätten und reißen die Gebeine unserer Vorväter aus ihrer ewigen Ruhe, um sich daran zu bereichern! Sie verwandeln unsere Vergangenheit in ...«, er machte eine zornige, ausholende Geste, »das hier!«

»Von welchen Gebeinen sprichst du, Horus?«, fragte Bast kalt. »Von denen derer, die du getötet hast, um dich von ihnen zu ernähren?«

Horus ignorierte die Frage. »Wir töten sie?«, zischte er. »Oh nein! Sie sind es, die uns töten! Wir töten vielleicht ihre Körper, aber sie töten unsere Geschichte! Sie entweihen alles, was uns jemals heilig war. Sie treten unseren Glauben mit Füßen und machen Dinge, für die Tausende mit Freuden gestorben sind, zu ihrem Spielzeug!«

Bast antwortete nicht gleich; schon weil sie Angst vor den Worten hatte, die über ihre Lippen kommen mochten. Natürlich durchschaute sie die Absicht hinter Horus' Worten - sie waren so lächerlich, dass sie eigentlich hätte beleidigt sein müssen, dass er auf eine derart plumpe Weise versuchte, sie zu manipulieren -, aber da war ein Teil in ihr, der wusste, dass er recht hatte.

Trotzdem schüttelte sie schließlich den Kopf. »Nein«, sagte sie grimmig. »Ich werde bestimmt nicht zusehen, wie ihr sie zu eurem Vieh macht.«

»Und was willst du dagegen tun?«, fragte Horus. »Uns töten?«

Darauf antwortete Bast gar nicht, aber das schien der schwarzgesichtige Hüne auch gar nicht erwartet zu haben. Er schüttelte nur traurig den Kopf und wandte sich ab, um direkt neben Sobek zu treten, bevor er sich wieder zu ihr herumdrehte. Nichts davon war Zufall, so wenig wie irgendeines der Worte, die er bisher gesprachen hatte. Horus überließ niemals etwas dem Zufall. Und er hatte schon immer einen gewissen Hang zur Theatralik gehabt, aber das stand ihm möglicherweise auch zu. Schließlich war er ein Gott.

»Geh, Bastet«, sagte er. »Komm zu uns und lebe, wie es dir zusteht, oder geh zu deinen sterblichen Freunden und lebe mit ihnen, aber stell dich uns nicht noch einmal in den Weg. Weder Sobek noch ich würden dir etwas antun, aber nicht alle denken so wie wir.«

»Das war jetzt eine Drohung, habe ich recht?«, fragte Bast spöttisch.

»Nein«, antwortete Horus. »Nur die Wahrheit.«

Und verschwand.



Bast starrte die Stelle, an der Sobek und er gerade noch gestanden hatten, eine geschlagene Sekunde lang an, bevor sie überhaupt begriff, dass die beiden nicht mehr da waren. Dann ballte sie in ohnmächtiger Wut die Fäuste und murmelte den ordinärsten Fluch in ihrer Muttersprache, an den sie sich erinnern konnte. Sie hasste es, wenn er das tat. Natürlich war es kaum mehr als ein billiger Taschenspielertrick, nicht viel spektakulärer als der billige Zauber, den man auf jedem Jahrmarkt bestaunen konnte, aber bei Horus ärgerte es sie einfach.

So wie so ziemlich alles, was Horus tat.

Ein gluckerndes Platschen drang in ihre Gedanken. Bast drehte beinahe widerwillig den Kopf und sah eine fast terriergroße Ratte, die ein kleines Stück oberhalb ihrer Position ins stinkende Wasser des Kanals gesprungen war und mit hektischen Paddelbewegungen gegen die Strömung ankämpfte, vielleicht durch eine ungeschickte Bewegung ins Wasser gefallen, vielleicht auch auf der Jagd nach einer Köstlichkeit, die die Strömung herantrieb.

