EPILOG

Sie war mit einem Gefühl von Endgültigkeit in dieses Land gekommen, und sie verließ es mit dem sicheren Wissen desselben Gefühls. Es war nichts, was sie wirklich benennen konnte. Weder konnte sie es in Worte fassen, noch in Gedanken oder auch nur in Gefühlen beschreiben. Aber es war da; die absolute, vollkommene Gewissheit, dass etwas sehr Großes und Altes zu Ende gegangen war.



»Sie sehen traurig aus.«

Abberlines Stimme riss sie nicht nur aus ihren düsteren Überlegungen, sondern veranlasste sie auch dazu, ihn mit einem etwas aufmerksameren Blick zu mustern und für sich zu der Einschätzung zu gelangen, dass Abberline einen mindestens ebenso traurigen Anblick bieten musste wie sie: Sein rechtes Bein steckte in einem Gipsverband, und sein Fuß lag auf der Bank neben ihr, und sein linker Arm hing in einer Schlinge, um die verdrehte Schulter zu entlasten. Obwohl mehr als zwei Tage vergangen waren, war sein Gesicht auch noch immer so blass wie das eines Toten, sah man von der beeindruckenden Sammlung blauer Flecken und Kratzer und Hautabschürfungen ab, die es zierte. Bast überlegte ernsthaft, ob einige davon vielleicht von Monro stammten, verwarf diesen Gedanken dann aber als unrealistisch. Sie hatte Monro noch an diesem Morgen gesehen, und sein Gesicht war vollkommen unversehrt gewesen, sah man von dem Turban aus weißem Verbandsmull ab, den er so stolz wie ein alter Kämpe eine Kriegsverletzung trug. Wären die beiden tatsächlich aneinandergeraten, hätte sie vermutlich Mühe gehabt, ihn wiederzuerkennen.

»Traurig?«, antwortete sie mit einiger Verspätung und einem angedeuteten Kopfschütteln. »Nein. Warum sollte ich?«

»Weil Sie mich verlassen?«, schlug Abberline vor.

»Das hätten Sie gern, was?«

»Ja«, antwortete Abberline unverblümt. »Selbstverständlich hätte ich das gerne. Was haben Sie gedacht?« Er zog eine wehleidige Grimmasse. »Aber man bekommt nun einmal nicht immer, was man gerne hätte.«

Bast zog es vor, nicht darauf zu antworten, sondern drehte sich halb auf ihrem Sitz herum und sah aus dem Fenster. Die Droschke war schon vor gut fünf Minuten zum Stehen gekommen, und inzwischen hatten die Männer das wenige Gepäck, das sie mitgebracht hatte, längst entladen und an Bord des Schiffes gebracht. Eigentlich gab es keinen Grund mehr für sie, nicht auszusteigen.

»Wissen Sie, was ich noch sehr viel mehr wünschen würde?«, fragte Abberline, als sie nicht antwortete.

Bast riss ihren Blick mit einiger Mühe von der Silhouette des Schiffes los, in dessen Schatten die Droschke angehalten hatte, und sah ihn fragend an.

»Einen Abschiedskuss«, sagte Abberline.

Bast lächelte traurig. »Sie haben es gerade selbst gesagt, Inspektor - man bekommt nicht immer alles, was man sich wünscht. Und manchmal ist das gut so.«

»Weil ich weiß, welchen Preis ich dafür bezahlen müsste«, sagte Abberline traurig. »Ja, natürlich. Aber trotzdem ... wahrscheinlich bin ich tief in mir drin ein unverbesserlicher Abenteurer. Ich habe eine Menge über Patsys Todesküsse gehört, und ein Teil von mir fragt sich, ob es den Preis nicht lohnt.« Er bemerkte ihren Gesichtsausdruck, und sein Lächeln erlosch wie abgeschaltet. »Entschuldigen Sie.«

»Sie müssen sich nicht entschuldigen«, sagte Bast. Aber es klang nach dem genauen Gegenteil, und offensichtlich nicht nur in ihren Ohren.

»Sie fehlt Ihnen, habe ich recht?«, fragte Abberline.

»Nein«, antwortete Bast, und zumindest in diesem Moment entsprach das sogar der Wahrheit. »Noch nicht.« Seit zwei Tagen wartete sie auf den Schmerz, der die Erkenntnis begleiten sollte, den einzigen Menschen verloren zu haben, der in ihrem Leben wirklich etwas bedeutet hatte. Bisher vergeblich. Aber sie wusste, dass er kommen würde. Und er würde lange dauern. Sehr lange. Selbst für ihre Verhältnisse.