Was immer es war, Bast sollte es nie erfahren, denn plötzlich spritzte das Wasser rings um die Ratte auf, und ein gewaltiges Kieferpaar schloss sich mit einem Knall wie eine zuschnappende Bärenfalle.

Der Drache war verschwunden, ohne dass sie mehr als einen flüchtigen Blick auf glitzernde Schuppen und ein einzelnes, starrendes Echsenauge erhaschte, aber Bast hatte die Warnung verstanden.

Dass sie Sobek nicht mehr sah, bedeutete nicht, dass er nicht mehr da war.

Außerdem musste sie zurück. Die fünf Minuten, die sie mit Mrs Walsh vereinbart hatte, waren längst vorbei.

Sie hatte ein weiteres Problem: Der Sprung den Schacht hinab war eine Kleinigkeit gewesen, selbst in ihrem Zustand, aber nun lag die unterste Sprosse einen guten Meter über ihr, selbst wenn sie die Arme ausstreckte und sich auf die Zehenspitzen stellte. Unter normalen Umständen hätte sie über einen solchen Sprung nicht einmal nachgedacht, aber erschöpft und verletzt, wie sie war, brauchte sie vier oder fünf Versuche, bevor sie das rostige Eisen zu fassen bekam. Und als es ihr endlich gelang, kostete es sie jedes bisschen Kraft, das sie noch aufbringen konnte, sich weit genug in die Höhe zu ziehen, um einen Fuß auf die unterste Leitersprosse zu stellen und ihre gequälten Handgelenke und Schultermuskeln zu entlasten.

Zitternd vor Anstrengung und mit rasendem Puls hielt sie inne und versuchte, neue Kraft zu schöpfen, aber das Reservoir in ihr war leer. Da war nichts mehr, woraus sie schöpfen konnte. Der schier unerschöpfliche Quell war versiegt; wie eine Oase, deren unterirdischer Zufluss versandet war. Sie hatte zu lange gewartet, zu viel gegeben und zu wenig genommen, und jetzt bezahlte sie den Preis dafür. Für einen Moment glaubte sie noch einmal Horus' Augen vor sich zu sehen, und das spöttische Glitzern darin, und vielleicht war es einzig diese Vision, die ihr die Kraft gab, sich Hand über Hand und mit zusammengebissenen Zähnen weiter in die Höhe zu ziehen. Wenn sie versagte, dann würde Mrs Walsh den Preis bezahlen, und diesen Triumph würde sie Horus nicht zugestehen. Noch nicht.

Oben angelangt, sank sie am Rande des Schachtes auf die Knie und konzentrierte sich endlose Sekunden lang auf nichts anderes, als tief ein- und auszuatmen und darauf zu warten, dass die Kraft wieder in ihre Glieder zurückkehrte, was irgendwann auch geschah, aber langsam, qualvoll und nicht einmal annähernd in dem Maße, das nötig gewesen wäre. Aber immerhin reichte es, damit sie sich auf die Füße hochstemmen und loshumpeln konnte. Sie musste sich mit der Linken an der Mauer abstützen, um überhaupt von der Stelle zu kommen und nicht sofort wieder hinzufallen.

Nach ein paar Dutzend Schritten wurde es besser. Ihre Kraft kehrte nicht zurück, aber sie fand in einen gleichmäßigen, wenn auch langsamen Rhythmus, mit dem sie vorwärtskam, und schließlich - endlich - sah sie auch wieder Licht vor sich. Aber sie hörte auch Stimmen, und es war auch nicht nur das blasse graue Streulicht, das normalerweise hier unten herrschte, sondern der flackernde Schein von Petroleumlampen. Ihre Hoffnung, Mrs Walsh noch irgendwie unbeschadet aus dieser Geschichte herauszubekommen, sank.

Aber aufgeben hatte noch nie zu ihrem Wortschatz gehört.

Langsam und weitaus unsicherer als auf dem Hinweg tastete sie sich die Strecke zurück, die sie gekommen war, und hielt mit angehaltenem Atem und klopfendem Herzen inne, als der kalkweiße Strahl einer Karbidlampe unmittelbar vor ihr durch den Durchgang fiel. Ganz instinktiv prallte sie zurück, presste sich gegen die Wand und wurde zu einem Schatten.

Zwei, drei, schließlich vier Männer in den dunkelblauen Uniformen des Wachpersonals traten vor ihr durch den bogenförmigen Durchgang. Einer von ihnen war mit einer modernen Karbidlampe ausgestattet, deren Zischen die Schatten, in die sie sich zurückgezogen hatte wie etwas Feindseliges und Böses zu durchdringen schien; wie ein Bote aus einer zukünftigen, noch gar nicht geborenen Welt, in der die Dinge schwieriger werden würden, wenn nicht unmöglich. Die anderen trugen flackernde Petroleumlampen, deren Licht die erstickende Schwärze nicht wirklich zu besiegen vermochte.

Mit angehaltenem Atem und zu vollkommener Reglosigkeit erstarrt presste sie sich gegen den rauen Stein und wartete, bis die Männer an ihr vorübergegangen waren. Keiner nahm Notiz von ihr. Niemand bemerkte sie, obwohl das flackernde Petroleumlicht zwei-, dreimal direkt in ihr Gesicht fiel. Zu einem Schatten zu werden überstieg nicht einmal ihre kaum noch vorhandenen Kräfte, aber es kostete sie ungeheure Überwindung, die Männer einfach an sich vorbeigehen zu lassen.

Sie waren alles, was sie brauchte. Alles, was sie haben musste. Sie waren Leben, warmes, pulsierendes Blut und die Kraft, die zwischen ihr und dem endgültigen Sieg ihrer dunklen Schwester stand und der Vorstellung, so zu werden wie Horus und Sobek und so viele der anderen. Es wäre so leicht. Ein einziger Schritt, ein blitzschnelles Reißen und Zuschlagen, eine einzige, flüchtige Berührung, ja, ein bloßer Gedanke, und die Qual hätte ein Ende, das grausame Wühlen und Zerren in ihren Eingeweiden würde endlich verstummen, und sie ...

... wäre endgültig zu dem Ungeheuer geworden, das sie so lange und so verzweifelt tief in sich eingesperrt hatte.

Vielleicht war es der Anblick des letzten Mannes, der an ihr vorbeiging. Es war ein grauhaariger, missmutig aussehender Endfünfziger mit einem verbitterten Zug um den Mund und harten Augen, niemand, den sie gerne gekannt hätte. Aber sie kannte ihn, und vielleicht war es letzten Endes kein anderer als Horus selbst gewesen, der ihm das Leben rettete, denn schließlich war er selbst es gewesen, der ihm einen Namen gegeben hatte. Es war Henry, der grauhaarige Wächter, der Mrs Walshs Unmut in so großem Maße erregt hatte, und sie konnte niemanden nehmen, dessen Namen sie kannte. Das Ungeheuer in ihr schrie in gellender Wut und unersättlicher Gier auf, halb wahnsinnig vor Hunger, aber irgendwie - irgendwie - gelang es ihr, die Bestie noch einmal zu zügeln.

Vielleicht war sie auch mittlerweile selbst zu schwach, um den Kampf noch aufzunehmen. Basts Hand, schon halb nach dem Gesicht des ahnungslosen Mannes ausgestreckt, sank zitternd wieder herab, und ein leises, wimmerndes Stöhnen kam über ihre Lippen.

Henry blieb stehen.

Bast konnte verhindern, dass er sie sah, selbst jetzt noch und beinahe ohne ihr Zutun, aber er hatte etwas gehört, und er hatte Angst; eine Furcht, die er selbst für unbegründet halten oder allenfalls auf seine unheimliche Umgebung schieben mochte und deren wahren Grund er ganz gewiss nicht wissen wollte.