»Das tut mir leid«, sagte Abberline. »Schmerz ist etwas Wichtiges, wissen Sie?«

Bast sah ihn einen Atemzug lang schweigend und ausdruckslos an - und dann lachte sie leise.

»Was ist so komisch?«, fragte Abberline missmutig.

»Oh, nicht viel«, antwortete Bast. »Abgesehen von der Tatsache, dass Sie versuchen, jemandem eine Lebensweisheit klar zu machen, der ungefähr zweihundert Mal so alt ist wie Sie, Inspektor.«

Abberline sah nun ehrlich verletzt aus, und Bast fuhr rasch fort: »Ich wollte Sie nicht beleidigen, Frederick. Bitte verzeihen Sie. Sie haben recht. Isis wird mir fehlen, und der Schmerz wird kommen. Und ich fürchte, er wird noch da sein, wenn es Sie schon lange nicht mehr gibt.«

»Ich verstehe«, sagte Abberline. Er wirkte nur noch verletzter, und Bast begriff, dass sie so ziemlich den falschestmöglichen überhaupt nur denkbaren Ton angeschlagen hatte. Aber es war zu spät, um es rückgängig zu machen. »Für Sie bin ich also nicht mehr als ein Kind.«

Bast überlegte eine Sekunde - und nickte. »Ja«, sagte sie. »Aber ein sehr nettes. Und jetzt muss ich gehen, fürchte ich. Mein Schiff wartet.«

Als wäre das ein Stichwort, auf das das Schicksal nur gewartet hatte, tauchte in diesem Moment eine schlanke Gestalt auf dem Kai auf, die sich mit schnellen Schritten der schmalen Planke näherte, die zum Deck der Lady of the Mist hinaufführte. Sie bewegte sich schnell und zielstrebig und würdigte die Kutsche nicht eines einzigen Blickes. Abgesehen von einem schmalen weißen Verband, der durchaus als modisches Halsband durchgehen mochte, und einem aus der Entfernung kaum zu erkennenden Pflaster an der rechten Seite ihres Kinns war ihr nichts mehr von den schrecklichen Ereignissen anzusehen, die sie erlitten hatte, aber Bast wusste nur zu gut, wie anders es in ihrem Inneren aussah. Sie würde lange brauchen, um das erlittene Grauen zu verarbeiten. Falls es ihr überhaupt jemals gelang.

Subjektiv, dachte Bast schaudernd, würde ihr Schmerz vielleicht länger andauern als ihr eigener.

»Ich könnte immer noch mit Ihnen kommen«, sagte Abberline. Immerhin war er hartnäckig, das musste sie ihm lassen.

»Wo Sie doch gerade erst von Monro persönlich zum Chefinspektor ernannt worden sind?« Bast schüttelte den Kopf. »Ich würde es mir nie verzeihen, Ihrer Karriere so im Wege gestanden zu haben, Frederick.«

Abberline zog eine Grimasse. »Die Beförderung ist noch nicht offiziell«, sagte er. »Jetzt, da James Munro Chef der Metropolitan Police geworden ist, kann er es sich leisten, großzügig zu sein. Es würde mich aber nicht wundern, wenn er vergisst, sie zu bestätigen.«

»Dann boxen Sie ihm einfach auf die Nase«, riet ihm Bast augenzwinkernd.

»Sie machen sich über mich lustig«, sagte Abberline.

»Ja«, antwortete Bast. »Was wäre das Leben ohne ein bisschen Spaß, oder?« Sie grinste ihn fröhlich an, aber schon im nächsten Moment konnte sie fühlen, wie ihr Lächeln erlosch und einem Ausdruck unbestimmter Sorge Platz machte. Sie fragte sich, warum sie eigentlich nicht ausstieg und an Bord ging. Die Lady war schon seit einer Stunde bereit zum Auslaufen und wartete nur noch auf sie.

»Darf ich Ihnen noch eine Frage stellen?«, fragte Abberline.

»Wenn Sie nicht unbedingt auf einer Antwort bestehen.«

»Wie soll ich Sie in Erinnerung behalten«, wollte er wissen, »als Bastet oder als Sachmet?«

Bast reagierte nicht sofort, sondern sah ihn eine Weile schweigend und noch immer von der gleichen, vagen Trauer erfüllt an. Dann beugte sie sich vor, nahm sein Gesicht in beide Hände und küsste ihn; zuerst sanft und zärtlich, nicht auf ihre Art, sondern einfach nur als Frau, die einen Mann küsst; dann aber erfüllte sie ihm seinen Wunsch. Natürlich nahm sie nicht viel - gerade genug, um ihn spüren zu lassen, was geschah, und um einen winzigen Teil von ihm in sich zu fühlen und mit sich nehmen zu können.