Er blieb stehen und hob den Arm, der die flackernde Petroleumlampe hielt, und der Anblick erinnerte Bast nun vollends an die Karikatur eines Nachtwächters, der durch die Straßen einer bizarren unterirdischen Stadt schlich und sich selbst davon zu überzeugen versuchte, das Zittern seiner Hände käme nur von der äußeren Kälte. Für einen Moment fiel der Lichtschein direkt auf ihr Gesicht, und Bast sah, wie sich seine Augen weiteten, als sie etwas erblickten, was sein Geist nicht wahrnehmen konnte. Dann senkte er die Lampe wieder und ging weiter, und auch Bast wartete jetzt nur noch einen ganz kurzen Moment, bevor sie sich aus ihrem unsichtbaren Versteck löste und ihren Weg fortsetzte.

Möglicherweise hatte sie dabei doch ein verräterisches Geräusch verursacht, denn kaum war sie durch den gemauerten Durchgang gehuscht, da folgte ihr etwas Kleines, blendend Weißes, das lautlos wie eine suchende Hand über den Boden huschte und ihre Spur aufzunehmen versuchte, und nahezu gleichzeitig hörte sie eine erschrockene Stimme; sie wusste, dass sie Henry gehörte, obwohl sie sie noch nie zuvor gehört hatte, denn sie bebte vor mühsam unterdrückter Furcht: »Was ist los?«

»Nichts«, antwortete eine andere Stimme. »Ich dachte nur, ich ... hätte etwas gehört.«

»Was willst du denn hier unten hören?«, erwiderte eine dritte, härtere Stimme. »Hier ist nichts. Nur Ratten und Spinnen.«

»Aber sie ist hier runtergelaufen! Ben hat es gesehen. Und Matt auch!«

Bast seufzte lautlos in sich hinein. Also wussten sie nicht nur, dass sie hier war, sondern auch, dass sie eine Frau verfolgten. Sehr viel schlechter hätte es gar nicht laufen können!

»Matt! Blödsinn! Wahrscheinlich ist er wieder mal betrunken! Und Ben plappert sowieso alles nach, was man ihm vorsagt! Lasst uns umkehren, bevor noch was passiert!«

»Noch eine Minute, okay. Wir gehen noch bis zur nächsten Abzweigung und machen dann kehrt.«

Bast hatte genug gehört - und womöglich noch weniger Zeit, als sie ohnehin geglaubt hatte. Wenn die Männer umkehrten, dann würden sie sie sehen, und sie wäre möglicherweise gezwungen, etwas zu tun, was sie nicht tun wollte. Das unnatürlich weiße Licht der Karbidlampe zog sich zitternd zurück, und auch Bast setzte ihren Weg fort, so schnell sie konnte. Nach wenigen Augenblicken hatte sie die Treppe erreicht und huschte lautlos über die Gitterstufen nach oben.

Wahrscheinlich wäre es nicht nötig gewesen, vorsichtig zu sein, denn sie hörte einen ganzen Chor aufgeregter Stimmen und durcheinanderhastender Schritte und schlagender Türen, noch bevor sie das obere Ende der Wendeltreppe erreichte. So viel zum Thema unauffällig, dachte sie grimmig. Zumindest in diesem Bereich des Museums herrschte Ausnahmezustand. Warum hatte sie nicht gleich einen Reporter samt seiner Kamera eingeladen, Mrs Walsh und sie zu begleiten?

Wenigstens auf dem nächsten Stück hatte sie Glück. Trotz der allgemeinen Aufregung war sie allein, als sie das obere Ende der Treppe erreichte und losstürmte, aber das würde ganz bestimmt nicht lange so bleiben.

Und ihre Glückssträhne war auch reichlich kurz: Sie war sehr sicher, die Tür hinter sich geschlossen zu haben, aber jetzt stand sie sperrangelweit offen, und sie hörte aufgeregte Stimmen, die wild durcheinanderredeten. Eine davon gehörte Gloria Walsh. Und als wäre das nicht genug, näherten sich ihr nun auch von hinten Schritte.