»Als Bast, Frederick«, flüsterte sie. »Einfach nur als Bast.«

Als sie Abberline losließ und aus der gleichen Bewegung heraus die Tür der Kutsche öffnete, sah sie nichts als einen Ausdruck tiefer Verblüffung auf seinem Gesicht.

»Bast, wir ...«, murmelte er. »Aber wir ... wir könnten doch ...«

»Vielleicht ein andermal, Frederick«, sagte sie augenzwinkernd. »Vielleicht, wenn es Sie irgendwann doch einmal nach Ägypten verschlagen sollte. Sie wissen ja: von Kairo aus gleich hinter der ersten Düne links.«

Und damit wandte sie sich mit einem Ruck ab und ging mit schnellen Schritten und ohne noch ein einziges Mal zurückzublicken über den Kai und die schmale Planke hinauf. Das nasse Holz vibrierte fühlbar unter ihrem Gewicht, und nun fühlte sie auch das sanfte Schaukeln des Schiffes, das nur noch von einem einzigen Tau gehalten am Pier lag.

Maistowe, der bisher vollkommen reglos hinter der Reling gestanden und darauf gewartet hatte, dass auch sie endlich an Bord kam, wandte sich mit einem Ruck um und begann seinen Männern Befehle zuzubrüllen, und Bast trat mit zwei schnellen abschließenden Schritten auf das Deck der Lady hinauf, damit die Matrosen die Planke einziehen konnten. Das letzte Tau wurde gekappt, und das Schiff schien unter ihren Füßen zu erzittern wie ein Gepard, dessen Halsband endlich gelöst worden war, sodass er in sein angestammtes Element zurückkehren konnte.

Als Bast sich herumdrehte, sah sie eine schlanke Gestalt unter Deck verschwinden.

Faye wich ihr nicht nur aus, sondern floh regelrecht vor ihr, und Bast musste ihr Gesicht nicht sehen, um die Angst in ihren Augen zu spüren. Sie hatte versucht, dem Mädchen die schlimmste Furcht zu nehmen, aber bisher hatten sie ihre sonst so verlässlichen Kräfte im Stich gelassen, und sie hatte nur die Wunden heilen können, die ihr Körper davongetragen hatte, nicht die so viel tiefer gehenden Verletzungen ihrer Seele.

Immerhin hatte Maistowe ihren Blick registriert und kam auf sie zu, wenn auch zögernd und mit allen Anzeichen des Unbehagens. Auch der Ausdruck in seinen Augen hatte sich verändert. Sie war dankbar, zumindest keine Angst darin zu erkennen, doch an ihrer Stelle war jetzt eine Scheu, die sie auf ihre Art fast genauso schmerzte. Es würde wohl eine sehr einsame Reise werden.

»Sind Sie so weit?«, fragte er, was eigentlich vollkommen überflüssig war. Das Schiff hatte bereits abgelegt und entfernte sich fast unmerklich von der Kaimauer. Er war befangen und wollte einfach irgendetwas sagen, und auch diese Erkenntnis schmerzte Bast. Seit sie ihn kannte, hatte sie sich gegen seine mehr oder weniger offenen Annäherungsversuche zur Wehr setzen müssen. Jetzt hatte er eine Mauer zwischen ihnen errichtet, die nicht einmal sie niederreißen konnte. Sie war auch nicht sicher, ob sie es überhaupt versuchen sollte.

Fast so unbeholfen wie er gerade fragte sie: »Bekomme ich meine alte Kabine zurück, oder haben Sie sie Faye gegeben?«

»Sie bewohnt meine Kajüte«, antwortete Maistowe. »Ich wohne für die Dauer der Überfahrt bei meinen Offizieren. Es ist nicht das erste Mal, keine Sorge. Sie behalten Ihre gewohnte Kabine.«

»Und den gewohnten Luxus?«, stichelte Bast gutmütig.