Bast vergaß auch noch den allerletzten Rest von Vorsicht, legte das letzte Stück im Laufschritt zurück und stürmte durch die Tür.

Es war schlimmer, als sie erwartet hatte. Mrs Walsh saß, noch immer am ganzen Leib zitternd und totenbleich, auf einer sarggroßen Kiste - was sie allerdings nicht daran hinderte, sich lautstark und heftig gestikulierend mit einem von gleich drei Wächtern zu streiten, die außer ihr noch hier drinnen waren. Der zweite war damit beschäftigt, sehr aufmerksam durch den Raum zu schreiten und seinen Inhalt zu inspizieren, während sein Kamerad scheinbar dasselbe tat, aber dann und wann stehen blieb und mit dem Fuß aufstampfte. Funken stoben auf, und in der Luft hing Brandgeruch. Bast registrierte auf einer tieferen Ebene, dass sich irgendetwas hier drinnen verändert hatte, aber sie konnte nicht genau sagen was, und jetzt war auch nicht der richtige Moment, um darüber nachzudenken.

Rasch und ohne auch nur einen Sekundenbruchteil zu zögern durchquerte sie den Raum, erreichte den ersten Mann, bevor er ihre Anwesenheit auch nur bemerkte und berührte ihn beinahe sanft im Nacken. Der Mann verdrehte die Augen und brach mit einem lautlosen Seufzen zusammen, und danach wurde es schwieriger.

Der Vorteil der Überraschung war dahin, und die beiden anderen Männer reagierten weitaus schneller und konsequenter, als ihr lieb war: Der, mit dem Mrs Walsh gestritten hatte, richtete sich erschrocken auf und hielt plötzlich wie durch Zauberei einen Schlagstock in der Hand, der andere wandte sich unverzüglich zur Flucht und versuchte, an ihr vorbei zur Tür zu kommen.

Bast stellte ihm ein Bein, und er fiel der Länge nach hin und setzte seinen Weg hilflos auf Bauch und Gesicht schlitternd fort, und noch bevor er so wuchtig gegen die Wand prallte, dass er augenblicklich das Bewusstsein verlor, sprang sie den dritten Wächter an und entrang ihm seine Waffe.

Er setzte sich zur Wehr, und für einen Sterblichen war er nicht nur überraschend stark und entschlossen, sondern auch schnell.

Vielleicht war sie auch nur besonders langsam geworden.

Gleichwie, der Wächter zeigte sich wenig beeindruckt von der Mühelosigkeit, mit der sie ihm seinen Knüppel weggenommen hatte, sondern versuchte entschlossen nach ihrem Gesicht zu schlagen. Bast fegte seine Hand beiseite, aber er trat prompt nach ihr und erwischte das noch nicht gänzlich verheilte Bein, wo sie der Schwanzhieb des Drachen getroffen hatte. Sie sank mit einem schmerzerfüllten Zischen auf ein Knie, und der Mann erwies sich nicht nur als unerwartet mutig, sondern auch klug, denn er zog aus seinem unerwarteten Erfolg die einzig richtige Konsequenz - er versuchte nicht, einen weiteren Schlag zu landen, sondern wirbelte auf dem Absatz herum und stürmte zur Tür.

Unglückseligerweise musste er dabei an Mrs Walsh vorbei. Sie streckte das Bein aus und ließ ihn über ihren Fuß stolpern. Anders als sein Kamerad fiel er nicht besonders schwer und verlor schon gar nicht das Bewusstsein, aber Bast war über ihm, bevor er sich wieder aufrappeln konnte. Ihre Finger tasteten nach dem Nervenknoten an seinem Hals und drückten ihn, und jegliches Leben wich aus seinen Augen.

Aber es war noch da, warm und pulsierend und unglaublich verlockend, und sie war hungrig, so unvorstellbar hungrig ... Ohne sich der Bewegung auch nur selbst bewusst zu sein, drehte sie den Bewusstlosen auf den Rücken und beugte sich über ihn. Ihre Lippen näherten sich seinem Gesicht, dem pulsierenden, warmen Leben darunter und ...

»Miss Bast?«, murmelte Mrs Walsh. »Was ... was tun Sie da?«

Mit einer Willensanstrengung, die ihre Kraft beinahe überstieg, ließ sie den bewusstlosen Wächter los und richtete sich auf. Die Qual in ihrem Inneren wurde unerträglich, und das enttäuschte Heulen der Bestie vermischte sich mit dem gleißenden Schmerz des Hungers zu schierer Agonie, die sie innerlich zu zerreißen schien. Alles verschwamm vor ihren Augen. Schwäche pulsierte in immer rascher aufeinanderfolgenden Wellen durch ihre Glieder. Sie war dabei, den Kampf zu verlieren.

»Miss Bast?«, murmelte Mrs Walsh noch einmal.

Es war ihr Blick, der den Bann brach. Nichts anderes als das blanke Entsetzen, das Bast darin las. Und etwas Tieferes, Abgründiges, das auch in Mrs Walshs Seele lauerte, wie die Bestie in ihr selbst; ein menschliches Ungeheuer, das nur auf ein Wort wartete, um ebenfalls geweckt zu werden ...

»Was tun Sie, Miss Bast?«, wimmerte Mrs Walsh. Sie flüsterte nur noch, und Bast spürte, wie dicht sie davor stand, zu zerbrechen. Aber auch ein zerschmetterter Geist war Leben, und vielleicht erwies sie ihr eine Gnade, wenn sie ...

»Nein!«, sagte Bast entschlossen. »Noch nicht. So einfach besiegst du mich nicht, Horus.«

»Miss Bast«, murmelte Mrs Walsh verstört.

»Es ist nichts«, antwortete sie rasch. »Keine Sorge.« Sie brachte sie mit einer raschen Geste und einer zusätzlichen, sachten Berührung ihres Geistes zum Schweigen. »Es ist nicht so, wie es aussieht, glauben Sie mir. Ich erkläre Ihnen alles, aber jetzt müssen wir von hier verschwinden. Haben Sie das verstanden?«

Mrs Walsh starrte sie weiter aus weit aufgerissenen Augen an und schwieg. Sie hatte nichts verstanden, aber sie würde gehorchen, und das war im Moment alles, was zählte.

Bast stand auf und unterdrückte im letzten Moment den Impuls, Mrs Walshs Hand zu ergreifen, um ihr auf die Füße zu helfen. Hunger und Schmerz kamen jetzt in Wellen, jede einzelne ein winziges bisschen stärker als die vorhergehende. Im Moment erlebte sie einen Augenblick der Klarheit, aber sie wagte nicht vorauszusagen, wie lange er anhalten würde. Wahrscheinlich war es besser, wenn sie sie nicht berührte.

Während sich Mrs Walsh umständlich und keuchend wie unter einer unsichtbaren Zentnerlast in die Höhe stemmte, warf Bast noch einmal einen raschen Blick in die Runde. Schon gerade, bei ihrer Rückkehr, war ihr an diesem Raum irgendetwas anders vorgekommen, und jetzt sah sie, dass dies keineswegs nur ein grundloses Gefühl gewesen war, oder eine Folge ihrer Nervosität. Vorhin war hier alles verwüstet und durcheinander gewesen, ein heilloses Chaos aus zerstörten und lieblos hingeworfenen Dingen und geschändeten Heiligtümern, und nahezu alles davon war auch da, bis hin zu der gewaltigen Horusstatue, aber es gab kein Durcheinander, keine Zerstörung außer der, die Horus und sie selbst angerichtet hatten. Auf dem Boden lagen die zerbrochenen Reste der beiden Schwerter und zahllose schimmernde Glassplitter. Die verkohlten Reste ihres Mantels qualmten noch immer vor sich hin und verpesteten die Luft, und hier und da glomm eine einzelner Funke, wie zum Beweis, dass sie sich zumindest diesen Teil der Geschehnisse nicht nur eingebildet hatte. Darüber hinaus aber war alles penibel in Regalen aufgestapelt und sorgsam verpackt; sie sah zahllose Bündel und Kartons und Kisten und Säcke, die mit kleinen, akribisch beschrifteten Zetteln markiert waren. Ein ganz normaler Lagerraum, wie sie ihn in jedem ordentlich geführten Museum auf der Welt erwartet hätte.