»Selbstverständlich«, antwortete Maistowe ernst. »Es sei denn, Sie bestehen darauf, bei dem Mädchen zu bleiben.«

Bast zog es vor, die Spitze zu ignorieren. »Sie sind sicher, dass Sie Faye mitnehmen wollen?«, fragte sie stattdessen. »Es wird nicht ganz so leicht werden, wie es mit ...« Sie zögerte fast unmerklich, den Namen auszusprechen, um ihm nicht noch mehr Schmerz zuzufügen. »... Cindy geworden wäre.«

Zu ihrer Überraschung lachte Maistowe, wenn auch leise, und nur ganz kurz. Es klang eher wie ein Bellen. »Ich bin mir ganz und gar nicht sicher«, sagte er, aus irgendeinem Grund anscheinend über ihre Frage amüsiert. »Aber Sie haben es selbst gesagt: Sie kann nicht in England bleiben ... und sie will bei mir bleiben, zumindest für eine Weile.« Er schien etwas in ihrem Blick zu registrieren, dessen sie sich selbst nicht bewusst gewesen war, denn er schüttelte plötzlich den Kopf, und ein zorniger Schatten huschte über sein Gesicht. »Keine Sorge. Ich rühre sie nicht an.«

Diese Worte wären nicht nötig gewesen, dachte Bast traurig. Jede Frau auf der Welt, aber ganz bestimmt nicht Faye.

»Sie müssen England in sehr schlechter Erinnerung behalten«, sagte er plötzlich.

»Nein«, antwortete Bast sanft. Sie wusste genau, was er meinte. »Warum sollte ich? Was geschehen ist, war nicht Ihre Schuld, Jacob.«

»Nein, vermutlich nicht«, antwortete er leise und ohne sie anzusehen. »Aber nichts von alledem wäre passiert, wenn ich Sie nicht überredet hätte, mich zu Gloria zu begleiten.«

Das also war es, was er von ihr wollte, dachte Bast. Er erwartete Absolution von ihr - und warum auch nicht? Sie vergab sich nichts dabei, außerdem war es die Wahrheit. Und wenn man es genau nahm, dann griff sein Argument andersherum genauso: Nichts von alledem wäre passiert, wäre sie erst gar nicht in dieses Land gekommen.

Aber da war ein Gedanke, der sie seit nunmehr zwei Tagen plagte. Sie hatte niemals endgültig eine Antwort auf die Frage gefunden, warum sie eigentlich hierhergekommen war, in dieses kalte graue Land voller feindseliger Menschen. Aber was, wenn sie gar nicht aus eigenem Antrieb gekommen war, sondern irgendjemand - irgendetwas - sie geschickt hatte? Was, wenn der einzige Grund für ihr Hiersein der gewesen war, Zeugin zu werden, wie eine verrückte alte Frau drei leibhaftige Götter besiegte?

»Es war nicht Ihre Schuld, Jacob«, sagte sie sanft. »Ohne Sie wäre ich jetzt vielleicht auch tot und Faye und Frederick ebenfalls. Wie hätten Sie es wissen können? Sie hat ja sogar mich getäuscht, obwohl ich ihre Gedanken lesen konnte. Niemand konnte es wissen.«

Maistowe schien etwas darauf erwidern zu wollen, aber dann beließ er es bei einem traurigen Blick und einem noch traurigeren Kopfschütteln und ging ohne ein weiteres Wort.

Und damit hätte es vorbei sein können. Die Lady of the Mist zitterte und knarrte heftiger unter ihren Füßen und drehte sich jetzt immer schneller von der Kaimauer weg, und Bast wollte sich schon umwenden und in ihre winzige, übel riechende Kabine unter Deck gehen, als eine Bewegung am Himmel über der Stadt ihre Aufmerksamkeit noch einmal erregte.

Im allerersten Moment war es nur ein winziger Punkt, weniger als ein Schatten, der über den trüben Himmel von London glitt, aber er wuchs rasch heran und wurde binnen eines einzigen Augenblickes zu einem pfeilflügeligen schwarzen Umriss, der mit einem schrillen Kreischen auf sie herabzuschießen schien.

Aber er war nicht allein.

Ein zweiter Schemen gesellte sich zu ihm, dann ein dritter und vierter, größer und dunkler als Horus' Falke, schwarze Ungeheuer mit noch schwärzeren Augen und gebogenen Schnäbeln und einem Gefieder, das dunkel und hart glänzte wie geschmiedetes Eisen. Und sie stießen erbarmungslos auf ihn herab.

Bast blieb stehen und sah in den Himmel hinauf, während die drei Tower-Raben den Horus-Falken in Stücke rissen, und erst dann, als endlich Stille war, wandte sie sich endgültig um und steuerte ihre Kabine an.

Jetzt wusste sie, was das Gefühl der Endgültigkeit bedeutet hatte.

Aber es war gut so.


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