Bast war viel mehr erstaunt als wirklich erschrocken. Horus war schon immer ein Meister der Täuschung gewesen, aber das hätte sie ihm nicht zugetraut. Er hatte dazugelernt.

Oder sie selbst wurde nachlässiger.

Sie ging zur Tür, spähte auf den Flur hinaus und sah zumindest auf den ersten Blick nichts, aber der aufgeregte Lärm und das Stimmengewirr hatten noch zugenommen. Jemand kam.

»Kommen Sie, Mrs Walsh«, sagte sie. »Und denken Sie daran: Gehen Sie einfach weiter. Ganz egal, was passiert.«

Mrs Walsh setzte dazu an, zu widersprechen, aber das ließ Bast nicht zu. Mit einem entschlossenen Schritt verließ sie die Kammer, wartete, bis Mrs Walsh neben sie getreten war und ging dann mit langsamen, aber festen Schritten los.

Der nächste Schwächeanfall kam, als sie den Durchgang zur großen Halle fast erreicht hatten, und es war nichts anderes als pures Glück, dass ihnen in diesem Moment niemand begegnete. Bast sank hilflos mit der Schulter gegen die Wand und blieb am ganzen Leib zitternd und mit geschlossenen Augen stehen, die Stirn gegen den Stein gelehnt und die Hände zu Fäusten geballt.

»Miss Bast?«, fragte Mrs Walsh verstört. »Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«

»Nur einen Moment«, flüsterte Bast. Sie war nicht einmal sicher, ob sie die Worte tatsächlich aussprach, oder es nur versuchte. Der Hunger war grausam. »Und ... kommen Sie mir nicht zu nahe. Bitte.«

Aus dem Moment wurde eine Minute, vielleicht auch zwei, dann zog sich die Flut aus reiner Qual widerwillig und langsam wieder zurück, und ihr Blick klärte sich. Mrs Walsh war bis zur gegenüber liegenden Wand zurückgewichen und starrte sie aus Augen an, in denen das pure Entsetzen flackerte.

Bast atmete hörbar ein, zwang ein zitterndes Lächeln auf ihre Lippen und nahm Mrs Walsh zugleich so viel von ihrer Furcht, wie es ihr möglich war. Sehr viel war es nicht.

Draußen in der großen Halle war von der allgemeinen Aufregung nichts zu bemerken, jedenfalls nicht auf den ersten Blick. Henry war natürlich verschwunden und irrte möglicherweise noch immer durch die Kellergewölbe, aber seinen Platz neben den gewaltigen Ramsesstatuen nahmen nun gleich zwei seiner Kollegen ein. Beide waren deutlich jünger als er und von ausgesucht kräftiger Statur, und Bast musste kein zweites Mal hinsehen, um zu erkennen, dass sie ihre Aufgabe sehr ernst nahmen und dass diese nicht nur daraus bestand, die normalen Museumsbesucher im Auge zu behalten und darauf zu achten, dass niemand die ausgestellten Preziosen und Kunstwerke berührte.

Sie war nicht die Einzige, deren Gedanken sich in diese Richtung bewegten. Mrs Walsh ging zwar gehorsam neben ihr her, aber ihre Nervosität nahm mit jedem Schritt weiter zu. »Sie warten auf uns«, flüsterte sie.

»Ich weiß«, antwortete Bast. »Gehen Sie weiter.«

»Aber sie ... sie werden uns erkennen«, murmelte Mrs Walsh. »Was sollen wir nur tun?«

»Nichts«, antwortete sie. »Gehen Sie einfach weiter. Nichts wird geschehen.«

Sie nahmen denselben Weg zurück, den sie gekommen waren, und Bast registrierte ohne wirkliches Erstaunen, dass Horus sein Netz aus Lügen und Täuschungen bereits hier draußen ausgeworfen hatte: Das einzig Echte an dem Fries, der sie vorhin so erzürnt hatte, war die Auswahl seiner Motive. Alles andere war eine geschickte Kopie, bei der die Künstler nicht einmal die Spuren des Alters und die typischen Beschädigungen vergessen hatten, die die Jahrtausende darin hinterlassen hatten. Horus hatte dazugelernt, eine Menge sogar. Oder diese Falle war wirklich sehr gründlich vorbereitet gewesen - was sie bei jemandem wie Horus nicht im Mindesten überraschen würde.

Aber wie hatte er wissen können, dass sie hierherkam?

Mrs Walshs Schritte wurden langsamer, je näher sie den beiden Wächtern kamen. Sie sagte nichts mehr, aber sie ging weiter - wenn auch langsamer werdend und auf dem letzten Stück tatsächlich mit angehaltenem Atem. Einer der beiden sah ihnen mit ausdruckslosem Gesicht, dafür aber umso aufmerksameren Blicken nach, während der andere weiter die Halle im Auge behielt.

»Wieso ... haben sie uns nicht aufgehalten?«, murmelte Mrs Walsh verstört.

Bast antwortete erst, nachdem sie durch die Tür und außer Hörweite der Kassiererin waren. Auch sie blickte ihnen aufmerksam und auch ein wenig verwundert nach. Auf ihrer Stirn erschien etwas, das zu einer nachdenklichen Falte geworden wäre, hätte Bast ihre Gedanken nicht behutsam in eine andere Richtung gelenkt. Vielleicht fragte sie sich, wer die beiden neuen Museumswächter waren, die mit schnellen Schritten an ihr vorübergingen, und warum sie sich partout nicht an ihre Gesichter erinnern konnte, obwohl es doch gerade einmal eine Sekunde her war.

»Wie haben Sie das gemacht?«, fragte Mrs Walsh.

»Was?«

»Wieso versuchen sie nicht, uns aufzuhalten? Wieso ... erkennen sie uns nicht?« Mrs Walshs Blick irrte über ihr Gesicht und ihr zerfetztes, brandgeschwärztes Kleid und ihr blutiges Gesicht.

»Vielleicht suchen sie uns ja gar nicht«, antwortete Bast. »Möglicherweise sind sie ja hinter jemand ganz anderem her.«

Mrs Walsh sah sie zweifelnd und verstört zugleich an, aber Bast beschleunigte ihre Schritte nur. Sie durchquerten die Halle, schnell, aber ohne Hast. Bast fiel auf, dass es plötzlich auch hier uniformierte Wächter gab; zwei neben dem Ausgang und jeweils einer neben dem Durchgang zu jedem anderen Raum. Keiner von ihnen warf auch nur mehr als einen flüchtigen Blick in ihre Richtung, aber nicht einmal sie selbst wusste, wie lange sie ihre Tarnung noch aufrechterhalten konnte.

Es reichte immerhin, um das Museum zu verlassen, und auch noch die halbe Freitreppe hinunter, aber dann spürte sie, wie die nächste Woge bleierner Schwere heranrollte. Obwohl es noch nicht einmal Mittag war, begann das Licht am Himmel über ihr zu verblassen. Mrs Walsh sagte etwas, das sehr besorgt klang, ohne dass sie die Worte verstand, und plötzlich wurden auch alle anderen Laute unscharf und leiser.

Dann nichts mehr.

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